23

Leise stiegen sie die Treppe hinauf in den sechsten Stock. Hier war Evie noch nie gewesen, sie hatte keine Befugnis, ihn zu betreten. Doch sie fand sich sofort zurecht, denn alle Stockwerke waren gleich angelegt, und Raffy hatte ihr den Weg zu dem Raum gut beschrieben. Er saß da, über einen Computer gebeugt.

»Gleich fertig«, rief er, als sie die Tür öffneten. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«

Sie gingen in den Raum und Raffy sah auf. Falls er sich über ihr Kommen freute, so ließ er es sich nicht anmerken. »Oh, entschuldigt. Ich dachte, es wäre Linus.«

Evie spürte, wie der Mut sie verließ. Das war keine gute Idee. Sie konnte jetzt nicht mit Raffy reden. Es gab nichts zu sagen.

»Wo ist Linus?«, fragte Martha.

»Er ist rausgegangen«, sagte Raffy, der sich schon wieder auf seinen Computer konzentrierte und mit gerunzelter Stirn in die Tasten tippte. »Er wollte etwas holen.«

»Was holen?«, fragte Martha ziemlich schroff.

Raffy blickte ungeduldig auf. »Keine Ahnung. Irgendwas. Er hat gesagt, er wäre gleich wieder da.«

»Und wann war das?«

Raffy seufzte. »Ich weiß nicht. Vor ein paar Minuten. Zwanzig Minuten vielleicht. Ist das wichtig? Ich bin fast fertig. Ich muss mich nur noch ein paar Minuten konzentrieren …«

Martha sah auf die Uhr an der Wand. »Zwanzig Minuten? Wozu kann er zwanzig Minuten brauchen?«

Raffy schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich weiß es nicht, okay? Er kommt gleich wieder. Aber wenn ich hier nicht fertig werde …« Er hob vielsagend die Augenbrauen und Martha setzte sich.

Evie folgte ihrem Beispiel. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, in dem Lucas gearbeitet hatte, so als könnte er etwas zurückgelassen haben – als wäre ein Teil von ihm noch immer hier. Hin und wieder warf sie einen kurzen Blick auf Raffy. Was dachte er? Was dachte er wirklich? Was würde er antworten, wenn sie ihm sagte, dass sie ihn liebe, dass es ihr leidtue? Würde sie überhaupt die Gelegenheit dazu bekommen? Im Augenblick existierte sie jedenfalls nicht für ihn. Dann blickte er endlich auf.

»Okay«, sagte er und seufzte. »Fertig.«

»Fertig?« Martha sprang auf und trat an den Computer. »Du hast das Programm umgeschrieben?«

»Genau wie Linus es mir gesagt hat. Es kann jetzt nicht mehr orten. Es ist deaktiviert. Es kann eigentlich nicht mehr besonders viel.«

Martha schwieg einen Moment lang. »Ich suche Linus«, sagte sie. »Wartet hier auf mich.« Sie schlüpfte zur Türe hinaus und es wurde sehr still im Raum.

Evie holte tief Luft und stand auf. »Raffy.«

Er wandte sich zu ihr um. Er sah sie nicht direkt feindselig an, aber es fehlte nicht viel. »Ja?«

»Raffy, es tut mir leid. Ich will, dass du das weißt. Es tut mir wirklich sehr leid. Das mit Lucas. Ich … ich habe nie etwas für ihn empfunden. Gar nichts. Es war nur so, dass er mir in dieser Nacht so … so gebrochen vorkam. So verletzlich. Ich hatte schreckliche Angst, und ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber du musst wissen, dass ich dich liebe – nur dich. Mit dir bin ich geflohen und mit dir will ich zusammen sein. Für immer. Und es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe, und ich hasse mich dafür.«

»So?«, sagte Raffy. Seiner Stimme nach war ihm die Sache völlig gleichgültig, aber seine Augen sagten Evie etwas anderes und gaben ihr Hoffnung. Sie waren voller Schmerz und Trotz – dieselben Augen, die ihr damals fast das Herz zerrissen, als er seinen Vater verloren hatte und selbst gejagt und geächtet wurde. Augen, die sie zum Weinen brachten, weil sie dieses Mal schuld war an seinem Leid.

»Ja«, antwortete sie bestimmt und ging langsam auf ihn zu. »Raffy, ich war so unglücklich. Ich musste es dir erzählen, damit du die Wahrheit weißt. Ich wollte nicht, dass eine Lüge zwischen uns steht. Ich will, dass du mich liebst, Raffy. Alles an mir. Auch wenn ich manchmal etwas Dummes tue.« Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie wischte sie weg, denn sie wollte kein Mitleid, wollte nicht getröstet werden.

