19
Der Bruder sah auf den Computerbildschirm und versuchte, seine Wut zu unterdrücken, sich ein Beispiel an Lucas zu nehmen und äußerlich kühl zu bleiben, auch wenn er innerlich kochte. So ein Verrat. So ein schrecklicher, unglaublicher Verrat. Er hätte es wissen müssen. Er gab sich die Schuld. Nein, das tat er nicht. Er gab sich nicht die Schuld. Schuld war ohnehin bedeutungslos. Was zählte, waren Vergeltung, Gerechtigkeit, die Vernichtung derer, die sich gegen ihn auflehnten und alles infrage stellten, was er so mühsam aufgebaut hatte. Er war der Bruder und sie waren … nichts. Wilde. Erbärmliche Feiglinge. Und alle diesem Linus hörig, diesem kläglichen, wehleidigen Kerl, der glaubte, er könnte die Welt verändern, indem er den Leuten das gab, was sie wollten. Aber die Leute wussten doch gar nicht, was sie wollten! Die Leute würden es nie wissen. Man musste ihnen sagen, was sie wollten. Sie mussten geführt werden. Und der Bruder hatte sie geführt. Er hatte sie gut geführt. Sie lebten in Sicherheit. Es herrschte Ordnung. Sie waren glücklich …
Das Klopfen an der Tür schreckte ihn hoch, aber er fing sich schnell wieder. Es kam genau rechtzeitig; eher schwächer als Lucas’ Klopfen, eher zu zaghaft für seinen Geschmack, aber daran konnte er noch arbeiten.
»Ah, Sam. Komm rein.«
Der junge Mann blickte ängstlich drein, angespannt. Er glaubte, er sei in Schwierigkeiten, erkannte der Bruder und musste lächeln bei dem Gedanken. »Bitte, setz dich.« Er deutete auf die Stühle auf der anderen Seite des Schreibtischs.
Sam setzte sich vorsichtig hin, weit vorgebeugt und mit offensichtlich verkrampften Beinen.
»Wie lange arbeitest du nun schon in der Systemabteilung?«
»Fünf Jahre«, antwortete Sam.
Der Bruder nickte bedächtig. »Und es heißt, du seist ein ausgezeichneter Techniker?«
Sam wurde rot und sagte verlegen: »Ich tue mein Bestes. Lucas hat uns alle gut geschult. Ich tue mein Bestes«, wiederholte er.
»Und das ist alles, was ich verlange«, sagte der Bruder und lächelte gütig, das Lächeln, das er auch seiner Gemeinde bei der Versammlung schenkte.
»Zumindest alles, was ich normalerweise verlange. Aber manchmal ist mehr gefordert. Manchmal sind wir aufgerufen, sehr viel mehr zu tun, um einer Situation gerecht zu werden, zum Wohle aller und um unserer großartigen Stadt zu dienen. Glaubst du, Sam, dass du einer solchen Aufgabe gewachsen bist?«
Sams Augen wurden ganz groß; seine Beine zitterten, als hätte er keine Kontrolle mehr über sie. »Ich … ich werde tun, was ich kann«, brachte er schließlich heraus. »Alles für unsere großartige Stadt, Bruder.«
»Gut«, sagte der Bruder und lächelte wieder. »Denn manchmal passieren Dinge. Schreckliche Dinge. Manchmal entdecken wir, dass das Böse überall um uns herum ist, an Orten, an denen wir es nie vermutet haben. Manchmal erkennen wir, dass das System uns prüft und dass wir handeln müssen, um unsere Hingebung an das Gute zu zeigen.«
»Ja, Bruder«, antwortete Sam, obwohl der Bruder an dessen Miene sehen konnte, dass er keine Ahnung hatte, wovon er redete.
