Während des Essens war George ungewöhnlich schweigsam gewesen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, mich zu unterbrechen, als ich ihm von einigen Bonmots erzählte, die ich in den letzten Tagen zum Besten gegeben hatte. Ein spöttisches Lächeln war alles, was ihm die geistreichste meiner Bemerkungen entlockte.
Als wir schließlich beim Dessert angelangt waren (warmer Blaubeerkuchen nach Art des Hauses), stieß er einen tiefen Seufzer aus, was mich auf unangenehme Weise an das Garnelengericht erinnerte, das er zuvor gegessen hatte.
»Was ist los mit dir, George?« fragte ich. »Du wirkst so bedrückt.«
»Dein Einfühlungsvermögen überrascht mich«, sagte George. »Sonst bist du doch immer viel zu sehr in deine schriftstellerische Arbeit vertieft, um das Leiden deiner Mitmenschen zu bemerken.«
»Aber da ich mir nun schon einmal die Mühe gemacht habe«, sagte ich, »solltest du den Augenblick nicht ungenutzt verstreichen lassen.«
»Ich mußte nur gerade an einen alten Freund denken. Der arme Kerl. Sein Name war Vissarion Johnson. Ich nehme an, du hast noch nicht von ihm gehört?«
»Zufälligerweise, nein«, erwiderte ich.
»Ach, flüchtig ist des Menschen Ruhm. Allerdings ist es wohl keine Schande, wenn man jemandem mit deinem begrenzten Allgemeinwissen nicht bekannt ist. Jedenfalls war Vissarion ein bedeutender Wirtschaftswissenschafter.«
»Du machst sicher Scherze«, sagte ich. »Wie bist du denn an einen Wirtschaftswissenschaftler geraten? Ist das nicht ein wenig unter deinem Niveau?«
»Wieso unter meinem Niveau? Vissarion Johnson war ein sehr gelehrter Mann.«
»Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel«, erwiderte ich. »Ich frage mich allerdings, wie es um die Ehre dieses Berufsstandes bestellt ist. Ich kenne da eine schöne Geschichte: Präsident Reagan soll sich einmal Gedanken um den Staatshaushalt gemacht haben. Er wollte ein paar Berechnungen anstellen und fragte einen Physiker: >Wieviel ist zwei plus zwei?< Der Physiker antwortete auf der Stelle: >Vier, Herr Präsident.< Reagan dachte einen Augenblick nach und nahm dabei seine Finger zu Hüte. Dennoch war er mit der Antwort nicht zufrieden und fragte deshalb einen Statistiker: >Wieviel ist zwei plus zwei?< Der Statistiker dachte ein wenig nach und sagte dann: >Herr Präsident, die letzte Umfrage unter Viertklässlern hat eine Reihe von Lösungen ergeben, deren Mittelwert sich der Vier annähert.« Da es sich jedoch um den Staatshaushalt handelte, wollte sich Reagan auch mit dieser Antwort nicht zufrieden geben und fragte deshalb einen Wirtschaftswissenschaftler: >Wieviel ist zwei plus zwei?< Der Wirtschaftswissenschaftler zog die Jalousien am Fenster herunter, blickte sich vorsichtig um und flüsterte dann: >Welche Antwort möchten Sie hören, Herr Präsident?««
George ließ sich weder in Wort noch Geste anmerken, daß er meine Geschichte komisch fand. Er sagte: »Du hast eindeutig nicht den blassesten Schimmer von Wirtschaft, mein alter Freund.«
»Die Wirtschaftswissenschaftler ebensowenig, George«, erwiderte ich.
»Laß mich dir also die traurige Geschichte meines guten Freundes, des Wirtschaftswissenenschaftlers Vissarion Johnson erzählen. Das ganze ist vor einigen Jahren passiert.«
Wie gesagt, Vissarion Johnson war eine Größe auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften [sagte Georgej. Er hatte am Institute for Technology in Massachusetts studiert und dort gelernt, die haarsträubendsten Gleichungen an die Tafel zu schreiben, ohne auch nur mit der Kreide zu zittern.
