Die V-Rakete

Einige Stunden nach Baubeginn ereignete sich etwas Unheimliches. Die Arbeiten am fast vollendeten neuen Funkwarnfeuer und am halbfertigen Trichter der zweiten Anti-Falle auf dem Asteroiden Adonis mußten abgebrochen werden.

Norbert Franken hatte im Zentralposten Steuerwache. Im Raumschiff hielt sich nur ein Teil der Besatzung auf. Der andere Teil war auf dem Asteroiden mit den Transport- und Montagearbeiten sowie mit wissenschaftlichen Untersuchungen beschäftigt.

Zusammen mit Franken saß Sagitta im zentralen Steuerraum. Sie wußte Oulu drüben auf dem Asteroiden und beobachtete jetzt auf dem großen Bildschirm die Vorgänge auf der Baustelle. Sagitta war in den vergangenen Tagen immer mit Oulu zum Planetoiden hinübergeflogen. Sie waren stets zugleich für die Bauarbeiten eingesetzt gewesen.

Heute aber, vor wenigen Stunden, war ein Monteur verunglückt. Sein Atemgerät hatte falsch gearbeitet. Er hatte sich eine Sauerstoffvergiftung zugezogen. Sagitta hatte nunmehr die Pflicht, an Bord zu bleiben und den Patienten zu betreuen. Nachdem die Sauerstoffvergiftung abgeklungen war und sich der Zustand des Monteurs gebessert hatte, war Sagitta in den zentralen Steuerraum gekommen, um eine Weile das Treiben auf dem Planetoiden zu beobachten. Sie versuchte, Oulu zu erkennen. Das war schwer, denn im Raumanzug sahen alle gleich aus.

Auf Adonis erhob sich der Trichter der Anti-Falle bereits in halber Höhe. Im Augenblick entlud man die Erkundungsrakete, die die Transistorenanlagen für das neue Funkwarnfeuer gebracht hatte. Außerdem waren Monteure damit beschäftigt, die einzelnen Teile der dreißig Meter hohen Gittermasten, die den Trichter halten sollten, aufeinanderzusetzen. Achthundert Meter weiter nahmen Mirsanow und einige andere Wissenschaftler auf dem kleinen Plateau Messungen der kosmischen Strahlung vor.

Alle zwanzig Minuten verschwand das Bild mit seinem emsigen Treiben infolge der Rotation des Planetoiden. Drüben auf dem Asteroiden ergossen ununterbrochen bei Nacht und auch in der Dämmerzeit Scheinwerfer ihr helles Licht über die Baustelle. Sie tauchten den Bauplatz in ein sich scharf von der kosmischen Dunkelheit abgrenzendes Lichtfeld. Wer den Kreis des Lichtes überschritt, war von der Finsternis verschluckt, da die das Licht zerstreuende Atmosphäre fehlte.

Nach zwanzig Minuten erschien die Baustelle wieder auf der Dämmerungsseite des Asteroiden. Vom Schiff aus konnte man wieder die von den Raumanzügen unförmig vermummten Figürchen der Astronauten herumhüpfen sehen.

Plötzlich schrillte die Alarmklingel des Radars.

Norbert Franken wandte seinen Blick stirnrunzelnd vom großen Bildschirm ab. Auf dem Radarschirm des Funkpultes war ein heller Fleck erschienen. Er schob sich hinter dem Asteroiden hervor.

Franken las den Registrierstreifen des Radarschirmes ab. Nach den dort aufgezeichneten Angaben war das Radarobjekt schon einmal vor etwa einer Stunde in einer Entfernung von rund 18000 Kilometern erfaßt worden. Es war dann aber hinter dem Asteroiden verschwunden und erst jetzt wieder aufgetaucht. Franken mußte es wohl, vom Treiben auf dem Asteroiden abgelenkt, übersehen haben. Der Radarschreiber gab an, daß der erfaßte Gegenstand etwa in der gleichen Richtung wie AJ-408 und wie Adonis flog, sich dabei aber gleichzeitig dem Raumjäger und dem Planetoiden mit 5 Kilometer in der Sekunde näherte. Sein Abstand betrug noch 4200 Kilometer.

Franken blieb ruhig. Er errechnete, daß der kosmische Flugkörper, vor dem das Radar gewarnt hatte, in etwa vierzehn Minuten die Bahn des Asteroiden dicht vor ihm schneiden würde.

„Achtung, Arbeitsgruppen! Hier AJ-408! In vierzehn Minuten passiert unseren Bereich ein kosmischer Flugkörper. Es ist vermutlich ein großer Meteorit. Die Gefahr eines Zusammenstoßes besteht noch nicht. Empfehle trotzdem, die Schutzkegel des Funkwarnfeuers und der Anti-Falle aufzusuchen. — Ende.“

Da jeder Raumanzug mit einem streichholzschachtelgroßen Ultrakurzwellengerät für Sendung und Empfang ausgerüstet war, konnten alle Besatzungsmitglieder außerhalb des Raumschiffes die Warnung empfangen. Frankens Mitteilung war außerdem vom Bordfunk übertragen worden, so daß auch alle im Raumschiff anwesenden Besatzungsmitglieder Bescheid wußten.

Auf dem großen Bildschirm konnte man sehen, wie auf dem Asteroiden einige Gestalten dem Schutzkegel zustrebten. Auch die Monteure, die in der Höhe an der Errichtung der Gittermasten arbeiteten, kamen heruntergeschwebt. Andere blieben unbekümmert. Sie gingen weiter ihrer Arbeit nach.

Sagitta, sonst nicht ängstlich, konnte sich einer bangen Ahnung nicht erwehren. Vielleicht lag das daran, daß sie Oulu auf dem Asteroiden wußte. Dort draußen war eine Begegnung mit einem Meteoriten weitaus gefährlicher als im Raumschiff. Auch die eventuelle Zerstörung des Meteoriten mit den Strahlen des Helicons oder einem Atomgeschoß konnte für die Arbeitsgruppen auf Adonis unangenehme Begleiterscheinungen haben.

Besorgt versuchte Sagitta, in der Miene ihres Bruders Norbert zu lesen.

Der Funker beobachtete nachdenklich mit steigender, kaum zu verbergender Unruhe den immer deutlicher werdenden Radarreflex. Die außerordentliche Helle des Reflexes und die eigentümliche, aber noch undeutliche Form machten ihm Sorge. Franken fühlte sich unentschlossen. Allmählich begann sich die Form auf dem Radarschirm klarer abzuheben. Franken bekam vor Verwunderung große Augen. Er glaubte, seine Sinne täuschten ihn.

Da ertönte das Warnzeichen des Pilotrons, mit dem er ein Manöver ankündigte. Eine Sekunde später setzten die Triebwerke ein. Der Andruck einer leichten Beschleunigung drückte Sagitta in den Sessel. Franken ließ sich ebenfalls schnell in einen Sessel gleiten.

Der Asteroid Adonis verschwand aus dem Blickfeld der Fernsehkameras. Der Bildschirm wurde leer. Nur die Sterne leuchteten, entsprechend ihren Temperaturen, mit weißem, bläulichem, gelbem und rötlichem Schimmer.

Sagitta hatte noch gar nicht begriffen, daß der automatische Astropilot die Geschwindigkeit des Raumschiffes erhöhte, als sie schon wieder in der entgegengesetzten Richtung aus dem Sessel herausgedrückt wurde. Die Düsen im Bug der Raumrakete bremsten die eben erfolgte Beschleunigung wieder ab. Der Asteroid Adonis erschien erneut auf dem Bildschirm, nur ferner und kleiner.

Kaum daß Franken wieder fest auf den Beinen stand, streifte er seine Unentschlossenheit ab. Es galt, schnell zu handeln. Franken stürzte los. Zuerst zum Helicon. Er blockierte ihn mit einem raschen Griff. Dann lief er zum Pilotron und löste die drei lauten glockenhellen Schläge aus, die den Bereitschaftsdienst in den Steuerraum riefen. Mit ein paar schnellen Sätzen kam Franken wieder zum Funk- und Radarpult zurück. Dort drückte er die Anfragetaste nieder. Mit vor Aufregung keuchendem Atem begann der Funker in den Äther zu rufen.

Was war geschehen?

Das Elektronenhirn hatte errechnet, daß der fremde kosmische Flugkörper, der sich eine Zeitlang hinter dem Asteroiden verborgen hatte und dabei näher gekommen war, 8 Kilometer vor Adonis die Bahn des Asteroiden schneiden würde. Um eine so gefährlich nahe Begegnung zu vermeiden, hatte der Pilotron das Raumschiff vorsorglich auf eine andere Position gesteuert. Dann hatte er wieder die Geschwindigkeit des Raumschiffes der des Asterioden angepaßt.

Franken aber begriff in demselben Augenblick, daß sich ihnen ein unbekanntes Raumschiff näherte. Ihm sträubten sich die Haare, denn dieses fremde Raumschiff hatte V- Form. Von Menschenhand erschaffene Raumschiffe solcher Art kannte er nicht.

