2

Wie üblich kam Evie später nach Hause. Eine Stunde diesmal. Manchmal war es noch mehr, aber das war egal. Ihre Eltern warteten auf sie. Jeder in der Stadt arbeitete hart, jeder war produktiv. Ein tätiges Hirn ist ein glückliches Hirn, sagte der Große Anführer. Produktive Menschen bedeuteten eine glückliche Gesellschaft. Und harte Arbeit hieß weniger Zeit zum Nachdenken und weniger Gelegenheit, dass das Böse gedeihen konnte.

Wie immer öffnete Evie die Haustür und ging gleich in die Küche, aber heute Abend waren sie offenbar nicht allein. Dort, neben ihrem Vater, saß, mit einem großen Weinglas in der Hand, der Bruder, der vom Großen Anführer Auserwählte, ihrer aller Mentor und Ratgeber. Der Große Anführer selbst war alt geworden und zeigte sich nur noch selten. Er selbst hatte den Bruder dazu ausersehen, sein Volk zu führen und dafür zu sorgen, dass das Böse innerhalb der Stadtmauer nicht geduldet wurde.

»Evie!« Er lächelte ihr zu, traf mit seinen wässrigen Augen ihren Blick aber nicht genau. Die Wärme in der Küche und der Alkohol hatten seine schlaffen Wangen rosig gefärbt. »Und wie geht es uns heute?«

Evie erwiderte das Lächeln, ohne dass ihre Augen daran beteiligt waren. Ein Besuch des Bruders war nicht vorgesehen gewesen. Es musste einen Grund dafür geben. Er musste etwas wissen. Furcht kroch in ihr hoch, ein nur allzu vertrautes Gefühl. »Danke, gut, Bruder«, antwortete sie nervös.

»Dann setz dich nur. Iss. Deine Mutter hat einen Kuchen gebacken. Eine großartige Köchin, deine Mutter. Du musst stolz auf sie sein.«

»Ich bin stolz auf sie«, antwortete sie schnell, »und dankbar.«

»Aber natürlich, aber natürlich«, sagte der Bruder und nickte. Dann blickte er sie an, so direkt wie damals, als sie noch klein war und er ihr von der Schreckenszeit berichtet hatte, die die Welt zerrissen hatte, und von einer Vergangenheit, als es lauter Menschen gab, die nur an sich selbst dachten. Menschen, die Religionen nur geschaffen hatten, um sie zur Bekämpfung anderer Religionen zu benutzen; die dem Bösen freien Lauf gelassen hatten, weil sie nicht auf den Großen Anführer hörten, weil er damals noch nicht der Große Anführer gewesen war, sondern nur ein Arzt mit einer Idee.

»Ich höre, dass du wieder schlecht geträumt hast.«

Evies Augen weiteten sich. »Ich hatte wieder diesen Traum, das stimmt«, sagte sie mit bebender Stimme und warf einen Blick auf ihre Mutter und ihren Vater. »Aber ich wollte das nicht. Ich habe mich dagegen gewehrt. Ich habe die Betrachtungen des Großen Anführers gelesen. Ich …«

»Du hast von einem Mann geträumt, der sich um dich kümmert?«, unterbrach der Bruder sie. »Von einem Mann, von dem du glaubst, dass er dich beschützt?«

Sie nickte eifrig. »Aber ich weiß, dass er für das Böse steht. Ich werde gegen ihn ankämpfen, Bruder. Ich werde …«

Der Bruder lehnte sich mit gerunzelter Stirn zurück. Seine glühenden Wangen glänzten nun von Schweiß, der sich auch in Tropfen unter seiner Nase sammelte. »Ja also. Das ist interessant«, bemerkte er nachdenklich, ohne Evie aus den Augen zu lassen. Dann beugte er sich vor. »Das Gehirn ist nämlich ein gefährliches Ding. Du weißt doch, dass es dich in die Finsternis führt, wenn du es zulässt? Wie beim Reiten muss man die Zügel straff halten und ganz bei der Sache bleiben, wenn man das Ziel nicht aus den Augen verlieren will.«

Evie nickte wieder. Sie wusste das. Sie wusste das alles. Beim letzten Besuch hatte der Bruder sie angebrüllt, das Böse in ihr erzeuge diese Träume, und wenn sie die Lügen nicht aus ihrem Kopf bekäme, dann würde sie vom System bestraft werden. Sie hatte geweint vor Verzweiflung, ihn angefleht und versprochen, dass sie nicht mehr träumen würde, dass sie ab jetzt stark sein und ihn nicht enttäuschen würde. Sie rang die Hände, die ganz glitschig geworden waren vor Schweiß. War das der Tag der Wahrheit, vor dem sie sich schon so lange fürchtete?