Nach Abschluß seines Studiums begann er sofort, auf seinem Gebiet zu arbeiten. Und dank der finanziellen Mittel, die ihm zahlreiche Klienten zur Verfügung stellten, lernte er eine Menge über die zufälligen Schwankungen der täglichen Börsenkurse. Er legte dabei ein solches Talent an den Tag, daß seine Klienten so gut wie keine Verluste machten.
Hin und wieder ließ er sich sogar zu der Vorhersage hinreißen, ob die Aktienkurse am nächsten Tag steigen oder fallen würden - je nachdem, ob die Stimmung gerade günstig oder ungünstig war. Und jedesmal entwickelte sich der Markt genau so, wie er es vorausgesagt hatte.
Solche Triumphe brachten ihm den Rut eines Schakals der Wall Street ein, und viele der berühmtesten Künstler des schnell verdienten Geldes fragten ihn um Rat.
Er trachtete jedoch nach Höherem als dem Aktienmarkt, den Machenschaften der Unternehmen oder dem Einsatz seiner prophetischen Fähigkeiten. Nichts Geringeres schwebte ihm vor als die Position des Obersten Wirtschaftswissenschaftlers der Vereinigten Staaten oder des >Wirtschaftsberaters des Präsidenten<, wie dieser Staatsbeamte im allgemeinen bezeichnet wird.
Du mit deiner beschränkten Bildung weißt sicher nicht, wie überaus heikel die Stellung des Obersten Wirtschaftswissenschaftlers ist. Der Präsident der Vereinigten Staaten muß Entscheidungen fallen, die den Einfluß der Regierung auf Handel und Wirtschaft bestimmen. Er muß das Geldvolumen und die Banken überwachen. Er muß Maßnahmen in die Wege leiten oder unterbinden, die Auswirkungen auf Landwirtschaft, Handelsverkehr und Industrie haben. Über die Verteilung der Steuermittel hat er zu entscheiden, und er muß festlegen, wieviel davon an das Militär gehen soll und ob möglicherweise noch etwas für andere Dinge übrig bleibt. Und über all diese Fragen beratschlagt er sich zu allererst mit dem Obersten Wirtschaftswissenschaftler.
Der Oberste Wirtschaftswissenschaftler muß sofort wissen, was der Präsident von ihm hören will. Er muß ihm die entsprechenden Informationen liefern, zusammen mit den üblichen nichtssagenden Schlagwörtern, die der Präsident dann der amerikanischen Öffentlichkeit präsentieren kann. Als du mir die Geschichte von dem Präsidenten, dem Physiker, dem Statistiker und dem Wirtschaftswissenschaftler erzählt hast, alter Freund, dachte ich zuerst, du hättest die heikle Aufgabe des Wirtschaftswissenschaftlers erkannt. Dein völlig unangebrachtes Lachen am Ende hat mir jedoch deutlich gemacht, daß du nicht verstanden hast, worauf es ankommt.
Als Vissarion das vierzigste Lebensjahr erreicht hatte, verfügte er über alle nötigen Qualifikationen, um jedweden Posten antreten zu können - egal wie hoch hinauf er wollte. Im Institut für Staatswirtschaft hatte es sich bereits herumgesprochen, daß Vissarion Johnson in den letzten sieben Jahren seinen Klienten nicht ein einziges Mal etwas gesagt hatte, was der- oder diejenige nicht hören wollte. Darüber hinaus war er mit Handkuß in den kleinen Kreis des KFP aufgenommen worden.
Du mit deiner Unwissenheit, was das Geschehen jenseits deiner Schreibmaschine anbelangt, hast sicher noch nie vom KFP gehört - das ist eine Abkürzung für den Klub der Fallenden Profitrate. Tatsächlich wissen nur sehr wenige Menschen von ihm. Selbst unter den weniger bedeutenden Wirtschaftswissenschaftlern ist er weitgehend unbekannt. Er besteht aus einer kleinen, äußerst exklusiven Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern, die das komplizierte Gebiet der thaumaturgischen Wirtschaftswissenschaft -oder >Voodoo-Wirtschaftswissenschaft<, wie es ein Politiker so herrlich prosaisch genannt hat - bis zur Vollkommenheit beherrschen.