Dieses unheimliche Sternenschiff schien direkt auf den Asteroiden zuzufliegen. Es bremste seinen Flug nicht ab. Dem Funker fielen die merkwürdigen Peilechos ein, die er seit einigen Monaten auffing.

Sollte zwischen diesen Zeichen und dem fremden Schiff ein Zusammenhang bestehen?

Trotz der Ungewißheit über die Art der drohenden Gefahr blockierte Norbert Franken die Abwehrwaffen. Sie durften erst sprechen, wenn es keine Zweifel mehr gab. Wie aber sollte er in wenigen Minuten restlose Klarheit und Gewißheit erlangen?

Pausenlos rief der Funker wie ein Verzweifelter dem schweigenden Fremden seine Anfragen entgegen. Er hoffte, daß doch Menschen in dem fremden Schiff seien.

„Hier AJ-408, hier AJ-408! Geben Sie sich zu erkennen, geben Sie Erkennungszeichen! Hier AJ-408, hier Raumjäger 408! Verringern Sie Ihre Geschwindigkeit, bremsen Sie Ihren Flug!“

Franken glaubte immer noch, daß er sich täuschte. Er wünschte, daß das Raumschiff sein Erkennungszeichen mitteilen würde, daß es ein Raumschiff des heimatlichen Planeten sein möge. Aber das ungewöhnliche Sternenschiff schwieg. Der Funker sah ein, daß er seine Anrufe ändern mußte.

„Hier Raumschiff der Erde! Hier Raumschiff eines Planeten des gelben Sterns, der Sonne. Weichen Sie von ihrer Flugbahn ab, ändern Sie Kurs! Hier Raumschiff mit vernunftbegabten Wesen! Hier friedliebende Wesen! Geben Sie Lebenszeichen! Fremde im V-Schiff, wer seid ihr? Achtung, Gefahr für alle! Gefahr für euch und für uns!“

Immer dringlicher, immer lauter und heiserer wurde Frankens Stimme. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die Hände hasteten über den Regietisch. Die Finger trommelten über die Tasten. Sie schalteten immer wieder neue und neue Frequenzen und Wellenlängen ein.

Das V-Schiff aber hüllte sich in finsteres, drohendes Schweigen. Es schob sich mit unverminderter Geschwindigkeit auf den gefährlichen Schnittpunkt der Bahnen zu.

Franken schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn.

Wie konnte er nur so dumm sein! Wenn in dem V-Schiff keine Menschen waren, war es ja sinnlos, sich in der Sprache der Menschen verständigen zu wollen. Der Funker entschloß sich zu einer anderen Methode. Er ging auf Morsetöne über, einfache Zahlen darstellend. Der Funker dachte: Auf der Grundlage der Mathematik müßte es doch möglich sein, sich mit fremden, denkenden Wesen zu verständigen. Aber auch diese Methode half nicht. Schließlich schaltete Norbert Franken ein Tonband ein.

Aus dem Kontrollträger tönten einige der Peilzeichen, wie sie alle neun Tage zur vollen galaktischen Sekunde gesendet wurden. Den Peilzeichen schlossen sich die unbekannten, melodischen Radiosignale an, die Franken schon mehrmals im Anschluß an das sonderbare Peilecho vernommen hatte. Vielleicht ist dieses V-Schiff der Urheber der geheimnisvollen Radiosignale, die ich nun schon seit Monaten immer wieder empfange, dachte Franken. Ob das fremde Raumschiff die Auflösung des funkakustischen Rätsels ist? Die Radiosignale sind Verständigungsversuche der Fremden, überlegte er. Franken wunderte sich, daß die Fremden auch jetzt nicht reagierten, das heißt, daß sie selbst nicht auch das Peilecho und ihre melodischen Funkzeichen als Erkennungszeichen,' als Legitimation ausstrahlten.

Inzwischen waren Kommandant Kerulen und die übrigen Männer des Bereitschaftsdienstes im zentralen Steuerraum eingetroffen. Dem Kommandanten erging es genauso wie den anderen. Als er zur Tür hereinstürzte, stockte sein Schritt für Sekunden. Er glaubte, ein Wahnsinniger stehe am Funk- und Radarpult. Sagittas verstörter Anblick bestärkte ihn noch darin. Sie saß wie vor Schreck erstarrt in ihrem Sessel. Die Ärztin hatte die eigenartige fremde Musik, die ihr Norbert vor vielen Wochen in seiner Kabine vorgespielt hatte, sofort wiedererkannt. Es war für sie erschreckend, in diesen Augenblicken diese Musik zu hören.

Kerulen erblickte Franken, der mit gekrümmtem Körper über die Mikrophone gebeugt stand. Dem Funker hing das in der Aufregung zerraufte Haar wirr in die Stirn. Was der Funker da in den Äther hinausrief, erschien dem Kommandanten einige Augenblicke lang wie verworrenes Gestammel. Aus seinem blassen Gesicht funkelte ein Paar verkniffener Augen. Die Stimme bebte. Die Hände bewegten sich ruckartig über das Regiepult.

Aber schon nach einigen Sekunden ahnte der Kommandant, was geschehen war. Er begriff zumindest, daß Franken verzweifelte Anstrengungen machte, sich mit einem nahenden Raumschiff zu verständigen, das sich nicht zu erkennen gab. Noch konnte Kerulen nicht verstehen, wieso Franken dieses Raumschiff für ein interstellares Flugschiff mit fremden, unbekannten Wesen hielt.

Nach und nach erschien den Männern vom Bereitschaftsdienst. Frankens fieberhafte Tätigkeit weniger wahnsinnig. Begriff man erst einmal, was sich abspielte, so wirkte sein Gesicht zwar bleich, aber es war zugleich auch beherrscht und konzentriert. Die Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt, doch sie funkelten vor Energie und Entschlossenheit. Die Bewegung der Hände erschien nicht mehr krampfhaft und ruckartig, sondern knapp und exakt.

Kerulen schaltete das Radarbild mit auf den großen zentralen Bildschirm. Der Radarreflex war jetzt größer und deutlicher. Die spitzwinklige V-Form des fremden Raumschiffes begann sich immer klarer abzuheben. Sie erinnerte an einen in der Mitte geknickten, aber noch nicht völlig zerbrochenen Bleistift. Zur endgültigen Identifizierung fehlte dem Radarbild aber noch die Schärfe.

Als sich das fremde Raumschiff bis auf 900 Kilometer, also bis auf drei Minuten genähert hatte, ohne auf die pausenlosen Anrufe und Verständigungsversuche zu reagieren, gab Franken seine Bemühungen auf.

Seine Hand glitt über das Regiepult. Alle Frequenzen erloschen. Atemlose Stille herrschte in der Steuerzentrale.

Mit einem tiefen Seufzer schaltete Norbert Franken die einzige bisher nicht benutzte Frequenz ein, die UKWWelle, die das Raumschiff mit den Kameraden auf dem Asteroiden verband.

Dann drückte Franken kurz entschlossen die glutrote Alarmtaste ein.

Eine Sirene heulte schauerlich auf- und abschwellend los. Diese Sirene war das Zeichen für die höchste Lebensgefahr aller. Sie bedeutete, daß die Leitung des Schiffes eine Gefahr nahen sah, der man trotz aller technischen Mittel nicht wirksam begegnen konnte.

Diese Sirene hatte noch nie auf dem Raumschiff AJ-408 getönt. Ihr durch Mark und Bein gehender Ton drang, vom Bordfunk übertragen, in jeden Winkel der Rakete. Ihr Ruf gellte über UKW-Funk auch all jenen im Helm, die auf dem Asteroiden Adonis tätig waren.

Nach einem dreimaligen alarmierenden Auf und Ab ihres Tones ging die Sirene zu einem eigentümlichen Dauerlaut über. Es war eine Tonkombination, die auf der Grundlage psychologischer Erkenntnisse zusammengestellt war. Jeder, der diesen Dauerton der Gefahrensirene hörte, spürte in sich unbändige Kraft emporsteigen. Dieser Ton weckte höchsten Tatendrang, Entschlossenheit, Kampf- und Einsatzbereitschaft.

Plötzlich brach der Sirenenton ab.

„Astronauten!“ klang es ruhig aus den Tonträgern des Raumschiffes und in den Kopfglocken der Raumanzüge. „Hier spricht Franken. Ein fremdes Raumschiff unbekannter Herkunft ist im Anflug. Es schweigt auf unsere Anfragen. Wir wissen nicht, ob es vorüberfliegt oder ob es eine Handlung gegen uns begehen wird. Die fremde Rakete hat V-Form. Sie wird in zwei Minuten auf gleicher Höhe mit uns sein. Bleibt auf Adonis! Startet nicht! — Ich übergebe an den Kommandanten.“

Während der Funker die Gefährten vor der Gefahr warnte und sie über die Art des drohenden Unheils informierte, gab Axel Kerulen halblaut Anweisungen an seine Männer im Steuerraum. Frankens Worte an die Kameraden auf Adonis ließ alle klar erkennen, was geschah. Die Männer nahmen die Sitze vor den einzelnen Kommandopulten ein. Sie waren bereit, sich bis aufs Letzte einzusetzen.