»Dann ist es entschieden«, erklärte der Bruder mit einem Nicken. Er beugte sich vor. »Du sollst eine Systemänderung vornehmen, Sam. Eine Änderung, über die du mit niemandem sprechen darfst, verstehst du?«
»Natürlich.«
Der Bruder gab ihm einen Umschlag. »Öffne ihn«, sagte er. Sam nahm ihn vorsichtig entgegen und riss ihn mit zitternden Fingern ungeschickt auf.
»Und jetzt lies«, befahl der Bruder. Er beobachtete aufmerksam, dass Sams Augen so groß wurden wie Untertassen und dass er so heftig zu zittern begann, dass der Bruder sich fragte, ob er gleich vom Stuhl fallen würde. »Du verstehst, was ich meine, wenn ich sage, dass du niemandem davon erzählen darfst?«
Sam nickte. »Lucas?«, flüsterte er ungläubig, verzweifelt. »Aber wie … ich …«
»Es ist nicht an uns, solche Fragen zu stellen«, sagte der Bruder bestimmt. »Wir müssen unsere Hingabe und Entschlossenheit zeigen. Stark sein. Akzeptieren. Und erkennen, dass wir in unserer Wachsamkeit niemals nachlassen dürfen. Verstehst du, Sam?«
Sam nickte unglücklich.
»Und so eine starke, mutige Tat wird natürlich belohnt«, fuhr der Bruder fort und erhob sich, damit Sam wusste, dass es Zeit war zu gehen. »Ich werde schon bald keinen Stellvertreter mehr haben, keinen Systemchef, und ich brauche jemanden, der diese Position einnimmt, Sam. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann.«
Sam erwiderte seinen Blick und verstand, was er damit sagte.
»Ihr könnt Euch auf mich verlassen.« Er faltete das Blatt zusammen, stand auf und ging zur Tür. »Danke, Bruder.«
»Ich danke dir, Sam. Ich glaube, es wird schon bald einen weitaus erfreulicheren Systemwechsel geben – zu deinen Gunsten. Ich denke, du würdest dich freuen, ein A zu werden.«
Er lächelte in sich hinein, als er sah, wie Sam sich ganz leicht straffte und wie neues Selbstvertrauen ihn erfüllte.
»Danke, Bruder.« Sam zögerte an der Tür, seine Stimme war nur mehr ein Flüstern.
»Danke dem System«, sagte der Bruder. »Wie du weißt, kann ich nur führen. Es ist das System, das diejenigen belohnt, die Ergebenheit und Güte zeigen.«
Sam nickte ernst, dann verließ er den Raum. Der Bruder war wieder allein. Er atmete tief aus, stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen zu seinem Vormittagsschläfchen.
Evie sah Raffy den ganzen Morgen über kaum; er hatte sich mit Linus im Systemraum verkrochen oder ging ihr einfach aus dem Weg. Wahrscheinlich beides, dachte sie. Sie hatte inzwischen gemeinsam mit Martha den Einmarsch in die Stadt bis auf die Minute geplant. Das Wort »Einmarsch« kam ihr seltsam vor – wie konnte man an einem Ort einmarschieren, den man immer als Zuhause angesehen hatte? Aber sie wusste, dass es nicht ihr Zuhause war, dass es das nie gewesen war. Linus wollte das System zerstören, das das ganze Wesen der Stadt so verändert hatte; und sie wollte am liebsten die ganze Stadt zerstören.
Aber dann rief sie sich in Erinnerung, dass nicht alle in der Stadt verderbt waren. Sie war wütend auf sich selbst und das machte sie wütend auf alles und alle. Sie musste ihre Wut unterdrücken, musste die Glut des Hasses und der Wut unterdrücken, die sie zu verzehren drohte, wenn sie ihr freien Lauf ließ, wenn sie Gefühle zuließ, statt sie zu blockieren und sich auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Sie musste das Wissen um das Schicksal ihrer Eltern aus ihrem Kopf verbannen, das Schicksal ihrer Eltern, die sie geliebt hatten und die sie in die Stadt gebracht hatten in der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Die Stadt der Guten.
Wie hohl diese Beschreibung jetzt klang.
Wie leer ihr jetzt alles vorkam.