Es ist weithin bekannt, daß man es in der Regierung nur zu etwas bringen kann, wenn man dem KFP angehört. Als der Vorsitzende des KFP überraschend das Zeitliche segnete und ein Komitee der Organisation seinen Posten Vissarion anbot, frohlockte er innerlich. Als Vorsitzender des KFP würde er sicher bei nächster Gelegenheit zum Obersten Wirtschaftswissenschaftler berufen werden. Dann säße er direkt am Quell der Macht und hätte sogar Einfluß auf die Entscheidungen des Präsidenten.
Eines bereitete Vissarion jedoch Sorgen und brachte ihn in furchtbare Verlegenheit. Er war der Meinung, daß er sich mit jemandem beraten mußte, der über einen kühlen Kopf und großen Scharfsinn verfügte, und wandte sich deshalb an mich - wie es jeder in seiner Lage getan hätte.
»George«, sagte er, »wenn ich Vorsitzender des KFP werde, gehen meine größten Hoffnungen und kühnsten Träume in Erfüllung. Das ist der erste Schritt in eine phantastische Zukunft als Speichellecker. Vielleicht gelingt es mir sogar, den zweiten Berater des Präsidenten in dieser Hinsicht zu übertreffen - den Obersten Wissenschaftler der Vereinigten Staaten.«
»Du meinst den wissenschaftlichen Berater des Präsidenten.«
»Wenn du es so salopp ausdrücken willst. Ich muß lediglich Vorsitzender des KFP werden, und innerhalb von zwei Jahren werde ich der Oberste Wirtschaftswissenschaftler sein. Es sei denn ...«
»Es sei denn, was?« fragte ich.
Vissarion schien sich zu sammeln. »Ich muß ganz von vorn anfangen. Der Klub der Fallenden Profitrate wurde vor zweiundsechzig Jahren gegründet. Seinen Namen verdankt er dem Gesetz der fallenden Profitrate - ein Gesetz, von dem jeder Wirtschaftswissenschaftler, egal wie schlecht seine Ausbildung sein mag, schon einmal gehört haben muß. Der erste Präsident des Klubs - ein beliebter Mann, der im November 1929 vorausgesagt hatte, daß dem Aktienmarkt ein ernster Einbruch drohte - wurde Jahr um Jahr wiedergewählt. Zweiunddreißig Jahre lang war er Präsident des Klubs, bis er im würdigen Alter von sechsundneunzig Jahren starb.«
»Wie lobenswert«, sagte ich. »Die meisten Menschen geben viel zu früh auf. Dabei gehört nur Mut und Entschlossenheit dazu, bis sechsundneunzig oder noch länger durchzuhalten.«
»Unser zweiter Vorsitzender war beinahe genauso erfolgreich - er hatte den Posten sechzehn Jahre lang inne. Er war der einzige, der nicht zum Obersten Wirtschaftswissenschaftler ernannt wurde. Er hatte die Stellung verdient und wurde einen Tag vor der Wahl von Thomas E. Dewey ins Amt berufen, aber es hat wohl nicht sein sollen ... Unser dritter Vorsitzender starb, nachdem er den Posten acht Jahre lang innehatte, und der vierte starb nach vier Jahren. Unser fünfter und letzter Vorsitzender, der gerade gestorben ist, war zwei Jahre lang im Amt gewesen. Kommt dir daran irgend etwas merkwürdig vor, George?«
»Merkwürdig? Sind sie alle eines natürlichen Todes gestorben?«
»Sicher.«
»Nun, das ist in Anbetracht ihres Amtes tatsächlich merkwürdig.«
»Unsinn«, sagte Vissarion scharf. »Schau dir doch einmal die Zeitspannen an, die jeder dieser Vorsitzende im Amt gewesen ist: zweiunddreißig Jahre, sechzehn, acht, vier und zwei.«
Ich dachte einen Augenblick nach. »Die Anzahl der Jahre scheint sich zu verringern.«
»Sie verringert sich nicht einfach nur. Jede ist genau die Hälfte der vorhergehenden. - Glaub mir, ich habe das von einem Physiker überprüfen lassen.«
»Weißt du, ich denke, du hast recht. Ist das schon jemand anderem aufgefallen?«
»Sicher«, sagte Vissarion. »Ich habe diese Zahlen den anderen Klubmitgliedern vorgelegt, und sie waren der Meinung, daß sie keine statistische Relevanz besitzen. Es sei denn, der Präsident gibt eine öffentliche Erklärung heraus, die das Gegenteil besagt. Aber begreifst du nicht, was das alles bedeutet? Wenn ich die Stelle des Vorsitzenden annehme, werde ich in einem Jahr sterben. Das steht fest. Und wenn ich tot bin, wird mich der Präsident nur schwer in das Amt des Obersten Wirtschaftswissenschaftlers berufen können.«
Ich sagte: »Ja, Vissarion, da steckst du in einer Zwickmühle. Ich habe schon einige Regierungsbeamte kennengelernt, hinter deren Stirn kein Lebenszeichen mehr auszumachen war, aber noch keinen, der überhaupt kein Lebenszeichen mehr gezeigt hätte. Laß mich einen Tag darüber nachdenken, mein Freund.«
Wir verabredeten uns für den nächsten Tag zur selben Zeit am selben Ort. Schließlich war das Restaurant ausgezeichnet, und im Gegensatz zu dir, mein alter Freund, mißgönnte mir Vissarion meinen Brotkanten nicht.