Raffy schwieg einen Augenblick. »Meinst du das wirklich ernst? Ich habe gesehen, wie er dich angeschaut hat. Gerade eben, als wir bei ihm waren. Hast du ihn auch angeschaut?«

Evies Herz setzte einen Moment aus. »Bestimmt nicht. Raffy, es hat immer nur uns beide gegeben. Nur dich und mich.«

»Aber warum musstest du ihn dann küssen?«, fragte er, und dann wurde seine Stimme brüchig. »Warum ausgerechnet der Mensch …? Warum Lucas?«

»Weil er dir das Leben retten wollte«, flüsterte Evie. »Weil mir klar geworden ist, dass er die ganze Zeit auf deiner Seite war. Ich will dich, Raffy, nicht ihn. Ich empfinde nichts für ihn. Gar nichts. Du musst mir glauben. Du musst …«

Sie sah zu ihm auf, und alles verschwamm ihr vor den Augen, weil sie sich mit Tränen füllten, und plötzlich war Raffy bei ihr, hielt sie fest und küsste sie – ihren Mund, ihre Nase, ihren tränennassen Hals … Und sie klammerte sich an ihn und küsste seinen Hals, seinen Mund, und einen Augenblick lang hätten sie irgendwo sein können, weit, weit weg von der Stadt, vom System und von allem, was sie so lange zurückgehalten hatte.

»Ich liebe dich«, murmelte er ihr ins Ohr. »Ich habe dich immer geliebt.«

»Ich habe dich auch immer geliebt«, flüsterte Evie. »Immer.«

Und dann hielten sie sich aneinander fest, als müssten ihre Körper verschmelzen, als hätten sie Angst, loszulassen, und es kam ihnen vor wie Stunden, obwohl es nur Sekunden gewesen sein konnten.

Die Tür ging auf, und langsam und widerstrebend lösten sie sich voneinander, doch sie ließen sich nicht ganz los. Evie fragte sich, ob sie ihn jemals wieder ganz loslassen konnte.

Doch als sie sich umwandten und Martha und Linus begrüßen wollten, erstarrten sie, ihre Augen weiteten sich, und bei jedem von beiden begann das Herz schneller zu schlagen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

»Lucas!«, rief Raffy aus, als er ihn sah. Evie nahm ganz verschwommen wahr, dass er sich von ihrer Seite löste, ohne Vorwarnung losstürzte und Lucas zu Boden riss und auf ihn einschlug.

»Du Mistkerl! Du kannst es nicht zulassen, dass ich irgendetwas für mich habe?«, tobte er. »Du hast mir meinen Vater genommen und dann alle meine Freunde. Und du musstest mir auch noch Evie nehmen. Du musstest es versuchen.«

»Raffy, hör auf«, sagte Lucas zwischen zusammengebissenen Zähnen, während er einen Schlag nach dem anderen einsteckte. Und dann sah Evie zu ihrer Überraschung, wie Lucas die Hände seines Bruders packte und sie ihm auf den Rücken drehte. Er tat das in einer fast mühelosen, geschmeidigen Bewegung und mit einer Kraft, wie Evie es zuvor nur ein einziges Mal bei ihm gesehen hatte – gegen die Peiniger von Mr Bridges. Raffy wurde zu Boden gedrückt, und er trat um sich, hilflos und enttäuscht, wie ein Käfer auf dem Rücken. Lucas presste seine Knie auf Raffys Beine, sodass Raffy stillhalten musste.

»Bist du jetzt fertig?«, fragte er leise.

Raffy schüttelte den Kopf, schäumend vor Wut. »Niemals.«

Lucas blickte auf Raffy hinunter und seine Augen umwölkten sich. Er schien plötzlich müde zu sein. Raffy bemerkte es und wollte sich aus dem Griff herauswinden, doch Lucas war zu schnell für ihn und drehte ihn auf den Bauch, sodass er ihm das Kinn gegen den Boden presste.

