Aus einem mir selbst nicht näher bekannten Grund vertraue ich George hin und wieder meine innersten Gefühle an. Da er zwar zu großem Mitgefühl fähig ist, dieses jedoch ausschließlich ihm selbst vorbehalten bleibt, ist das ein sinnloses Unterfangen, aber ab und an lasse ich mich dennoch dazu hinreißen.
Zum damaligen Zeitpunkt war ich allerdings so sehr von Selbstmitleid erfüllt, daß ich wohl gar nicht anders gekonnt hätte.
Nach einem reichhaltigen Abendessen in der Peacock Alley warteten wir gerade auf unsere Erdbeertorteletts, als ich sagte: »George, ich habe es satt, daß sich die Kritiker niemals die Mühe machen, meinem Werk tatsächlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es interessiert mich nicht, was sie tun würden, wenn sie an meiner Stelle wären. Schließlich können sie nicht schreiben, sonst würden sie ihre Zeit nicht damit verschwenden, Rezensionen zu verfassen. Und jene, die zumindest ein wenig schreiben können, benutzen ihre Kritiken ja doch nur dazu, um andere schlecht zu machen, die ihnen überlegen sind. Und außerdem ... «
Aber in diesem Augenblick wurden die Erdbeertorteletts gebracht, und George ergriff die Gelegenheit, das Gespräch an sich zu reißen. Allerdings hätte er das auch getan, wenn das Dessert nicht in diesem Moment eingetroffen wäre.
»Alter Junge«, sagte er, »du mußt noch lernen, den Launen des Schicksals mit Gelassenheit zu begegnen. Stell dir einfach vor - denn es ist die Wahrheit -, daß deine armseligen Kritzeleien so wenig Einfluß auf die Welt haben, daß es vollkommen gleichgültig ist, was die Kritiker darüber sagen, wenn sie sich denn überhaupt die Mühe machen, sich zu äußern. Derartige Gedanken werden dich zutiefst erleichtern und verhindern, daß du ein Magengeschwür bekommst. Besonders in meiner Anwesenheit solltest du solche rührseligen Reden vermeiden - worauf du von selbst kommen würdest, wenn du sensibel genug wärest, um zu erkennen, daß mein Werk sehr viel bedeutender ist als deines und die Kritiken, die ich erhalte, mitunter viel niederschmetternder sind.«
»Willst du etwa behaupten, daß du auch schreibst?« fragte ich spöttisch und grub meinen Löffel in das Tortelett.
»Nein«, erwiderte George und machte sich ebenfalls über sein Tortelett her. »Aber ich bin eine weitaus bedeutendere Persönlichkeit, ein Wohltäter der Menschheit - ein unterschätzter, verkannter Wohltäter der Menschheit.«
Ich hätte schwören können, daß eine winzige Träne sein linkes Auge benetzte. »Ich kann mir nicht vorstellen«, sagte ich freundlich, »daß jemand eine so schlechte Meinung von dir haben könnte, um dich in irgendeiner Weise zu unterschätzen.«
»Ich will über deinen Spott hinwegsehen«, sagte George, »da er dir nun einmal im Blut liegt, und werde dir erzählen, daß ich gerade an eine schöne Frau namens Holunderbeere Muggs denken mußte.«
»Holunderbeere?« fragte ich ein wenig ungläubig.
Sie hieß tatsächlich Holunderbeere [sagte George]. Ich weiß nicht, warum ihre Eltern ihr diesen Namen gegeben haben. Vielleicht haben sie sich an einen zärtlichen Augenblick vor ihrer Hochzeit erinnert. Holunderbeere war der Meinung, daß ihre Eltern ein wenig mit Holunderwein beschwipst gewesen waren, während jener Begebenheit, der sie ihr Leben verdankte. Sie hätte es sonst im Leben womöglich gar nicht erst so weit gebracht.