Also gut, er mißgönnte mir auch keine Garnelen.
Ganz offensichtlich war das ein Fall für Azazel, und ich sah allen Grund dazu, meinen zwei Zentimeter großen Dämon mit seinen überirdischen Kräften zu Rate zu ziehen.
Schließlich war Vissarion nicht nur ein netter Mensch mit einem guten Gastronomiegeschmack, sondern ich war außerdem davon überzeugt, daß er unserem Land einen großen Dienst erweisen würde, indem er die Ideen des Präsidenten gegenüber den Einwänden von Menschen mit überlegener Urteilskraft verteidigte. Die hatte schließlich niemand gewählt, nicht wahr?
Azazel war nicht sonderlich erbaut darüber, daß ich ihn gerufen hatte. Als er mich erblickte, ließ er alles fallen, was er gerade in Händen hielt. Es war zu klein, als daß ich genau hätte erkennen können, worum es sich dabei handelte, aber es schienen seltsam geformte kleine Pappquadrate zu sein.
»Da hast du's!« schrie er. Sein winziges Gesicht verzog sich und wurde vor Wut tiefgelb. Sein kleiner Schwanz peitschte wild, und die Hörnchen auf seiner Stirn zitterten.
»Du abscheulicher, unfähiger Trottel!« kreischte er. »Ist dir klar, daß ich gerade einen Zotchil hatte? Und nicht nur einen Zotchil, nein, auch noch einen mit dem höchsten Kumin und ein paar Rallen dazu! Die anderen haben mich hochgereizt, und ich hätte einfach nicht verlieren können. Ich hätte jeden Halb-Bletschken auf dem Tisch abgeräumt.«
Ich entgegnete in ernstem Tonfall: »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, aber es klingt, als hättest du gerade Karten gespielt. Nennst du das etwa ein würdevolles und zivilisiertes Verhalten? Was würde deine Mutter sagen, wenn sie wüßte, daß du deine Zeit damit verbringst, mit ein paar Rumtreibern Karten zu spielen?«
Azazel schien überrascht zu sein. Dann brummte er: »Du hast recht. Meine Mütter wären untröstlich. Alle drei. Besonders meine arme mittlere Mutter, die so viel für mich getan hat.« Er brach in ein spitzes Heulen aus, das mir in den Ohren weh tat.
»Na, na«, sagte ich beruhigend. Am liebsten hätte ich mir die Finger in die Ohren gesteckt, aber damit hätte ich ihn sicher beleidigt. »Du kannst alles wiedergutmachen, indem du einem ehrenwerten Wesen dieser Welt deine Hilfe zuteil werden läßt.«
Ich erzählte ihm die Geschichte von Vissarion Johnson.
»Hmm«, brummte Azazel.
»Was soll das bedeuten?« fragte ich besorgt.
