Frühlingsgefühle

George und ich blickten über den Fluß hinweg zum Campus des College am anderen Ufer hinüber. Nachdem sich George auf meine Kosten satt gegessen hatte, war er in eine nostalgische Rührseligkeit verfallen.

»Ach, Collegezeiten!« seufzte er. »Was kann einem das Leben bieten, das diese Erfahrungen übertreffen könnte?«

Ich musterte ihn überrascht. »Sag bloß, du bist auf's College gegangen!«

Er blickte mich herablassend an. »Weißt du etwa nicht, daß ich der beste Präsident bin, den die Pi-Pa-Po-Verbindung jemals gehabt hat?«

»Aber wie konntest du die Studiengebühren bezahlen?«

»Stipendien!« sagte er. »Ich wurde förmlich mit Stipendien überschüttet, nachdem ich in den Studentenwohnheimen meine Fähigkeiten in den Schlachten ums kalte Büffet unter Beweis gestellt hatte. Außerdem hatte ich einen wohlhabenden Onkel.«

»Ich wußte nicht, daß du einen wohlhabenden Onkel hast, George.«

»Als ich die vereinfachten Studiengänge nach sechs Jahren abgeschlossen hatte, weilte er leider nicht mehr unter uns. Zumindest nicht mehr in dem Maße wie vorher. Das wenige Geld, das er vor dem Ruin retten konnte, hat er schließlich einem Heim für bedürftige Katzen vermacht. In seinem Testament hat er außerdem einige Bemerkungen über mich hinterlassen, die ich hier nicht wiedergeben möchte. Ich führe ein trauriges Leben, stets von allen verkannt.«

»Irgendwann einmal«, sagte ich, »mußt du mir das in allen Einzelheiten erzählen.«

»Aber«, fuhr George fort, »die Erinnerung an meine Collegezeit erfüllt mein entbehrungsreiches Leben mit einem goldenen Glanz. Diese Erinnerungen sind mit ganzer Macht zurückgekehrt, als ich vor einigen Jahren wieder einmal den Campus der alten Tate University besucht habe.«

»Sie haben dich noch einmal eingeladen?« fragte ich und versuchte, nicht allzu ungläubig zu klingen.

»Ich bin sicher, sie hätten es getan«, sagte George. »Aber eigentlich bin ich auf Wunsch eines lieben Kommilitonen aus meiner Collegezeit dorthin zurückgekehrt - dem alten Antiochus Schnell.«

Da dich meine Geschichte offenbar fasziniert [sagte George], will ich dir mehr über den alten Antiochus Schnell erzählen. Damals waren wir unzertrennliche Freunde, er war mein fidus Achates (warum ich allerdings dergleichen klassische Anspielungen auf einen Simpel wie dich verschwende, weiß ich selbst nicht). Obwohl er viel stärker gealtert ist als ich, erinnere ich mich noch heute an die Tage, als wir zusammen Goldfische geschluckt, uns mit unseren Freunden in Telefonzellen gedrängt oder mit einer geschickten Handbewegung vergnügt quieksenden Studentinnen die Höschen heruntergezogen haben. Kurz gesagt, wir haben all die erhabenen Freuden eines fortschrittlichen Instituts genossen.

Als mich also der alte Antiochus Schnell in einer Angelegenheit von größter Wichtigkeit zu sehen wünschte, war ich sofort zur Stelle.

»George«, sagte er, »es geht um meinen Sohn.«

»Den jungen Artaxerxes Schnell?«

»Richtig. Vor einem Jahr hat er sein Studium an der alten Tate University begonnen, aber er bereitet mir große Sorgen.«

Meine Augen verengten sich. »Ist er in schlechte Gesellschaft geraten? Hat er Schulden gemacht? Oder sich mit einer ältlichen Kellnerin eingelassen?«

»Schlimmer! Viel schlimmer!« sagte der alte Antiochus Schnell mit versagender Stimme. »Er hat es mir selbst nie erzählt - wahrscheinlich fehlte ihm der Mut dazu -, aber einer seiner Kommilitonen hat sich mit einem schockierten Brief vertraulich an mich gewandt. George, alter Freund, mein armer Sohn - ich will es geradeheraus sagen und nichts beschönigen - studiert Differenzialrechnung!«

»Er studiert Differenz...«, ich konnte es nicht über mich bringen, dieses schreckliche Wort auszusprechen.