»Nachdem wir um Stunde 18 beim Lager der Versehrten waren, marschieren wir zur Stadt«, erklärte Martha. »Wir müssen alle mitnehmen, einfach um einigermaßen Ordnung unter den Versehrten zu halten, aber sobald wir zur Stadt kommen und sobald die Versehrten die Stadt betreten, gehen nur zehn von uns durch das Tor; der Rest zieht sich zurück und versteckt sich in der Wüste.«
»Was passiert mit ihnen?«, fragte Evie.
»Sie bleiben in ihrem Versteck, bis sie von uns hören, dass …«
»Nicht die«, unterbrach Evie. »Die Versehrten. Die Bösen. Was passiert mit ihnen?«
»Nun, sie lenken die Polizeigarde von uns ab und wir können …«
»Also benutzen wir sie, genauso wie die Stadt sie benutzt«, unterbrach Evie sie mit steinerner Miene.
Plötzlich hasste sie sich, hasste sich, weil sie selbst unversehrt war, weil sie hier in Base Camp saß und etwas plante, während die Versehrten nichts tun, nichts denken, nichts fühlen konnten. Sie hasste sich, aber noch mehr hasste sie den Bruder und den Großen Anführer, die das alles ins Werk gesetzt hatten.
Martha sah sie besorgt an. »Wir arbeiten zusammen«, sagte sie geduldig. »Wenn wir hineingelangen und Linus und Raffy das System lahmlegen und es endgültig verändern, wenn wir allen sagen, was abgelaufen ist, dann wird es keine Bösen mehr geben und keine Versehrten. Wir brauchen ihre Hilfe, um hineinzukommen. Ich glaube, wenn sie wüssten, was die Stadt ihnen angetan hat, dann wären sie bestimmt auf unserer Seite, meinst du nicht auch?«
Evie schürzte die Lippen. »Aber auf unserer Seite zu sein heißt noch lange nicht, froh zu sein, dass man als Zielscheibe dient«, sagte sie. »Oder froh zu sein, dass man als Köder eingesetzt wird.«
Sie wollte Raffy sehen. Wollte ihn um Verzeihung bitten. Wollte, dass er sie wieder so ansah, wie er sie heute Morgen angesehen hatte. Wollte sich wieder so ganz fühlen, wie als sie sich geliebt hatten, und wieder Hoffnung spüren und Zuversicht. Sie wollte, dass die Sonne wieder hervorkam und ihr die Glieder wärmte. Aber alles, was sie sah, war Schatten.
»Nein, das heißt es nicht«, räumte Martha ein. »Aber im Krieg stehen wir manchmal vor schwierigen Entscheidungen. Die Versehrten werden in den Lagern entsetzlich behandelt. Unmenschlich. Wenn wir Erfolg haben, dann wird für alle, die den Angriff überleben, ordentlich gesorgt werden. Und es wird keine Versehrten mehr geben. Kein Abschlachten mehr. Das ist es doch wert, oder nicht?«
Evie nickte schweigend. Das war eine logische Antwort.Aber schließlich war auch die Stadt voller Logik. Voller Logik, System und Ordnung.
Der Eingang zum Zelt wurde zurückgeklappt und Raffy kam herein. Evies Herz machte einen Satz, und als sie ihn voller Hoffnung ansah, zog sich ihr Magen zusammen. Aber er erwiderte ihren Blick nicht. Linus kam hinter ihm herein. »Wie läuft es?«
»Großartig.« Martha lächelte. »Wie kommt Raffy mit dem System zurecht?«
»Er ist ein Naturtalent«, sagte Linus voller Stolz.
»Ein Naturtalent, was?« Martha zog die Brauen hoch.
