Norbert Franken, der Funker des Raumjägers, saß im Zentralposten an seinem Arbeitsplatz. Außer ihm war niemand in der Steuerzentrale. Der Pilotron steuerte das Raumschiff.
Es war kurz vor Mitternacht. Franken betrachtete die komplizierte Tabelle galaktischer Zeiten, die er vor sich auf dem Funk- und Radarpult liegen hatte. Seine Augen glitten suchend die einzelnen Reihen und Spalten der Tabelle entlang.
Eine galaktische Sekunde dauerte nach irdischem Maß 9 Tage und 12 Stunden. Eine galaktische Stunde dehnte sich rund 9,1 Jahre, und ein galaktischer Tag bestand sogar aus 218,4 Erdenjahren. Ein galaktisches Jahr setzte sich aus 230 Millionen irdischen Jahren zusammen. Das waren selbstverständlich alles nur relative Werte. Sie ergaben sich aus der Unterteilung der Zeit, die bei einem Umlauf des Sonnensystems um das Zentrum der Milchstraße verging.
230 Millionen Jahre brauchte demnach das Sonnensystem, um die Milchstraße, die Galaxis, diese riesige Sternspirale aus Milliarden Sonnen und unzähligen Planeten, einmal zu umkreisen. Die Forschungen hatten ergeben, daß das Sonnensystem zusammen mit der Erde und den acht anderen großen Planeten bisher vermutlich fünfzehnmal die Milchstraße umrundet hatte. Man befand sich also gewissermaßen im sechzehnten galaktischen Jahr.
Das waren alles enorme Zeitbegriffe. Was bedeutete da schon eine galaktische Sekunde, was bedeuteten da schon neuneinhalb Erdentage? Ein Menschenleben verstrich bei solchen zeitlichen Dimensionen im Handumdrehen. Und dennoch, was konnte ein Mensch alles an bewundernswerten Dingen in seinem kurzen Leben vollbringen!
Franken hätte gern noch weiter philosophiert. Ihm blieb aber keine Zeit mehr dazu. Der Zeiger der zentralen Borduhr im großen Steuerraum, der gewissenhaft die Zeit in irdische Maßeinheiten zerteilte, rückte auf Mitternacht zu. Nur noch wenige Minuten fehlten.
Aber auch die galaktische Zeit lief weiter. Es waren wieder einmal neuneinhalb Tage vergangen. Punkt Mitternacht würde auch der Sekundenzeiger der galaktischen Uhr einen Sprung weiter machen. Für Norbert Franken war dieser Augenblick immer wieder großartig. Was für ein unbeschreibliches Gefühl war es doch, wenn man sagen konnte: ich, ein Mensch, habe wieder eine galaktische Sekunde gelebt.
Für den Funker bedeutete dieser Sprung des galaktischen Sekundenzeigers aber auch, daß er das Peilzeichen senden mußte. Dieses Peilzeichen bestand aus einem Dauerton, der in gedehnten Intervallen ausgestrahlt wurde. Alle Raumschiffe der Flottille mußten diese Peilzeichen fünfzehn Minuten lang in den Äther abstrahlen. Sie wurden von besonderen Empfangsstationen auf dem Mars und auf der Erde aufgenommen und ausgewertet.
Eine Stunde später mußte die Peilsendung von der ganzen Flottille wiederholt werden. Die Funkortungszenfren auf Mars und Erde konnten auf diese Weise durch einen Vergleich ihrer Ortungsergebnisse regelmäßig alle neuneinhalb Tage exakt die Position des Raketenverbandes im Weltraum überprüfen. Dies war aus mancherlei Gründen unbedingt erforderlich.
Nach den Meßergebnissen der Funkortungsstationen wurden zum Beispiel die Richtstrahler der Basis genau eingestellt. Dadurch war gewährleistet, daß unter anderem die Sendungen der gefunkten Raumpost, des Wissens, der Information und auch der Unterhaltung jeweils in das Gebiet des Alls ausgestrahlt werden konnten, in dem sich die Asteroidenjäger tatsächlich befanden. Es war außerdem möglich, den Raumschiffen auf Grund dieser Positionspeilungen die Warnung vor Kometen und anderen Gefahren des Weltraums zu übermitteln.
Die Peilsendungen der Flottille und die Funkortungen von Erde und Mars dienten also in hohem Maße der Sicherheit des Raumschiffverbandes. Die einwandfreie Funkverbindung zwischen dem Mars und den Raumschiffen war lebenswichtig.
Dadurch, daß alle Raketen gleichzeitig Peilzeichen gaben, konnte die jeweilige Ausdehnung der Suchkette beziehungsweise die derzeitige Gruppierung der einzelnen Raketen festgestellt werden. Solche Angaben benötigte der Befehlshaber der Asteroidenjäger, um den Einsatz aller Flottillen und Raumjäger koordinieren zu können.
Norbert Franken schaltete die entsprechenden Apparaturen für die Peilsendung am Funk- und Radarpult ein. Er regelte die vorgeschriebene Frequenz, die entsprechende Sendeleistung und die richtige Modulation ein. Die letzten Sekunden zählte der Funker mit: „Vier und drei und zwei und eins und null.“ In demselben Moment sprang der Sekundenzeiger der galaktischen Uhr einen Strich weiter. Auch die irdische Uhr, die auf den Nullmeridian von Greenwich abgestimmt war, zeigte genau Mitternacht. Franken drückte rasch die Taste, die die Peilsendung auslöste.
Aufmerksam lauschte der Funker in den Äther. Im gleichen Augenblick hatte auch die Leitrakete zu senden begonnen. Frankens geschultes Ohr verglich über den Kontrolltonträger beide Sendungen. Er stellte fest, daß seine Peilintervalle etwas nachschleppten. Er hatte die Sendung um den Bruchteil einer Sekunde zu spät gestartet. Schnell regelte er die winzige Zeitdifferenz aus. Nun lief das Elektronenband mit den Peiltönen der Leitrakete synchron, und er brauchte nur noch den ordnungsgemäßen Ablauf der Sendung zu kontrollieren.
Um 0.15 Uhr, genau auf die Sekunde, war das Band abgelaufen. Norbert Franken hätte die Apparaturen am Funk- und Radarpult abschalten können. Aber er wollte sich die Zeit bis zur zweiten Sendung, die von 1.00 bis 1.15 Uhr laufen mußte, noch etwas vertreiben. Deshalb schaltete er auf Empfang um und stellte nacheinander mehrere Frequenzen und Wellenlängen ein. Dabei konnte er die verschiedensten Funksprüche mithören. Ein solches Mitlauschen war immer recht interessant. Franken machte es sich bequem. Er öffnete ein wenig den Sicherheitsanzug und lockerte ihn am Hals.