Die in den nächsten Minuten bevorstehenden Gefahrenmanöver konnte man nicht dem automatischen Astropiloten überlassen. Sollten in dem unbekannten Flugkörper wirklich denkende Wesen aus einem anderen Sonnensystem sein, so konnte der Pilotron durch falsche Auslegungen der Umstände großes Unheil anrichten. Trotz seiner Automatik und seiner blitzschnellen Elektronik konnte er in diesem Fall versagen. Ihm fehlte, wie allen Maschinen, die schöpferische Überlegung, die nur einem lebenden Wesen wie dem Menschen zu eigen sein konnten. Eine unbedachte Handlung konnte die seit Jahrhunderten von der Menschheit erträumte Begegnung mit anderen vernunftbegabten Wesen ferner Welten auf Jahrtausende zunichte machen.

Kerulen erteilte, nachdem Franken seine kurze informatorische Durchsage beendet hatte, auch den Arbeitsgruppen auf Adonis seine Anweisungen:

„Genossen! Die nächsten Minuten sind voller Ungewißheit. Wir müssen mit allem rechnen. Sollte unser Raumschiff vernichtet werden, müßt ihr versuchen, mit dem neuen Funkwarnfeuer Hilfe zu erreichen. Ich befehle daher: die Arbeiten bei der Endmontage des Warnfeuers sind trotz der Gefahr in höchster Eile fortzusetzen. Der kleinen Aufklärungsrakete und allen Einmannraketen erteile ich vorübergehend Startverbot. — Ende.“

Kerulen mußte abbrechen. Jede Sekunde war kostbar. Er hätte seinen Gefährten auf Adonis noch viel zu sagen gehabt. Aber die Umstände duldeten dies nicht.

Kerulen hatte jetzt noch einen kurzen, schweren Kampf mit sich auszufechten. In ihm tobten die widersprechendsten Empfindungen und Überlegungen. Durfte er, wenn das Raumschiff oder die Kameraden auf Adonis angegriffen wurden, den Helicon-Strahlenwerfer sprechen lassen? War es überhaupt möglich, daß in dem V-Schiff Lebewesen waren? War es überhaupt denkbar, daß solche Wesen, die die Raumfahrt noch besser zu beherrschen schienen als die Menschenfeindliche Handlungen begehen konnten?

Kerulen entschloß sich. Würden die anderen angreifen, so stand ihm das Recht zu, sich zur Wehr zu setzen.


Paro Bacos, der Kernphysiker, erhielt den Auftrag, Franken am Funk- und Radarpult abzulösen und an dessen Stelle die Verständigungsversuche fortzusetzen. Franken hingegen wurde angewiesen, am MeteoritenBekämpfungspult, also am Helicon, Platz zu nehmen. Das war eine ungewöhnliche Aufgabenverteilung. Normalerweise hätte es genau umgekehrt sein müssen.

Aber Kerulen glaubte, daß die Waffengewalt bei Franken in besseren Händen sei, weil sich der Funker in den letzten Minuten außerordentlich gut bewährt hatte und weil Franken über das fremde Raumschiff mehr zu wissen schien als sie alle miteinander. Norbert Franken würde das Verhalten und die eventueller! Handlungen der Fremden besser einschätzen können als jeder andere aus ihrer Mitte. Damit war garantiert, daß der Strahlenwerfer mit seiner furchtbaren Gewalt wirklich nur im äußersten Notfall eingesetzt würde.

Der Kommandant ahnte nicht, daß Paro Bacos der Wahrheit viel näher war als Franken.

Das unheimliche V-Schiff war jetzt schon ganz nahe. Mit unverminderter Geschwindigkeit kam es heran. Gleich würde es die Bahn des Asteroiden kurz vor ihm schneiden. Würde das fremde Raumschiff vorbeifliegen oder würde etwas geschehen?

In diesem spannungsreichen Sekunden achtete niemand auf Paro Bacos. Der Kernphysiker drückte plötzlich, von einem unbestimmten zwingenden Gefühl getrieben, auf eine Taste. Aus einem der Richtstrahler fuhr ein kurzer starker Impuls zu dem fremden Schiff hinüber. Es war einer der Schaltimpulse, mit denen die Pilotrone aller Raketen den Triebwerken den Befehl zum Einsetzen gaben.

In diesem Augenblick blieb jedem, im Steuerraum und auf Adonis, das Herz vor Schreck fast stehen.

Aus dem in Flugrichtung weisenden Schenkel der V- Rakete fuhr der blendendhelle Schein eines Atomfeuers. Der bremsende Feuerstoß brach in der Sekunde aus dem fremden Sternenschiff hervor, als es den Schnittpunkt der Bahnen überquerte. Der rätselhafte Flugkörper verfiel sofort in eine dem Asteroiden ähnliche Bahn. Plötzlich erloschen die Atomfeuer. Die V-Rakete flog dicht, nur wenige Kilometer, vor dem Asteroiden einher.

Franken kniff die Augen zusammen. Er behielt von nun an das V-Schiff immer im Radarvisier des Helicons. Nachdem die Fremdlinge ein Lebenszeichen von sich gegeben hatten, mußte man wachsam sein. Franken war zum Äußersten entschlossen. Sein Finger lag schon auf dem Auslöser. Wer schneller ist und zuerst den vernichtenden Strahlen freies Spiel läßt, bleibt leben, bleibt übrig, dachte Norbert Franken. Dann erschrak er: Was, Leben willst du vernichten? — Norbert! ermahnte er sich. Der Funker nahm wieder den Finger vom Auslöser. Wenn ich die Fremden vernichte, werde ich nie erfahren, ob sie die Signale gesendet haben, ob sie die Urheber der Frequenzwandlung sind. — Aber was, wenn die Fremden skrupellos sind, wenn alle Raumfahrer von AJ-408 und auch ich durch mein Zögern das Leben verlieren? Es ist zum Wahnsinnigwerden, dachte Franken. Sein Finger kroch wieder zum Auslöser. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ein Gedanke jagte den anderen. Franken fieberte.

Auch Kerulens Gedanken arbeiteten fieberhaft. Jetzt gab es keine Zweifel mehr. Man schien Besuch von einer fernen Welt vor sich zu haben. Waren diese Wesen gutartig oder böswillig?

AJ-408 mußte das V-Schiff von den schutzlosen Gefährten auf dem Asteroiden ablenken. Der Raumjäger mußte unbedingt die Aufmerksamkeit der eigenartigen Gäste auf sich lenken und sie vom Planetoiden weglocken. Aber wie konnte man das erreichen?

Der Kommandant beschloß, zunächst einmal die Genossen auf Adonis zu informieren. Dann wollte er den Kommodore der Flottille und schließlich den B. d. A. auf dem Mars verständigen. Es wurde höchste Zeit dazu.

Kerulen hastete zum Funk- und Radarpult.

„Kameraden! Das fremde Raumschiff hat seinen Flug gebremst. Es fliegt vor dem Asteroiden her. Hütet euch vor unbedachten Aktionen. Zieht nicht die Aufmerksamkeit der Fremden auf euch. Die Arbeiten am Warnfeuer und am Trichter der Anti-Falle sind sofort einzustellen. Verlaßt schnellstens den Schutzkegel. Wahrscheinlich fühlen sich die Fremden durch die Bauwerke bedroht. Vielleicht vermuten sie in ihnen interplanetare Abwehrmittel. Die kleine Aufklärungsrakete ist in der Höhle zu verstecken. Diese Maßnahme darf vom V-Schiff aus nicht beobachtet werden. AJ-408 wird versuchen, die Fremden abzulenken. Bleibt besonnen und mutig. — Ende.“

Die Flottille, die im Bereich des 440. Sonnenkreises mit AJ-408 wieder zusammentreffen wollte, konnte zur Stunde höchstens 15 Millionen Kilometer entfernt sein. Die Flottille mußte Hilfe bringen und den nötigen Schutz gegenüber den Fremden bieten, deren technische Mittel nicht bekannt waren, die aber in der Kenntnis der Naturgesetze und ihrer Anwendung weiter als die Menschheit sein mußten. Die Flottille konnte in vierzig Stunden bei Adonis eintreffen.

Axel Kerulen ließ von Paro Bacos die Funkverbindung zur Leitrakete herstellen.

Der sonst so ruhige Ungar schien ihm stark verstört zu sein. Der Kommandant maß dem aber keine besondere Bedeutung bei. War es doch verständlich, wenn unter diesen außergewöhnlichen Umständen das eine oder andere Besatzungsmitglied Unruhe zeigte.