Der alte Antiochus Schnell nickte verzweifelt. »Und Volkswirtschaft. Er besucht tatsächlich Kurse und ist sogar beim Lernen beobachtet worden.«

»Gütiger Himmel!« sagte ich entsetzt.

»Ich kann es immer noch nicht fassen, George. Wenn Artaxerxes' Mutter davon erfahren würde, wäre das ihr Ende. Sie ist eine sensible Frau und nicht bei bester Gesundheit. Im Namen unserer alten Freundschaft beschwöre ich dich, George, der Tate University einen Besuch abzustatten und der Sache auf den Grund zu gehen. Wenn der Junge von irgend jemandem zu diesem Lerneifer überredet wurde, bring ihn irgendwie wieder zu Verstand -um seiner Mutter und seiner selbst willen, wenn schon nicht für mich.«

Mit Tränen in den Augen schüttelte ich ihm die Hand. »Nichts wird mich aufhalten können«, sagte ich. »Kein anderer Gedanke soll mich von dieser heiligen Pflicht ablenken. Und wenn es mich den letzten Tropfen Blut kostet - und da wir gerade bei Kosten sind: Ich brauchte einen Scheck.«

»Einen Scheck?« sagte der alte Antiochus Schnell mit bebender Stimme. Er war schon immer einer großer Geizhals gewesen.

»Hotelzimmer«, sagte ich, »Essen, Getränke, Trinkgelder, Inflation und allgemeine Unkosten. Es ist für deinen Sohn, mein alter Freund, nicht für mich.«

Nachdem ich den Scheck schließlich erhalten hatte und im Tate angekommen war, verlor ich keine Zeit und verabredete ein Treffen mit dem jungen Artaxerxes. Ich erlaubte mir gerade einmal ein gutes Abendessen, einen hervorragenden Brandy, eine erholsame Nacht und ein gemütliches Frühstück, bevor ich ihn in seinem Zimmer aufsuchte.

Der Anblick dieses Zimmers erschütterte mich zutiefst. An sämtlichen Wänden befanden sich Regale, die nicht etwa mit irgendwelchem gefälligen Schnickschnack gefüllt waren, mit Flaschen, die der Kunst des Winzers Ehre gemacht hätten, oder gar mit Fotos reizender Mädchen, die auf unerklärliche Weise ihrer Kleidung verlustig gegangen waren - nein, in den Regalen standen Bücher.

Eines dieser Bücher lag ganz unverhohlen aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, und ich glaube, daß er eben noch darin geblättert hatte. Sein rechter Zeigefinger machte einen verdächtig staubigen Eindruck, und er versuchte, ihn ungeschickt hinter seinem Rücken zu verbergen.

Aber Artaxerxes' Anblick war noch erschütternder. Natürlich erkannte er in mir einen alten Freund der Familie. Ich hatte ihn neun Jahre lang nicht mehr gesehen, doch in dieser Zeit hatten sich meine vornehme Haltung und mein frisches, offenes Antlitz nicht verändert. Vor neun Jahren war Artaxerxes jedoch ein unscheinbarer zehnjähriger Junge gewesen. letzt war er zwar nicht mehr wiederzuerkennen, aber immer noch ein vollkommen unscheinbarer Jugendlicher von neunzehn Jahren. Er war kaum einen Meter sechzig groß, trug eine große, runde Brille und machte einen ausgemergelten Eindruck.

»Wieviel wiegst du?« fragte ich ihn geradeheraus.

»Achtundvierzig Kilo«, flüsterte er.

Ich starrte ihn mit aufrichtigem Mitleid an. Er war ein achtundvierzig Kilo leichter Schwächling. Er mußte geradezu zur Zielscheibe von Spott und Verachtung werden.