Jedenfalls bat mich ihr Vater, ein alter Freund, bei ihrer Taufe den Paten zu geben, und ich konnte ihm den Wunsch nicht abschlagen. Viele meiner Freunde sind von meiner vornehmen Erscheinung und meinem offenen und tugendhaften Antlitz so beeindruckt, daß sie sich in einer Kirche nur wohl fühlen, wenn ich an ihrer Seite sitze. Deshalb bin ich schon des öfteren Taufpate gewesen. Natürlich nehme ich diese Angelegenheit sehr ernst und bin mir der Verantwortung, die mit diesem Amt verbunden ist, durchaus bewußt. Deshalb bemühe ich mich in späteren Jahren auch um eine gute Beziehung zu meinen Patenkindern, besonders wenn sie von so überirdischer Schönheit sind wie Holunderbeere.
Ihr Vater starb, als sie gerade zwanzig geworden war, und wie das Schicksal es wollte, erbte sie ein beachtliches Sümmchen Geld, was ihrer Schönheit in den Augen der Welt selbstverständlich nicht abträglich war. Ich selbst bin natürlich darüber erhaben, viel Aufhebens um etwas so Nebensächliches wie Geld zu machen, aber ich hielt es für meine Pflicht, sie vor Mitgiftjägern zu schützen. Ich bemühte mich also noch stärker darum, unsere Beziehung zu pflegen und besuchte sie häufig zum Essen. Schließlich mochte sie ihren Onkel George über alles - wie du dir sicher vorstellen kannst -, und das kann ich ihr auch nicht verdenken.
Außerdem hatte Holunderbeere den Notgroschen, den ihr Vater ihr hinterlassen hatte, gar nicht wirklich nötig. Sie war eine recht bekannte Bildhauerin geworden, und der künstlerische Wert ihrer Werke wurde durch den hohen Preis bestätigt, den sie bei ihrem Verkaut regelmäßig erzielte.
Ich persönlich konnte mit ihren Arbeiten wenig anfangen. Mein Kunstgeschmack ist eher ätherisch, und ich kann deshalb an Werken nichts finden, die sie zum Vergnügen jener Vertreter der ungebildeten Masse geschaffen hat, die sich ihre Preise leisten konnten.
Ich erinnere mich, daß ich sie einmal gefragt habe, was eine bestimmte Skulptur darstelle.
»Wie du siehst«, sagte sie, »trägt das Werk den Titel >Storch im Fluge<.«
Ich betrachtete das Objekt, das aus feinster Bronze gegossen war, etwas genauer und sagte: »Ja, ich habe das Schild gelesen. Aber wo ist der Storch?«
»Hier«, sagte sie und wies auf einen kleinen Metallkegel, der aus einem eher formlosen Bronzesockel herausragte und am oberen Ende spitz zulief.
Ich betrachtete ihn nachdenklich und sagte dann: »Ist das ein Storch?«
»Natürlich, mein alter Schnurzelbutz«, sagte sie (sie sprach mich immer mit solchen Kosenamen an). »Das ist die Spitze des langen Storchenschnabels.«
»Reicht das denn aus, Holunderbeere?«
»Vollkommen«, erwiderte Holunderbeere. »Nicht den Storch selbst will ich darstellen, sondern die abstrakte Vorstellung vom Storch an sich, und das ist genau das, was einem diese Skulptur vor Augen führt.«
»Tatsächlich«, sagte ich ein wenig ratlos, »jetzt, wo du's sagst. Aber auf dem Schild steht, daß sich der Storch im Fluge befindet. Wie soll das zu verstehen sein?«
»Aber Mausebärchen«, rief sie, »siehst du denn nicht diesen etwas formlosen Bronzesockel?«
»Ja«, sagte ich. »Er ist ja kaum zu übersehen.«
»Und du wirst mir sicher zustimmen, daß Luft - so wie überhaupt jedes Gas - eine formlose Masse ist. Nun, und dieser etwas formlose Bronzesockel ist eindeutig eine abstrakte Darstellung der Atmosphäre. Wie du siehst, befindet sich auf der Oberfläche des Sockels eine waagerechte schmale Linie.«
»fa. Jetzt wird mir alles klar.«
»Das ist die abstrakte Darstellung eines Fluges durch die Atmosphäre.«
»Bemerkenswert«, sagte ich. »Wie mir das alles deutlich wird, wenn du es erklärst. Wieviel wirst du denn für die Skulptur bekommen?«
»Ach«, sagte sie und winkte nachlässig ab, »zehntausend Dollar vielleicht. Es ist ein so einfaches und offensichtliches Werk, daß ich nicht wagen würde, mehr dafür zu verlangen. Es ist eher zufällig entstanden. Nicht wie jenes dort.« Sie wies auf ein Wandgemälde aus Jutesäcken und Kartonstückchen, in dessen Mitte sich ein zerbrochener Schneebesen befand, der mit etwas bekleckert war, das aussah wie getrocknetes Ei.
