»Ich kannte mal jemanden, der dir ein wenig ähnlich war«, sagte George.
Wir hatten in dem kleinen Restaurant, in dem wir zu Mittag aßen, einen Platz am Fenster erhalten, und George blickte nachdenklich hinaus.
»Das wundert mich«, sagte ich. »Ich habe mich immer für einmalig gehalten.«
»Das bist du auch«, erwiderte George. »Der Mann, von dem ich spreche, war dir nur ein wenig ähnlich. Die Fähigkeit, in einem fort zu kritzeln und dabei dein Gehirn vollkommen abzuschalten, macht dir so leicht keiner nach.«
»Eigentlich«, sagte ich, »benutze ich einen Computer.«
»Wie jeder wahre Schriftsteller erkennen würde«, sagte George herablassend, »habe ich das Wort >kritzeln< im metaphorischen Sinne gebraucht.« Dann hielt er über seiner Schokoladencreme inne und seufzte theatralisch.
Ich wußte, was das zu bedeuten hatte. »Jetzt wirst du mir gleich wieder eine deiner Spinnereien über Azazel auftischen, nicht wahr, George?«
Er warf mir einen spöttischen Blick zu. »Du spinnst selbst schon so lange und lahm vor dich hin, daß du die Wahrheit nicht erkennen würdest, selbst wenn sie sich direkt vor deiner Nase befände. Aber lassen wir das. Die Geschichte ist ohnehin zu traurig, um sie dir zu erzählen.«
»Weshalb du es trotzdem tun wirst, nicht wahr?«
George seufzte noch einmal.
Diese Bushaltestelle dort drüben [sagte George] hat mich an Mordecai Sims erinnert. Er verdiente sich seinen bescheidenen Lebensunterhalt damit, endlose Bände von allem möglichen Schund zu produzieren. Natürlich nicht ganz soviel wie du und bei weitem nicht so abgeschmackt -Weshalb er dir auch nur ein wenig ähnlich ist. Aus Freundschaft zu ihm habe ich hin und wieder etwas von seinen Sachen gelesen und fand sie gar nicht so übel. Ohne dich beleidigen zu wollen, aber sein Niveau hast du nie erreicht - zumindest was man so hört, denn bisher bin ich noch nicht so tief gesunken, selbst eines deiner Bücher zu lesen.
Mordecai unterschied sich auch noch in anderer Hinsicht von dir: Er war furchtbar ungeduldig. Wirf einen Blick in den Spiegel dort drüben - vorausgesetzt, du hast nichts dagegen, an dein Äußeres erinnert zu werden - und schau, wie zwanglos du hier sitzt, einen Arm über die Stuhllehne gelegt und den ganzen Körper lässig hingefläzt. Wenn man dich so ansieht, würde man niemals glauben, daß es dich in irgendeiner Weise kümmert, ob du dein tägliches Pensum an willkürlich beschriebenem Papier schaffst oder nicht.
Mordecai war da ganz anders. Er war sich seiner Abgabetermine stets bewußt - und drohte sie ständig zu überschreiten.
Damals habe ich jeden Dienstag mit ihm zu Mittag gegessen, und er ist mir mit seinem Gerede auf die Nerven gegangen. »Ich muß diesen Text spätestens morgen früh auf die Post bringen«, sagte er immer, »und einen anderen muß ich vorher noch etwas überarbeiten, und ich habe einfach keine Zeit dazu. Wo zum Teufel bleibt die Rechnung? Warum kommt der Kellner nicht? Was machen die da eigentlich in der Küche? Veranstalten die ein Wettschwimmen in der Soße?«
Was die Rechnung betraf, war er stets besonders ungeduldig, und ich fürchtete immer, er würde einfach davonstürzen und es mir überlassen, mich auf irgendeine Weise vorm Bezahlen zu drücken. Ich möchte betonen, daß dies nie geschehen ist, aber die Angst davor verdarb mir oft die Lust am Essen.
Oder wirf einen Blick auf die Bushaltestelle dort drüben. Seit fünfzehn Minuten beobachte ich sie nun schon. Du wirst bemerkt haben, daß bisher kein Bus gekommen ist und daß es heute sehr windig ist und allmählich spätherbstlich kalt wird. Wie man sehen kann, haben die Leute die Kragen hochgeschlagen und die Hände in die Taschen gesteckt. Ihre Nasen sind rot oder blau angelaufen, und sie treten von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen. Dennoch macht niemand einen Aufstand, keine Fäuste werden zornig gen Himmel geschüttelt. Die Menschen, die dort warten, haben sich mit den Ungerechtigkeiten des Lebens abgefunden.