„Hier AJ-408. Kommandant an Astro-Kommodore. Unbekanntes Raumschiff in unserer Nähe. Die fremde Rakete hat V-Form. V-Schiff reagiert nicht auf unsere Verständigungsversuche. Auf Adonis ein Teil der Besatzung. Müssen mit feindlicher Handlung rechnen. Werden notfalls Helicon zur Verteidigung einsetzen. Brauchen eure Hilfe. Werden versuchen, Arbeitsgruppen an Bord zu nehmen. — Ende.“

„Jetzt bitte den Richtstrahler auf den Mars einstellen. Doppelte Sendeleistung. B. d. A. anrufen.“

Paro Bacos führte die Anweisungen des Kommandanten aus. Obwohl der Ungar jetzt gesammelter war, bemerkte Kerulen einen gequälten Ausdruck auf dem Gesicht des Kameraden. Paro muß wohl doch einer stärkeren nervlichen Belastung ausgesetzt sein als alle anderen, dachte der Kommandant.

„408 ruft Basis! AJ-408 ruft B. d. A.! Unbekanntes Raumschiff aufgetaucht. V-Form. Stoppt bei Adonis. Dort Arbeitsgruppen. V-Schiff bisher passiv. Verständigungsversuche ergebnislos. Erbitten Instruktionen. — Ende.“

Dieser kurze Funkspruch würde in rund fünfzehn Minuten den Mars erreichen. Mindestens eine halbe Stunde mußte man jetzt auf Antwort warten. Bis dahin wollte Kerulen das fremde Schiff lediglich beobachten.

Wenn auch die Basis nicht sofort antworten konnte, so mußte doch gleich eine Antwort von der Leitrakete kommen.

Da summte es auch schon am Funk- und Radarpult. Die Leitrakete meldete sich. Der Kommodore gab folgenden Funkspruch durch: „Leitrakete an AJ-408! Setzen Sie Verständigungsversuche mit funk- und lichttechnischen Mitteln fort. Senden Sie ausschließlich einfache Zahlen. Sogenanntes V-Schiff auf keinen Fall angreifen. Ich untersage die Anwendung des Helicons, auch bei Meteoritengefahr. Versuchen Sie, die Besatzungsmitglieder von Adonis einzeln nach und nach an Bord zu nehmen. Treten Sie Rückzug an, sobald Besatzung vollzählig. Flottille wendet und kommt. Treffen in 42 Stunden ein. Werden uns dann gemeinsam um Verständigung bemühen beziehungsweise die Herkunft des vermeintlichen interstellaren Flugkörpers feststellen. — Ende.“

Es fiel dem Kommandanten schwer, den Funkspruch voll und ganz zu begreifen. Einerseits riet der Kommodore zu Verständigungsversuchen mit den Unbekannten, andererseits schien er zu bezweifeln, daß es sich bei dem V-Schiff um ein Sternenfahrzeug mit Gästen aus anderen Welten handelte. Jedenfalls deuteten solche Formulierungen wie „sogenanntes V-Schiff“ und „vermeintlicher interstellarer Flugkörper“ darauf hin.

Norbert Franken, der erst vor wenigen Minuten den Platz am Helicon eingenommen hatte, blockierte wortlos den Strahlenwerfer und erhob sich wieder, nachdenklich die Stirn krausziehend. Wie kann die Leitrakete solch einen Befehl geben, dachte er. Man war den Fremden nun ausgeliefert.

Paro Bacos begann wie befohlen einfachste Rechenzeichen zu senden. Ein hoher Ton, ein tiefer Ton: eins gleich eins. Zwei hohe Töne, zwei Tiefe Töne: zwei gleich zwei.

Währenddessen hatte Sagitta den Auftrag erhalten, zwei starke Scheinwerfer, einen grünleuchtenden und einen rotleuchtenden, im Zahlenrhythmus aufleuchten zu lassen.

Zwei Panzerdeckel auf der Außenhülle der Rakete öffneten sich. Sie gaben Reflektoren von zwei Meter Durchmesser frei.

Sagitta, die froh war, etwas tun zu können, ging mit Ausdauer ihrer Aufgabe nach. Wenn im V-Schiff wirklich denkende Wesen sind, dann müssen sie die Lichtsignale verstehen oder uns zumindest als ihresgleichen, als wissenschaftlich Denkende, erkennen, dachte sie.

Unentwegt flammten der grüne und der rote Scheinwerfer auf, die gefunkten Morsetöne optisch unterstützend: einmal grün, einmal rot, zweimal grün, zweimal rot.

Der Kommandant wandte sich über UKW erneut an die Arbeitsgruppen auf Adonis: „Genossen! Der Kommodore befiehlt, alle Besatzungsmitglieder ungeachtet der Gefahr an Bord zu nehmen. Es kann sein, daß das V-Schiff eure Rückkehr nicht zuläßt. Wir müssen das durch einen Versuch ergründen. Einer von euch muß mit einer Einmannrakete starten. Das Risiko ist für diesen ersten am größten. Ein Freiwilliger muß den Weg für alle bahnen. Genossen! Die Entscheidung liegt jetzt bei euch. Wir bekommen Hilfe. Die Flottille wird in zweiundvierzig Stunden eintreffen. AJ-408 hat den Befehl, sich bis zum Eintreffen der Flottille von Adonis zurückzuziehen und vor dem V-Schiff zurückzuweichen, sobald ihr alle bei uns seid. Wer hat den Mut, als erster herüberzukommen?“


Oulu Nikeria hatte nach der Mitteilung vom Raumschiff, daß ein kosmischer Körper demnächst passieren werde, seine Arbeit ruhig fortgesetzt. Er transportierte die einzelnen Teile der Gittermasten, die auf dem Plateau gelagert waren, zum Bauplatz der Anti-Falle.

Plötzlich legte sich ein beklemmendes Heulen auf seine Ohren. Es kam aus den Kopfhörern. Der Ton schwoll scharf und schneidend an und drückte schmerzhaft auf das Trommelfell. Wieder abschwellend, wirkte er dumpf und deprimierend.

Oulu stockte mitten im Schritt, über UKW hörte er irgend jemanden angstvoll stöhnen.

Die Gefahrensirene! dachte er. Ein Schauer durchrieselte ihn.

Als der gellende Schrei der Sirene nach wenigen Sekunden in einen hohen Dauerton überging, wich der Alpdruck. Oulu ließ den Mastteil, den er vor sich hertrug, einfach los. Er blieb, wo er war: einen Meter über dem Boden. Erst allmählich sank er herab.

In großen, bogenartigen Sprüngen schwang sich Nikeria eilends zum Plateau. Dort stand seine Einmannrakete. Es galt, sich schnellstens beweglich, startklar, einsatzbereit zu machen, um alle Befehle von AJ-408 umgehend ausführen zu können. Das Leben aller stand auf dem Spiel.

Oulu hatte das Plateau noch nicht ganz erreicht; als Franken über UKW zu sprechen begann. Drei Satzfetzen durchdrangen sein Bewußtsein: „….. fremdes Raumschiff… es schweigt… bleibt…“

Also nicht starten, dachte Oulu. Er hielt im Sprung inne und ließ sich zu Boden sinken. Dort setzte er sich, unweit des Plateaus, auf einen Felsbrocken. Aufmerksam lauschte er. Jetzt sprach der Kommandant.

Nachdem der erste Schreck vorüber war, wurde sich Oulu Nikeria voll des ungewöhnlichen Augenblickes bewußt: Fremde Wesen mit einem interstellaren Raumschiff nahten. Oulu konnte das kaum fassen. Das Funkwarnfeuer sollte weitermontiert werden. Man rechnete also mit der Vernichtung des eigenen Flugschiffes. Die Lage mußte völlig undurchsichtig sein.

Der Afrikaner sprang auf und schnellte sich zum Plateau hinauf. Er wollte bei der schnellen Fertigstellung des Funkwarnfeuers helfen.

In diesem Augenblick überraschte ihn die Asteroidennacht. Trotzdem stieß sich Oulu mit aller Kraft ab. In hohem Bogen taumelte er zum Plateau hinauf. Sein Sprung ähnelte dem weitgestreckten Flug eines Skispringers. Die starke Handlampe leuchtete den Weg ab.

Urplötzlich ergoß sich ein gleißender Feuerschein aus dem Dunkel des Alls über den Asteroiden. Gespenstisch erhoben sich pechschwarz die Schatten des Felsbrocken.

Nikeria warf sich in eine Felsspalte. Er wühlte sich in das Geröll der Spalte hinein. Der grelle Feuerschein erlosch bald wieder. Das war ein Atomfeuer, dachte der Neger. Existiert AJ-408 noch? Gleich mußte die sich ausdehnende Explosionshitze den Asteroiden erreichen.

Oulu wühlte sich noch tiefer in das Geröll der Felsspalte. Vielleicht konnte er sich so vor der Glut und der Strahlung schützen.

Wer hat wen vernichtet, fragte sich Oulu. Sollten die fremden Wesen Barbaren sein? Er konnte es nicht glauben.

„Genossen! Kameraden!“

Nikeria traute seinen Ohren nicht. Das war doch Kerulens Stimme. AJ-408 bestand also noch.