Doch dann wurde mir ganz weich ums Herz, als ich dachte: der arme, arme Junge! Wie sollte er mit einem solchen Körperbau an jenen Aktivitäten teilnehmen, die für eine ausgewogene Collegeausbildung unerläßlich sind? Fußball? Leichtathletik? Ringkampf? Sackhüpfen? Wenn einer der anderen Jungen rief: »Ich kenne da eine alte Scheune. Wir könnten uns Kostüme nähen und dort ein Musical aufrühren!« - was sollte er dann tun? Konnte er mit solchen Lungen überhaupt singen außer einen dünnen Sopran?

Er mußte geradezu gegen seinen Willen in die Schande abgleiten.

Leise, beinahe sanft sagte ich: »Artaxerxes, mein junge, stimmt es, daß du Differenzialrechnung und Volkswirtschaft studierst?«

Er nickte: »Und Anthropologie.«

Ich unterdrückte einen empörten Aufschrei und fuhr fort: »Und stimmt es, daß, du Kurse besuchst?«

»Tut mir Leid, Sir, aber das stimmt. Am Ende des Jahres möchte ich auf der Liste herausragender Studenten stehen.«

In einem seiner Augen hatte sich eine verräterische Träne gebildet, und trotz meines Entsetzens schöpfte ich ein wenig Hoffnung - immerhin war ihm bewußt, wie tief er gesunken war.

Ich sagte: »Mein Kind, kannst du nicht wenigstens jetzt von diesem abscheulichen Verhalten Abstand nehmen und zu einem reinen und unbefleckten Collegeleben zurückkehren?«

»Das kann ich nicht«, sagte er schluchzend. »Ich habe mich schon zu weit davon entfernt. Niemand kann mir noch helfen.«

Ich hielt mich nun schon an jedem Strohhalm fest. »Gibt es denn keine einzige anständige Frau an diesem College, die sich um dich kümmern könnte? Die Liebe einer guten Frau hat schon oft Wunder gewirkt, und daran hat sich sicher bis heute nichts geändert.«

Seine Augen leuchteten auf. Ich hatte offenbar einen Nerv getroffen. »Philomel Kribb«, seufzte er. »Sie ist Sonne, Mond und Sterne, die das Meer meiner Seele erleuchten.«

»Ah!« sagte ich, denn ich hatte die Gefühle bemerkt, die sich hinter seiner beherrschten Ausdrucksweise verbargen. »Weiß sie davon?«

»Wie könnte ich ihr davon erzählen? Das Ausmaß ihrer Verachtung würde mich niederschmettern.«

»Würdest du nicht das Differenzialrechnen aufgeben, um ihre Zuneigung zu gewinnen?«

Er ließ den Kopf sinken. »Ich bin schwach - so schwach.«

Ich verließ ihn mit dem festen Entschluß, auf der Stelle nach Philomel Kribb zu suchen.

Sie war nicht schwer zu finden. Im Immatrikulationsbüro fand ich schnell heraus, daß sie einen Abschluß in Fortgeschrittenem Cheerleading anstrebte, mit Revuetanz als Nebenfach. Ich fand sie im Cheerleading-Studio.

Geduldig wartete ich, bis das komplizierte Gestampfe und melodiöse Geschrei vorbei war und fragte dann, welches der Mädchen Philomel sei. Sie war blond, von mittlerer Größe, strotzte förmlich vor Gesundheit und Schweiß, und ihre Figur entlockte mir ein zustimmendes Nicken. Unter Artaxerxes' irregeleitetem Lerneifer verbarg sich offenbar doch ein Bewußtsein der wahren Interessen eines Collegestudenten.

Nachdem sie geduscht und ihre farbenprächtige und knappe Collegeuniform angezogen hatte, gesellte sie sich zu mir, so frisch und strahlend wie ein taubesprenkeltcs Kornfeld.

Ich kam sofort zur Sache und sagte: »Der junge Artaxerxes hält dich für die astronomische Erleuchtung seines Lebens.«

Ich hatte den Eindruck, daß ihr Blick ein wenig sanfter wurde, als sie sagte: »Der arme Artaxerxes. Er hätte wirklich Hilfe nötig.«

»Er könnte ein wenig Hilfe von einer anständigen Frau gebrauchen«, warf ich ein.