Nicht so Mordecai Sims. Wenn er an dieser Bushaltestelle stünde, würde er auf die Straße springen und den fernen Horizont nach Fahrzeugen absuchen. Er würde vor sich hin brummeln und murren und mit den Armen fuchteln. Er würde zu einem Protestmarsch zum Rathaus aufrufen. Kurz gesagt - er würde seinem Adrenalin freien Lauf lassen.
Wie oft hat er sich bei mir darüber beschwert! Wie so viele andere fühlte er sich von meiner kühlen Ausstrahlung angezogen, die Kompetenz und Verständnis verrät.
»Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, George«, sagte er dann gehetzt. Er redete stets in einem gehetzten Tonfall. »Es ist eine Schande, ein Skandal und ein Verbrechen, wie sich die Welt gegen mich verschworen hat. Neulich mußte ich wegen einiger Routine-Untersuchungen ins Krankenhaus - Gott weiß, warum, außer daß mein Arzt dummerweise der Meinung ist, er müßte an mir Geld verdienen -und mir wurde mitgeteilt, ich solle mich um 9:40 Uhr auf dieser und jener Station einfinden. Ich bin natürlich pünktlich um 9:40 Uhr dort eingetroffen, nur um am Empfangstisch ein Schild vorzufinden, auf dem stand: >Geöffnet ab 9:30 Uhr<. Genau das stand dort, George - auf Deutsch, ohne daß auch nur ein Buchstabe nicht gestimmt hätte. Hinter dem Empfangstisch saß jedoch kein Mensch. Ich warf noch einmal einen Blick auf die Uhr und sprach dann jemanden an, der so trübsinnig aussah, daß er zum Krankenhauspersonal gehören mochte. >Wo, bitte schön<, sagte ich, >ist der namenlose Unhold, der hinter diesem Empfangstisch sitzen sollte ?< >Noch nicht da<, sagte der nichtswürdige Schurke.
>Dort steht aber, daß ab 9:30 Uhr geöffnet ist.< >Früher oder später wird schon jemand kommen<, erwiderte er mit boshafter Gleichgültigkeit.
Dabei befand ich mich in einem Krankenhaus. Ich hätte im Sterben liegen können. Und kümmerte das jemanden? Nein! Die Frist für ein wichtiges Projekt, auf das ich all mein Herzblut verwandt hatte und mit dem ich genug Geld verdienen würde, um meine Arztrechnung zu bezahlen (vorausgesetzt, ich fand keine bessere Verwendung dafür, was unwahrscheinlich war), rückte immer näher. Und kümmerte das jemanden? Nein! Erst um 10:04 Uhr tauchte endlich jemand auf, und als ich zum Empfangstisch eilte, maß der verspätete Teufel mich mit einem abschätzigen Blick und sagte: >Sie müssen warten, bis Sie aufgerufen werden.<«
Mordecai war voller Geschichten dieser Art; über Fahrstühle, die langsam aufwärts fuhren, während er in der Eingangshalle wartete; über Menschen, die von zwölf bis drei Uhr vierzig zur Mittagspause waren und ihre viertägigen Wochenenden am Mittwoch antraten, immer dann, wenn er sie sprechen mußte.
»Ich frage mich, warum sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hat, die Zeit zu erfinden, George«, sagte er immer. »Wenn es sich dabei nur um einen Vorwand handelt, um neue Methoden zu erfinden, sie zu verschwenden. Ist dir bewußt, daß ich meine Produktivität um zehn bis zwanzig Prozent erhöhen könnte, wenn ich die Stunden, die ich allerlei unverschämtem Gesindel zuliebe mit Warten zubringe, zum Schreiben nutzen könnte? Ist dir außerdem klar, daß dies, trotz des verbrecherischen Geizes der Verleger, eine entsprechende Steigerung meines Einkommens bedeuten würde? - Wo bleibt diese verfluchte Rechnung?«
Ich kam auf den Gedanken, daß es eine nette Geste wäre, ihm zu einem höheren Einkommen zu verhelfen, da er soviel Geschmack besaß, einen Teil davon auf mich zu verwenden. Außerdem hatte er ein Gespür dafür, stets die erstklassigsten Restaurants auszuwählen, und dabei wurde mir immer ganz warm ums Herz. - Nein, kein Vergleich zu diesem hier, mein alter Freund. Dein Geschmack läßt einiges zu wünschen übrig, was man - soweit ich gehört habe - auch an deinen Bücher erkennen kann.