Raffy grinste sie an. »Linus’ System ist einfach irre!« Er setzte sich so weit von Evie entfernt hin wie möglich. »Er hat einen Virus gebastelt, der das System der Stadt komplett lahmlegt, damit wir es so aufbauen können, wie es sein soll. Es ist einfach fantastisch. Es kann feststellen, ob jemand Gesellschaft braucht oder ob jemand krank ist; es kann sogar Spiele erfinden, wenn einem langweilig ist. Wenn in jedem Haus ein Computer steht, dann kann es sich tatsächlich um alles kümmern. Stellt euch vor.«
Raffy hatte leuchtende Augen, und Evie lächelte ihm zu, aber er sah sie nicht. Oder vielleicht wollte er sie nicht sehen.
»Und was habt ihr beide gemacht«, fragte Linus.
Evie versuchte, sich den Schmerz, der ihr durch Herz und Kopf, ja, durch den ganzen Körper pulsierte, nicht anmerken zu lassen. Raffy würde ihr nie verzeihen. Sie hatte ihn verloren, so wie sie es verdient hatte. »Wir gehen gerade die Zahlen durch«, antwortete sie.
Martha lächelte ihr kurz zu. »Wir haben die Rucksäcke organisiert, einen Zeitplan aufgestellt auf der Basis, dass wir das Lager der Versehrten um 17.00 Uhr erreichen und um 18.00 Uhr wieder verlassen.«
»Das sollte hinkommen«, pflichtete Linus bei. »Also Ankunft vor der Stadt bei Einbruch der Dunkelheit?«
»Wenn die meisten Leute wieder zu Hause sind«, sagte Martha.
Linus lächelte. »Aufregend, nicht?«
Er blickte Evie an, die versuchte, Begeisterung zu zeigen. »Oh ja«, brachte sie hervor.
»Gut.« Linus rieb sich die Hände. »Nach Marthas Zeitplan müssen wir hier los um … 15.00 Uhr? Um 16.00 Uhr?«
»15.30«, sagte Martha.
»Dann denke ich, Mittagessen hat zunächst einmal höchste Priorität.« Linus lächelte. »Knurrende Mägen können wir nämlich nicht gebrauchen, was?«
»Ganz bestimmt nicht.« Martha grinste ebenfalls und stand auf. »Evie, magst du mit mir in die Küche kommen und sehen, ob wir nicht jemanden dazu kriegen, uns etwas zu kochen?«
»Klar«, sagte Evie und sprang auf. Raffy wich leicht zurück, als sie an ihm vorbeiging, so als würde er vor ihr zurückschrecken, und es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube.
»Also … Küche«, sagte Martha, als sie draußen vor dem Zelt waren. Evie blieb stehen.
»Ich muss … ich muss nur kurz aufs Klo«, sagte sie.
»Okay«, rief Martha zurück. »Dann bis gleich.«
Evie atmete ein paar Mal tief durch, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete, und ging los, weg vom Küchenbereich, weg von Raffy und Linus, weg von den Toiletten. Jetzt würde sie zu Ende bringen, was sie begonnen hatte. Sie hatte jetzt sonst nichts mehr.
Sie ging den überdachten Weg entlang, vorbei an den Schlafzelten und am Systemzelt, bis sie wieder vor dem Zelt der Versehrten stand, und blickte hoffnungsvoll durch das Fenster hinein. Sofort erschien die Frau, als hätte sie gespürt, dass Evie kam, als hätte sie darauf gewartet. Sie kam ans Fenster. Evie streckte die Hand aus und spürte, wie sie von innen gegen das Plastikfenster drückte, und sie spürte etwas, das mächtiger war als Hass, mächtiger als Wut. Sie wusste es. Ganz tief drin wusste sie, wer diese Frau war.
Sie ging zur Tür und lächelte Angel an, der davor Wache stand und »die Versehrten beschützte«, wie Linus es ausdrückte. »Ich glaube, Martha braucht deine Hilfe«, sagte sie. »Bei der Planung für heute Nacht. Sie braucht irgendeine logistische Information.«
»Jetzt?« Angel runzelte die Stirn.