Irgendwo, sehr weit weg und sehr schwach, zirpten die Signale eines Funkwarnfeuers. Es warnte die Raumschiffe vor dem Asteroiden, auf dem es stand.
Dann vernahm Franken einige zwitschernde Laute. Es waren die typischen Zeichen einer gefunkten Raumpostsendung. Die einzelnen Signale der Radiobriefe, auf wenige Sekunden zusammengedrängt, folgten einander so rasend schnell, daß ihnen das menschliche Ohr unmöglich folgen konnte. Franken schaltete den Entzerrer ein, der die elektromagnetischen Impulse auffing, speicherte und bei Bedarf auf ihr normales Maß dehnte. Die Radiobriefe waren dann verständlich. Die Anschriften in der aufgefangenen Raumpostsendung nannten als Empfänger Kosmonauten eines Forschungsschiffes, das sich in der Nähe des Jupiters befand. Dieses Schiff sollte die Jupitermonde acht, neun und elf beobachten und ergründen, warum sie sich entgegen der Drehbewegung des Planeten und entgegengesetzt der Flugrichtung der anderen acht Jupitermonde um diesen größten Himmelskörper des Sonnensystems bewegten.
Franken löschte die Briefe, ohne sie weiter zu entschlüsseln, und ging auf eine andere Wellenlänge über. Jetzt fing er Meßergebnisse eines automatischen Funkobservatoriums auf, das vom Planeten Merkur aus nächster Nähe die Sonne beobachtete. Die Angaben waren für ein Forschungsinstitut auf der Erde bestimmt und enthielten Meßwerte aus den letzten Stunden über Eruptionen auf der Oberfläche der Sonne und über die weit in den Weltraum hinausleckenden Feuerzungen der Protuberanzen. Der Funker staunte. Gewöhnlich waren solche Sendungen hier, weit jenseits der Marsbahn, nicht mehr zu hören. Wahrscheinlich lag ein besonderer Fäll von Reflexion vor, bei dem ein Teil der gerichteten Funkstrahlen der Merkurstation vom Erdball zufällig in das Gebiet des Weltraumes zurückgeworfen wurde, in dem die Flottille operierte.
Wenn man so an den Funkgeräten saß wie Franken und wahllos mal diese und mal jene Welle einstellte, merkte man erst, wie lebendig es im Weltraum war. Es war der zu allem befähigte Mensch, der begann, diese tote Dämmerung des Kosmos mit seinem geheimnisvollen Tun zu beleben. Franken war stolz, daß auch er zu jenen gehörte, die das Leben in die unendlichen Weiten trugen.
Als Franken den Zeiger auf der Frequenzskala weiterwandern ließ, geriet er in eine Nachrichtensendung der Erde für Weltraumfahrer. Der Sprecher sagte gerade: „….. beschloß der Rat für Weltbauten, einen neuen Beringdamm zu errichten. Der alte Damm, der in den Jahren 1982 bis 1989 gebaut worden war, vermag den ständig steigenden Verkehr zwischen den beiden großen Kontinenten Eurasien und Amerika nicht mehr zu bewältigen…“
Franken drehte weiter. Er kannte diese Meldung, denn sie war schon einmal in der Nachrichtensendung vor zwölf Stunden bekanntgegeben worden.
„Meteorit eingefangen. Er ist so groß wie ein Fußball, nur nicht so rund und glatt. Ich komme zurück.“ Das mußte die Stimme des Piloten der Aufklärungsrakete des benachbart fliegenden Raumjägers sein. Er war vermutlich ausgeschickt worden, um einen vom Radar entdeckten Meteoriten einzufangen. Es kam oft vor, daß ein Meteorit nicht vernichtet, sondern eingefangen wurde, um ihn auf seine Zusammensetzung und auf seine eventuelle Herkunft zu untersuchen.
Norbert Franken drehte weiter. Da stutzte er. Der Zeiger stand jetzt auf der Skala nahe der Zahl 2010 Megahertz. Ein bekanntes Signal war zu hören. Leider war es sehr leise. Der Funkoffizier brauchte etliche Minuten, um dieses Signal zu erkennen. Häufiger Empfangsschwund erschwerte ihm das Lauschen.
Die Funksignale klangen ungefähr so wie die Peilzeichen, die er vorhin gesendet hatte. Sollte sich einer der Raumjäger aus der Suchkette so in der Zeit geirrt haben? Franken blickte zur Uhr. Die Wiederholungssendung war doch erst in zwanzig Minuten fällig. Aber das konnte es auch nicht sein, denn die leisen Peilzeichen, die er hörte, wurden auf einer völlig falschen Frequenz gesendet.
Der Funkoffizier versuchte, die Signale lauter und deutlicher zu machen. Statt dessen blieben sie ganz aus. Sollten die aufgefangenen Zeichen ein Funkecho der eigenen Sendung gewesen sein? Warum war dann aber dieses Peilecho auf einer falschen Wellenlänge zu hören?
Sollte es so etwas wie eine Frequenzwandlung im Weltraum geben? Franken hatte bei seinem Studium auf der funktechnischen Hochschule von einer solchen Frequenzwandlung nie etwas gehört. Eine derartige Erscheinung hätten doch die Funkforschungsinstitute sicher schon längst bemerkt. Die ganze Sache kam ihm nicht recht geheuer vor. Er fand für seine zufällige Entdeckung keine Erklärung. Jedenfalls beschloß er, nach der Wiederholungssendung wiederum die Welle 2010 einzustellen. Vielleicht gelang es ihm, dann das Peilecho noch einmal und besser empfangen zu können.
Die Zeit war beim Abhören der verschiedenen Funkstimmen im Weltraum bei der Echosuche verstrichen. Die Zeiger der Uhr standen kurz vor 1.00 Uhr nachts. Franken machte sich für die zweite Peilsendung bereit. Alles funktionierte wie sonst. Wieder hatte er zu Beginn eine winzige Verzögerung. Ein Glück, daß sich das nachregulieren ließ.
Nach fünfzehn Minuten, zum Ende der Sendung für die Funkortungsstationen der Erde und des Mars, wurde Franken ungeduldig. Kaum war das Elektronenband mit den gespeicherten Peilzeichen abgelaufen, schaltete er sofort auf 2010 Megahertz um.
Franken setzte sich sogar die Pleone, eine Hörkappe auf, die ihn gegen die Geräusche in der Steuerzentrale, gegen das Ticken, Knacken und Schnarren der Relais und der Automatiken abschirmte und die ihn die Signale deutlicher hören ließ.