Ich begann also meinen scharfsinnigen Geist anzustrengen und überlegte, wie ich ihm helfen könnte.
Ich habe nicht sofort an Azazel gedacht. Damals hatte ich mich noch nicht ganz an ihn gewöhnt - schließlich ist ein zwei Zentimeter großer Dämon alles andere als alltäglich.
Nach einiger Zeit kam mir jedoch in den Sinn, daß Azazel vielleicht etwas tun könnte, um jemandem mehr Zeit zum Schreiben zu verschaffen. Es erschien mir unwahrscheinlich, und vermutlich würde ich nur seine Zeit verschwenden, aber was bedeutete Zeit schon für ein übernatürliches Wesen?
Ich stimmte also die Folge von uralten Zaubersprüchen und Gesängen an, die nötig sind, um ihn von jenem unbekannten Ort herbeizurufen, den er seine Heimat nennen mag, und er erschien - in Schlaf versunken. Seine winzigen Augen waren fest geschlossen, und ein hohes Summen ging von ihm aus, das auf unregelmäßige und unangenehme Weise auf- und abschwoll. Es mag so etwas wie ein menschliches Schnarchen gewesen sein.
Ich wußte nicht, wie ich ihn am besten wecken sollte und beschloß schließlich, einen Tropfen Wasser auf seinen Bauch fallen zu lassen. Sein Unterleib ist kugelrund, weißt du, als hätte er eine Kugel aus einem Kugellager verschluckt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, ob das in seiner Welt die Norm ist, aber als ich es ihm gegenüber erwähnte, wollte er wissen, was ein Kugellager sei, und als ich es ihm erklärte, drohte er, mich zu zapulniklisieren. Ich wußte nicht, was das bedeutete, aber dem Klang seiner Stimme nach war es nichts Angenehmes.
Der Wassertropfen weckte ihn, und er war maßlos verärgert. Er redete davon, daß ich ihn beinahe ertränkt hätte und legte in ermüdenden Einzelheiten dar, aufweiche Weise man in seiner Welt jemanden aufzuwecken hätte. Es hatte irgendetwas mit Tanz zu tun, mit Blütenblättern, den sanften Klängen von Musikinstrumenten und den Berührungen reizender Tänzerinnen. Ich sagte ihm, daß auf unserer Welt ein Gartenschlauch den gleichen Zweck erfüllt, und nach ein paar Bemerkungen über unwissende Barbaren hatte er sich schließlich wieder so weit beruhigt, daß ich vernünftig mit ihm reden konnte.
Ich erklärte ihm die ganze Situation und hatte eigentlich erwartet, daß er ohne große Umschweife ein paar Worte Kauderwelsch sprechen würde und die Sache damit erledigt wäre.
Doch weit gefehlt. Stattdessen blickte er mich ernst an und sagte: »Nun, du bittest mich darum, in die Gesetze der Wahrscheinlichkeit einzugreifen.«
Ich war erfreut, daß er die Lage erkannt hatte. »Genau«, sagte ich.
»Aber das ist nicht ganz einfach«, sagte er.
»Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Würde ich dich darum bitten, wenn es einfach wäre? Wenn es das wäre, würde ich es selbst tun. Nur in einem verzwickten Fall wie diesem, muß ich jemanden mit deinem überlegenen Intellekt um Hilfe bitten.«
Diese Schmeicheleien sind natürlich ziemlich widerwärtig, aber unvermeidlich, wenn man es mit einem Dämon zu tun hat, der ebenso empfindlich ist, was seine Größe anbelangt wie seinen Kugellagerbauch.