»Du musst mir zuhören«, sagte Lucas leise. »Es war nicht meine Schuld, dass Vater abgeholt wurde. Er wusste, dass man ihn zum K erklären wollte. Der Bruder wollte ihn aus dem Weg räumen. Deshalb hat er mich eingeweiht. Er hat gesagt, ich soll ihn verraten, damit ich frei bin von jedem Verdacht. Er hat mir gesagt, wie ich mich in der Hierarchie hinaufarbeiten und wie ich ins System eindringen kann, damit ich seine Arbeit fortsetze. Ich musste es ihm versprechen, Raffy.«

»Und deshalb hast du Evie geküsst? Du tust so, als würdest du mir helfen, aber das stimmt nicht, Lucas. Ich weiß nicht, was für ein Spiel du spielst, aber ich durchschaue dich, auch wenn es sonst niemand tut.«

»Ich habe Evie geküsst, weil … weil …« Lucas sah auf, begegnete Evies Blick, und etwas in ihr machte einen Satz, sodass sie erschauerte – war es Schmerz, Angst, Verlangen? – und die Augen niederschlug. »Ich weiß nicht, warum. Es war dumm.«

Die Antwort versetzte Evie einen Stich der Enttäuschung, doch sie verdrängte das Gefühl sofort. Ängstlich sah sie, wie Lucas seinen Bruder losließ, aber Raffy rührte sich nicht, sondern starrte Lucas herausfordernd an.

Lucas seufzte. »Es tut mir leid«, sagte er. »Okay? Das alles tut mir leid. Wirklich, Raffy. Ist es das, was du hören willst?«

Raffy rollte sich auf die Seite, stand auf und humpelte wieder zu Evie hin. »Tja, also, mir tut es auch leid«, sagte er. »Leid für dich.«

Lucas nickte stumm. Er vermied es, Evie anzuschauen; sie bemerkte es, weil auch sie es vermied. Sie traute sich nicht, ihn anzuschauen, traute den Gefühlen nicht, die das auslösen könnte. Stattdessen nahm sie Raffys Hand, drückte sie und hielt sie fest. War es dumm gewesen? Natürlich. Dumm war genau das richtige Wort.

Lucas stand langsam auf. »Wo sind eigentlich Linus und Martha? Es ist alles bereit, sodass ihr loskönnt.«

»Genau, wo ist er?«, fragte Martha, die eben in den Raum trat. »Ich habe ihn überall gesucht, aber ich finde ihn nicht.«

Lucas fuhr erschrocken herum. »Das verstehe ich nicht. Alles läuft wie ein Uhrwerk. Wo kann er nur hingegangen sein?«

Martha verzog das Gesicht. »Er könnte überall sein. Das ist typisch für Linus. Man weiß nie genau, was er denkt, hinter diesem ewigen Grinsen.«

Lucas legte die Stirn in Falten. »Soll ich euch stattdessen zum Tor bringen?«, fragte er, doch Martha schüttelte den Kopf.

»Wir gehen nicht ohne ihn«, erklärte sie. »Aber inzwischen müssten doch alle im Versammlungshaus sein, oder?«

Lucas nickte.

»Und der Bruder?«

»Der ist auch dort – gefesselt im Hinterzimmer. Mr Bridges passt dort auf ihn auf, aber …«

»Aber du musst jetzt auch dorthin zurück«, sagte Martha. »Das verstehe ich, und ich glaube, wir sollten alle mitkommen.«

»Zum Versammlungshaus?«, fragte Raffy unsicher. »Aber wir sollten doch eigentlich verschwinden. Wenn sie uns sehen … Wenn die Polizeigarde erfährt, dass wir hier …«

»Ja, aber wie ich Linus kenne, und ich glaube, ich kenne ihn ziemlich gut, kann er eigentlich nur zum Versammlungshaus gegangen sein«, sagte Martha. »Und wenn er dort ist, dann müssen auch wir dorthin.« Sie wandte sich an Lucas. »Kannst du uns so dorthin bringen, dass uns niemand sieht?«

»Klar.« Lucas nickte.

»Dann los«, sagte Martha mit entschlossener Miene. »Gehen wir und holen ihn.«

Die Straßen lagen verlassen da, dennoch liefen sie tief geduckt, drückten sich dicht an die Hauswände, blickten verstohlen um sich und zuckten beim leisesten Geräusch zusammen. Die Versehrten waren fort; vermutlich hatte Angel sie in aller Heimlichkeit wieder nach draußen gebracht, und eine gespenstische Stille lag über der Stadt. Alle waren nun im Versammlungshaus – alle, bis auf die Polizeigarde, die weiter durch die Straßen patrouillierte. Keiner sprach, während sie sich weiter in die Stadt hineinschlichen, hin zu den Menschen, denen sie, jeder auf seine Weise, entkommen waren.

Evies Kehle war wie zugeschnürt vor Angst. Raffy ging rechts neben ihr. Immer wieder nahm er sie an der Hand, warf ihr einen Blick zu oder drückte ihre Schulter. Dann sah sie ihn an, lächelte und nickte zum Zeichen, dass alles in Ordnung war. Und Lucas wandte sich immer wieder um und flüsterte Martha etwas zu und sah Evie dabei in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick dann ein oder zwei Sekunden lang, bevor sie sich zwang, die Augen abzuwenden, und ängstlich zu Raffy schaute, um zu sehen, ob er etwas bemerkt hatte, ob er Bescheid wusste.