Ich betrachtete das Gemälde respektvoll. »Sicher unbezahlbar!« sagte ich.
»Das denke ich auch«, sagte sie. »Schließlich ist es kein neuer Schneebesen, weißt du. Er besitzt die Patina des Alters. Ich habe ihn aus irgendeinem Müllbeutel geholt.«
Und dann, ich kann mir nicht erklären warum, begann ihre Unterlippe zu zittern und sie sagte mit bebender Stimme: »Ach, Onkel George.«
Sofort war ich von Unruhe und Sorge erfüllt. Ich griff nach ihrer schöpferischen linken Hand mit den starken Fingern einer Bildhauerin und drückte sie. »Was hast du denn, mein Kind?«
»Ach, George«, sagte sie. »Ich habe es so satt, mir diese einfachen Abstraktionen auszudenken, nur weil sie dem Geschmack der Menge entsprechen.« Sie legte die Knöchel ihrer rechten Hand an die Stirn und sagte dramatisch: »Ich wünschte so sehr, ich könnte das machen, was ich gern möchte, was mir mein Künstlerherz eingibt.«
»Und was wäre das, Holunderbeere?«
»Ich möchte experimentieren. Ich möchte neue Wege beschreiten.
Ich möchte das versuchen, was noch nie versucht wurde, das wagen, was nie gewagt wurde und das herstellen, was eigentlich nicht herstellbar ist.«
»Warum tust du es dann nicht, mein Kind? Du bist doch sicher reich genug, um tun und lassen zu können, was du willst?«
Plötzlich lächelte sie, und ihr ganzes Gesicht leuchtete vor Schönheit. »Danke, Onkel George«, sagte sie. »Danke, daß du das gesagt hast. Ich gönne mir das auch - hin und wieder. Ich habe ein geheimes Zimmer, in dem ich meine kleinen Experimente aufbewahre. Werke, die nur das gebildete Auge des Künstlers zu würdigen weiß. Kaviar für die Massen«, fügte sie hinzu.
»Darf ich sie mir ansehen?«
»Natürlich, mein lieber Onkel. Schließlich hast du mich in meinen Hoffnungen bestärkt - wie könnte ich es dir da abschlagen?«
Sie hob einen schweren Vorhang an, hinter dem sich eine geheime Tür befand - kaum sichtbar, so genau war sie in die Wand eingepaßt. Sie drückte einen Knopf, und die Tür öffnete sich. Wir gingen hindurch, und als sich die Tür hinter uns geschlossen hatte, ließen grelle Neonröhren den fensterlosen Raum, in den wir getreten waren, in taghellem Licht erstrahlen.
Mein Blick fiel sofort auf die Skulptur eines Storches, die aus einem schweren, harten Material angefertigt war. Jede Feder saß an der richtigen Stelle, die Augen leuchteten, der Schnabel war leicht geöffnet und die Flügel waren halb ausgebreitet. Das Tier sah aus, als wolle es sich jeden Augenblick in die Lüfte erheben.