Meine Logik schien ihn zu überzeugen, und er sagte: »Nun, ich habe nicht behauptet, daß es unmöglich ist.«
»Gut.«
»Es würde ein paar Änderungen im Jinwhipper Kontinuum eurer Welt erfordern.«
»Richtig. Das wollte ich gerade vorschlagen.«
»Ich müßte einige Verknüpfungen an den Verbindungspunkten zwischen dem Kontinuum und deinem Freund herstellen - dem mit den Abgabeterminen. Was sind eigentlich Abgabetermine?«
Ich versuchte, es ihm zu erklären, und er sagte mit einem leisen Seufzer: »Ach ja, das ist Teil unserer eher ätherischen Liebesbezeigungen. Hat man mal einen Abgabetermin verpaßt, halten einem die lieben kleinen Geschöpfe das ewig vor. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal .«
Aber ich will dir die unappetitlichen Einzelheiten seines belanglosen Liebeslebens ersparen.
»Allerdings«, sagte er schließlich, »werde ich die Verknüpfungen, wenn ich sie einmal hergestellt habe, nicht mehr lösen können.«
»Warum nicht?«
Azazel erwiderte mit betonter Lässigkeit: »Ich fürchte, daß ist theoretisch unmöglich.«
Ich habe ihm das natürlich nicht abgekauft. Der erbärmliche kleine Dilettant wußte nur nicht, wie es ging. Da er jedoch durchaus in der Lage war, mir das Leben zur Hölle zu machen, zeigte ich ihm nicht, daß ich sein Spiel durchschaut hatte, sondern sagte einfach nur: »Du mußt sie auch nicht mehr lösen. Mordecai will mehr Zeit zum Schreiben, und sobald er die hat, wird er für den Rest seines Lebens zufrieden sein.«
»Nun, wenn das so ist, dann mache ich mich gleich an die Arbeit.«
Er fuchtelte eine ganze Weile mit den Händen in der Luft herum. Ich mußte an die Bewegungen denken, die ein Zauberer macht, nur daß seine Hände zu flackern schienen und hin und wieder für kürzere oder längere Zeit unsichtbar wurden. Allerdings sind seine Hände so klein, daß schon unter normalen Umständen schwer zu erkennen ist, ob sie sichtbar sind oder nicht.
»Was machst du da?« fragte ich ihn, aber Azazel schüttelte nur den Kopf, und seine Lippen bewegten sich, als würde er zählen.
Dann war er offenbar fertig, denn er ließ sich schwer atmend auf die Oberfläche des Tisches sinken.
»Ist es vollbracht?« wollte ich wissen.
Er nickte und erwiderte: »Ich hoffe, dir ist klar, daß ich seinen Entropie-Quotienten mehr oder weniger dauerhaft senken mußte.«
»Was bedeutet das?«
»Das heißt, daß in seiner Umgebung alles ein wenig ordentlicher sein wird, als es sonst der Fall wäre.«
»Gegen Ordnung ist nichts einzuwenden«, sagte ich. (Du wirst es vielleicht nicht glauben, mein alter Freund, aber ich bin ein sehr ordentlicher Mensch. Ich führe eine genaue Liste über jeden Cent, den ich dir schulde. Die Einzelheiten sind auf unzähligen kleinen Zetteln notiert, die ich in meinem Apartment aufbewahre. Du kannst sie jederzeit einsehen, wenn du willst.)
Azazel sagte: »Natürlich ist gegen Ordnung nichts einzuwenden. Es ist nur so, daß man den zweiten Satz der Thermodynamik nicht wirklich umgehen kann. Das bedeutet, daß anderswo etwas mehr Unordnung herrschen wird, um das Gleichgewicht wieder herzustellen.«
»In welcher Hinsicht?«, fragte ich und überprüfte meinen Reißverschluß. (Man kann nie vorsichtig genug sein.)
»In vielerlei Hinsicht, meistens unmerklich. Ich habe die Auswirkungen über das ganze Sonnensystem verteilt, so daß es ein paar mehr Kollisionen von Asteroiden geben wird als sonst, einige Erdbeben mehr auf Io und so weiter. Am stärksten wird die Sonne betroffen sein.«
»Auf welche Weise?«
»Nach meinen Schätzungen wird sie zweieinhalb Millionen Jahre früher die Temperatur erreichen, die ein Leben auf der Erde unmöglich macht, als vor meinem Eingriff in das Kontinuum.«
Ich zuckte mit den Achseln. Was sind schon ein paar Millionen Jahre, wenn dafür jemand mit diesem fröhlichen Gesichtsausdruck, den man so gerne sieht, meine Restaurantrechnungen bezahlt?