Aber Raffy blickte geradeaus, immer geradeaus.

»Okay, wir sind da«, sagte Lucas. Sie kamen zur Rückseite des Versammlungshauses, über einen Weg, auf dem Evie noch nie gegangen war. »Wartet hier und bleibt in einer dunklen Ecke. Ich gehe hinein und schaue, ob ich Linus finde.«

»Ich komme mit«, verkündete Raffy. Lucas sah ihn prüfend an und schüttelte den Kopf. »Das ist zu gefährlich«, entgegnete er. »Du musst hierbleiben und dich verstecken.«

»Weil ich ein K bin? Du bist doch jetzt auch ein K. Warum ist es für mich gefährlich und für dich nicht?«

»Weil …« Lucas räusperte sich. Anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte. Dann legte er Raffy die Hände auf die Schultern. »Weil mich niemand vermisst, wenn ich sterbe. Ich habe getan, worum Dad mich gebeten hat. Du … Evie braucht dich. Du musst auf sie aufpassen.«

Raffy wollte etwas sagen, dann wandte er sich um und sah Evie an, die ihn verzweifelt anstarrte, weil sie ihn nicht gehen lassen, aber auch nicht zurückhalten wollte.

»Bin gleich wieder da«, sagte Lucas und beendete das Schweigen. Dann machte er sich allein auf. Genau wie immer, dachte Evie.

Das Versammlungshaus war brechend voll, genau wie Lucas es erwartet hatte. Die ganze Bevölkerung der Stadt war in den höhlenartigen Mauern zusammengekommen. Alle redeten besorgt miteinander, fragten herum und tauschten Vermutungen aus, sodass ein fast ohrenbetäubendes Summen entstand. Lucas hatte Mühe, alles auszublenden, während er sich zu dem Hinterzimmer durchdrängte, wo er den Bruder zurückgelassen hatte. Wo konnte Linus nur sein? Beim Bruder? Vergewisserte er sich, ob Lucas gute Arbeit geleistet hatte? Oder wo sonst? Wenn Linus sich in der Menge befand, würde er ihn nie finden. Lucas seufzte; auf dem Weg zum Hinterzimmer wurde ihm klar, dass er Linus kaum kannte, dass er jahrelang einem Mann vertraut hatte, über den er so gut wie nichts wusste.

Aber sein Vater hatte Linus vertraut und das genügte. Es musste genügen.

Er kam zu der Tür, vor der Mr Bridges wartete. »Danke«, sagte Lucas. »Vielen Dank. Sie können jetzt gehen. Sie haben mir sehr geholfen.«

Mr Bridges sah sich ängstlich um. Lucas legte ihm die Hand auf die Schulter. »Der Bruder hat Sie nicht gesehen, er weiß nicht, wer ihn bewacht hat. Niemand weiß, dass Sie mir geholfen haben. Gehen Sie und setzen Sie sich in die Versammlung – und morgen schon hat sich Ihr Rang geändert, endgültig, so wie bei allen anderen Bewohnern auch. Und die Ränge werden sich nicht wieder ändern. Das System ist deaktiviert. Es gibt keine Ränge mehr. Sie sind frei. Verstehen Sie?«

Mr Bridges nickte, doch in seinem Blick stand immer noch Angst.

»Und Sie?«, fragte er. »Was passiert mit Ihnen?«

»Machen Sie sich um mich keine Sorgen.« Lucas lächelte. »Es gibt noch etwas, was ich erledigen muss, das ist alles. Aber nochmals danke. Ich kann Ihnen gar nicht sagen …«

»Nicht der Rede wert«, unterbrach ihn Mr Bridges. »Das war doch das Mindeste, das ich tun konnte. Als ich Ihnen damals gesagt habe, ich würde mich für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen, war das auch so gemeint.« Er streckte ihm zitternd die Hand hin und Lucas ergriff sie. »Sie sind ein mutiger Mann«, flüsterte Mr Bridges. »Ein guter Mann. Ich hoffe, dass Sie eines Tages auch ein glücklicher Mann sein können.« Mit diesen Worten ging er, tauchte ein in die Dunkelheit auf dem Weg zum großen Saal, zurück zu seiner Gemeinschaft, zurück dorthin, wo er hingehörte. Lucas sah ihm eine Weile nach und fragte sich, ob er selbst jemals irgendwohin gehören würde … Er riss sich zusammen. Er gehörte hierher, und zwar jetzt. Er musste Linus finden. Er musste zu Ende bringen, was er begonnen hatte. Er atmete durch, zog den Schlüssel hervor und öffnete die Tür.