»Ich weiß«, sagte sie, »und ich bin so anständig wie sonst niemand - das habe ich zumindest gehört.« Ihre Wangen überzogen sich mit einer betörenden Röte. »Aber was kann ich tun? Gegen die Natur komme ich nicht an. Bullwhip Costigan nutzt jede Gelegenheit, um Artaxerxes zu demütigen. Er verspottet ihn vor aller Augen, schubst ihn herum, schlägt ihm seine dummen Bücher aus den Händen, und das alles unter dem Gelächter der versammelten Menge. Sie wissen ja, wie sich der Frühling auf die Gemüter auswirkt.«

»Ach ja«, sagte ich versonnen, als ich mich an jene glücklichen Tage erinnerte und daran, wie oft ich einen Gegner beim Kragen gepackt hatte. »Frühlingsgefühle!«

Philomel seufzte. »Ich habe seit langem gehofft, daß Artaxerxes Bullwhip einmal auf gleicher Augenhöhe begegnen würde - ein Hocker wäre dabei hilfreich, denn Bullwhip ist über eins achtzig. Aber aus irgendeinem Grund gelingt das Artaxerxes nicht. Diese ganze Lernerei«, sie schauderte, »schwächt die Moral.«

»Zweifellos. Aber wenn du ihn aus diesem Sumpf herausholen würdest ... «

»Ach Sir, tief in seinem Inneren ist er ein freundlicher und aufmerksamer junger Mann, und ich würde ihm helfen, wenn ich könnte. Aber gegen meine Gene komme ich nicht an, und die ziehen mich nun mal zu Bullwhip hin. Bullwhip ist gutaussehend, muskulös und dominant, und solche Eigenschaften beeindrucken einen Cheerleader wie mich natürlich sehr.«

»Und wenn Artaxerxes sich gegen Bullwhip durchsetzen würde?«

»Ein Cheerleader«, sagte sie, richtete sich stolz auf und offenbarte dabei ein recht beeindruckendes Dekollete, »muß seinem Herzen folgen, und es würde sich unweigerlich vom Verlierer abwenden und zum Gewinner hingezogen fühlen.«

Das waren einfache Worte, und ich wußte, dieses ehrliche Mädchen sprach aus den Tiefen ihrer Seele.

Nun war mir klar, was ich zu tun hatte. Wenn Artaxerxes dem unbedeutenden Unterschied von zwanzig Zentimetern und fünfzig Kilo zum Trotz Bullwhip zu Boden schickte, würde Philomel ihm gehören. Sie würde aus ihm einen echten Mann machen, der einem Leben entgegensah, das von so wichtigen Dingen wie Biertrinken und Fußballübertragungen im Fernsehen bestimmt war.

Das war eindeutig ein Fall für Azazel.

Ich weiß nicht, ob ich dir schon einmal von Azazel erzählt habe. Er ist ein zwei Zentimeter großes Wesen aus einer anderen Dimension, das ich mit Hilfe geheimer Zaubersprüche und Beschwörungsformeln herbeirufen kann, die nur ich allein kenne.

Azazel verfügt über Kräfte, die den unseren weit überlegen sind. Darüber hinaus besitzt er jedoch keine angenehmen Eigenschaften, denn er ist ein überaus selbstsüchtiges Wesen, das seine eigenen belanglosen Angelegenheiten stets über meine wichtigen Bedürfnisse stellt.

Dieses Mal erschien er auf der Seite liegend. Seine kleinen Augen waren geschlossen, und sein winziger Schwanz peitschte träge durch die Luft.

»Oh Mächtiger«, sagte ich, denn er bestand darauf, daß man ihn mit diesem Namen ansprach.

Er öffnete die Augen und stieß sofort ein ohrenbetäubendes Pfeifen aus, am obersten Rand meiner Hörskala. Sehr unangenehm.