»Das bedeutet: >hmm<«, gab Azazel zurück. »Was sollte es wohl sonst bedeuten?«
»Ja, aber glaubst du, alles ist nur Zufall und Vissarion muß sich keine Gedanken machen?«
»Möglicherweise - nur daß es eben kein Zufall sein kann und sich Vissarion durchaus Gedanken machen sollte. Es muß ein Naturgesetz dahinterstecken.«
»Was für ein Naturgesetz sollte das denn sein?«
»Glaubst du etwa, ihr kennt alle Naturgesetze?«
»Nun, sicher nicht!«
»Natürlich nicht. Unser größter Dichter, Tschiefpriehst, hat darüber einmal einen wunderschönen Zweizeiler geschrieben, den ich mit meinen hervorragenden dichterischen Fähigkeiten in eure barbarische Sprache übersetzen will:
Alle Natur ist Kunst, die ihr nicht versteht,
Aller Zufall Wege, die ihr noch nicht geht.«
Ich fragte argwöhnisch: »Was soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, daß ein Naturgesetz dahintersteckt - wir müssen nur herausfinden, welches und wie wir es nutzen können, um die Ereignisse in unserem Sinne zu beeinflussen. Das bedeutet es. Denkst du etwa, daß einer der größten Dichter meines Volkes lügen würde?«
»Und, kannst du mir nun helfen?«
»Möglicherweise. Es gibt eine ganze Menge Naturgesetze, weißt du.«
»Tatsächlich?«
»Oh, ja. Ich kenne da ein recht hübsches Naturgesetz -eine verdammt schöne Gleichung, wenn man sie mit einem Weinbaum-Tensor in Verbindung setzt -, das die Temperatur einer Suppe bestimmt, in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit, mit der man sie aufessen muß. Diese merkwürdige Verringerung der Amtszeit eines Vorsitzenden könnte möglicherweise derselben Gesetzmäßigkeit unterliegen. Wenn dem so ist, könnte ich das Wesen deines Freundes so verändern, daß er gegen jeden schädlichen irdischen Einfluß immun ist. Natürlich wäre er weiterhin dem Prozeß des körperlichen Verfalls unterworfen. Die Maßnahmen, die mir vorschweben, würden ihn nicht unsterblich machen, aber er würde nicht an einer Krankheit oder durch einen Unfall sterben. Ich denke, das würde ihm entgegenkommen.«
»Mit Sicherheit. Aber bis wann ließe sich das bewerkstelligen?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Im Augenblick bin ich sehr beschäftigt - eine junge Frau meiner Spezies hat sich ziemlich in mich vernarrt, die Ärmste.« Er gähnte, und seine kleine gespaltene Zunge rollte sich ein und streckte sich dann wieder. »Ich leide ein wenig unter Schlafmangel, aber in zwei oder drei Tagen sollte es erledigt sein.«
»Und woher soll ich wissen, wann deine Maßnahmen in Kraft treten und ob sie funktioniert haben?«
»Nichts leichter als das«, erwiderte Azazel. »Warte einfach ein paar Tage und stoße deinen Freund dann vor einen fahrenden Lastwagen. Wenn er unverletzt bleibt, hat mein Eingriff gewirkt. - Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gern noch dieses eine Blatt zu Ende spielen und dann im Gedenken an meine arme mittlere Mutter das Kartenspielen aufgeben. Den Gewinn nehme ich natürlich mit.«
Denk nur nicht, daß es einfach war, Vissarion davon zu überzeugen, daß ihm nichts mehr passieren konnte.
»Nichts auf der Welt kann mir etwas anhaben?« fragte er immer wieder. »Woher willst du wissen, daß mir nichts auf der Welt etwas anhaben kann?«
»Ich weiß es einfach. Schau mal, Vissarion, ich stelle deine besonderen Fähigkeiten ja auch nicht in Frage. Wenn du mir sagst, daß die Zinssätze sinken werden, streite ich nicht mit dir herum und frage dich, woher du das weißt.«
»Schön und gut. Aber wenn ich behaupte, die Zinssätze werden sinken, und sie dann doch ansteigen - mitunter kommt das schon einmal vor -, habe ich nur deine Gefühle verletzt. Wenn ich mich aber so verhalte, als könnte mir nichts auf Erden etwas anhaben, und mir dann doch etwas passiert, bin ich mehr als nur verletzt. Dann bin ich wirklich verletzt.«
Gegen Logik kommt man mit Argumenten nicht an, aber ich versuchte es trotzdem. Ich überzeugte ihn schließlich davon, das Amt nicht geradeheraus abzulehnen, sondern zu versuchen, die Entscheidung um ein paar Tage aufzuschieben.