Erleichtert atmete der Afrikaner auf. Doch was Kerulen mitteilte, war immer noch besorgniserregend.

„Das fremde Schiff hat seinen Flug gebremst. Es fliegt vor dem Asteroiden her…“

Aha, also war das Feuer nur der Widerschein aus der Bremsdüse des fremden Schiffes gewesen, stellte Oulu für sich fest. Er beschloß, nun doch zu seiner Einmannrakete zu laufen. Sie mußte aus der gefährlichen Nähe des Kegels entfernt werden. Oulu tastete sich durch die Dunkelheit, Er wagte jetzt nicht mehr, seine Handlampe zu benutzen;

denn die Fremden durften die Menschen auf dem Asteroiden nicht bemerken.

Endlich sah Oulu die drei Meter hohe Silhouette seiner Einmannrakete dunkel vor sich aufragen. Ihre Umrisse hoben sich kaum merklich vom sternigen Hintergrund des Alls ab. Der Neger packte die kleine Rakete — sie wog hier auf dem Asteroiden nur ganz wenig — und trug sie auf dem Kopf vom Plateau weg. Noch vor Beginn der zwanzig hellen, dämmrigen Minuten erreichte er mit seiner Rakete einen Durchlaß zwischen zwei mannshohen Quadern, weit genug entfernt vom Sendekegel.

In diesem Durchlaß stellte er sein Einmannfahrzeug auf. Als das matte Sonnenlicht die Umgebung wieder in milde Helligkeit tauchte, saß Nikeria, mit seiner Rakete gut verborgen, in der kleinen, engen Kabine, auf weitere Anweisungen wartend. Er grübelte: Das waren widerspruchsvolle Anweisungen, die von AJ-408 kamen. Hatte man dort den Kopf verloren? Zuerst Funkwarnfeuer beschleunigt aufbauen, dann nicht mehr aufbauen; zuerst Sendekegel aufsuchen, dann nicht aufsuchen, sondern sich möglichst weit entfernen. Das war alles sehr eigenartig.

Im UKW-Sprechfunk, der die Raumfahrer nicht nur mit dem Raumschiff, sondern auch untereinander verband, hörte Oulu einzelne Gespräche.

„Hallo, Kioto! Bist du mit deiner Aufklärungsrakete gut in der Höhle angekommen?“ fragte Rai. Der Elektroneningenieur hatte sich etwa hundert Meter vom Trichter der Falle mitten auf einer freien Fläche niedergelassen. Der Asteroidentag hatte ihn an dieser Stelle erreicht. Er verharrte jetzt bewegungslos, um nicht aufzufallen.

„Na klar. Seit fünf Minuten bin ich in der Höhle. Das war ein schweres Stück Arbeit, bei Dunkelheit den Höhleneingang mit dem Kolibri zu passieren. Hoffentlich komme ich ebensogut wieder heraus“, antwortete der Pilot.

„Wieso? Stehen etwa schon V-Wesen vor deiner Höhle?“

„Ja, sie sind mir nachgelaufen, als sie mich mit der Rakete darin verschwinden sahen.“

„Oh, das hoffe ich nicht.“

„Du hast wohl keine Lust, fremden Wesen zu begegnen?“

„Doch, doch, ich möchte mir schon mal unsere Besucher aus der Nähe ansehen. Sie werden ja nicht gleich Feuer spucken“, meinte Rai.

„Wer weiß, vielleicht halten sie dich für ein giftiges Insekt“, spottete Kioto.

Rai sah mißtrauisch zum gestirnten Himmel auf. Er fühlte sich mit einem Mal auf freier Fläche, von überall gut sichtbar, nicht mehr wohl. Es berührte ihn merkwürdigerweise auch unangenehm, daß er und die Dinge um ihn herum im Tageslicht, der Himmel über ihm aber nachtschwarz war. An diese Eigentümlichkeit kosmischer Körper ohne Atmosphäre, an das gleichzeitige Vorhandensein von Tag und Nacht auf der Sonnenseite von Asteroiden glaubte er sich doch schon längst gewöhnt zu. haben.

Jetzt vernahm Oulu die Stimme Filitra Gomas. Sie rief ebenfalls den Piloten der Aufklärungsrakete in der Höhle an. Filitra war ohne Einmannrakete, denn sie war mit Kioto Yokohata in der Aufklärungsrakete zum Asteroiden Adonis herübergeflogen. Sie mußte sich deshalb zur Höhle durchschlagen, um in der Rakete zu sein, wenn die Starterlaubnis zur Rückkehr kam.

„Kioto, finde ich dich denn auch in der dunklen Höhle?“ fragte sie.

„Aber nein, was denkst du denn? Ich veranstalte hier Kunstflüge, so groß ist die Höhle. — Filitra?“

„Ja, Kioto?“

„Gib dich bitte gleich zu erkennen, wenn du am Höhleneingang erscheinst. Sonst halte ich dich vielleicht noch für einen V-Menschen.“

„Ach, mir ist gar nicht zum Späßen zumute. Wenn man nur bald erfahren könnte, was denn nun eigentlich wirklich los ist.“

Filitra kauerte in einer Felsspalte unweit der von ihr entdeckten Zuckerhüte. Sie hatte vor sich eine Karte ausgebreitet. Bei der nächsten Zwanzig-Minuten-Nacht mußte sie es bis zur Höhle schaffen. Viel lieber würde sie jetzt Henry suchen. Ich darf nicht, ich muß zur Aufklärungsrakete, schärfte sie sich ein. Sie versuchte sich an Hand der Karte besondere Merkmale einzuprägen, um ihren Weg trotz der Finsternis zu finden. Sie fand sich aber auf der Karte nicht mehr zurecht. Es war zum Verzweifeln. Je mehr sie die Karte hin- und herdrehte, desto verwirrter wurde sie.

Wäre doch bloß Henry bei ihr. Er würde mich bestimmt zur Höhle führen. Dort in der Aufklärungsrakete würde ich mich sicherer fühlen als hier unter offenem Himmel, dachte Filitra. Ob wirklich fremdartige Geschöpfe in unserer Nähe sind?

Nach einigen Minuten vernahm Oulu ein leises Gespräch zwischen Timofei Mirsanow und Henry Lorcester, die beide am Fuße des Plateaus hockten. Er konnte die beiden sogar sehen.

„Ob das V-Schiff schon mal hier war und das Funkwarnfeuer zerstört hat?“ fragte Lorcester.

„Nein, bestimmt nicht“, antwortete der Wissenschaftler nach einigem überlegen. „Ich glaube, daß vernunftbegabte Wesen, die Lichtjahre überbrücken können, nicht sinnlos zerstören. Sie wären sonst schon längst ein Opfer ihrer selbst geworden. Nur wer friedlich lebt und friedlich schafft, wird ewig leben und Ewigkeiten überdauern. Allen anderen schlägt jede neue naturwissenschaftliche Erkenntnis mehr und mehr zum eigenen Verderben aus. Wenn auf dem V-Schiff Lebewesen sind, so werden wir nichts zu fürchten haben.“

„Dann brauchten wir uns eigentlich auch nicht vor dem V-Schiff zu verstecken“, schlußfolgerte Henry Lorcester.

„Stimmt. Aber wir müssen vorsichtig sein, weil wir vor etwas Unbekanntem stehen, dessen Reaktionen unbeabsichtigt für uns gefährlich werden könnten. Vielleicht haben diese Fremden einen infraroten Gesichtssinn. Während wir Menschen alle Schwingungen, alle Wellenlängen zwischen 0,0004 und 0,0007 Millimeter, zwischen Ultraviolett und Infrarot, als Licht wahrnehmen, haben die V-Wesen eventuell Augen, die nur längere Wellen, also infrarote Strahlen, als Licht wahrnehmen. Wenn als das fremde Raumschiff, ohne eine böse Absicht zu haben, seine starken Infrarotscheinwerfer auf uns richten würde, würden wir verbrennen, weil wir ja infrarotes Licht als Wärmestrahlung empfinden. — Ich kann gar nicht glauben, daß das Radarobjekt ein interstellares Raumschiff sein soll“, fügte Mirsanow nach einigem Zögern hinzu.

Henry Lorcester wollte eben antworten. Da hörte er ein unterdrücktes Schluchzen im Helmhörer. War das etwa Filitras Stimme?

Henry schnellte hoch, ungeachtet des Befehls, sich ruhig zu verhalten. Seine Bewegung war so heftig gewesen, daß sein Sprung haushoch ausfiel.

„Filitra!“ riefer.„Wo bist du?“

„Bei den Zuckerhüten“, kam leise und stockend die Antwort.

Henry Lorcester blickte sich um. Dort waren die Zuckerhüte. Sein ungewollt hoher Sprung hatte ihm einen guten Überblick verschafft. Lorcester drückte sich mit Hilfe der Rückstoßpistole in die Richtung dieser hohen Steinbuckel. In wenigen Sekunden war er da. Er fing seinen Flug über der Asteroidenoberfläche ab. Tief federten seine Beine bis zur Hocke durch, als er den Boden berührte. Er tastete sich zu dem Mädchen. Unter dem Panzerglas-Helm erblickte er ihr Gesicht mit tränengefüllten Augen. Mit hilfloser Gebärde wies sie auf die Karte. „Ich finde nicht zur Höhle“, sagte sie kläglich.