»Wo ist Ashtaroth?« rief er. »Wo ist meine liebste Ashtaroth, die eben noch in meinen Armen lag?«

Dann bemerkte er mich und sagte mit einem Zähneknirschen: »Ach, du bist's! Ist dir klar, daß du mich gerade in dem Augenblick gerufen hast, als Ashtaroth ... Aber lassen wir das.«

»Stell dir vor«, sagte ich, »wenn du mir rasch geholfen hast, kannst du eine halbe Minute nachdem du verschwunden bist wieder in dein Kontinuum zurückkehren. Ashtaroth wird sich über deine plötzliche Abwesenheit gewundert haben, aber sie wird noch nicht wütend sein. Dein Wiederauftauchen wird sie mit großer Freude erfüllen, und was immer ihr gerade getan habt, könnt ihr noch einmal tun.«

Azazel dachte einen Augenblick nach und sagte dann mit einem für seine Verhältnisse liebenswürdigen Tonfall: »Dein Geist ist klein, du primitiver Wurm, aber verschlagen. Das kann jemandem mit meinen überragenden geistigen Fähigkeiten, dem seine offene und aufrichtige Natur Schwierigkeiten bereitet, zum Vorteil gereichen. Was für eine Hilfe benötigst du?«

Als ich ihm von Artaxerxes' und Philomels Misere erzählte, dachte er einen Augenblick nach und sagte dann: »Ich könnte ihm stärkere Muskeln schenken.«

Ich schüttelte den Kopf. »Muskeln allein sind nicht genug. Geschicklichkeit und Mut ist, was er am dringendsten braucht.«

Azazel erwiderte entrüstet: »Soll ich mir etwa meinen Schwanz dafür ausreißen, um seine geistigen Fähigkeiten zu vergrößern?«

»Hättest du etwas besseres vorzuschlagen?«

»Natürlich. Schließlich bin ich dir nicht umsonst unendlich überlegen. Wenn dein schwächlicher Freund seinen Feind nicht direkt angreifen kann, wie wäre es dann mit wirkungsvollen Ausweichmanövern?«

»Du meinst, indem er sehr schnell davonläuft?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß das besonders eindrucksvoll wäre.«

»Ich habe nicht gesagt, daß er flüchten soll; ich meinte Ausweichmanöver. Ich müßte lediglich seine Reaktionszeit stark verkürzen, was bei meinen Fertigkeiten ein Leichtes ist. Damit er seine Kraft nicht sinnlos verschwendet, könnte ich es so einrichten, daß diese kürzere Reaktionszeit von einem Adrenalinschub ausgelöst wird. Mit anderen Worten, er wird nur über diese Fähigkeit verfügen, wenn er sich in einem Zustand der Furcht, der Wut oder anderer starker Gefühle befindet. Du mußt lediglich ein kurzes Treffen mit ihm arrangieren, und ich werde mich um alles kümmern.«

»Abgemacht«, sagte ich.

Innerhalb der nächsten Viertelstunde besuchte ich Artaxerxes in seinem Zimmer im Studentenwohnheim und gab Azazel Gelegenheit, von der Brusttasche meines Hemdes aus einen Blick auf ihn zu werfen. Azazel war somit in der Lage, das autonome Nervensystem des jungen Mannes aus nächster Nähe zu beeinflussen und dann zu seiner Ashtaroth zurückzukehren und das fortzusetzen, wobei ich ihn gestört hatte.

Als nächstes verfaßte ich einen Brief, imitierte dabei geschickt die Schreibweise eines Collegestudenten - mit Wachsstift geschriebene Druckbuchstaben - und schob ihn unter Bullwhips Tür hindurch. Ich mußte nicht lange warten. Bullwhip hing eine Nachricht ans schwarze Brett, in der er Artaxerxes aufforderte, ihn in der Wirtsstube des Leckenden Feinschmeckers zu treffen, und Artaxerxes hütete sich davor, abzulehnen.