Evie verzog das Gesicht, trat näher zu ihm hin und senkte die Stimme. »Sie hat gesagt, sie braucht einen fachmännischen Rat zum Transport der Versehrten. Ich kann ja hier stehen bleiben, wenn du willst, solange du weg bist.«
Angel blickte unschlüssig drein; Evie wappnete sich.
»Oder soll ich ihr sagen, dass du nicht kommen kannst?«, schlug sie vor. »Sie ist nur leider sehr beschäftigt. Genau wie Linus …«
Angel blickte besorgt um sich. »Ich weiß nicht«, brummte er. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie unbewacht lassen kann.«
»Für fünf Minuten? Ich bin doch hier«, sagte Evie in leicht verärgertem Tonfall. Sie schielte auf den Schlüsselring, den Angel in der Hand hielt, dann wanderte ihr Blick zu den Vorhängeschlössern und Riegeln, mit denen die Türen an den Zelten verschlossen waren. Beschützt? Die Versehrten wurden nicht beschützt. Sie wurden gefangen gehalten.
»Okay.« Evie brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass Angel nachgegeben hatte. »Okay. Du bleibst hier«, sagte er.
»Natürlich.«
»Dauert nicht lange.« Er setzte sich in Bewegung. Evie grub die Fingernägel in ihre Handflächen, um sich Mut zu machen.
»Du solltest mir vielleicht die Schlüssel hierlassen«, sagte sie.
»Die Schlüssel?«
»Falls etwas passiert. Ich werde sie natürlich nicht benutzen, aber ich dachte, sie sollten immer in der Nähe der Tür bleiben. Das hat Linus doch gesagt. Schau mal, ich frage ja nicht nach deiner Pistole. Nur nach den Schlüsseln. Für alle Fälle. Wir sind doch auf einer Seite. Oder vertraust du mir nicht?«
Angel hielt inne, mit nachdenklichem, ängstlichem Gesicht. Dann nickte er, kam zurück zu Evie und drückte ihr den schweren Schlüsselbund in die Hand. Dann machte er kehrt und ging widerstrebend und schwerfällig den Weg hinunter und drehte sich nur ein Mal um. Evie lächelte ihm freundlich zu und nahm genau dieselbe Stellung ein, die er während der vergangenen Stunden innegehabt hatte.
Erst als er um eine Ecke gebogen war und sie sich sicher sein konnte, dass er nicht gleich wieder zurückkam, ging sie zur Tür und probierte die Schlüssel einen nach dem anderen, bis sie den richtigen gefunden hatte. Die Schlösser schnappten auf, sie öffnete die Tür und ging hinein.
Die Frau erwartete sie mit ausgebreiteten Armen. Der Ausdruck in ihren Augen war der gleiche, den Evie von ihrem Spiegelbild kannte.
»Mutter«, flüsterte sie. Die Frau nahm Evies Hände, betastete deren Arme und drückte sie an ihre Brust. Ihre Bewegungen waren ruckartig und gehorchten offenbar nicht gänzlich ihrem Willen, aber das war Evie gleich. Jetzt war ihr alles gleich – das System, der Bruder und Linus mit seinen Plänen. Sie hatte ihre Mutter wiedergefunden; die Frau, die sie zur Welt gebracht und aufgezogen hatte und die sich viele Meilen weit geschleppt hatte, um einen Ort zu finden, wo sie sicher leben konnten. Durch seine grausamen und abscheulichen Versuche an ihrem Gehirn hatte der Große Anführer ihr Leben unwiderruflich zerstört.
»Ich heiße Evie«, brachte sie unter Tränen hervor. Andere Versehrte kamen neugierig näher, und deren verdrehte Augen erschreckten Evie nicht mehr, denn sie war eine von ihnen; sie waren nicht böse, sondern das Ergebnis des Bösen. »Ich heiße Evie, und ich glaube, ich bin deine Tochter.«
Daraufhin legte die Frau die Hände auf Evies Schultern, schob sie ein kleines Stück von sich weg und lächelte sie an. Es war kein warmherziges Lächeln, es war ein wirres, ein wahnsinniges Lächeln, aber Evie konnte die Schönheit darin sehen. Sie konnte hinter dem wild starrenden Blick bis in die Seele sehen. In die einsame, verzweifelte Seele einer gepeinigten Mutter.