Gespannt lauschte der Funkoffizier. — Nichts. Er vergrößerte die Verstärkerleistung des Empfängers. — Keine Zeichen. Vielleicht hatte sich die Frequenz etwas verlagert. Franken drehte am Skalenknopf, zuerst auf 2009 und 2008, dann auf 2011 und 2012 Megahertz. Aber auch auf diesen Wellenlängen war kein Peilecho mehr festzustellen.
Nach zwanzig Minuten vergeblichen Suchens gab der Funker seine Bemühungen auf. Er schaltete die Geräte ab, nahm sich aber fest vor, nach Ablauf der nächsten galaktischen Sekunde in neuneinhalb Tagen zwischen der Haupt- und Wiederholungssendung abermals die Frequenz 2010 abzuhören. Er wollte unbedingt Gewißheit haben.
Grübelnd blieb Franken sitzen. Das Problem der rätselhaften Frequenzwandlung, und darum konnte es sich nur handeln, hatte ihn gepackt und spukte in seinem Kopf herum. Seine zufällige Entdeckung ließ ihm keine Ruhe. Fast glaubte er sich getäuscht und geirrt zu haben.
„Na, etwas nicht in Ordnung?“ fragte von fern eine Stimme.
„Wieso?“ Franken nahm die Pleone ab und drehte sich nach dem Frager um. Es war der Araber Salamah El Durham, der Ingenieur für die Triebwerke. Salamah El Durham hatte Steuerwache.
„Deine Peilsendung ist doch schon längst zu Ende, und du sitzt trotzdem noch hier, sogar mit der Hörkappe. Da kann was nicht stimmen“, erklärte der Araber.
Franken starrte El Durham erstaunt an. Der Araber hatte eben so eigenartig, so verkrampft gelächelt. „Ach so.“ Franken ärgerte sich über den Triebwerksingenieur. „Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich habe die Empfänger bloß noch einer kleinen Leistungsprüfung unterzogen. Die Nachtstunden sind dafür am besten geeignet.“
Der Funker bediente sich dieser kleinen Notlüge, weil er nicht wollte, daß seine Beobachtung, ohne daß er sich seiner Sache sicher war, bekannt wurde.
Ihm fiel plötzlich auf, daß er die ganze Zeit allein im Zentralposten gewesen war. „Du hast doch jetzt Steuerwache, nicht wahr?“ fragte er den Araber.
„Ja, wunderst du dich darüber?“
„Ja, mich wundert das, weil du erst jetzt kommst“, erwiderte Franken empört. „Ich habe dich die ganze Zeit über nicht gesehen. Ich finde das unerhört.“
„Na so was“, sagte der Araber lakonisch. Frankens Vorwürfe prallten an ihm ab. „Du warst doch bis jetzt hier. Genügt es nicht, wenn eine Person im Zentralposten anwesend ist? Außerdem ist der Pilotron noch da. Er steuert das Schiff sowieso ganz allein“, stellte Salamah El Durham mit erschütternder Gleichgültigkeit fest.
Franken schüttelte unwillig den Kopf. Ihm war diese Haltung unbegreiflich. Er hätte nicht gedacht, daß es an Bord einen Menschen gab, der eine so nachlässige Auffassung von seiner Arbeit hatte, daß er siebenunddreißig Raumfahrer der blinden Steuerautomatik des Pilotrons anvertrauen würde.
Was sollte das erst später werden, wenn schon zu Beginn des Fluges ein Besatzungsmitglied solche eigenartigen Auffassungen hatte. Man mußte sich doch aufeinander verlassen können. Wer weiß, welche Ansichten der Araber zu anderen Aufgaben und Aufträgen hatte. Oder war er gar schon von einer der Weltraumkrankheiten, einer Gemütskrankheit, vielleicht von der Gleichgültigkeit befallen?
Ob man mit dem Kommandanten über Salamah El Durham sprechen sollte? Nein, noch nicht. Man mußte ihn erst einige Zeit beobachten. Dann konnte man ihm immer noch helfen. Franken entschloß sich, keinem etwas zu sagen.
Er grüßte knapp und verließ zögernd den Steuerraum. Eigentlich hätte ich El Durham nicht allein lassen dürfen. Ich hätte selbst die Steuerwache übernehmen müssen, dachte er im Hinausgehen. — Um 4.00 Uhr kam der Neger Oulu Nikeria, der Mathematiker, in den zentralen Steuerraum. Er war der nächste, der Wache hatte. El Durham übergab die Steuerwache. In den vier vorangegangenen Stunden war nichts Besonderes vorgefallen. Alles war in Ordnung. El Durham entledigte sich seines Sicherheitsanzuges und ging eilig, um den versäumten Schlaf nachzuholen.
Oulu Nikeria blickte ihm grübelnd nach. Der Araber hatte einen auffällig leeren Blick gehabt. Ob ihn die Steuerwache so ermüdet hatte? Nikeria begann seine Rundgänge im Steuerraum. Er überprüfte die Tätigkeit des Pilotrons, des automatischen Astropiloten, und den gegenwärtigen Standort der Rakete im All. Alles stimmte, der zu steuernde Kurs lag tadellos an. Nikeria wandte seine Aufmerksamkeit den Radarschirmen zu. Das war äußerst ermüdend. Dem Auge bot sich auf der gleichmäßig erhellten Bildfläche auch nicht der geringste Ruhepunkt.
Gegen 5.00 Uhr tauchte auf dem bisher fleckenlos gebliebenen Radarschirm ein mattes, winziges Pünktchen auf. Ein rotes Lichtsignal glomm über dem Suchschirm auf und machte den Wachhabenden auf das Radarobjekt aufmerksam.
Oulu, dessen Aufmerksamkeit schon etwas nachgelassen hatte, riß die Augen auf. Er war sofort hellwach. Am liebsten hätte er einen Freudensprung gemacht. Das könnte nur ein Meteorit sein. Der erste, den man erjagen würde. Nikeria überlegte, ob er gleich Alarm geben sollte. Aber er wollte sich erst überzeugen und seine Vermutung durch die Angaben des Radars bestätigen lassen. Sogleich begann er die vom Radar ermittelten Zahlen auszuwerten, um an Hand der Ergebnisse eine Entscheidung zu treffen. Alarm konnte er immer noch geben; damit hatte es noch einige Minuten Zeit.