„Was ist das?“ rief auf einmal Rai Raipur aufgeregt dazwischen. „Ich sehe grüne und rote Lichtsignale!“

Oulu Nikeria blickte rasch empor. Er suchte das schwarze Firmament ab. Tatsächlich, auch er konnte deutlich rote und grüne Zeichen sehen, die gleichmäßig und rhythmisch aufleuchteten.

„Ich sehe nichts!“ sagte Kioto Yokohata mit vergnügtem Spott.

„Quatschkopf!“ stieß Rai unwillig hervor. „Komm raus aus deiner Höhle und sieh dir das an.“

„Das V-Wesen wird wohl erwacht sein. Es blinzelt euch jetzt aus einem roten und einem grünen Auge zu“, ließ sich der Pilot wieder vernehmen.

„Genossen, der Kommodore befiehlt, alle Besatzungsmitglieder ungeachtet der Gefahr an Bord zu nehmen…“, tönte es kräftig dazwischen. AJ-408 gab neue Nachricht. Kerulen sprach.

Oulu hörte aufmerksam zu. Seine Spannung wuchs. Er wurde hellwach. Ein Satz brannte sich in sein Bewußtsein ein: „Einer muß starten.“

Einer — ich, dachte Oulu. Ich werde es tun. Sein Herz begann stark zu klopfen. Ich werde es tun. Ich werde es tun. Dieser Gedanke wich nicht aus. Oulus Kopf.

Geistig hochstehende Wesen zerstören nicht, hatte Mirsanow vor wenigen Minuten gesagt. Intelligente Wesen töten nicht — Intelligente Wesen töten nicht. Oulu war entschlossen.

„Gibt AJ-408 die farbigen Lichtsignale?“ fragte er überlaut. „Ja“, antwortete Kerulen. „Das sind wir. Sagitta versucht durch einfache Lichtsignale eine Verständigung mit dem V-Schiff herzustellen.“

„Ich starte“, sagte Oulu Nikeria leise.

Alle hatten es gehört.

* * *

„Oulu startet. Oulu versucht es“, murmelte Kerulen.

Sagitta erblaßte, Sie vergaß, den grünen Scheinwerfer auszuschalten. Gebannt starrte sie auf den Bildschirm.

Da erhob sich etwas von der Oberfläche des Asteroiden — Oulus Einmannrakete. Langsam stieg sie empor. Aller Augen folgten ihr. Sie verwandelte sich in einen Radarreflex, gewissermaßen in einen hellen Schattenriß, der allmählich, zögernd, auf Umwegen näherkam.

Oulu ließ die winzige Rakete steigen und fallen. Nichts geschah. Er schwenkte hin und her. Das V-Schiff jedoch zog regungslos seine Bahn. Nikeria beschleunigte seinen Flug und bremste wieder ab. Am V-Schiff rührte sich nicht. „Die Fremden lassen Oulu unbehelligt“, stellte Kerulen aufatmend fest.

Da summte es am Funk- und Radarpult. Die Basis meldete sich: „B. d. A. an AJ-408. Arbeitsgruppen zurückrufen. Dann Funkverkehr einstellen. Flottille erwarten. V-Schiff untersuchen. — Ende.“

Ein zweiter Funkspruch ertönte aus dem Funksprecher: „B. d. A. an alle! — Absolute Funkstille für den kosmischen Raum im Ekliptikkubik 14-4. Mars wiederholt: Absolute Funkstille.“

Diese beiden Funksprüche verblüfften. Niemand wußte diese Anweisung der Basis zu deuten. Nur Paro Bacos verstand, warum die Funkstille angeordnet wurde. Dieser Befehl machte seine bisherigen Vermutungen zur Gewißheit.

Kerulen grübelte. Die Verbindung zur Flottille war damit untersagt. Auch jede Verständigung mit den eigenen Besatzungsmitgliedern auf Adonis war somit abgeschnitten. Was mochte der Grund für diese Anordnung sein? Absolute Funkstille, weil Gefahr bestand? War denn die Untersuchung des V-Schiffes nicht gefährlich?

Allein einem unheimlichen Rätsel gegenüber, dachte Sagitta. Und Oulus Rakete tanzt spielerisch und ahnungslos.

Auch der grüne Scheinwerfer erlosch.

Oulu hatte Mut gefaßt. Er führte seine kleine Rakete auf und ab, hin und her. Wenn schon, dann wollte er gründlich erforschen, wie das V-Schiff auf seine Herausforderungen reagierte. Aber nichts ereignete sich. Er begann die verschiedensten Wendungen zu probieren. Plötzlich stutzte er. AJ-408 zeigte nur noch grünes Dauerlicht. Sollte das bedeuten, daß er auf geradem, auf schnellstem Weg AJ-408 anfliegen mußte? Warum verständigte man ihn nicht über UKW? Was war das? Auch Grün erlosch?

„Hallo AJ-408! Warum löscht ihr die Lichtsignale? Was macht das V-Schiff?“ Keine Antwort. Schnell überprüfte Oulu sein Funkgerät. Alle Einstellungen waren richtig.

„AJ-408, Kommandant Kerulen! Hört ihr nicht? Habt ihr eben geantwortet? Kann nichts verstehen. Habe keine Antwort bekommen.“ Ah, das rote und grüne Licht flammte wieder auf. Jetzt schon sehr nahe.

Sagitta erschrak, als Oulus Stimme aus dem UKWSprecher durch den Steuerraum tönte. Richtig, er konnte nicht wissen, daß Funkstille angeordnet war. Plötzlich merkte sie, daß sie die Lichtsignale vergessen hatte. Hastig begann sie erneut die Zeichen auszustrahlen: einmal rot, einmal grün, zweimal.

Kerulen war unschlüssig. Er überlegte und stieß einen schweren Seufzer aus. Er mußte Oulu und die Arbeitsgruppen auf Adonis von der Funkstille verständigen. „Hier Kerulen. Oulu kommen! Schleuse vier. — Hallo Arbeitsgruppen! Startverbot aufgehoben. Kolibri sofort aufsteigen. Anschließend Reihenstart der Einmannraketen vom Plateau. — Achtung! Achtung! Von jetzt an allgemeines Funkverbot, auch für UKWSprechfunk. — Ende!“

Als sich Kerulen vom Mikrophon wieder aufrichtete, stand Paro Bacos hinter ihm. Der Ungar bedeutete dem Kommandanten, mit dem Ohr näher heranzukommen. Dann flüsterte er lange und eindringlich. Kerulen musterte Bacos mehrmals erstaunt von der Seite. Einmal glaubten die Männer im Steuerraum aus dem Flüstern das Wort „Transuran“ verstanden zu haben. Kerulens Miene hellte sich ein wenig auf. Aus seinem Gesicht wich die Anspannung. Dafür spielte ein trauriger Zug um seinen Mund. Auch Paro Bacos blieb, obwohl sichtlich erleichtert, weiterhin sehr ernst.

Kerulen und Bacos verließen gemeinsam den zentralen Steuerraum und eilten zur Schleuse vier, um Oulu Nikeria in Empfang zu nehmen. Sagitta sprang auf und eilte ihnen nach.

Der Afrikaner hatte inzwischen den Raumjäger erreicht. Schleuse vier nahm ihn mit seiner Einmannrakete auf. Er kletterte heraus und ging in den Schleusenvorraum, um seinen Raumanzug abzulegen. Nikeria hatte eben seinen Panzerglas-Helm abgenommen, als der Kommandant und Bacos eintraten. Hinter ihnen tauchte Sagittas Gesicht auf.

Kerulen ging auf ihn zu und umarmte den vom Raumanzug noch dick Vermummten. Bacos schüttelte ihm kräftig die Hand. „Bravo, Oulu. Durch den Versuchsflug hast du uns allen die Gewißheit verschafft, daß die Rückkehr der Arbeitsgruppen durch das V-Schiff nicht behindert werden wird“, sagte der Kommandant.

Gemeinsam gingen sie zur Steuerzentrale. Dort blickten die Männer bereits voller Erwartung auf den großen Bildschirm. In dem Augenblick, als der Kommandant, Oulu, Sagitta und Bacos eintraten, schob sich die Aufklärungsrakete aus dem Schlagschatten des Asteroiden heraus. Dann schoß kurz ein Feuerstrahl aus der Düse hervor. Die Erkundungsrakete gewann an Geschwindigkeit und näherte sich AJ-408.