»Sie haben uns belogen. Sie haben uns alle belogen«, sagte Evie und sah ihre Mutter flehend an, damit die verstand. »Aber ich habe dich gefunden. Ich bin jetzt hier. Hier bist du sicher.«
»Sicher«, sagte ihre Mutter, kaum verständlich.
»Sicher«, wiederholte Evie aufgeregt; ihre erste wirkliche Verständigung, das erste Anzeichen dafür, dass sie verstanden wurde. »Ich gehe nicht zurück in die Stadt. Ich bleibe hier bei dir, ich werde für dich sorgen. Ich werde …«
Die Bewegung war so schnell, dass sie nicht reagieren konnte, so unerwartet, dass sie nicht darauf gefasst war. Evie wusste nicht genau, wie es passiert war, aber plötzlich war sie wie in einen Schraubstock geklemmt; der Arm ihrer Mutter presste sich gegen Evies Hals und ihr Ellenbogen grub sich in Evies Schlüsselbein. Evie zwang sich, ruhig zu bleiben; ihre Mutter hatte Angst. Sie brauchte das Gefühl von Sicherheit. Andere Versehrte bewegten sich auf die Tür zu; Evie dachte zu spät daran, dass sie diese nicht wieder abgeschlossen hatte. Nun machten sie sich daran zu schaffen und kreischten dabei vor Freude. Bald drängten alle nach vorn und fielen übereinander.
»Hier bist du sicher«, sagte Evie noch einmal und versuchte, in dem Gedränge nicht zu Boden gestoßen zu werden. »Du musst mir nicht wehtun. Ich bin auf deiner Seite. Ich will dir helfen. Ich will …«
»Stadt!«, schrie ihre Mutter. »Stadt!«
»Nein«, sagte Evie und versuchte, den Griff zu lösen, mit dem ihre Mutter ihr die Kehle zudrückte, sodass Evie nach Atem rang. Sie musste an der Tür sein, bevor die anderen es hinausschafften. Sie musste ihre Mutter beruhigen. Vielleicht hatte die Erwähnung der Stadt entsetzliche Erinnerungen ausgelöst. »Nein, wir sind nicht in der Stadt. Du bist hier sicher. Du bist …«
»Stadt«, schrie ihre Mutter noch einmal. Dann sprang die Tür auf, und die Versehrten quollen heraus. Ihr Heulen hallte in dem überdachten Gang wider und erinnerte Evie an das Heulen, das sie als Kind in ihrem Zimmer gehört hatte. Es gelang ihr, ihre Angst zu unterdrücken, sie rief sich in Erinnerung, dass es anders war, dass sie anders waren, dass sie selbst anders war.
Der Klammergriff ihrer Mutter war so fest, dass sie es nicht mehr ertragen konnte; sie bekam nicht mehr genug Luft und die anderen Versehrten strömten aus dem Zelt. Evie keuchte; sie hörte Stimmen, dann wieder wütendes Geheul. Dann öffnete sich die Tür, und Angel kam herein, gefolgt von Linus und Martha; ein paar Männer brachten die Versehrten wieder zurück. Sie hatten ihnen die Hände auf den Rücken gedreht, und die Versehrten wanden sich und traten um sich.
Evies Mutter sah auf und verstärkte ihren Griff an Evies Hals, sodass die einen stummen, gequälten Aufschrei von sich geben wollte. »Stadt oder sterben. Stadt oder sie sterben.«
»Annabel, lass das Mädchen los«, sagte Linus, aber Evie konnte ihn kaum mehr hören. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie sah Sterne aufblitzen. Linus und Angel kamen näher; ihre Mutter packte noch fester zu.
»Nehmen mich zu Stadt oder sie sterben«, sagte sie.