»Gütiger Himmel, Holunderbeere«, sagte ich. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Gefallt es dir? Ich nenne es >photografische Kunst< und ich glaube, es besitzt eine ganz eigene Schönheit. Natürlich äußerst experimentell. Kritiker und Öffentlichkeit würden mich auslachen und verspotten, weil sie nichts damit anzufangen wüßten. Sie wissen nur einfache Abstraktionen zu schätzen, die vollkommen oberflächlich sind und die jeder verstehen kann. Kunst wie diese hier erschließt sich nur dem Scharfsinnigen und dem, der bereit ist, sich auf den langsamen Verständnisprozeß einzulassen.«
Danach genoß ich hin und wieder das Privileg, ihr geheimes Zimmer besuchen zu dürfen und die seltenen Stücke zu betrachten, die unter ihren starken Fingern und ihrem geübtem Meißel entstanden. Ich war voller Bewunderung für den Kopf einer Frau, der Holunderbeere wie aus dem Gesicht geschnitten war.
»Ich nenne es >Der Spiegel««, sagte sie und lächelte scheu. »Es ist ein Abbild meiner Seele, findest du nicht auch?«
Ich stimmte ihr begeistert zu.
Ich denke, das hat sie schließlich dazu gebracht, mir das größte ihrer Geheimnisse zu zeigen.
Ich sagte zu ihr: »Holunderbeere, wie kommt es, daß du gar keine ...« Ich hielt inne, doch ich wollte nicht um den heißen Brei herumreden und fuhr deshalb fort: »... Verehrer hast?«
»Verehrer«, sagte sie mit einem verächtlichen Blick. »Pah! Sie scharen sich geradezu um mich, diese Möchtegern-Verehrer, von denen du sprichst. Aber wie kann ich sie zur Kenntnis nehmen? Ich bin Künstlerin. In Herz, Geist und Seele trage ich ein Bild von wahrer männlicher Schönheit, dem kein Mann aus Fleisch und Blut nahekommen kann. Das und nur das kann mein Herz gewinnen. Das und nur das hat mein Herz gewonnen.«
»Es hat dein Herz gewonnen, mein Kind?« sagte ich sanft. »Du bist ihm also schon begegnet?«
»In der Tat ... Aber komm, Onkel George, du sollst ihn sehen. Du sollst mein großes Geheimnis mit mir teilen.«
Wir kehrten in das Zimmer mit der photographischen Kunst zurück, und dort wurde noch ein dicker Vorhang zur Seite gezogen und gab den Blick auf eine Wandnische frei, die ich zuvor noch nicht gesehen hatte. In dieser Wandnische befand sich die Statue eines Mannes, etwa eins achtzig groß, nackt und - so weit ich das beurteilen kann -, bis auf den letzten Millimeter anatomisch korrekt.
Holunderbeere drückte einen Knopf, und die Statue begann sich auf ihrem Sockel langsam zu drehen, so daß ihre glatte Symmetrie und ihre vollkommenen Proportionen aus jedem Blickwinkel zu erkennen waren.
»Mein Meisterwerk«, hauchte Holunderbeere.
Ich bin kein besonderer Bewunderer männlicher Schönheit, aber in Holunderbeer es hübschem Gesicht sah ich eine atemlose Begeisterung, die deutlich machte, daß sie vollkommen von Liebe und Anbetung erfüllt war.
»Du bist in diese Statue verliebt«, sagte ich und vermied mit Bedacht das unpersönliche Pronomen >es<.
»Oh ja«, sagte sie. »Ich würde mein Leben für ihn geben. Solange es ihn gibt, erscheinen mir alle anderen Männer mißgestaltet und häßlich. Jede Berührung eines anderen Mannes würde in mir ein Gefühl des Abscheus hervorrufen. Ich will nur ihn. Nur ihn.«
»Mein armes Kind«, sagte ich. »Die Statue ist nicht lebendig.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie niedergeschlagen. »Es zerreißt mir das Herz. Was soll ich nur tun?«
Ich murmelte: »Wie traurig! Das erinnert mich an die Geschichte des Pygmalion.«
»Wessen Geschichte?« fragte Holunderbeere, die wie alle Künstler recht einfach gestrickt war und von der großen weiten Welt keinen blassen Schimmer hatte.