Etwa eine Woche später aß ich wieder mit Mordecai zu Mittag. Er wirkte ziemlich aufgeregt, während er seinen Mantel in der Garderobe abgab, und als er am Tisch anlangte, an dem ich mit meinem Getränk geduldig auf ihn wartete, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln.
»George«, sagte er, »ich habe eine äußerst ungewöhnliche Woche hinter mir.« Er hielt die Hand hoch, ohne hinzuschauen, und schien nicht im mindesten überrascht, als ihm sofort die Karte gereicht wurde. Und das in einem Restaurant, in dem die hochnäsige und herrische Bande von Kellnern einem die Karte erst aushändigte, wenn man eine Bewerbung in dreifacher Ausführung vorweisen konnte, die vom Geschäftsführer gegengezeichnet war.
Mordecai sagte: »George, alles klappt wie am Schnürchen.«
Ich mußte ein Lächeln unterdrücken. »Tatsächlich?«
»Wenn ich in die Bank komme, finde ich sofort einen leeren Schalter, und der Kassierer lächelt mich an. Gehe ich in die Post, finde ich ebenfalls einen leeren Schalter vor und - nun, von einem Postangestellten darf man vermutlich kein Lächeln erwarten, aber zumindest hat er meinen Brief fast ohne ein Murren entgegengenommen. Wenn ich an die Bushaltestelle komme, fährt der Bus vor, und zur Hauptverkehrszeit gestern hatte ich kaum die Hand gehoben, als auch schon ein Taxi ausschwenkte und vor mir anhielt. Und auch noch eines von den gelben Taxis! Als ich den Fahrer bat, mich zur Fünften Ecke Neunundvierzigste Straße zu fahren, brachte er mich dorthin, ohne auch nur einmal nach der Fahrtrichtung zu fragen. Er sprach sogar Englisch. - Was möchtest du essen, George?«
Ein kurzer Blick auf die Karte genügte. Offenbar war alles so gefügt, daß selbst ich ihn nicht aufhalten sollte. Mordecai warf die Karte zur Seite und gab rasch die Bestellung für uns beide auf. Ich bemerkte, daß er nicht einmal aufblickte, um sich zu überzeugen, ob der Kellner tatsächlich neben ihm stand. Er nahm bereits wie selbstverständlich an, daß er da sein würde.
Und das war auch der Fall.
Der Kellner rieb sich die Hände, verbeugte sich und servierte das Essen mit Schnelligkeit, Anmut und Effizienz.
Ich sagte: »Du scheinst eine ganz erstaunliche Glückssträhne zu haben, Mordecai, mein Freund. Wie erklärst du dir das?« (Zugegebenermaßen habe ich einen Augenblick daran gedacht, ihn davon zu überzeugen, daß ich dafür verantwortlich war. Wenn er das wüßte, würde er mich dann nicht mit Gold überhäufen oder - in diesen profanen Zeiten - mit Papier?)
»Ganz einfach«, sagte er, steckte sich die Serviette in den Kragen und packte Messer und Gabel mit entschlossenem Griff, denn bei all seinen Tugenden war Mordecai kein Kostverächter. »Das hat nichts mit Glück zu tun. Es ist das zwangsläufige Ergebnis der Wendungen des Zufalls.«
»Des Zufalls?«, erwiderte ich entrüstet.
Mordecai sagte: »Sicher. Mein ganzes Leben lang mußte ich die erbärmlichste Kette von zufälligen Verzögerungen ertragen, die die Welt je gesehen hat. Die Gesetze des Zufalls erfordern es, daß eine solche Ansammlung von Pech ausgeglichen wird, und das geschieht gerade. Wahrscheinlich wird das für den Rest meines Lebens so weitergehen - davon gehe ich jedenfalls aus. Ich bin sogar sicher. Alles wird sich wieder ausgleichen.« Er beugte sich zu mir herüber und tippte mir auf überaus unangenehme Weise gegen die Brust. »Verlaß dich darauf. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit kann man nicht umgehen.«
Während des gesamten Essens hielt er mir Vorträge über die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, über die er - da bin ich ziemlich sicher - genausowenig wußte wie du.