Eine Radaranlage ist doch eine gute Einrichtung, dachte Oulu. Wäre der Meteorit gefährlich, würde er mit hoher Geschwindigkeit auf das Raumschiff zueilen, so hätte die Automatik den Alarm schon längst selbständig ausgelöst. Außerdem hätte der Pilotron Ausweichmanöver eingeleitet. Da das Radargerät aber nur mit Rotlicht warnte, zog der Meteorit vermutlich weitab vom Kurs des Raumschiffes seine Bahn.
Oulu Nikeria blickte auf den Radar-Messer. Zu seinem großen Erstaunen flog der Meteorit aber gar nicht so weit entfernt. Er war nur rund 2000 Kilometer weit weg. Der Meteorit mußte den Weg der Rakete bereits vor mehreren Stunden geschnitten haben. Langsam entfernte er sich, dabei fast parallel zur Flugbahn des Raumschiffes fliegend. Er bedeutete deshalb auch keine Gefahr mehr. Wäre der Meteorit weiter entfernt, so würde der Kommandant wahrscheinlich nicht damit einverstanden sein, daß man ihm nachjagte.
Das Weltraumgeschoß bewegte sich mit 15,3 Kilometer pro Sekunde weiter. AJ-408 aber hatte eine Geschwindigkeit von 16 Kilometern pro Sekunde. Das bedeutete, daß der Raumjäger den Meteoriten in rund 47 Minuten eingeholt haben würde. Er müßte dazu in seinem Kurs von der Ebene der Ekliptik um 12 Grad und um 7 Grad von der Kreisbahn abweichen. Dann würde man den Meteoriten auch gut ins Visier des Helicons, des Strahlenwerfers, bekommen.
Das alles hatte sich Nikeria in knapp 2 Minuten überlegt und errechnet. Es blieben also noch 45 Minuten Zeit, über die Größe, Form und Beschaffenheit ließ sich aus dem Radarrapport noch nichts entnehmen.
Normalerweise genügte es, die vier Mann des Bereitschaftsdienstes zu wecken und den Kommandanten zu verständigen. Heute war das aber etwas anderes. An der ersten Meteoritenjagd sollten alle teilhaben. Oulu Nikeria löste den Radaralarm aus. überall in den Kabinen fuhren die Schläfer hoch. Manche waren sofort wach, andere wieder rappelten sich nur mit Mühe auf und fuhren, noch schlaftrunken, in den griffbereit liegenden Sicherheitsanzug.
Noch während die Klingeln in allen Räumen schrillten, ging Oulu Nikeria zum Pilotron. Er teilte dem Steuerautomaten durch Verstellen zweier kleiner Hebel den neuen Kurs mit. Der Pilotron reagierte augenblicklich. Kaum daß das schrille Klingeln verstummt war, ließ er die drei lauten Glockenschläge durch das Schiff tönen, die den Bereitschaftsdienst in den Steuerraum riefen. Danach erklang das hohe, helle Klingen, das ein automatisches Manöver ankündigte.
Es blieben noch 43 Minuten.
Nikeria setzte sich über das Videophon, die individuelle Kabinenruf-anlage, mit dem Kommandanten in Verbindung, über das ganze Gesicht strahlend meldete er:. Kommandant! Der erste Meteorit ist da. Der Pilotron steuert das Ziel bereits an. In 42 Minuten wird das Radarobjekt eingeholt sein. Ich habe mir erlaubt, die ganze Besatzung zu wecken.“
Kerulen, der eben die Schnellverschlüsse an seinem leichten Raumanzug schloß, lächelte und nickte dem Mathematiker zustimmend zu. Das Videophon war eine Art Telefon mit Fernsehbild. Die Gesprächspartner konnten einander auf den nur wenige Zentimeter großen Bildschirmen sehen.
„Danke. Geben Sie der Besatzung über Bordfunk eine kurze Information. Ich komme sofort in den Steuerraum.“
Das Bild erlosch.
Überall im Raumschiff eilten die Besatzungsmitglieder auf ihre Posten. Die Männer des Bereitschaftsdienstes stürzten in den Steuerraum. Sie nahmen sogleich ihre Plätze vor den einzelnen Befehlsständen ein.
Nikeria informierte, wie ihm der Kommandant aufgetragen hatte, die Besatzung: „Kameraden! Astronauten! Das Radar hat den ersten Meteoriten aufgespürt. Wir haben Kurs auf ihn genommen. Er fliegt jetzt etwa 1800 Kilometer vor uns her. In 41 Minuten sind wir mit ihm auf gleicher Höhe. Ich hoffe, daß dieser erste Meteorit der Auftakt zu einer ganzen Serie von erfolgreichen Jagden sein wird.“
Salamah El Durham, der Triebwerksingenieur, setzte sich unwillig in seinem Bett auf. Er hatte, nachdem Oulu Nikeria die Steuerwache übernommen hatte, keinen Schlaf finden können. Erst vor zehn Minuten war er eingeschlummert. El Durham machte Licht an, blieb aber im Bett sitzen. Abwartend hing sein Blick am Tonträger. Als Oulus Information übertragen wurde, machte er das Licht aus und legte sich wieder hin.
„Affentheater“, murmelte er. „So ein Unsinn, deswegen alle wachzumachen. Auf mich werdet ihr verzichten müssen. Nach der Steuerwache auch noch Radaralarm und Meteoritenjagd! Ohne mich!“
Zwei Minuten später, El Durham war schon wieder im Halbschlaf, sprach Kerulen über den Bordfunk: „Alle können die Alarmplätze auf ihren Stationen verlassen und in den zentralen Steuerraum kommen. Unser Kollektiv soll die Möglichkeit haben, diese erste Meteoritenjagd auf dem großen zentralen Bildschirm zu beobachten.“
Ärgerlich schaltete der Araber den Tonträger ab, um nicht noch einmal durch Mitteilungen über den Bordfunk im Schlaf gestört zu werden. Der Meteorit interessierte ihn nicht. Er wollte seine Ruhe haben.
Im Steuerraum winkte Kommandant Kerulen den Piloten der kleinen Aufklärungsrakete, den Japaner Yokohata, zu sich heran. Er sprach mit ihm und erklärte etwas. Der Pilot nickte und verließ den Steuerraum. Die Einladung Kerulens an die Besatzung, in den Zentralposten zu kommen, wurde gern befolgt. Zusehends füllte sich der Raum.
Der Kommandant nahm seinen Platz am Pilotron ein. Er dunkelte das indirekte Licht des ovalen Raumes stark ab und ließ die große Glasfläche des zentralen Bildschirmes aufleuchten. Das Sternenpanorama tat sich auf. Aber es war schwer, den kleinen Radarreflex des Meteoriten unter den zahlreichen Sternen und den fernen Lichtflecken kaltleuchtender Gaswolken herauszufinden. Kerulen schaltete daher die Fernsehkameras wieder ab. Das Panorama der Sterne erlosch. Nur der Radarreflex blieb auf der großen Bildfläche sichtbar. So würde man alle Vorgänge wesentlich besser beobachten können.