»Pygmalion. Das ist eine Geschichte aus dem Altertum. Pygmalion war ein Bildhauer so wie du, außer natürlich, daß er ein Mann war. Wie du hat er eine wunderschöne Statue geschaffen, nur hat er aufgrund besonderer männlicher Vorurteile eine Frau gestaltet, die er Galatea nannte. Die Statue war so schön, daß Pygmalion sich in sie verliebte. Du siehst, genau wie in deinem Fall, nur daß du eine lebende Galatea bist und die Statue ein aus Marmor gehauener ... «
»Nein«, sagte Holunderbeere energisch, »erwarte nicht, daß ich ihn Pygmalion nenne. Das ist ein rauher, derber Name, und ich will etwas Poetisches. Ich nenne ihn«, und ihr Gesicht leuchtete erneut voller Liebe auf, »Dirk. Dieser Name, Dirk, hat so etwas Weiches, Musikalisches, das meine Seele berührt. Aber was ist mit Pygmalion und Galatea geschehen?«
Ich sagte: »Von Liebe überwältigt, betete Pygmalion zu Aphrodite ... «
»Wen?«
»Aphrodite, die griechische Göttin der Liebe. Er betete zu ihr und aus Mitleid hat sie die Statue zum Leben erweckt. Galatea wurde eine lebendige Frau, heiratete Pygmalion und beide lebten glücklich bis an ihr Lebensende.«
»Hmm«, grübelte Holunderbeere, »ich nehme an, Aphrodite existiert eigentlich gar nicht, oder?«
»Nein, eigentlich nicht. Allerdings ...« Ich hielt inne. Ich glaube nicht, daß Holunderbeere mich verstanden hätte, wenn ich ihr von einem zwei Zentimeter großen Dämon namens Azazel erzählt hätte.
»Zu schade«, sagte sie. »Wenn irgend jemand Dirk für mich zum Leben erwecken könnte, wenn jemand diesen harten, kalten Marmor in warmes, weiches Fleisch verwandeln könnte, würde ich ihn überschütten mit ... Oh, Onkel George, kannst du dir vorstellen, wie es wäre, Dirk zu umarmen und sein warmes, weiches Fleisch unter deinen Händen zu spüren - so weich ... so weich ...« Sie murmelte diese Worte in inniger Verzückung.
Ich sagte: »Nun, meine liebe Holunderbeere, eigentlich möchte ich mir das ungern vorstellen. Aber ich kann verstehen, daß du den Gedanken reizvoll findest. Du sagtest gerade, wenn jemand diesen harten, kalten Marmor in weiches, warmes Fleisch verwandeln könnte, würdest du ihm etwas geben. Hattest du da tatsächlich an etwas Bestimmtes gedacht, Liebes?«
»Aber natürlich! Ich würde ihm eine Million Dollar geben.«
Ich hielt inne, wie jeder das aus Respekt vor einer solchen Summe getan hätte. Dann sagte ich: »Besitzt du tatsächlich eine Million Dollar, Holunderbeere?«
»Ich habe sogar zwei Millionen von diesen hübschen Scheinchen, Onkel George«, sagte sie auf ihre einfache und unverdorbene Art. »Die Hälfte davon wegzugeben, würde mir nichts ausmachen. Dirk wäre es wert. Außerdem könnte ich sie jederzeit wieder verdienen, indem ich ein paar Abstraktionen für die Masse zusammenklopfe.«
»So ist das also«, sagte ich. »Nun, dann Kopf hoch, Holunderbeere. Wir wollen doch mal sehen, was dein Onkel George für dich tun kann.«
Das war eindeutig ein Fall für Azazel. Ich rief also meinen kleinen Freund herbei, der zufälligerweise aussieht wie ein zwei Zentimeter kleiner Teufel mit zwei winzigen Hörnchen und einem spitz zulaufenden, zuckenden Schwanz.
Wie üblich hatte er schlechte Laune, und er bestand darauf, meine Zeit damit zu verschwenden, mir in ziemlich langweiligen Einzelheiten zu erzählen, warum er gerade so schlechte Laune hatte. Offenbar hatte er sich an einem Kunstwerk versucht - zumindest nach den Maßstäben seiner lächerlichen Welt, denn obwohl er es bis ins kleinste Detail beschrieb, konnte ich nicht verstehen, worum es sich dabei handelte - und es war von den Kritikern verrissen worden. Ich nehme an, Kritiker sind überall im Universum gleich - bösartig und nichtsnutzig, allesamt.