Philomel und ich kamen ebenfalls dorthin und standen am Rande einer Menge fröhlicher Collegestudenten, welche die Vorstellung kaum erwarten konnten. Artaxerxes, dem die Zähne klapperten, hielt einen schweren Wälzer mit dem Titel Handbook of Chemistry and Physics in Händen. Selbst in dieser extremen Situation konnte er von seiner Sucht nicht ablassen.

Bullwhip stand breitbeinig da, und seine Muskeln zeichneten sich auf furchterregende Weise unter dem mit Bedacht zerrissenen T-Shirt ab. Er sagte: »Schnell, mir ist zu Ohren gekommen, daß du über mich Lügen verbreitet hast. Da ich ein echter Kerl bin, gebe ich dir die Chance, alles abzustreiten, bevor ich dich in Stücke reiße. Hast du jemandem erzählt, du hättest mich ein Buch lesen sehen?«

Artaxerxes sagte: »Ich habe dich einmal in einem Comic blättern sehen, aber du hast das Heft falsch herum gehalten. Deshalb war ich nicht der Meinung, du würdest darin lesen und habe das auch niemandem erzählt.«

»Hast du jemandem gesagt, ich hätte Angst vor Mädchen und würde den Mund groß aufreißen, ohne daß etwas dahinter wäre?«

Artaxerxes sagte: »Ich habe einmal gehört, wie ein paar Mädchen das gesagt haben, Bullwhip, aber ich habe es nicht wiederholt.«

Bullwhip hielt einen Augenblick inne. Das Schlimmste kam noch. »Okay, Schnell, hast du jemals zu jemandem gesagt, ich sei eine heimliche Schwuchtel?«

Artaxerxes sagte: »Nein, Sir. Ich habe gesagt, daß du vollkommen debil bist.«

»Dann streitest du also alles ab?«

»Ganz entschieden.«

»Und gibst zu, das nichts davon der Wahrheit entspricht?«

»Unbedingt.«

»Und daß du ein dreckiger Lügner bist, der sich in die Hosen pißt?«

»Absolut.«

»Dann«, sagte Bullwhip mit zusammengebissenen Zähnen, »werde ich dich nicht umbringen. Ich werde dir nur den einen oder anderen Knochen brechen.«

»Frühlingsgefühle«, riefen die Collegestudenten und lachten, während sie um die beiden Streithähne einen Kreis bildeten.

»Ich will einen fairen Kampf«, verkündete Bullwhip, der zwar ein grausamer Tyrann war, sich aber dennoch an den Ehrencodex der Studenten hielt. »Niemand hilft mir und niemand hilft ihm. Hier geht es nur Mann gegen Mann.«

»Was könnte fairer sein?« riefen die erwartungsvollen Zuschauer im Chor.

Bullwhip sagte: »Nimm deine Brille ab, Schnell.«

»Nein«, erwiderte Artaxerxes mutig - worauf ihm einer der Umstehenden die Brille abnahm.

»Hee«, sagte Artaxerxes, »du hilfst Bullwhip.«

»Nein, ich helfe dir«, sagte der Student, der die Brille in der Hand hielt.

»Aber so kann ich Bullwhip nicht mehr deutlich sehen«, sagte Artaxerxes.

»Keine Sorge«, erwiderte Bullwhip. »Du wirst mich ganz deutlich spüren.« Mit ausladender Geste nahm seine voluminöse Faust Kurs auf Artaxerxes' Kinn.

Sie pfiff durch die Luft, und Bullwhip drehte sich halb um die eigene Achse, denn Artaxerxes war dem Schlag ausgewichen und dieser hatte ihn um den Bruchteil eines Zentimeters verfehlt.

Bullwhip war sichtlich verwundert. Artaxerxes war verblüfft.

»Das war's«, sagte Bullwhip. »Jetzt kannst du was erleben.« Er bewegte sich auf Artaxerxes zu, und seine Arme schossen abwechselnd nach vorn.

Artaxerxes tänzelte mit angstverzerrtem Gesicht nach links und rechts. Ich befürchtete wirklich, er könnte sich von dem Windzug, den Bullwhips wild schlagende Arme erzeugten, eine Erkältung holen.

Bullwhip wurde schnell müde. Seine breite Brust hob und senkte sich. »Was hast du vor?« fragte er mißmutig.