»Du gehst nicht zur Stadt, Annabel«, sagte Linus, aber in diesem Moment hatte Evie das Gefühl, als würde ihr Hals zerquetscht, und sie war sich sicher, dass sie tot war, die Schwärze war endgültig, alles war vorbei. Dann ließ der Druck mit einem Mal nach. Sie würgte und jemand legte den Arm um sie. Sie musste sich übergeben und schnappte panisch nach Luft. Sie war am Leben. Die Schmerzen an ihrem Hals waren so heftig, dass sie schrie, aber sie schob die Arme weg, denn sie wusste, dass es nicht die Arme ihrer Mutter waren, wusste, dass sie sie finden musste, ihr erklären musste …
Sie fuhr herum und suchte mit den Augen die wirre Ansammlung von Männern und von Versehrten ab, als Raffy hereingestürzt kam.
»Evie!«, rief er. »Evie, ist alles in Ordnung mit dir? Was ist passiert? Was …«
Sie schüttelte den Kopf. »Meine Mutter«, wollte sie sagen, aber die Stimme versagte ihr. »Meine Mutter …«
»Deine Mutter? Du glaubst, das ist deine Mutter?«, schrie Linus; hinter ihm stand Angel und hielt ihre Mutter fest. Das Licht in ihren Augen war erloschen. Sie hing schlaff in seinen Armen.
»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, schrie Evie wütend.
»Wir haben sie betäubt«, erklärte Linus, schaute ihr in die Augen und hielt ihren Blick fest. »Du hast gedacht, sie ist deine Mutter?«
»Ich weiß, dass sie es ist«, antwortete Evie voller Bitterkeit. »Ich werde mich um sie kümmern. Ich werde für sie sorgen, und ich werde verhindern, dass ihr sie immer gleich ruhigstellt, wenn sie wütend wird. Wir werden jetzt aufeinander aufpassen.«
»Du meinst, sie könnte auf dich aufpassen?« Linus seufzte. »Okay, Angel, bring sie in ihr Bett. Evie, komm bitte mit mir.«
Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern nahm sie am Arm, führte sie aus dem Zelt, setzte sie auf einen Stuhl und gab ihr etwas Wasser zu trinken. »Du willst diese Frau retten? Du willst dich um sie kümmern?«
»Das ist nicht einfach diese Frau. Das ist meine Mutter«, sagte Evie und ließ sich nach vorn sinken. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Tränen der Enttäuschung, der Wut und der Einsamkeit. »Ich weiß, dass sie es ist. Warum gibst du es nicht zu? Was kümmert dich das überhaupt? Es kümmert doch sonst keinen.«
»Es kümmert mich, weil es nicht stimmt«, entgegnete Linus, lehnte sich zurück und legte den Arm um sie; sie machte sich steif und er zog den Arm zurück.