Sagitta kam herein. Sie strahlte. „Ich habe recht gehabt“, sagte sie laut. „Ihr wolltet es mir nicht glauben und habt nur gelacht.“ Niemand verstand gleich, was die Ärztin meinte. „Wißt ihr's nicht mehr?“ fragte sie.
Paro Bacos erinnerte sich. „Doch, doch, warte mal.“ Er überlegte. „Das war, als wir vor einigen Tagen im Operationsgebiet eintrafen und uns nach dem Funkspruch des Kommodore im Raum der Ethik versammelt hatten. Wir stellten Vermutungen über den Zeitpunkt der ersten Begegnung mit Meteoriten auf.“
„Richtig“, fiel ihm Filitra Goma ins Wort. „Ich meinte, es würde Monate dauern, Kioto tippte auf eine Begegnung in wenigen Wochen, und Sagitta sagte, es würde nur einige Tage dauern.“
„Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn“, neckte Norbert seine Schwester. Sagitta drohte ihm mit dem Finger.
Die Besatzung war inzwischen versammelt. El Durhams Abwesenheit fiel erst später auf. Kerulen gebot Ruhe und teilte seine Entscheidung mit: „Kosmonauten, ich halte es für richtig, wenn wir den ersten von uns erjagten Meteoriten nicht mit dem Helicon vernichten. Ich habe den Piloten Kioto Yokohata beauftragt, mit der Aufklärungsrakete zu starten. Er soll den Meteoriten einfangen. Ich glaube, es wird euch allen Freude bereiten, wenn wir unseren Erstling greifbar und sichtbar vor uns haben und wenn wir ihn zum Andenken aufbewahren.“
Beifälliges Gemurmel erklang von allen Seiten.
„Noch dreißig Minuten“, teilte Franken vom Funk- und Radarpult mit. Gespannt betrachteten die Astronauten den Bildschirm. Etwa zehn Minuten vergingen.
„Da!“ rief Filitra Goma laut, von ihrem Sitz aufspringend, um besser sehen zu können. Erschrocken hielt sie inne. Man sah sie amüsiert an. Sie wurde sich ihrer Vorlautheit bewußt. Schnell machte sie sich wieder klein und setzte sich.
Über den rechten Rand des Bildschirmes schob sich ein heller Schein. Es waren die winzigen Umrisse der Aufklärungsrakete. Der Radarreflex des Meteoriten stand dagegen noch ganz links im Bild.
„Noch neunzehn Minuten“, teilte Franken mit.
Verstohlen blickte Filitra zu Henry Lorcester hinüber. Ob er sie wohl wegen ihres impulsiven Aufspringens albern fand, fragte sie sich in Gedanken. Sie war, aus dem Schlaf gerissen, mit einigem Herzklopfen auf ihre chemotechnische Station geeilt. Die von ihr so gefürchtete Begegnung mit einem Meteoriten war da. Wie würde sie ausgehen? Sie konnte sich nun davon überzeugen, daß in diesem Fall alles recht harmlos war.
AJ-408 stürmte jetzt nicht mehr direkt auf den kleinen Gesteinssplitter zu. Der Raumjäger flog etwa 300 Kilometer entfernt parallel zur Rakete Kioto Yokohatas und zum Meteoriten. Man hatte also den Meteoriten und die Aufklärungsrakete nicht mehr vor sich, sondern 300 Kilometer neben dem Raumschiff.
Ununterbrochen sandte das Radargerät seine kurzwelligen Strahlen aus. Sie trafen auf den Meteoriten und auf die Kolibri-Rakete. Ein Bruchteil der Strahlen wurde reflektiert, als Echo aufgefangen und verstärkt. Der kleine heHe Radarumriß der Aufklärungsrakete schob sich rasch über den Bildschirm und näherte sich zusehends dem Meteoriten. Als der winzige punktförmige Radarreflex des kleinen Weltraumkörpers fast erreicht war, schien es, als stoppe die Aufklärungsrakete. Mehr war auf dem Bildschirm nicht zu sehen, und trotzdem folgten die Augen aller Astronauten gespannt diesem einfachen Vorgang.
„Hallo Kolibri, hallo Kioto! Können Sie den Meteoriten schon erkennen?“ erkundigte sich Kerulen über den Sprechfunk.
„Hier Kolibri! Ich habe den Meteoriten hell und deutlich in meinem Radar. Er ist noch 5 Kilometer entfernt. Ich habe mein Tempo stark verlangsamt und taste mich an ihn heran.“
Auch das Raumschiff mußte jetzt seinen Flug abbremsen. Es würde sonst seitlich vorbeiziehen und die Kolibri-Rakete weit hinter sich lassen. Der Kommandant stellte den Pilotron entsprechend ein.
Die Bremsdüsen begannen schwach zu arbeiten.
Die Abbremsung war sehr sanft und allmählich. Im Schiff merkten es die Menschen nur an ihrem Körper, der in der bisherigen Bewegungsgeschwindigkeit verharren wollte. Sie hatten das Gefühl, als zöge sie alle eine sanfte Gewalt zur Stirnseite des Sfeuerraumes, zum Bug des Raumschiffes.
Weitere Minuten vergingen. Dann meldete sich wieder Kioto Yokohata.
„Ich bin jetzt bis auf wenige hundert Meter heran. Mein Scheinwerfer ist eingeschaltet; aber ich kann den Meteoriten mit bloßem Auge nicht erkennen. Er scheint daza noch zu weit weg und vor allem zu klein zu sein. Dafür zeichnet aber mein Radar seine Umrisse schon eine ganze Weile sehr deutlich auf. Wenn mich das Bild nicht trügt, dann hat er große Ähnlichkeit mit einem Faustkeil. Der Meteorit rotiert nur sehr wenig um seine Längsachse. Ich melde mich wieder, wenn ich den Stein in meiner Kabine habe.“
„Einverstanden“, antwortete Kerulen. Der Kommandant war etwas in Sorge um seinen Piloten. Yokohata war jetzfzum erstenmal im Weltraum, um ein solches Manöver allein auszuführen. Kerulen entschloß sich, ihm Sicherheitshinweise zu geben. „Seien Sie vorsichtig, Kioto, damit Sie den Meteoriten nicht in die Düse bekommen. Es wäre am besten, wenn sie etwa fünfzig bis sechzig Meter abseits bleiben würden. Passen Sie sich seiner Geschwindigkeit genau an. Steigen Sie dann aus und drücken Sie sich mit der Preßgasflasche oder mit der Rückstoßpistole an den Meteoriten heran. Greifen Sie sich den Burschen. Vergessen Sie aber auf keinen Fall, sich mit der Sicherheitsleine an Ihrer Rakete festzuhaken.“
„Gut. Längsseits gehen, aussteigen, Sicherheitsleine benutzen und Meteoriten ergreifen“, wiederholte der Pilot knapp.