Wenig später machten die Fernsehkameras ein schwachleuchtendes Pünktchen sichtbar, das ebenfalls von Adonis aufstieg. Diesem Lichtpünktchen folgte mit knappem Abstand ein zweites, ein drittes, ein viertes. Eine ganze mattschimmernde Lichterkette perlte wie an einem Faden aufgereiht heran. Es waren die schnell hintereinander vom Plateau startenden Einmannraketen. Sie schwirrten geradewegs auf die roten und grünen Lichtsignale zu, mit denen AJ-408 noch immer eine Verständigung zum V-Schiff herzustellen versuchte. —

Kerulen und Mirsanow hatten eine Versammlung aller Besatzungsmitglieder einberufen. Sie fand im Raum der Ethik statt. Alle, auch die von Adonis zurückgekehrten Wissenschaftler und Monteure, sollten noch einmal gründlich und zusammenhängend über die Ereignisse der letzten zwei Stunden informiert werden. Danach mußte über die nächsten Maßnahmen beraten und eine Entscheidung über die weiteren Schritte zur Aufklärung der Situation getroffen werden, die durch das Erscheinen des V-Schiffes entstanden war.

Man war vollzählig versammelt. Die Astronauten, ihrer unbequemen Raumanzüge ledig, hatten es sich auf den Polsterbänken, in den Sesseln und auf Kissen am Boden bequem gemacht. Ober allen, die sich im Raum der Ethik, dem großen Kultur- und Erholungszentrum des Schiffes, zusammengefunden hatten, lag spannungsvolle Erwartung. Norbert Franken lehnte, wie es seine Gewohnheit war, mit verschränkten Armen gedankenvoll an der schlanken weißen Säule.

Oulu und Sagitta hatten im Hintergrund nahe einer Pflanzengruppe auf einer weichen Bank Platz genommen.

Das Murmeln der vielen Stimmen erstarb. Kerulen hatte zum Zeichen des Beginns der Versammlung beschwichtigend die Hand gehoben.

„Astronauten, Kosmosfahrer, Genossen! Wir befinden uns in einer ungewöhnlichen und schwierigen Situation. Vor zwei Stunden tauchte im Radar ein kosmischer Körper auf, der sich schnell näherte und der zu unserem Erstaunen V-Form hatte. Dieses fliegende V bremste seinen Flug ab, als es im Begriff war, dicht vor Adonis vorbeizufliegen. Es schlug die Bahn des Asteroiden ein und flog dicht vor ihm her.

Wir müssen auf dieser Zusammenkunft entscheiden, ob wir uns zurückziehen und auf die Flottille warten öder ob wir das Rätsel, das uns das V-Schiff aufgibt, aus eigener Kraft lösen wollen. Wir können Vorsicht oder tatkräftiges Handeln wählen.

Über die Herkunft des fliegenden V gibt es zwei Meinungen. Die eine besagt, das V sei ein Sternenschiff vernunftbegabter, wissenschaftlich denkender Wesen aus einem fernen Sonnensystem. Sollte dies der Fall sein, so durchleben wir denkwürdige Augenblicke. Wenn uns wirklich das unwahrscheinliche Glück trifft, als erste auf fremdartige Wesen zu stoßen, so müssen wir uns der Verantwortung und der Größe eines solchen Ereignisses voll bewußt werden.

Die zweite Meinung ist ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. Sie besagt, daß das V eine durch eine Katastrophe vernichtete, in der Mitte geknickte Forschungsrakete der Erde ist. In diesem Fall werden wir die späten Zeugen eines vor Jahren oder Jahrzehnten erfolgten kosmischen Unfalles sein.

Berichterstatter zur ersten Version ist unser Funkingenieur Norbert Franken. Berichterstatter zur zweiten Version ist unser Kernphysiker Paro Bacos. Ich erteile Norbert Franken das Wort.“

Franken löste seine verschränkten Arme und trat ein paar Schritte vor. Er begann ohne weitere Umstände.

„Astronauten! Die Menschheit wird früher oder später den Kontakt zu hochintelligenten Lebewesen anderer Welten herstellen. Dessen bin ich gewiß. Es gibt Milliarden Sonnen mit unzähligen Planeten, ungastlich, rauh, unbelebt und unbewohnbar. Es gibt aber auch Millionen Sonnen mit Planeten, die Leben und sogar vernunftbegabtes Leben tragen können, mit Welten, von denen viele womöglich noch schöner und herrlicher sind als unsere Erde. Mit diesen Welten wird uns in nicht allzu ferner Zeit die große Brücke der Brüderschaft verbinden, die Brücke der Geisteskraft, das Band der schaffenden und schöpferischen Gedanken.

Indem die Menschheit vor Jahrhunderten die Barbarei in ihren Reihen überwunden und sich der Herrschaft des Geldes und dem Machtstreben einiger weniger in opferreichen Kämpfen erfolgreich widersetzt hat, erwarb sie sich das Anrecht auf diese große Brücke der Brüderlichkeit und der Freundschaft mit lebenden Wesen hochentwickelten Geistes. Wäre es der Menschheit nicht gelungen, sich von der Barbarei und von religiösem Irrglauben zu befreien, so wäre sie an sich selbst zugrunde gegangen. Nicht ohne Grund studiert jede Generation aufs neue die Geschichte jenes Jahrhunderts, in dem sich die Menschheit befreite, in dem sich Sein oder Nichtsein des Menschengeschlechtes entschied.

Eben heute, eben jetzt, gehen die Radiosendungen derjenigen über uns hinweg, die einen Weg, die ein Mittel gefunden haben, sich zu verständigen.

Seit dem Ende des vergangenen Jahrtausends versuchen Wissenschaftler aller Kontinente, mit Hilfe riesiger Radioteleskope die rätselhafte Schrift des Alls und auch die unbekannten Zeichen fremder Lebewesen zu entziffern und zu verstehen. Bis jetzt ist dies der Menschheit noch nicht gelungen. Niemand vermag vorauszusagen, wann die Menschen dieses große Ziel erreicht haben werden. Keiner vermag zu prophezeien, ob Menschen der Erde zuerst einem fremden Lebewesen sichtbar gegenüberstehen, bevor die galaktische Sprache erlernt ist, oder ob wir zuerst die Zeichen des Raumes entziffern werden, bevor wir fremde Lebewesen erblicken.

Ich empfange seit Monaten in Abständen von jeweils zwanzig Stunden unser Peilecho. Aber diesem Peilecho sind deutlich hörbar fremdartige Signale zugefügt, die ich nicht kenne. Ich vermute, daß hochentwickelte Lebewesen in uns, in der Menschheit, heranreifende Brüder erkannt haben. Diese Wesen haben irgendwann einmal entdeckt, daß es nahe dem gelben Stern, der Sonne, einen Planeten, die Erde, gibt, auf dem lebensgünstige Bedingungen herrschen. Sie beginnen, uns ihre Radiosprache zu lehren. Dieses Lernen wird für uns Menschen mühsam sein. Es kann lange dauern, bis wir sie restlos verstehen.

Als nun heute ein kosmischer Flugkörper auftauchte, glaubte ich, das Raumschiff einer fremden Welt herannahen zu sehen. Mich versetzte aber das merkwürdige Verhalten dieser Sendboten einer fremden Welt in großes Erstaunen. Sie mußten doch schon längst festgestellt haben, daß etwas Lebendes auf ihrem Weg war. Ihr Verhalten erschien mir daher in höchstem Maße rücksichtslos, ja sogar bedrohlich.

Vielleicht sollten wir uns gar nicht der Illusion einer großen Stunde hingeben, sondern uns erst Gewißheit verschaffen. Eigenartig war zum Beispiel das überfallartige Anschleichen des unbekannten Raumfahrzeuges, merkwürdig war das zerstörte Funkwarnfeuer auf Adonis. Unverständlich war das beharrliche Schweigen auf all unsere Anrufe und Verständigungsversuche. Wir haben nur ein Lebenszeichen von den Fremden erhalten: Wir kennen nur ihr plötzliches Bremsmanöver. Sehr nachdenklich macht mich auch die Anweisung der Basis, den gesamten Funkverkehr einzustellen. Die Fremden sollen demnach nicht die Möglichkeit haben, uns abzuhören. Sie sollen nicht erfahren, was wir beabsichtigen. Wir müssen auf all diese Fragen eine Antwort finden. Da wir nicht wissen, wen oder was wir vor uns haben, müssen wir vorsichtig zu Werke gehen.

Ich schlage daher vor, die Ankunft der Flottille abzuwarten, das V-Schiff bis dahin zu beobachten und gemeinsam mit der Flottille Maßnahmen zur Untersuchung der fremden Rakete vorzubereiten und durchzuführen, um seine Herkunft festzustellen.“

Norbert Franken war mit seinem Bericht zu Ende. Er trat zurück und setzte sich in einen Sessel nahe der weißen Säule.

Bevor Paro Bacos das Wort erhielt, verlas der Navigator noch einmal alle Funksprüche, die mit der Leitrakete und mit der Basis ausgetauscht worden waren. Die Funksprüche sollten es jedem erleichtern, sich das Bild über die jüngsten Ereignisse lückenlos zu vervollständigen. Ober dem Raum der Ethik lag das leise Gemurmel derjenigen, die untereinander Meinungen austauschten. Mehrere der Astronauten hatten gedankenvoll den Kopf in die Hände gestützt. Frankens Überlegungen über das Leben auf anderen Welten und über die Möglichkeiten, mit diesen Wesen in Kontakt zu treten, beschäftigten alle stark.