Der Bruder, geknebelt und an einen Stuhl gefesselt, so wie er ihn verlassen hatte – das war die Szenerie, die er erwartet hatte, doch das Zimmer war leer. Keine Spur vom Bruder; keine Spur von irgendjemandem.

Er fuhr herum, wollte Mr Bridges rufen und fragen, was passiert war, doch es war zu spät, Mr Bridges war längst weg; unmöglich, ihn zu finden. Mr Bridges hätte den Bruder nicht gehen lassen. Aber niemand sonst hatte gewusst, wo der Bruder war. Lucas rannte zum einzigen Fenster in dem Raum, hoch oben in der Wand, reckte sich und zog am Griff; es war offen. Der Bruder war also entkommen, ohne Wissen von Mr Bridges. Aber wie? Wie konnte er sich aus den Fesseln befreien, wo Lucas doch selbst die Knoten festgezogen hatte? Seine Gedanken rasten, sein Puls ging schneller, und der Schweiß brach ihm aus, als ihm klar wurde, wie verzweifelt die Lage war. Er hörte lautes Schreien und erschrak, als er eine der Stimmen erkannte. Er sprang am Fenster hoch, doch es war zu weit oben, und er konnte nicht sehen, was unten vor sich ging. Er rannte aus dem Raum und über den Korridor auf die Tür zu, durch die er in das Gebäude gekommen war. Eine Stimme war die des Bruders gewesen, die andere hatte er nicht erkannt, aber er hatte einen Verdacht. Er musste sie zum Schweigen bringen, bevor die Leute etwas hörten, bevor alles, was sie so minutiös geplant hatten, zunichtegemacht war. Ohne sich darum zu kümmern, wer ihn sehen konnte, riss Lucas die Tür auf und rannte um das Gebäude herum zu der Stelle, wo er die Stimmen gehört hatte.

»Lucas.« Es war der Bruder, der das sagte. Er stand mit dem Rücken zum Gebäude, vor ihm stand Linus. Ein paar Sekunden lang musterte Lucas den Mann, den er schon so lange entfernt kannte. Im Krankenhaus war er zu benommen gewesen, um viel mitzubekommen. Linus war groß und gut gebaut, athletischer, als Lucas ihn sich vorgestellt hatte, mit kurzen grauen Haaren. Er drehte den Kopf, um Lucas zu begrüßen. Sein Gesicht erinnerte ihn an einen überreifen Pfirsich, voller Falten und Linien wie eine ausgedörrte Landschaft. Voller Wärme, aber zäh und stark – das Gesicht von einem, der überlebte, wo andere aufgaben. »Lucas«, sagte er mit einem Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitete. »Es ist gut, dich zu sehen. Sind die anderen schon weg?«

Sam starrte auf die Wand vor ihm. Verlor er gerade den Verstand? Hatte er tatsächlich gesehen, wen er glaubte, gesehen zu haben? Mit schnellen Schritten ging er auf den Eingang des Versammlungshauses zu. Noch immer keine Spur vom Bruder, trotz dessen klarer Anweisung, ihn hier zu treffen – schon vor einer halben Stunde. Und jetzt Lucas. Es war Lucas gewesen. Er wusste es. Diese aufrechte Körperhaltung hätte er überall erkannt. Aber wenn Lucas hier war und der Bruder nicht …

Er machte kehrt und marschierte zur Rückseite des Gebäudes, wo zwei Polizeigardisten Wache hielten und den Bürgern versicherten, dass sie drinnen sicher seien, dass die Bösen sie an so einem heiligen Ort nicht belästigen würden. »Ich glaube, ihr könntet etwas Verstärkung gebrauchen«, sagte Sam.

»Verstärkung?«, fragte ein Gardist verwundert. »Es gibt keine Verstärkung. Alle jagen hinter den Bösen her. Warum? Was ist los?«

»Der Bruder ist verschwunden und eben habe ich einen K im Gebäude gesehen«, sagte Sam und zog die Augen zu Schlitzen zusammen. »Rufen Sie also bitte Verstärkung, sonst muss ich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.« Er drehte sich ein Stück zur Seite, damit der Gardist seine Plakette sehen konnte mit der Goldlitze darauf, die Sam als einen Auserwählten des Bruders kenntlich machte.

Der Gardist wurde bleich und nickte. »Ja, Sir. Ich werde mich sofort darum kümmern. Verlassen Sie sich darauf, Sir.«

»Gut«, sagte Sam und rauschte davon.


Загрузка...