Nach kurzem Schweigen begann man im Zentralposten über den Faustkeil Kiotos zu ulken. „Wenn der Meteorit ein Faustkeil ist, dann irrt vielleicht auch ein Steinzeitmensch hier irgendwo in der Nähe herum“, sagte Norbert Franken.
„Wenn die Aufklärungsrakete zurück ist, wird ihr ein gebückter und zottiger Alter, nur mit einem Fell bekleidet, entsteigen“, scherzte auch der Kommandant.
Filitra Goma lachte. „Ein japanischer Neandertaler. Zu eigenartig…“ Unvermittelt brach sie ihr Lachen ab und errötete. Schon wieder benehme ich mich albern, dachte sie ärgerlich.
„Wir lassen Kioto erst gar nicht aussteigen“, regte Paro Bacos an. „Er muß gleich umkehren und mit seinem Faustkeil auf Bärenjagd gehen. Er soll den Großen Bären erlegen.“
„Lieber nicht!“ rief der Navigator in komischer Verzweiflung aus. „Wie soll ich mich dann orientieren? Wie soll ich dann den Polarstern finden?“
Wenn der Meteorit wirklich große Ähnlichkeit mit einem Faustkeil haben sollte, bin ich dafür, daß wir heute abend zu Ehren unseres ersten Jagderfolges so etwas wie ein Höhlenfest der Steinzeitmenschen veranstalten“, schlug Sagitta vor, nachdem sie einen Blick der Verständigung mit ihrem Bruder gewechselt hatte.
„Ja!“ und „Großartig!“ und „Das ist ein guter Gedanke!“ rief es in der Runde. Man war der Ärztin für diese Anregung dankbar, waren doch die Möglichkeiten der Unterhaltung und Zerstreuung auf einem Raumschiff sehr begrenzt. Ein solches Höhlenfest war mal etwas ganz anderes. Man begann sogleich eifrig Einzelheiten des Festes zu besprechen. Kommandant Kerulen dachte inzwischen schon wieder an den Meteoriten. Er überlegte, daß Kioto Yokohata den Faustkeil mittlerweile bereits geborgen haben müßte. Er schaltete daher die Fernsehkameras ein. Im Bild erschien die kosmische Dunkelheit mit ihrem hauchfeinen Sternenschleier. Mitten auf diesem majestätischen Hintergrund hing der Radarumriß der winzigen Aufklärungsrakete. Sie schien sich nicht zu bewegen. Der Kommandant hatte recht gehabt. Schon eine halbe Minute später erschien hinter der Rakete ein langer, dünner Feuerschweif. Langsam schob sich dieses Bild über den Schirm.
Da meldete sich auch schon der Pilot.
„Hier Kolibri! Meteorit an Bord genommen. Er sieht tatsächlich wie ein Faustkeil aus. Er ist nur nicht so schön glatt und abgegriffen, sondern rauh, schwärzlich und von Quarz durchsetzt. — Ich bin jetzt auf dem Rückweg.“
Norbert Franken schaltete sich ein. Er sandte den Funkleitstrahl aus und gab dem Piloten laufend Anweisungen für das Landemanöver, für die Aufnahme der Kolibri-Rakete in den Rumpf des Raumschiffes.
„Kommt alle mit!“ rief Paro Bacos.“Wir wollen Kioto empfangen.“
Bis auf Oulu Nikeria, der Steuerwache hatte, und Norbert Franken, der die Aufklärungsrakete einwies, verließen die Astronauten den Zentralposten, um zur Katapultkammer zu gehen.
Sie mußten im Vorraum noch etwas warten. Die Aufklärungsrakete war noch nicht eingetroffen. Hinter allen anderen kam, mit etwas Verspätung, der Navigator.
„Ich bin wohl der letzte?“ fragte er.
„Ja, außer Oulu Nikeria und Norbert Franken scheinen alle dazusein“, antwortete Filitra.
Axel Kerulen blickte sich suchend um. „Ist Salamah El Durham hier?“ erkundigte er sich.
Niemand meldete sich.
„Ich habe ihn vorhin im Steuerraum auch nicht gesehen, fällt mir jetzt ein“, sagte Sagitta.
„Ach ja, richtig. Er hatte doch heute nacht Steuerwache“, erinnerte sich der Kommandant.
„Vielleicht hat er die Radarklingel deshalb nicht gehört und schläft noch“, versuchte ihn Filitra zu entschuldigen.
„Wenn Alarm gegeben wird, müssen alle auf ihrem Posten sein“, erklärte der Navigator streng. „El Durhams Verhalten ist unverantwortlich. Er hat sich außerhalb des Kollektivs gestellt.“
„Ihm scheint die Meteoritenjagd gleichgültig zu sein. Ich habe auch schon einige Male bemerkt, daß er seine Arbeit nicht besonders ernst nimmt“, bemerkte Paro Bacos.
Die Debatte um El Durham wurde unterbrochen. Es gab eine kaum spürbare Erschütterung. Dann strömte Luft in die Katapultkammer. Das bedeutete, daß die Aufklärungsrakete da war. Nach zwei Minuten war der Luftdruck ausgeglichen, und die Türen zum Bugraum öffneten sich.
Auch Kioto mußte, nachdem seine kleine Rakete vom Raumschiff aufgenommen worden war, diese zwei Minuten warten. Eben löste er den Verschluß der Ausstiegsluke, um herauszuklettern, als die Tür zum Katapultraum aufging und die Astronauten hereinstürmten.
Kioto begriff sogleich, daß sie gekommen waren, um den eingefangenen Meteoriten zu sehen. Es freute ihn, daß seine Kameraden so bei der Sache waren. Er war also nicht allein draußen im Weltraum gewesen. Alle hatten sie ihn in Gedanken begleitet. Ihm wurde ganz warm ums Herz.
Der Pilot schwang sich aus der Kanzel. Er löste erst einmal seinen Helm und hob ihn vom Kopf. Dann griff er in die Tasche, die von außen zugänglich im Brustlatz des Raumanzuges eingearbeitet war, und holte den Meteoriten hervor. Der Pilot blieb auf der Startrampe stehen und hielt ihn für alle gut sichtbar hoch.