Artaxerxes hatte jedoch inzwischen bemerkt, daß er aus irgendeinem Grund unverwundbar war. Also ging er auf Bullwhip zu, hob die Hand, die nicht das Buch hielt, versetzte ihm eine kräftige Backpfeife und sagte: »Nimm das, du Schwuchtel.«

Die Zuschauer schnappten nach Luft, und Bullwhip verfiel in Raserei. Er verwandelte sich in eine mächtige Maschine, die ausholte, zuschlug und herumwirbelte, während sein Ziel vor ihm hin und her tänzelte.

Nach endlosen Minuten war Bullwhip außer Atem und vollkommen hilflos vor Erschöpfung, sein Gesicht schweißüberströmt. Artaxerxes stand immer noch gelassen und ohne einen Kratzer vor ihm. Er hatte noch nicht einmal sein Buch aus der Hand gelegt.

Dieses Buch stieß er jetzt kraftvoll in Bullwhips Magengrube, und als dieser sich vornüberkrümmte, ließ er es noch härter auf seinen Schädel niedersausen. Das Buch trug einigen Schaden davon, aber Bullwhip brach in seliger Bewußtlosigkeit zusammen.

Artaxerxes blickte sich blinzelnd um. Er sagte: »Der Schurke, der meine Brille gestohlen hat, gibt sie mir jetzt auf der Stelle zurück.«

»Ja, Sir, Mr. Schnell«, erwiderte der Student, der sie ihm abgenommen hatte. Er lächelte verkrampft, um ihn zu besänftigen. »Hier ist sie, Sir. Ich habe sie geputzt, Sir.«

»Gut. Und jetzt verschwindet! Das gilt für euch alle, ihr Schwachköpfe. Verschwindet!«

Das ließen sie sich nicht zweimal sagen, sondern stürzten durcheinander, in dem Bestreben, so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Nur Philomel und ich blieben zurück.

Artaxerxes' Blick fiel auf das atemlose junge Mädchen. Er zog abschätzig eine Augenbraue hoch und krümmte dann den kleinen Finger. Demütig eilte sie zu ihm hinüber, und als er sich auf dem Hacken umdrehte und hinausging, folgte sie ihm ebenso demütig.

Es war ein rundum glückliches Ende. Mit neu erwachtem Selbstvertrauen stellte Artaxerxes fest, daß er keine Bücher mehr benötigte, um sich ein fadenscheiniges Gefühl von Selbstwert zu verschaffen. Er verbrachte seine gesamte Zeit im Boxring und wurde Collegemeister. Alle junge Studentinnen himmelten ihn an, aber er heiratete schließlich Philomel.

Seine Fähigkeiten als Boxer handelten ihm am College einen so guten Ruf ein, daß er sich später eine Stelle als junger Angestellter aussuchen konnte. Mit seinem scharfen Verstand erkannte er sofort, womit man Geld machen konnte, und es gelang ihm, einen Vertrag mit der Regierung auszuhandeln und das gesamte Pentagon mit Toilettensitzen auszustatten. Darüber hinaus erstand er in einem Baumarkt billige Dichtungsringe und verkaufte sie an die Versorgungseinrichtungen der Regierung weiter.

Wie sich herausstellte, sollten die Studien seiner irregeleiteten Jugend doch nicht ganz umsonst gewesen sein. Er behauptete, daß er die Differenzialrechnung benötigte, um seine Gewinne zu ermitteln, die Volkswirtschaft, um seine Abzüge am Finanzamt vorbeizuschmuggeln, und Anthropologie, um sich die Exekutive vom Leib zu halten.

Ich starrte George ungläubig an. »Willst du damit sagen, daß Azazels und deine Einflußnahme auf das Leben eines armen Unschuldigen einmal ein glückliches Ende gefunden hat?«

»Sicher«, erwiderte George.