Allerdings solltest du dich wohl glücklich schätzen, daß die Kritiker auf der Erde zumindest noch über ein Quentchen Anstand verfügen. Wenn man Azazel Glauben schenken darf, ist das, was die Kritiker über ihn gesagt haben, weitaus schlimmer als alles, was jemals über dich geäußert wurde. Noch das harmloseste der Adjektive würde bei uns jeden anständigen Künstler zwingen, seinen Kritiker zum Duell herauszufordern. Die Ähnlichkeit eurer Beschwerden war es, die mich an diese Begebenheit erinnert hat.
Nur mit Mühe konnte ich seine Tirade lange genug unterbrechen, um meine Bitte vorzutragen, er möge doch diese Statue zum Leben erwecken. Er stieß einen spitzen Schrei aus, der mir in den Ohren weh tat. »Ich soll ein auf Silikat basierendes Material in eine Lebensform aus Kohlenstoff und Wasser verwandeln? Warum bittest du mich nicht gleich darum, dir aus Exkrementen einen Planeten zu erschaffen? Wie soll ich Stein in lebendiges Fleisch verwandeln?«
»Dir fällt sicher etwas ein, o Mächtiger«, sagte ich. »Denk doch nur, wenn du diese enorme Aufgabe vollbringst, kannst du das auf deiner Welt erzählen, und deine Kritiker würden sich wie ein Haufen dummer Esel vorkommen.«
»Sie sind weit schlimmer als ein Haufen dummer Esel«, sagte Azazel. »Wenn sie sich wie dumme Esel vorkommen würden, würde das ihren Wert um einiges übersteigen. Ein solches Gefühl wäre für sie ein Belohnung. Ich möchte, daß sie sich wie eine Horde Farfelanimaren fühlen.«
»Genau so würden sie sich fühlen. Alles, was du tun mußt, ist kalt in warm zu verwandeln, Stein in Fleisch und hart in weich. Besonders weich. Eine junge Frau, die ich sehr schätze, möchte die Statue umarmen und unter ihren Fingerspitzen weiches, elastisches Fleisch spüren. Das sollte nicht allzu schwierig sein. Die Statue ist das perfekte Abbild eines menschlichen Wesens. Du mußt sie nur mit Muskeln, Blutgefäßen, Organen und Nerven füllen, sie mit Haut überziehen - und fertig!«
»Einfach nur damit füllen, was? Nicht mehr, ja?«
»Denk doch nur, deine Kritiker werden sich wie Farfelanimaren fühlen.«
»Hmm. Das ist aber noch nicht alles. Weißt du, wie ein Farfelanimar riecht?«
»Nein, aber sag es mir nicht. Du kannst mich als Modell benutzen.«
»Modell - Schmodell«, sagte er mürrisch (woher er diese Ausdrücke hat, weiß ich auch nicht). »Hast du eine Ahnung, wie kompliziert selbst das primitivste menschliche Gehirn ist?«
»Nun«, sagte ich, »mit dem Gehirn mußt du dir nicht so viel Mühe geben. Holunderbeere ist ein einfaches Mädchen, und was sie von der Statue will, dafür braucht man nicht viel Hirn, glaube ich.«
»Du mußt mir die Statue zeigen, damit ich mir ein Bild von ihr machen kann«, sagte er.
»Abgemacht. Aber denk daran: Erwecke die Statue zum Leben, während wir sie betrachten, und sorge dafür, daß sie unsterblich in Holunderbeere verliebt ist.«
»Liebe ist einfach. Das ist nur eine Frage der richtigen Hormone.«
Am nächsten Tag brachte ich Holunderbeere dazu, mir noch einmal die Statue zu zeigen. Azazel lugte aus der Brusttasche meines Hemdes heraus und gab hin und wieder ein leises helles Schnauben von sich. Zum Glück hatte Holunderbeere nur Augen für ihre Statue und hätte nicht einmal bemerkt, wenn zwanzig lebensgroße Dämonen neben ihr erschienen wären.