»Sie werden keine Verzögerung dulden«, sagte er. Es stellte sich jedoch heraus, daß sich gerade an diesem Tag der Schwarze Freitag jährte und der KFP die übliche dreitägige Trauerphase im Andenken an die Toten antrat. Daraus ergab sich automatisch eine Verzögerung, und das allein überzeugte Vissarion schon davon, daß sein Leben tatsächlich unter einem günstigen Stern stand.
Am Ende der Trauerphase, als er sich wieder in der Öffentlichkeit blicken ließ, überquerten wir eines Tages eine belebte Straße, als ich mich plötzlich zu meinen Schnürsenkeln hinunterbeugte und - ich weiß auch nicht, wie das geschehen konnte - das Gleichgewicht verlor und gegen ihn stieß. Daraufhin verlor er das Gleichgewicht und fiel mitten in den Straßenverkehr. Plötzlich quietschten Bremsen, Reiten schlitterten und drei Autos fuhren ineinander.
Vissarion kam nicht ganz ungeschoren davon. Seine Haare waren in Unordnung geraten, seine Brille hing ein wenig schief, und auf dem linken Hosenbein hatte er einen Ölfleck.
Dem schenkte er jedoch keine Beachtung. Er betrachtete das Durcheinander und sagte voller Ehrfurcht: »Sie haben mich nicht einmal berührt. Meine Güte, sie haben mich nicht berührt.«
Am nächsten Tag geriet er in einen Regenschauer -einen widerlich kalten Schauer - ohne Gummistiefel, Regenschirm oder Jacke und holte sieh keine Erkältung. Ohne sich auch nur die Haare abzutrocknen, rief er beim KFP an und akzeptierte den Posten des Vorsitzenden.
Ich muß sagen, daß er eine gute Amtszeit hatte. Er verfünffachte sofort sein Honorar, unabhängig davon, ob seine Prognosen zutrafen oder nicht. Schließlich konnten die Klienten nicht alles haben. Wenn sie schon einen so berühmten Mann um Rat fragten, konnten sie nicht auch noch erwarten, daß er ihnen brauchbare Hinweise gab.
Darüber hinaus genoß er das Leben. Keine Erkältungen. Keine ansteckenden Krankheiten. Er überquerte sorglos die Straßen und ging auch mal bei Rot, wenn er es eilig hatte, und verursachte dabei nur hin und wieder einen Unfall. Er hatte keine Bedenken, nachts in einen Park zu gehen. Als ihm einmal ein Straßenschläger ein Messer an die Brust hielt und ihn zu einem kurzfristigen Geldtransfer aufforderte, trat Vissarion dem jungen Unternehmer einfach zwischen die Beine und ging seiner Wege. Der Schläger war daraufhin so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß er keinen weiteren Antrag stellte.
Am ersten Jahrestag seines Amtsantritt als Vorsitzender traf ich ihn in einem Park. Er war gerade auf dem Weg zu einem Bankett, das aus diesem Anlaß zu seinen Ehren gegeben wurde. Es war ein wunderschöner Spätsommertag, und als wir uns nebeneinander auf eine Parkbank setzten, fühlten wir uns beide vollkommen glücklich und entspannt.
»George«, sagte er, »das ist ein gutes Jahr gewesen.«
»Freut mich für dich«, erwiderte ich.
»Mein Ruf übertrifft den jedes anderen Wirtschaftswissenschaftlers, der je gelebt hat. Gerade letzten Monat, als ich vorausgesagt habe, daß sich die Seifenlaugenunion mit der Vereinigung der Seifenhersteller zusammenschließen müßte, und sie schließlich mit dem Bund der Seifenproduzenten fusioniert haben, waren alle erstaunt über die Genauigkeit meiner Vorhersage.«
»Ich erinnere mich«, sagte ich.
»Und jetzt möchte ich, daß du der erste bist, der es erfahrt ... «
»Ja, Vissarion?«
»Der Präsident hat mir das Amt des Obersten Wirtschaftswissenschaftlers der Vereinigten Staaten angetragen. Ich habe das Ziel all meiner Wünsche und Träume erreicht. Schau nur.«
Er hielt mir einen eindrucksvollen Umschlag hin, in dessen linker oberer Ecke das Emblem des Weißen Hauses prangte. Während ich ihn öffnete, hörte ich ein merkwürdiges Geräusch, als wäre eine Kugel dicht an meinem Ohr vorbeigeflogen, und aus den Augenwinkeln sah ich ein merkwürdiges Licht aufblitzen.