Der Meteorit sah tatsächlich einem Faustkeil sehr ähnlich. Unter den Augen der Astronauten begann sich der Stein zu verfärben. Er wurde zusehends weiß. An dem äußerst kalten Meteoriten schlug sich der in der Luft vorhandene Wasserdampf nieder, der sich sofort zu Eis- und Schneekristallen umbildete.
Einige aus der Runde streckten die Hand nach dem Meteoriten aus. Kioto Yokohata reichte ihn mit einem listigen Lächeln zu Sagitta hinunter. Die Ärztin griff zu, erfreut, den Stein aus dem Kosmos als erste befühlen zu können. Mit einem kleinen Schreckensschrei ließ sie den Meteoriten wieder los.
„Der ist ja ganz heiß“, rief sie, verwirrt auf die Eisschicht blickend. Heftig schwenkte sie ihre Hand hin und her, um die vermeintliche Brandwunde zu kühlen.
Der Pilot lachte. „Sagitta, du irrst. Er ist nicht heiß, sondern kalt, eiskalt, mehr als eiskalt. Deine Gefühlsnerven haben dich getäuscht.“
Jetzt lachten alle. Sagitta lachte mit, weil Kioto sie regelrecht angeführt hatte. Als Ärztin wußte sie selbstverständlich, daß die Gefühlsnerven bei „eiskalt“ genau das gleiche Signal zum Hirn geben wie bei „heiß“. Im Augenblick des Schrecks hatte sie nur nicht daran gedacht.
Der Pilot konnte den Meteoriten ohne Bedenken anfassen, denn auch die Handschuhe des Raumanzuges bestanden aus einem Material, das sowohl Hitze als auch Kälte in sehr starkem Maße abzuhalten vermochte.
„In ein bis zwei Stunden hat er sich akklimatisiert, hat er sich unserer Zimmertemperatur angeglichen“, sagte der Physiker Paro Bacos.
Kioto Yokohata sprang mit dem Stein in der Hand von der Startrampe herab. Er zeigte jedem den Meteoriten. Der „Faustkeil“ bereifte und vereiste jetzt stärker, hervorgerufen durch den Atem der vielen Menschen, die Kioto umstanden. Die weiße Schicht auf ihm war schon zwei bis drei Millimeter dick.
Filitra Goma bedauerte, daß sie den Meteoriten nicht untersuchen konnte. Zu gern hätte sie ihn in ihr Laboratorium mitgenommen, um ihn auf seine chemische Zusammensetzung zu prüfen. Paro Bacos, der Physiker, liebäugelte auch mit dem Stein aus dem Weltraum. Er hätte gern die Dichte und das Gewicht sowie die radioaktive Ausstrahlung des Meteoriten festgestellt.
„Also, wie ist es? Bleibt es dabei?“ fragte der Kommandant.
„Ja, heute abend feiern wir ein Steinzeitfest“, rief man überall.
Zur festgesetzten Stunde erschienen in den Gängen des Raumschiffes vereinzelt wild aussehende fellbekleidete Gestalten. Sie strebten zur „Höhle“, das war der Raum der Ethik. Dort sollte das Steinzeitfest stattfinden.
Henry Lorcester verließ ebenfalls seine Kabinenwohnung. Unschlüssig blieb er an Filitras Tür stehen. Ob ich sie abhole? überlegte er. Ihm war es schon bald nach seiner Ankunft auf AJ-408 aufgefallen, daß seine Nachbarin so schweigsam und zurückhaltend zu ihm war. Mit allen anderen Besatzungsmitgliedern hatte er bald herzlichen Kontakt gefunden, aber sie war ihm immer ausgewichen. Vielleicht gelang es ihm heute abend, eine Brücke kameradschaftlichen Verstehens zu dieser jungen Astronautin zu schlagen. Kräftig pochte er gegen ihre Wohnungstür.
Die Tür sprang verblüffend rasch auf. Filitra war eben im Begriff gewesen, ihre Kabinenwohnung zu verlassen. Einen Moment stockte ihr der Herzschlag. Ihr neuer Nachbar, Henry Lorcester, stand vor ihr. Es ärgerte sie, daß sie Befangenheit befiel. Was war das bloß? Das kannte sie doch gar nicht an sich?
„Filitra“, sagte er, „wenn es Ihnen recht ist, könnten wir zusammen zum Steinzeitfest gehen.“ Das Mädchen errötete etwas. Sie nickte nur. Einige Augenblicke standen sie sich schweigend gegenüber. Sie versuchte, seinem Blick nicht auszuweichen und ihre Unbefangenheit wiederzuerlangen.
Filitra hatte einfach zwei handtuchgroße elchbraune Pelze mit Klammern auf den Schultern zusammengeheftet. Ein grobgeflochtener Lederstrang, um den schlanken Leib geschlungen, hielt dieses schlichte Gewand zusammen. Unter den Schlitzen rechts und links, wo das Fellkleid nicht zusammengenäht war, leuchtete, von den lose herabhängenden Armen halb verdeckt, die erdbeerrote Farbe des engen Trikots aus Wollkapillare hervor. Das schwarze Haar lag Filitra in weichen Wellen am Kopf und umrahmte ihr goldbraunes Antlitz. Er hatte sie etwas größer in Erinnerung. „Filitra, Sie kommen mir heute so klein vor“, sagte er zu ihr. Sie lächelte und zeigte auf ihre Füße. Tiefschwarze, absatzlose Schuhe aus synthetischem Pantherfell, eher Strümpfen ähnlich, bedeckten den Fuß bis zum Knöchel. Henry schmunzelte. Dann, machte er ihr ein Zeichen.
Leise schlichen sie die Stufen der Treppe zum Hauptgang hinunter. Henry hielt in der Hand eine Steinaxt aus Pappe. Er war nicht sicher, ob man dieses Fest so feiern würde, wie es die ehemaligen Kameraden auf dem Schiff der jungen Generation gefeiert hätten. Deshalb wollte er erst einmal sehen, ob die anderen auch so abenteuerlich maskiert waren.