»Und das Unterbewusstsein ist das Allerschlimmste«, fuhr der Bruder fort. »Dort wohnt Finsternis, dort suchen sich Begierde, Habgier und Neid einen Raum, ohne dass der Verstand sie kontrollieren kann. Wir sind rein im Geist, aber die Neutaufe schützt uns nicht für immer. Unser Gehirn ist von Natur aus anfällig für das Böse; nach der Neutaufe jedoch liegt es an uns, gut zu bleiben.«

»Ja, Bruder, das weiß ich«, stieß Evie verzweifelt hervor und wünschte sich, sie wäre jemand anders, ein guter Mensch, der nicht von schrecklichen Gedanken und Träumen heimgesucht wurde.

»Ja«, antwortete der Bruder. »Ja, du weißt das. Aber ich habe mich mit meinen Bruderkollegen besprochen. Ich habe viel über dich nachgedacht, Evie. Und bin zu einem Schluss gekommen.«

Evie schloss die Augen. Ein Schluss. Ein Ende. Er nahm sie mit.

Sie holte tief Luft. Sie war bereit. Ihr ganzes Leben lang war sie immer bereit gewesen. Es war besser so. Die Wahrheit kam endlich ans Licht, und jeder konnte sie nun hassen, so wie sie sich selbst hasste. Das Böse hatte den Weg in ihr Gehirn gefunden. Deshalb tat sie Böses. Deshalb hatte sie böse Gedanken. Sie schlug die Augen auf. »Ja, Bruder?«

Das Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht. »Ich glaube, ich verstehe jetzt. Und mir ist klar, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt. Der Mann in deinen Träumen ist nichts anderes als die Stadt.«

Evie starrte ihn unsicher an. Sie verstand nicht.

»Die Stadt.« Evies Mutter nickte bestimmt. »Siehst du, Evie? Es gibt letztlich doch keinen Grund zur Sorge. Oder, Bruder?«

Der Bruder ließ ein Lächeln aufblitzen. »Nein, Delphine. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.« Er wandte sich wieder an Evie und lächelte nun übers ganze Gesicht. »Der Mann in deinem Traum ist nicht der Teufel. Deshalb konntest du ihn auch nicht vertreiben. Der Mann in deinem Traum steht für die Stadt, die dich trägt und unterstützt auf deinem Weg zur Tugend, die dich vor dem Bösen errettet. Für diese großartige Stadt, die sich um uns alle kümmert, die nur das Beste will für uns – dafür steht dieser Mann. Das ist die Geborgenheit, die du fühlst. Und deshalb kehrst du immer wieder zu diesem Traum zurück. Du bist nicht böse, Evie. Letztlich bist du doch nicht böse.«

»Aber …« Evies Verstand raste. Das ergab alles keinen Sinn. Sie starrte ihren Vater an. Auch der lächelte.

»Die Stadt«, meinte er, warf dem Bruder einen Seitenblick zu und lächelte sie wieder an. »Geht es dir da nicht gleich viel besser? Kein Grund zur Sorge, Evie. Jetzt nicht mehr.«

Evie brachte ein Nicken zustande. Es fühlte sich nicht richtig an. Überhaupt nicht. Aber sie verstand, dass das ein Ausweg war – eine Möglichkeit, die Fragen zum Verstummen zu bringen und den verdächtigen Blicken der Eltern ein Ende zu machen.

»Danke, Bruder«, sagte sie und versuchte, dankbar dreinzublicken und gütig.