Schließlich sagte ich: »Bestimmt kommst du jetzt viel mehr zum Schreiben?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er. »Ich schätze, die Zeit, die mir zum Schreiben zur Verfügung steht, hat sich um zwanzig Prozent erhöht hat.«
»Und ich nehme an, deine Produktivität ist entsprechend gestiegen?«
»Nun«, sagte er ein wenig unbehaglich, »noch nicht, fürchte ich. Natürlich muß ich mich erstmal darauf einstellen. Ich bin es nicht gewohnt, Dinge so schnell erledigen zu können. Das hat mich völlig überrascht.«
Offen gestanden, wirkte er nicht überrascht. Er hob die Hand und nahm ohne hinzusehen die Rechnung entgegen, die der Kellner gerade gebracht hatte. Er warf einen flüchtigen Blick darauf und reichte sie zusammen mit einer Kreditkarte an den Kellner zurück, der tatsächlich genau darauf gewartet hatte und sich sogleich im Laufschritt entfernte.
Das gesamte Essen hatte kaum mehr als dreißig Minuten in Anspruch genommen. Ich möchte dir nicht verschweigen, daß ich zivilisierte zweieinhalb Stunden vorgezogen hätte, mit einem Champagner vorab, einem Brandy hinterher, ein oder zwei guten Weinen zwischen den Gängen und gepflegter Unterhaltung in den Pausen. Mich versöhnte jedoch die Tatsache, daß Mordecai zwei Stunden gewonnen hatte, in denen er Geld scheffeln konnte - für sich, und in gewisser Weise ja auch für mich.
Wie es sich ergab, sollte ich Mordecai nach diesem Essen beinahe drei Wochen lang nicht mehr sehen. Ich erinnere mich nicht mehr an den Grund dafür, aber ich vermute, daß wir damals abwechselnd nicht in der Stadt waren.
Jedenfalls kam ich eines morgens aus einem Cafe, in dem ich mir gelegentlich ein Brötchen mit Rührei genehmige, als ich Mordecai etwa einen halben Häuserblock entfernt an der Straßenecke stehen sah.
Es war ein furchtbarer Tag voller Schneeregen - ein Tag, an dem leere Taxis auf dich zurasen, nur um dir eine Ladung dunkelgrauen Schneematsch über die Hosenbeine zu spritzen, während sie an dir vorbeidonnern und ihr Taxischild ausschalten.
Mordecai stand mit dem Rücken zu mir und hob gerade die Hand, als auch schon ein leeres Taxi vorsichtig auf ihn zugefahren kam. Doch zu meiner Verwunderung wandte Mordecai sich ab. Das Taxi zögerte einen Moment, dann fuhr es langsam davon - die Enttäuschung stand ihm förmlich auf die Windschutzscheibe geschrieben.
Mordecai hob erneut die Hand, und aus dem Nichts tauchte ein zweites Taxi auf und hielt vor ihm an. Er stieg ein, doch selbst aus vierhundert Metern Entfernung konnte ich noch hören, wie er eine Salve von Kraftausdrücken abfeuerte, die für die Ohren wohlerzogener Menschen nicht geeignet sind, vorausgesetzt es gibt in dieser Stadt noch solche Menschen.
Ich rief ihn am selben Vormittag an und verabredete mich mit ihm auf einen Cocktail in einer netten Bar, die wir beide kannten und in der den ganzen Tag lang eine Happy Hour auf die nächste folgt. Ich konnte es kaum erwarten, ich mußte einfach eine Erklärung von ihm haben.
Vor allem wollte ich wissen, was die Kraftausdrücke bedeuten sollten, mit denen er den Taxifahrer bedacht hatte. - Nein, mein alter Freund, ich meine nicht die Bedeutung, die im Wörterbuch steht, wenn man sie überhaupt in einem Wörterbuch findet. Ich meinte, warum er diese Worte benutzt hat. Schließlich hätte er über alle Maßen glücklich sein müssen.
Als er die Bar betrat, sah er jedenfalls nicht sonderlich glücklich aus. Er machte sogar einen ziemlich abgehärmten Eindruck.
Er sagte: »Gib doch bitte mal der Kellnerin ein Zeichen, George.«
Wir befanden uns in einer jener Bars, in der sich die Kellnerinnen nicht allzu warm anziehen, und das wiederum hielt mich warm. Es war mir eine Freude, einer von ihnen ein Zeichen zu geben, obwohl ich wußte, daß sie meine Gesten lediglich als Bestellung eines neuen Getränkes deuten würde.
In Wirklichkeit geschah nichts dergleichen, denn sie ignorierte mich, indem sie mir ihren überaus nackten Rücken zugewandt hielt.