»Nun?« sagte ich später zu Azazel.
»Ich werde es versuchen«, sagte er. »Ich werden ihn nach deinem Vorbild mit Organen füllen. Ich nehme an, daß du ein durchschnittlicher Vertreter deiner widerlichen, minderwertigen Spezies bist.«
»Mehr als durchschnittlich«, sagte ich herablassend. »Ich bin ein hervorragendes Exemplar.«
»Nun gut. Ihre Statue soll vollkommen aus weichem, warmen, vibrierendem Fleisch bestehen. Allerdings wird sie nach eurer Zeitrechnung noch bis morgen mittag warten müssen. Ich möchte nichts überstürzen.«
»Ich verstehe. Sie und ich werden bereit sein.«
Am nächsten Morgen rief ich Holunderbeere an. »Holunderbeere, mein Kind, ich habe mit Aphrodite gesprochen.«
Holunderbeere flüsterte aufgeregt: »Meinst du damit, es gibt sie wirklich, Onkel George?«
»In gewissem Sinne schon, mein liebes Kind. Dein idealer Mann wird heute mittag vor unseren Augen zum Leben erwachen.«
»Du meine Güte«, sagte sie leise. »Beschwindelst du mich auch nicht, Onkel George?«
»Ich schwindele nie«, sagte ich wahrheitsgemäß. Aber ich muß zugeben, daß ich ein wenig nervös war, denn ich verließ mich in dieser Angelegenheit vollkommen auf Azazel. Allerdings hat er mich auch noch nie im Stich gelassen.
Um die Mittagszeit standen wir wieder vor der Wandnische und betrachteten die Statue, die mit leerem Blick in die Ferne starrte. Ich sagte zu Holunderbeere: »Geht deine Uhr auch richtig, Liebes?«
»Oh ja, ich habe sie mit der Sternwarte abgeglichen. Es dauert noch eine Minute.«
»Die Veränderung kann sich natürlich auch ein oder zwei Minuten später vollziehen. Solche Dinge lassen sich nicht genau bestimmen.«
»Eine Göttin sollte eigentlich pünktlich sein«, sagte Holunderbeere. »Warum ist sie sonst eine Göttin?«
Das nenne ich wahren Glauben! Und sie sollte recht behalten, denn auf die Sekunde genau um zwölf Uhr durchlief ein Zittern die Statue. Ihre Farbe wandelte sich von totem Marmorweiß hin zu dem warmen Rosa lebendigen Fleisches. Langsam kam Bewegung in ihren Körper, die Arme senkten sich, die Augen nahmen ein lebendiges, blaues Glitzern an, die Haare auf ihrem Kopf färbten sich hellbraun, ebenso wie an anderen passenden Körperstellen. Der Mann senkte den Kopf und blickte Holunderbeere an, die nach Luft rang.
Langsam und ungelenk stieg er vom Sockel herunter und ging mit ausgestreckten Armen auf Holunderbeere zu.
»Ich Dirk. Du Holunderbeere«, sagte er.
»Oh, Dirk«, sagte Holunderbeere und sank in seine Arme.
Sie standen lange in inniger Umarmung versunken da, dann blickte sie über die Schulter zu mir herüber und sagte mit verzückt leuchtenden Augen: »Dirk und ich werden einige Tage zu Hause bleiben, du weißt schon, Flitterwochen. Aber dann, Onkel George, werde ich dich besuchen.« Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, als würde sie Geld zählen.
Daraufhin leuchteten meine Augen ebenfalls verzückt und ich schlich mich aus dem Haus. Ehrlich gesagt, fand ich es ein wenig unschicklich, daß eine vollkommen bekleidete junge Frau sich so innig von einem nackten Mann umarmen ließ, aber ich war sicher, daß Holunderbeere diesen Umstand sofort nach meinem Weggehen berichtigen würde.