Paro Bacos ließ allen Zeit, das Gehörte zu überdenken. Als er sich schließlich erhob, fand er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden. Er stellte sich hinter seinen Sessel und begann, auf die Rückenlehne gestützt, seinen Bericht.

„Astronauten! Zunächst möchte ich euch sagen, daß ich sehr froh bin, all unsere Kameraden, die als Arbeitsgruppen auf dem Asteroiden waren, als das V- Schiff erschien, vollzählig und ohne Schaden unter uns zu sehen. Wir hier im Raumschiff hatten uns angesichts der unbekannten Gefahr große Sorgen um euch da draußen auf dem Planetoiden gemacht.

Doch nun zum V-Schiff. Ich wünschte, Norbert Franken hätte recht. Es wäre zu schön, wenn die Menschheit endlich ein Wesen gleicher oder sogar höherer Geisteskraft im kosmischen Raum fände. Es wäre zu wunderbar, wenn wir diejenigen sein würden, die den Gesandten ferner Welten die Hand zum Gruße reichen, wenn wir sie zu unserem Heimatplaneten, der Erde, geleiten könnten.

Leider lassen die uns über das V-Schiff bekannten Faktoren und Tatsachen auch noch eine andere Schlußfolgerung zu. Diese Schlußfolgerung lautet: Das V- Schiff ist die letzte Ruhestätte von Erdenmenschen, von Kosmonauten, die wie wir ausgezogen waren, der Menschheit durch Forschungen neue Erkenntnisse zu bringen.“

In dem ohnehin schon stillen Saal verhielten die Menschen bei dieser Mitteilung den Atem. Rai Raipur erhob sich langsam und feierlich. Er kreuzte die Arme vor sich in der Art seiner indischen Kulturheimat und verneigte sich gemessen. Obwohl noch nicht gewiß war, welches der beiden Geheimnisse das V-Schiff barg, erhoben sich dennoch alle Anwesenden. Nach einer Minute des Schweigens nahmen alle wieder Platz.

Paro Bacos sprach weiter:

„Ich will euch jetzt die Gründe für meine Annahme nennen. Die V-Form der unbekannten Rakete ist entstanden, als die Felszacke eines Meteoriten die Rakete streifte. Durch die Gewalt der sich knapp berührenden Körper zerknickte das Raumschiff in der Mitte. Hätte der Meteorit das Raumschiff nicht nur gestreift, sondern voll getroffen, so wäre die Rakete vollständig zertrümmert worden oder zumindest in mehrere Teile auseinandergefallen.

Dieser Meteorit, Kameraden, ist vor etwa einer Woche vernichtet worden. Das war in der Nacht, als unser Raumschiff den Befehl zur Umkehr und zum Aufbau eines neuen Funkwarnfeuers auf Adonis erhielt. Ich hatte damals Steuerwache und beobachtete die Vernichtung eines kosmischen Körpers durch den in der Suchkette der Flottille neben uns fliegenden Raumjäger. Der Funkspruch, den die benachbarte Rakete darüber an die Leitrakete gab, enthielt neben den üblichen Angaben eine bemerkenswerte Mitteilung. Es hieß darin, daß bei der Analyse der Explosionswolke Spuren des Transurans Plutonium festgestellt worden seien. Deshalb muß man folgendes annehmen: Dieser inzwischen vernichtete Meteorit hat vor Jahren oder vor Jahrzehnten ein Raumschiff der Erde getroffen. Dabei müssen sich Konstruktionsteile eines Brutreaktors im Gestein des Meteoriten verfangen haben. Nur so ist es denkbar, daß die Gaswolke des vernichteten Meteoriten das Transuran Plutonium aufwies.

Wir scheinen nun die getroffene Rakete vor uns zu haben. Das Transuran ist aber noch kein ausreichender Beweis dafür, daß das V-Schiff kein interstellares Sternenschiff, sondern eine Forschungsrakete der Erde ist.

Deshalb tat ich etwas, was, das gebe ich offen zu, gefährlich war und unglückliche Folgen für uns hätte haben können. Ich sendete aus dem Richtstrahler einen der Schaltimpulse zum V-Schiff hinüber, mit denen die Atomtriebwerke unserer Raketen gesteuert werden. Ich sagte mir: Ist das V-Schiff ein interstellares Sternenfahrzeug, so wird es auf den Schaltimpuls nicht reagieren. Ist es aber eine zerstörte, geknickte Forschungsrakete von der Erde, so besteht die Möglichkeit, daß intakte Leitungen den Schaltbefehl auffangen und an das Triebwerk weitergeben.

Die V-Rakete reagierte. Ein Feuerstrom brach aus den Düsen hervor. Meine Vermutung hatte sich bestätigt.

Der Flammenstoß mußte aller Voraussicht nach bremsend wirken. Ich hatte Glück. Tatsächlich verminderte die zerstörte Rakete ihre Geschwindigkeit. Sie geriet dadurch auf eine neue Bahn, auf die Bahn des Asteroiden.

Ich habe mir die Gewißheit über die Herkunft des V- Schiffes um ein hohes Risiko erkauft. Ich weiß, daß ich mich mit solcher Fahrlässigkeit für den kosmischen Dienst disqualifiziert habe, daß ich eine Schuld auf mich geladen habe, auch wenn zu meinem Glück nichts von all den Dingen passiert ist. Ich bin bereit, die Bestrafung für meine spontane, impulsive und unüberlegte Handlung auf mich zu nehmen.

Doch zurück zum V-Schiff. Der B. d. A. in der Basis auf dem Mars muß wohl, so unwahrscheinlich dies über eine so große Entfernung auch sein mag, trotz unserer knappen Mitteilung die Situation bei uns richtig beurteilt haben. Weil Funkimpulse in die zerschlagene Rakete ungehindert eindringen und auf teilweise noch unversehrte automatische Anlagen wirken können, hat er den Funkverkehr zu unserem Schutz verboten.

Unsere Aufgabe ist es nun, schnellstens einen oder zwei aus unserer Mitte zum V-Schiff zu entsenden. Die Kabelverbindungen zu den anscheinend noch intakten Triebwerken müssen gelöst oder gewaltsam unterbrochen werden.

Die einzige Gefahr, die uns von dem geknickten Forschungsfahrzeug droht, ist eine plötzliche Reaktion der atomaren Treibstoffe. Sobald wir der Basis mitteilen können, daß die Triebwerke von uns reaktionsunfähig gemacht worden sind, wird man den Funkverkehr für unseren Bereich wieder freigeben.

Ich bitte euch, mir die gefährliche Aufgabe der Lösung der Kabelverbindungen zu übertragen.“

Gleich nachdem Bacos geendet hatte, erhob sich der Neger Oulu. Er sagte, nach seiner Meinung sei die zuletzt vorgetragene Vermutung zutreffender. Der Raumkörper, gleich, ob Wrack oder Sternenschiff fremder Wesen, müsse sobald wie möglich untersucht werden.

Nach dem Afrikaner richtete Professor Mirsanow einige Worte an die Versammelten.“Wenn es uns, wie das aus den Darlegungen von Paro Bacos hervorgeht, nun also doch nicht beschieden zu sein scheint, Gäste aus dem Weltall zu empfangen — den letzten Beweis dafür wird die Untersuchung der Rakete bringen —, so wollen wir doch nicht vergessen, daß diese Stunde der Begegnung kommen wird. Die Menschheit bereitet sich auf diesen Augenblick mit jeder neuen wissenschaftlichen und kulturellen Leistung, mit jeder neuen Erkenntnis über das Wirken und die Ausnutzung der Naturgesetze vor. Eines Tages wird es soweit sein. Die Bewohner der Erde werden so viel wissen und können, daß sie es vermögen, sich mit den belebten, vernunftbegabten Welten anderer Sternensysteme in Verbindung zu setzen.“

Aus diesen Überlegungen heraus riet Timofei Mirsanow dem Funker, auch weiterhin die Zeichen aus dem Weltraum, das Peilecho, zu beobachten und auszuwerten und an seiner Entzifferung zu arbeiten. Das Gebiet der Funkforschung sei schon vor Jahrhunderten, seit dem Start des ersten Erdtrabanten, ein wichtiger Forschungsbereich gewesen. Die Beherrschung der Nachrichtenübermittlung, der Radioelektronik im Weltraum werde auch bei der Begegnung mit dem fremden Leben im All eine große Rolle spielen.

Nach und nach meldeten sich fast alle Kosmonauten zu Wort. Man beschloß, die Aufklärungsrakete mit Kioto Yokohata und Paro Bacos zum V-Schiff zu entsenden. Die Vorbereitungen dazu wurden umgehend getroffen.

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