»Aber das bedeutet ja, daß du jetzt einen ausgesprochen reichen Bekannten hast, der alles, was er besitzt, dir verdankt.«

»Du hast es vollkommen erfaßt, alter Freund.«

»Aber dann kannst du doch bestimmt einmal ihm ein wenig auf der Tasche liegen.«

Georges Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. »Das sollte man meinen, nicht wahr? Schließlich sollte es so etwas wie Dankbarkeit auf dieser Welt geben. Man könnte denken, daß jemand, dem man erklärt, daß er seine übermenschliche Fähigkeit, Schlägen auszuweichen, den Mühen eines Freundes verdankt, diesen mit Belohnungen überschütten müßte.«

»Du meinst, Artaxerxes hat das nicht getan?«

»Richtig. Als ich einmal mit der Bitte an ihn herangetreten bin, zehntausend Dollar in eines meiner Projekte zu investieren, das mit Sicherheit hundertfachen Gewinn abgeworfen hätte - armselige zehntausend Dollar, die er problemlos verdient, wenn er der Armee ein paar Dutzend billige Schrauben und Bolzen verkauft -, hat er mich von einem Diener vor die Tür setzen lassen.«

»Aber warum, George? Hast du das jemals herausgefunden?«

»Ja, irgendwann schon. Siehst du, mein alter Freund, wann immer er einen Adrenalinschub hat, der von einem starken Gefühl wie Furcht oder Zorn ausgelöst wurde, macht er Ausweichmanöver. So hat es mir Azazel erklärt.«

»Ja. Und?«

»Wann immer Philomel an die Finanzen der Familie denkt, wird sie von einem gewissen libidinösen Überschwang erfaßt und nähert sich Artaxerxes. Dieser erkennt ihre Absichten und spürt, wie seine eigene Leidenschaft seinen Adrenalinspiegel ansteigen läßt. Und wenn sie sich dann mit mädchenhaftem Enthusiasmus und fröhlicher Hemmungslosigkeit auf ihn stürzt ...«

»Was dann?«

»Dann weicht er ihr aus.«

»Ach!«

»Tatsächlich kann sie ihn ebensowenig berühren wie Bullwhip. Je öfter sie das versucht, desto frustrierter wird er, sein Adrenalinspiegel steigt allein bei ihrem Anblick weiter an - und umso effektiver und automatischer weicht er ihr aus. In trauriger Verzweiflung ist sie gezwungen, sich anderswo Trost zu suchen, doch ihm sind gelegentliche Abenteuer außerhalb der festen Bande der Ehe verwehrt. Er weicht jeder jungen Frau aus, der er begegnet, selbst wenn sie ihm nur geschäftliches Interesse entgegenbringt. Artaxerxes gleicht dem Tantalus - er ist zahllosen Verlockungen ausgesetzt, kann sich ihnen jedoch nie hingeben.« George fuhr entrüstet fort: »Und wegen dieser lächerlichen Unannehmlichkeiten hat er mich aus dem Haus werfen lassen.«

Ich sagte: »Du könntest Azazel bitten, den Fluch ... ich meine die Gabe, die du ihm vermacht hast, wieder aufzuheben.«

»Azazel hegt eine gewisse Abneigung dagegen, sich zweimal mit dem gleichen Individuum zu befassen - ich weiß auch nicht, warum. Außerdem, weshalb sollte ich jemandem einen Gefallen tun, der sich für meine Bemühungen bisher so undankbar gezeigt hat? Vergleiche das nur einmal mit dir! Obwohl du ein berüchtigter Geizhals bist, leihst du mir hin und wieder einen Fünfer -ich kann dir versichern, daß ich darüber ganz genau Buch führe, auf kleinen Zettelchen, die überall in meiner Wohnung verstreut sind. Dabei habe ich dir nie einen Gefallen getan, oder? Wenn du mir sogar hilfst, obwohl ich nie etwas für dich getan habe, sollte er erst recht allen Grund dazu haben.«

Ich dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Weißt du, George. Du brauchst mir keinen Gefallen tun. Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Dabei fällt mir ein -nur um dir zu zeigen, daß du nichts für mich tun mußt -, wie wäre es mit einem Zehner?«

»Na gut«, sagte George, »wenn du darauf bestehst.«

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