»Woher willst du das wissen?« Wütend blitzte sie ihn an. »Sag mir, woher willst du das wissen?«
»Weil sie erst vor einem Jahr zu uns kam«, antwortete er gequält, und sein Blick war voller Verzweiflung. »Weil …«
Er redete nicht weiter, schlug die Hände vors Gesicht und wandte sich dann wieder zu ihr hin. »Evie, sie ist nicht deine Mutter. Ich weiß es. Und selbst wenn sie es wäre … selbst wenn wir sie finden würden … versteh doch. Die Versehrten sind keine Menschen wie wir. Man hat gedacht, man würde mit der Amygdala das Böse aus ihrem Gehirn entfernen, aber in Wahrheit hat man alles entfernt. Jedes moralische Empfinden. Jeglichen Sinn für Gut und Böse, für Ursache und Wirkung. Die Versehrten sind … versehrt, Evie. Irreparabel geschädigt. Annabel ist sogar noch eine von denen, die ein Stück weiter sind oder die weniger entmenscht sind, wie immer du es sehen willst. Sie hat Sehnsüchte, und das ist mehr, als man von den anderen sagen kann.«
»Sehnsüchte? Und das macht sie zum Menschen«, flüsterte Evie. »Damit ist sie wie wir.«
»Nein«, widersprach Linus. »Das macht sie einfach nur gefährlich. Sie hat nur einen einzigen Wunsch. Sie will wieder zurück in die Stadt. Sie glaubt, wir hätten sie entführt und würden sie fernhalten von dem Ort, wo sie immer hinwollte. Sie weiß nicht, was dort mit ihr passiert ist. Sie weiß nicht, dass man sie dort hinausgeworfen hat.«
»Ich kann es ihr erklären«, sagte Evie unsicher. »Damit sie begreift …«
»Sie wollte dich töten«, erklärte Linus ernst und sah sie auf einmal eindringlich an. »Sie hätte dich getötet. So sehr wünscht sie sich, in die Stadt zurückzukehren. Verstehst du? Sie hat dich hereingelockt als Köder.«
»Nein.« Evie schüttelte weinend den Kopf. »Nein.«
»Doch.« Linus legte seine Hand auf die ihre. »Und deshalb müssen wir zurück zur Stadt. Deshalb müssen wir die Dinge dort verändern. Wir müssen zurückschlagen. Für deine Eltern. Für die anderen Versehrten. Für alle Ds und Ks und wegen all dem Leid, das der Bruder mit seinem System angerichtet hat.
»Und meine Eltern?«, fragte sie trotzig.
Linus seufzte. »Wenn deine Eltern überhaupt noch am Leben sind, dann sind sie nicht mehr in der Lage, deine Eltern zu sein.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das ist nicht wahr. Du willst nur, dass ich das glaube, damit ich deinen Plan unterstütze. Damit ich dir den Schlüssel zur Stadt gebe. Aber das werde ich nicht. Nur wenn du meine Mutter freilässt.«
Linus sah sie traurig an. »Evie, den Schlüssel haben wir längst. Glaubst du, dass er immer noch in Raffys Rucksack ist?«
Evie starrte ihn wütend an. »Ihr habt ihn schon?«
»Wir arbeiten schon sehr lange an diesem Plan«, sagte Linus. »Dein Schlüssel und die Verbindung mit Lucas waren für uns das Zeichen zum Losschlagen, aber das war es nicht allein. Wir waren bereit. Wir haben gewartet. Bist du dabei? Kommst du mit uns? Willst du kämpfen? Etwas verändern?«
Evie sah ihn an, sein nussbraunes und von Falten durchzogenes Gesicht, die funkelnden blauen Augen, die Güte und Stärke und den Schmerz, die in seine Züge eingegraben waren. Dann blickte sie zurück zum Zelt der Versehrten. Angel stand davor und Raffy stand neben ihm und sah angstvoll zu ihr herüber und lächelte ihr zu.
Sie nickte, eine ganz kleine Bewegung, die man leicht hätte übersehen können. Doch Linus übersah sie nicht.
»Braves Mädchen«, murmelte er, und diesmal klangen seine Worte ermutigender. Er legte den Arm wieder um sie und drückte sie. »Und, Evie, du bist nicht allein. Es gibt keinen Grund, das zu denken. Wir sind bei dir. Dein Freund Raffy ist bei dir, auch wenn es gerade nicht so aussieht. Und …« Er stand auf. »Und ich könnte mir vorstellen, dass sich auch Lucas freut, dich wiederzusehen.« Er zwinkerte kurz, und Evie hatte das seltsame Gefühl, dass Linus irgendetwas wusste. Aber das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Und bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, war er fort. Und sie sah, dass Raffy nur ein Stück von ihr entfernt unschlüssig herumstand. Seine Miene war unergründlich, die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Geht schon«, brachte sie heraus.
Er nickte, kam langsam zu ihr und setzte sich neben sie. Er berührte sie nicht, er redete nicht mit ihr, aber er saß neben ihr. Und dafür war Evie so dankbar, dass sie es gar nicht sagen konnte.