»Bitte sehr«, entgegnete der Bruder. »Ich bin froh, dass wir hier keine Kandidatin für eine zweite Neutaufe haben, nicht wahr, Evie?«

Evie nickte. Eine zweite Neutaufe. Das letzte Mittel gegen eine verlorene Seele. »Ja«, meinte sie leise. »Ja, Bruder. Danke. Möge die Stadt über mich wachen und möge das System mich belohnen und maßregeln.«

»Aber gern«, sagte der Bruder ernst. Dann hob er den Blick von Evie und wandte sich mit verändertem Ausdruck, mit hochgezogenen Brauen und glänzenden Augen, wieder an ihre Eltern. »Allerdings glaube ich, das System ist eher daran interessiert, Mr Bridges aus Straße Nummer 14 zu maßregeln. Die Neuigkeiten habt ihr doch schon gehört, oder?«

Evies Vater legte die Stirn in Falten. »Was für Neuigkeiten? Ist Mr Bridges in Schwierigkeiten? Mir kam er immer ganz nett vor. Gebildet.«

»Gebildet, in der Tat. Ein Forscher«, entgegnete der Bruder, die Brauen noch immer weit in die Stirn hochgezogen. »Forschung als Deckmäntelchen für seine wahren, abweichlerischen Pläne, bedauerlicherweise. Das System hat ihn auf Rang D herabgestuft. Ich rate euch dringend, euch von ihm fernzuhalten, wenn sein gefährliches Gedankengut nicht auch auf diese Gemeinschaft übergreifen soll.«

Evies Mutter schnappte nach Luft, aber Evie las aus ihrem Blick, dass sie bereits Bescheid wusste. Der Brief musste im Lauf des Tages bei Mr Bridges angekommen sein und morgen würde die Bekanntmachung an seinem Haus hängen. Die Kunde über eine Rangänderung verbreitete sich noch schneller als die Plaketten, obwohl diese fast täglich ersetzt wurden. Evies Vater war nicht zu haben für Klatsch; ihre Mutter dagegen sah darin als Bürgerin der Stadt geradezu eine Verpflichtung. »Dieser abscheuliche Mann«, meinte sie schaudernd. »Erst neulich war er im Tuchviertel und hat sich Kleidung gekauft. Wir werden einem solchen Mann nichts verkaufen, Bruder. Da kannst du dir sicher sein.«

Weise nickend meinte der Bruder: »Das ist auf jeden Fall eine gute Idee, Delphine. Die Betrachtungen gemahnen uns zwar, Bestrafung und Vergeltung dem System zu überlassen, doch wenn das Böse so offensichtlich in unserer Mitte wohnt, dann ist es unsere Pflicht, es zu vertreiben und anderen, die vom Bösen versucht werden, zu zeigen, dass wir es innerhalb dieser Mauern niemals dulden werden. Meint ihr nicht auch?«

»Von ganzem Herzen«, bekräftigte Evies Vater und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Wir müssen wachsam bleiben. Die ganze Zeit. Rund um die Uhr.«

»Du hast völlig recht«, pflichtete der Bruder bei. Dann schob er den Stuhl zurück und tätschelte sich den Bauch. »Nun, Delphine. Wie war das mit dem Kuchen? Ich glaube, wir sind nun alle so weit. Zeit zum Essen. Alles wieder gut, Evie?«

»Bestens«, log Evie, und sie begannen zu essen.

Der Bruder ging erst um zehn, nachdem er sich auf den Magen geklopft und eine dritte Portion vom hausgemachten Nachtisch abgelehnt hatte. Die Eltern brachten ihn zur Tür. Er umarmte die beiden und alle strahlten. Evies Vater verschwand danach gleich in seinem Arbeitszimmer und ihre Mutter ging mit finsterer Miene in die Küche.

»Das war das letzte Mal«, blaffte sie, »dass der Bruder deinetwegen ins Haus kommen muss. Ist das klar, junge Frau? Du bist kein Kind mehr. Du bist schon bald verheiratet. Und bis dahin, bis du dieses Haus endgültig verlässt, wirst du nichts mehr tun, was dem Bruder Sorgen macht. Er hat genug um die Ohren. Er ist ein wichtiger Mann, Evie. Hast du das verstanden?«

Sie starrte Evie ins Gesicht. Evie wurde rot und nickte. Eigentlich wollte sie einwenden, dass nicht sie den Bruder hergerufen hatte, sondern ihre Mutter – jedenfalls nahm sie das an –, aber sie ließ es bleiben. Sie hatte längst eingesehen, dass sich ein Streit mit der Mutter nicht lohnte.