Ich sagte: »Tja, Mordecai, wenn du etwas bestellen willst, dann mußt du schon selber winken. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit haben sich meiner noch nicht erbarmt. Und das ist eine Schande, denn es wird langsam Zeit, daß mein reicher Onkel stirbt und seinen Sohn zu meinen Gunsten enterbt.«
»Du hast einen reichen Onkel?« fragte Mordecai mit einem Hauch von Interesse.
»Nein! Und das macht die ganze Sache noch ungerechter. Gib doch bitte der Kellnerin ein Zeichen, Mordecai.«
»Zum Teufel damit«, sagte Mordecai mürrisch. »Laß sie warten.«
Natürlich kümmerte es mich nicht, daß sie wartete, aber meine Neugier war stärker als mein Durst.
»Mordecai«, sagte ich, »du machst einen unglücklichen Eindruck. Übrigens habe ich dich heute morgen gesehen, auch wenn es dir nicht aufgefallen ist. Du hast ein leeres Taxi ignoriert, an einem Tag, an dem man sie in Gold aufwiegen kann, und dann hast du lauthals geflucht, als du in das nächste eingestiegen bist.«
Mordecai sagte: »Tatsächlich? Nun, ich habe die Nase voll von diesen Dreckskarren. Taxis verfolgen mich. Sie fahren in langen Schlangen hinter mir her. Sobald ich auch nur einen Blick auf die Straße werfe, hält eines von ihnen an. Ich werde von Schwärmen von Kellnern bedrängt. Ladenbesitzer öffnen geschlossene Läden, wenn ich in ihre Nähe komme. Sobald ich ein Gebäude betrete, reißt jeder Fahrstuhl seine Türen weit auf, und auf jedem Stockwerk wartet einer beharrlich auf mich. In jedem nur denkbaren Büro werde ich auf der Stelle von Horden lächelnder Empfangsdamen durch das Vorzimmer gewunken. Niedere Funktionäre auf jeder Regierungsebene betrachten es als ihre Lebensaufgabe ...«
Endlich hatte ich mich wieder gefangen. »Aber Mordecai«, sagte ich, »was für ein unerhörtes Glück. Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit .«
Sein Vorschlag, was ich mit den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit tun sollte, war natürlich vollkommen undurchführbar, da es sich dabei um abstrakte Ideen handelt, die keine Körperteile besitzen.
»Aber Mordecai«, protestierte ich, »all das verschafft dir doch mehr Zeit zum Schreiben.«
»Eben nicht«, widersprach Mordecai energisch. »Ich kann überhaupt nicht mehr schreiben.«
»Warum denn nicht, um Himmels willen?«
»Weil ich keine Zeit mehr zum Nachdenken habe.«
»Was hast du nicht mehr?« fragte ich leise.
»All diese Warterei - in Schlangen, an Straßenecken, in Bürovorzimmern - habe ich genutzt, um nachzudenken, um mir zu überlegen, was ich schreiben will. Das war für mich die wichtigste Vorbereitungszeit.«
»Das habe ich nicht gewußt.«
»Ich auch nicht, aber jetzt weiß ich es.«
»Ich dachte, du verbringst diese Wartezeit damit, wütend vor dich hinzufluchen und dir die Haare zu raufen.«
»Zum Teil schon. In der restlichen Zeit habe ich nachgedacht. Und selbst die Zeit, die ich damit verbracht habe, über die Ungerechtigkeit des Universums zu schimpfen, war nicht vertan, denn sie hat mich auf Touren gebracht, bis mir die Hormone in den Adern brodelten. Und wenn ich mich dann endlich an meine Schreibmaschine setzen konnte, brachen all diese Ärgernisse aus mir heraus, und meine Finger hämmerten nur so auf die Tastatur ein. Die Gedanken, die ich mir gemacht hatte, lieferten mir die geistige Inspiration und mein Ärger die emotionale. Zusammen ergaben sie seitenweise hervorragender Texte, die aus den dunklen Höllenfeuern meiner Seele strömten. Und was ist mir davon geblieben? Schau doch!«
Er schnipste leise mit Daumen und Mittelfinger, und auf der Stelle war eine herrlich unbekleidete Dame zur Stelle und fragte: »Kann ich etwas für Sie tun?«
Natürlich konnte sie das, aber Mordecai bestellte einfach nur zwei Drinks für uns.