Vissarion lag ausgestreckt auf der Bank, und auf seiner Hemdbrust war ein Blutfleck zu sehen. Er war offensichtlich tot. Einige Passanten blieben verwundert stehen, andere schrien auf oder schnappten nach Luft und eilten davon.
»Rufen Sie einen Arzt!« schrie ich. »Rufen Sie die Polizei!«
Als die Polizei schließlich eintraf, kam sie zu dem Schluß, daß Vissarion erschossen worden war. Irgendein psychopathischer Heckenschütze hatte ihm mit einer Waffe unbekannten Kalibers direkt durchs Herz geschossen. Der Heckenschütze wurde nie gefaßt, und auch die Kugel wurde nicht gefunden. Zum Glück gab es Zeugen, die bestätigen konnten, daß ich zur fraglichen Zeit einen Brief in Händen gehalten hatte und eindeutig unschuldig war. Sonst hätte es für mich unangenehm werden können.
Der arme Vissarion! Er war genau ein Jahr Vorsitzender gewesen - wie er befürchtet hatte -, und dennoch traf Azazel keine Schuld. Er hatte gesagt, daß Vissarion keine irdische Macht etwas anhaben konnte, aber wie Hamlet schon so weise gesagt hat: >Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als eure Weisheit sich erträumt, Horatio.< Bevor der Notarzt und die Polizei eintrafen, war mir ein kleines Loch in der Rückenlehne der Bank aufgefallen, auf der Vissarion lag. Mit meinem Taschenmesser holte ich den kleinen dunklen Gegenstand heraus, der darin steckte. Er fühlte sich immer noch warm an. Einige Monate später brachte ich ihn insgeheim zu einem Museum und ließ ihn untersuchen. Ich hatte recht gehabt: Es war ein Meteorit.
Kurz gesagt, Vissarion war nicht von etwas Irdischem getötet worden. Er ist der erste Mensch in der Geschichte, der von einem Meteoriten getötet wurde. Das behielt ich natürlich für mich, denn Vissarion war ein sehr zurückhaltender Mensch. Es hätte ihm nicht gefallen, auf diese Weise zu Berühmtheit zu gelangen. Das hätte seine großen Leistungen als Wirtschaftswissenschaftler vollkommen überschattet, und das konnte ich nicht zulassen.
Aber an jedem Jahrestag seines Aufstiegs und Todes -so wie heute - sitze ich da und denke: Armer, armer Vissarion!
George wischte sich mit einem Taschentuch die Augen, und ich sagte: »Was ist mit demjenigen geschehen, der als nächster Vorsitzender des KFP wurde? Er kann den Posten nur für ein halbes Jahr innegehabt haben, und der nächste für drei Monate und der nächste ... «
George sagte: »Du mußt mir deine mathematischen Fähigkeiten nicht beweisen, mein alter Freund. Ich bin nicht einer deiner bemitleidenswerten Leser. Gar nichts ist passiert. Die Ironie des Ganzen ist, daß der Klub selbst das Naturgesetz verändert hat.«
»Ach? Und wie haben sie das gemacht?«
»Sie kamen auf den Gedanken, daß der Name des Klubs - Klub der Fallenden Profitrate - ein schlechtes Vorzeichen wäre, das einen Einfluß auf die Amtszeit des Vorsitzenden haben könnte. Deshalb haben sie ihren Namen geändert und nannten sich fortan KZV.«
»Was bedeutet KZV?«
»Klub der Zufälligen Verteilung natürlich«, sagte George. »Ihr Präsident ist jetzt seit zehn Jahren im Amt, und ihm geht es blendend.«
Als der Kellner mit meinem Wechselgeld zurückkam, legte George zufällig sein Taschentuch darüber und ließ mit einer schwungvollen Geste Taschentuch und Geldscheine in seiner Brusttasche verschwinden. Dann stand er auf, winkte mir noch einmal zu und verließ das Restaurant.