Die Mutter setzte sich an den Tisch und seufzte. »Na? Willst du nicht den Tisch abräumen? Oder meinst du, es genügt nicht, dass ich das Essen gekocht habe?«

Evie sprang auf und stellte die Teller zusammen. »Natürlich nicht«, sagte sie hastig. »Es ist nur … Sonst möchtest du nicht, dass abgeräumt wird, bis …«

»Bis das Essen beendet ist. Bis die Gäste gegangen sind. Ja«, blaffte ihre Mutter. »Aber es dürfte doch wohl klar sein, dass dieser Abend zu Ende ist.«

Evie trug die Teller zum Spülbecken, ließ Wasser ein und machte sich mit der Bürste an die Arbeit. Sie fragte sich, seit wann sie ihre Mutter so enttäuschte, und was sie sich eigentlich hatte zuschulden kommen lassen, dass sie solchen Zorn erregte. Sie wusste nur, dass sie eine Last für ihre Mutter war und dass sie ihr keine Freude machte.

»Hast du Lucas heute gesehen?«

Evie wandte sich um. »Ja, Mutter.«

»Wenn du erst seine Frau bist«, sagte sie, »dann ist er für dich verantwortlich. Pass bloß auf, dass du ihn nicht verärgerst, Evie.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Evie aufgebracht. »Das würde ich nie tun.«

»Und dabei verärgerst du mich ständig und ohne jede Hemmung, oder etwa nicht?«

Evie ließ die Bürste sinken. »Ich will dich nicht verärgern«, sagte sie leise.

Ihre Mutter lachte freudlos auf. »Das willst du nicht? Lüg nicht, Evie. Du machst das doch mit Absicht. Warum sonst solltest du dich so verhalten? Warum schreist du ständig im Schlaf? Warum arbeitest du weiter beharrlich für die Regierung, anstatt mich ins Näherinnenviertel zu begleiten, wo ich auf dich achtgeben kann. Warum immer dieser verstohlene, geheimnisvolle Blick, mit dem du das Böse förmlich einlädst in dein Leben, anstatt es zu vertreiben?«

Evie starrte sie unsicher an und holte tief Atem. Sie musste ruhig bleiben. Sie musste dem Drang widerstehen, wütend zu werden, zu streiten und ihre Mutter damit nur noch mehr davon zu überzeugen, dass sie das Böse einlud. Niemand stritt in der Stadt. Schon gar nicht mit den eigenen Eltern. Evie fragte sich allerdings manchmal, ob das daran lag, dass niemand sonst Delphine als Mutter hatte. »Der Bruder hat dir meinen Traum doch erklärt«, sagte sie, als sie sicher war, dass sie ihre Stimme wieder im Griff hatte. »Und ich dachte, du freust dich, dass ich für die Regierung arbeite. Ich dachte …«

»Du dachtest? Nein, Evie. Du hast einfach nur gemacht, was du wolltest, ohne darüber nachzudenken. Was, glaubst du, denken die anderen Näherinnen von mir, wenn meine eigene Tochter nicht bei mir arbeiten will? Weißt du, wie das aussieht?«

Evie blickte ihre Mutter an. »Das hast du mir noch nie gesagt«, antwortete sie betroffen. »Du hast gesagt, dass du froh bist, dass ich Arbeit habe. Eine angesehene Stelle, die …«

»Ich sagte, dass ich froh bin, weil dein Vater froh ist«, schnitt die Mutter ihr das Wort ab. »Weil er nur das Beste in dir sehen will, Evie, und weil ich nicht will, dass er enttäuscht ist. Aber ich kenne die Wahrheit. Ich weiß, dass du etwas verbirgst. Ich habe es schon immer gewusst. Bilde dir also bloß nicht ein, du könntest deiner Mutter etwas vormachen. Glaub bloß nicht, dass ich dich jemals aus den Augen lasse.« Sie warf ihrer Tochter einen scharfen Blick zu, schob dann den Stuhl zurück und stand energisch auf. »Je früher du Lucas heiratest, desto besser.« Sie ging Richtung Tür. »Dann brauche ich mir endlich keine Sorgen mehr zu machen, du könntest Schande über uns bringen, Evie. Wollen wir hoffen, dass er sich ebenso leicht täuschen lässt wie dein Vater … Und dass er dich nicht durchschaut, bevor es zu spät ist.«

Evie sah ihr nach, drehte sich dann langsam wieder zum Spülbecken um. Wie eine Lawine wallte Wut in ihr auf. Wut, Trauer und Enttäuschung und alle anderen Dinge, die sie eigentlich nicht fühlen durfte, denn in der Stadt war jeder gut aufgehoben, und es gab keinen Platz für solche Empfindungen. Wut, Trauer und Enttäuschung brachten Menschen dazu, böse Dinge zu tun – das hatte damals auch zur Schreckenszeit geführt –, und diese Gefühle mussten daher aus den Herzen ferngehalten werden.