»Ich dachte«, sagte er, »ich müßte mich nur erst an die neue Situation gewöhnen, aber ich weiß jetzt, daß das unmöglich ist.«
»Du kannst dich einfach weigern, von der Situation Gebrauch zu machen.«
»Wirklich? Du hast mich heute morgen gesehen. Wenn ich ein Taxi ablehne, ist das nächste sofort zur Stelle. Ich kann das fünfzig Mal tun, und es wird noch ein einundfünfzigstes Taxi vor mir anhalten. Die machen mich fertig.«
»Nun, warum kannst du dich dann nicht einfach jeden Tag ein oder zwei Stunden gemütlich in dein Büro setzen und nachdenken?«
»Gemütlich in meinem Büro? Das ist es ja gerade! Ich kann nur nachdenken, wenn ich an einer Straßenecke von einem Fuß auf den anderen trete oder in einem zugigen Warteraum auf einem steinharten Stuhl sitze oder mit hungrigem Magen in einem Restaurant ohne einen Kellner weit und breit. Ich brauche die Energie der Empörung.«
»Aber bist du jetzt nicht auch empört?«
»Das ist nicht das gleiche. Man kann sich über eine Ungerechtigkeit aufregen, aber wie soll man sich darüber ärgern, daß alle so überaus nett und rücksichtsvoll sind -diese gefühllosen Scheusale! Im Augenblick bin ich nicht empört, ich bin lediglich traurig, und wenn ich traurig bin, kann ich nicht schreiben.«
Wir verbrachten die unglücklichste Happy Hour, die ich jemals erlebt habe.
»Ich schwöre dir, George«, sagte Mordecai, »jemand muß mich verflucht haben. Irgendeine böse Fee hat aus Wut darüber, daß sie nicht zu meiner Taufe eingeladen war, nach etwas gesucht, das noch schlimmer ist, als auf Schritt und Tritt Verzögerungen ertragen zu müssen. Und sie ist auf einen Fluch gestoßen, der bewirkt, daß einem jeder Wunsch auf der Stelle erfüllt wird.«
Angesichts seines Kummers stieg mir eine nicht unmännliche Träne ins Auge, besonders bei dem Gedanken, daß ich jene böse Fee war, von der er sprach, und daß er das auf irgendeine Weise herausfinden könnte. Schließlich mochte er sich in seiner Verzweiflung womöglich umbringen oder - was noch schlimmer wäre -mich.
Doch der schlimmste Schrecken erwartete mich noch. Als er nach der Rechnung verlangte und diese natürlich auf der Stelle erhalten hatte, musterte er sie mit trübem Blick, schob sie dann zu mir hinüber und sagte mit einem gequälten Lachen: »Hier, bezahl du. Ich gehe nach Hause.«
Ich habe die Rechnung bezahlt. Was blieb mir anderes übrig? Aber es hat eine Wunde gerissen, die ich an feuchten Tagen immer noch spüren kann. Hatte ich vielleicht die Lebensdauer der Sonne um zweieinhalb Millionen Jahre verringert, um meine Cocktailrechnung selbst zu bezahlen? Ist das Gerechtigkeit?
Ich habe Mordecai nie wieder gesehen. Wie ich später gehört habe, hat er das Land verlassen und arbeitet irgendwo in der Südsee als Strandgutsammler.
Ich weiß nicht genau, was die Aufgabe eines Strandgutsammlers ist, aber ich vermute, man wird nicht reich dabei. Eines weiß ich allerdings mit Sicherheit: Wenn er am Strand ist und sich nach einer Welle sehnt, wird sie nicht lange auf sich warten lassen.
In diesem Augenblick brachte uns ein grinsender Lakai die Rechnung und legte sie vor uns auf den Tisch. Wie üblich ging George über diese Geste hinweg, als hätte er sie nicht bemerkt.
Ich sagte: »Du hast doch nicht etwa vor, Azazel auch für mich etwas Gutes tun zu lassen, George?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte George. »Leider, mein alter Freund, bist du nicht gerade jemand, den man mit guten Taten bedenken möchte.«
»Dann wirst du also nichts für mich tun?«
»Nicht das geringste.«
»Gut«, sagte ich. »Dann bezahle ich die Rechnung.«
»Das ist das mindeste, was du tun kannst«, erwiderte George.