Zehn Tage lang wartete ich auf Holunderbeeres Anruf, aber ich hörte nichts von ihr. Das überraschte mich nicht, denn ich dachte mir, daß sie wohl anderweitig beschäftigt war. Dennoch glaubte ich, daß man nach zehn Tagen einmal Zeit zum Luftholen haben müßte. Außerdem hielt ich es nur für angemessen, daß nun auch mein Wunsch erfüllt werden sollte, nachdem ihr sehnlichster Wunsch durch Azazels und meine Bemühungen erfüllt worden war.
Ich stattete dem Haus, in dem ich das glückliche Paar zurückgelassen hatte, einen Besuch ab und klingelte. Es dauerte eine Weile, bis sich etwas regte, und in meinem Inneren sah ich schon zwei junge Menschen vor mir, die an übermäßiger Verzückung gestorben waren, als sich die Tür einen Spalt breit öffnete.
Es war Holunderbeere. Sie sah vollkommen normal aus, wenn man einen ärgerlichen Gesichtsausdruck als normal bezeichnen will. Sie sagte: »Ach, du bist's.«
»Natürlich«, sagte ich. »Ich hatte schon befürchtet, ihr hättet die Stadt verlassen, um eure Flitterwochen etwas auszudehnen.« Ich sagte nichts von meiner Vermutung, sie könnten während der Flitterwochen ihr Leben ausgehaucht haben. Ich hielt das für nicht besonders diplomatisch.
Sie sagte: »Und was willst du?«
Das klang nicht besonders freundlich. Ich konnte verstehen, daß ihr die Unterbrechung ungelegen kam, aber nach zehn Tagen konnte man wohl eine kurze Ablenkung verschmerzen.
Ich sagte: »Da war diese unbedeutende Angelegenheit von einer Million Dollar, mein Kind.« Ich schob die Tür auf und trat ins Haus.
Sie blickte mich mit einem höhnischen Lächeln an und sagte: »Alles, was du bekommst, sind Bubkes.«
Ich weiß nicht, was Bubkes sind, aber mir wurde auf der Stelle klar, daß es sich dabei um sehr viel weniger als eine Million Dollar handelte.
Verwirrt und ein wenig verletzt sagte ich: »Warum? Was ist schief gegangen?«
»Was schief gegangen ist?« sagte sie. »Das fragst du noch? Ich sage dir, was schier gegangen ist. Als ich den Wunsch geäußert habe, Dirk solle weich sein, meinte ich damit nicht, daß er überall am Körper und immer weich sein soll.«
Mit der Kraft der Bildhauerin schob sie mich aus dem Haus und knallte die Tür zu. Während ich noch vollkommen verblüfft dastand, öffnete sie die Tür noch einmal und sagte: »Und wenn du noch einmal hierherkommst, wird Dirk dich in Stücke reißen. Er ist nämlich sonst in jeder Hinsicht stark wie ein Stier.«
Also ging ich. Was hätte ich sonst tun sollen? Siehst du nun, was ich mir für Kritik an meinen künstlerischen Werken gefallen lassen muß? Also komm mir nicht mit deinen bedeutungslosen Klagen.
Als George die Geschichte beendet hatte, schüttelte er den Kopf und sah dabei so niedergeschlagen aus, daß es mir wirklich zu Herzen ging.
Ich sagte: »George, ich weiß, daß du Azazel die Schuld dafür gibst, aber der kleine Kerl konnte nichts dafür. Du hast immer wieder betont, er solle die Statue weich machen ... «
»Das hat Holunderbeere auch getan«, erwiderte George entrüstet.
»Ja, aber du hast Azazel gesagt, er solle dich für seine Eingriffe an der Statue als Vorbild nehmen, und das erklärt sicher, warum ... «
George hob energisch die Hand und funkelte mich an.
»Das«, sagte er, »verletzt mich noch mehr als der Verlust des Geldes, das ich mir verdient hatte. Damit du's weißt - obwohl ich meine besten Jahre hinter mir habe ...«
»Ja, ja, George. Es tut mir Leid. Hier, ich glaube, ich schulde dir zehn Dollar.«
Nun, zehn Dollar sind immerhin zehn Dollar. Zu meiner Erleichterung nahm George den Schein entgegen und lächelte.