Doch Evie konnte das nicht. Und sie wollte es auch nicht. Sie war wütend auf ihre Mutter, auf sich selbst, auf alle und auf alles, was sich verschworen hatte, damit sie sich so hilflos und hoffnungslos fühlte. So ließ sie ihre Wut, ihre Trauer und ihre Enttäuschung tief in ihrem Innern köcheln, wo es nicht entdeckt würde. Sie erledigte den Abwasch und ging zu Bett.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Mitternacht. Ihre Eltern schliefen nun seit fast einer Stunde. Leise schlüpfte Evie aus ihrem Zimmer, den Flur entlang und zur Hintertür hinaus. Es war warm; sie hatte nur ihr Nachthemd an, irgendwelche Schuhe und eine dünne Jacke. Ihr Herz hämmerte laut in ihrer Brust, während sie weiterging. Wenn jemand sie sah, dann war es vorbei mit ihrem gewohnten Leben. Aber die Sehnsucht war zu heftig, das Verlangen zu groß. Behutsam hob sie den Riegel am Gartentor an und rannte den Durchgang entlang bis zu der kleinen Lichtung. Aufgeregt tastete sie sich auf den gewaltigen ausgehöhlten Baum mitten auf der Wiese zu, den sie schon seit Kindertagen kannte. Sie schob sich hinein, was nun mit fast eins fünfundsechzig gar nicht mehr so einfach war. Sie sah eine Kerze flackern und eine große Gestalt kauerte darüber. Evies Augen strahlten.

»Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen«, flüsterte Raffy, die Augen voller Verlangen. Er zog sich hoch und schloss sie in die Arme.

»Jetzt bin ich ja da«, flüsterte Evie, und ihre Lippen fanden sich, sie schlang die Arme um seinen Hals und genoss das vertraute Gefühl, irgendwo hinzugehören. Eine leichte Brise strich über ihre Stirn, als sie Raffy küsste, blies ihr das Haar aus dem Gesicht, und mit einem Mal kam sie sich irgendwie wild vor und zügellos, wie die Zigeuner in den Geschichten ihrer Mutter.

Es würde nicht gut gehen, das wusste sie. Das System würde dahinterkommen, was sie taten; sie wusste nicht, wie, aber es gab keinen Zweifel: Irgendwann kam alles heraus. Und wenn das System die Wahrheit erfuhr, würde es sie beide bestrafen für das, was sie taten. Sie würden Schande über ihre Familien und über die Stadt bringen. Sie würden Ds werden, oder noch schlimmer: auch ihre Eltern, weil sie in ihrer Fürsorgepflicht versagt hatten. Ihre Verlobung mit Lucas würde augenblicklich gelöst. Sie würde ihre Stelle bei der Behörde verlieren. Sie wäre eine Ausgestoßene, sie müsste mit ihren Händen arbeiten, Latrinen putzen wahrscheinlich; die anderen würden mit dem Finger auf sie zeigen und sie auf der Straße anspucken. Sie wusste das alles; das war es, was sie nachts quälte und sie wach hielt. Weswegen sie sich hasste und keine Freundschaften schloss oder irgendjemandem vertraute. Weil sie wusste, dass ihr Herz nicht so war wie bei den anderen, dass sie nicht gut war. Aber jetzt im Augenblick nahm sie dieses Schicksal an. Das System würde alles herausfinden und dann war selbst ein D noch zu gut für sie. Sie wäre eine Kandidatin für eine zweite Neutaufe; an der Schande würde sie ein Leben lang tragen.

Aber jetzt und hier, in dem dunklen Versteck, während alle schliefen, schob Evie ihre Ängste beiseite. Das System wusste nichts von ihnen. Noch nicht. Vielleicht konnte es im Dunkeln nicht sehen. Und selbst wenn, dann war ihr das in diesem Augenblick egal. Sie fühlte sich frei, glücklich – so war das Leben lebenswert. Und außerdem kam es ihr so vor, als sei es bei den Zigeunern in den Gutenachtgeschichten ihrer Mutter immer ziemlich lustig zugegangen, bevor sie von den Wölfen in Stücke gerissen wurden.


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