Lorcester verharrte daher am Fuße der Treppe und kauerte sich nieder. Filitra blieb lauschend hinter ihm stehen. Vorsichtig beugte sich Henry vor und lugte um die Ecke. Erschrocken fuhr er zurück. Ein Paar dunkler Augen hatten ihn angestarrt. Hinter der Ecke am Hauptgang war ein unterdrücktes, glucksendes Lachen zu hören. Henry faßte sich ein Herz und trat vor. Aber sogleich sprang ihn eine andere fellbekleidete Gestalt an und drängte ihn zur Treppe zurück. Filitra unterdrückte einen kleinen Schreckensschrei. Der andere legte den Finger auf die Lippen. Lorcester schaute dem „Steinzeitmenschen“ aufmerksam ins Gesicht. Er erkannte unter dem wüsten Schopf einer Perücke, dem bemalten Gesicht und der Fellbekleidung den Funker. Norbert Franken hatte eine mächtige aus Kunststoff geformte Keule geschultert.
Lorcester atmete erleichtert auf. Filitra und er waren doch nun nicht mehr die einzigen, die sich so ungewöhnlich verkleidet hatten.
Zum gegenseitigen Bestaunen und Begrüßen blieb aber keine Zeit. Auf dem Gang waren Schritte zu hören. Sie entfernten sich in Richtung des Raumes der Ethik. Franken spähte um die Ecke. Dann winkte er mit gekrümmtem Zeigefinger den jungen Engländer und das Mädchen heran.
Sie sahen, wie ein Urmensch in gebeugter Haltung den Gang entlangtrabte. In seiner Hand pendelte ein Holzspeer. Da trat aus einem Seitengang eine zweite solche Gestalt, ebenfalls mit einem Speer bewaffnet. Die beiden gingen aufeinander zu und grunzten. Das sollte wahrscheinlich die Begrüßung sein. Sie begannen sich mehrmals zu umschreiteh, um sich zu betrachten. Schließlich hieben sie sich lachend auf die Schulter. Offenbar waren sie mit ihrer Maskerade zufrieden.
Die beiden gingen nun wieder würdevoll aufgerichtet nebeneinander weiter und verschwanden hinter einer Krümmung des Ganges.
„Wollen wir sie erschrecken?“ fragte Norbert Franken.
Lorcester nickte begeistert. Filitra machte fragende Augen.
Die drei steckten die Köpfe zusammen. Franken beugte sich zum Ohr seiner Gefährten und flüsterte ihnen etwas zu. Lautlos glitten sie bis zu der Krümmung des Ganges, hinter der die beiden soeben verschwunden waren. Dort angelangt, postierten sie sich mitten im Gang. Auf ein Zeichen von Franken stießen sie ein markerschütterndes Gebrüll aus. Dieser fürchterliche Urschrei durchdrang das ganze Schiff. Er durchlief den Gang von einem Ende bis zum anderen, brach sich hallend an den Wänden, Ecken und Biegungen und kehrte als ein zerstückeltes Echo zurück.
Wie elektrisiert fuhren die beiden Speerträger herum. Ihre Gesichter zeigten Schrecken und Verblüffung.
Die Speerträger waren Kerulen und Mirsanow, die beiden am meisten geachteten Männer der Besatzung des Asteroidenjägers. Das hatten Franken, Lorcester und Filitra Goma allerdings nicht vermutet. Ihr Schrei blieb ihnen vor Überraschung in der Kehle stecken. Betreten sahen sie sich an.
Aber Kerulen zeigte sich trotz des Schrecks sehr vergnügt. Er sagte einfach: „Weitermachen!“ und zwinkerte dabei freundlich mit den Augen.
Den Trägern von Keule und Steinaxt blieb nichts weiter übrig, als noch einmal aus Leibeskräften zu brüllen.
Mehrere Kabinentüren gingen auf. Die Schreierei hatte die Neugierigen hervorgelockt. Kerulen kam dadurch auf eine Idee. Er forderte zu einem Umzug von Kabinentür zu Kabinentür auf, um die Säumigen zu sammeln.
So zog also die Gruppe der Steinzeitmenschen los. Vor jeder Kabinenwohnung lärmte man tüchtig, mit Axt und Keule gegen die Tür pochend. Jeder neue „Neandertaler“ wurde mit lautem Hallo begrüßt. Bald war der Umzug zu einer stattlichen Gesellschaft angewachsen.
Die Weltraumfahrer, sonst ernste Wissenschaftler und sachliche Astronauten, waren wie ausgewechselt. Auf allen Gesichtern lag glänzender Frohsinn, und man war zu jedem Scherz bereit. Der Kosmos hinter den stählernen Wänden war vergessen.
Besonders turbulent wurde der Pilot Kioto Yokohata begrüßt. Er war gewissermaßen der Held des Tages. Sein Faustkeil stand im Mittelpunkt des Interesses. Der Meteorit war das einzige echte Requisit des Abends.
Eine alte Sitte der Vergangenheit nachahmend, wurde er wie ein Orden auf ein Kissen gelegt, und dann trug ihn Kioto Yokohata, gewollt feierlich schreitend an der Spitze des Festzuges zur Höhle.
Filitra und Henry waren im Trubel des Umzuges getrennt worden. Diesmal war es Filitra, die sich ihres Nachbarn erinnerte und sich zu ihm durchschlängelte. So kam es, daß sie beide Seite an Seite im Festraum eintrafen.
Henry Lorcester, Filitra Goma, Norbert und Sagitta Franken, Oulu Nikeria, Kerulen, Mirsanow, Yokohata, Rai Raipur und all die anderen Weltraumfahrer staunten beim Einzug in die Höhle. Der Raum der Ethik hatte sich sehr verändert. Acht der siebenunddreißig Astronauten hatten die Gemeinschaftskabine mit viel Fleiß ausgestaltet. Sie sollte wie die Behausung von Höhlenmenschen aussehen. Das war auch recht gut gelungen, nur, es war eine recht moderne Höhle geworden.
In der Mitte des Raumes züngelten die Flammen eines künstlichen Feuers. Die Decke und die Wände waren verkleidet. Sie wirkten wie nackter, rauchgeschwärzter grauer Fels. An einigen Stellen waren Höhlenzeichnungen, vor allem wilde Tiere darstellend, angebracht. Aber diese ganze düstere Romantik wurde von indirektem elektrischem Licht gedämpft erhellt.
Selbstverständlich hatten die Ausgestalter die Höhle darauf verzichtet, die für echte Höhlen unerläßlichen Knochen und Schädelreste erlegter Tiere aus einer Plastmasse zu imitieren und in dem Raum zu verstreuen. So etwas wäre ein grober Verstoß gegen das ästhetische Empfinden der Menschen im Raumschiff gewesen.
Dafür lagen einige Geröllbrocken und mehrere Felstrümmer herum. Das waren in Wirklichkeit geschickt umkleidete Polsterhocker und Polsterbänke. Sessel und Tische hatte man weggeräumt. Auch die Zimmerpflanzen waren für mehrere Stunden entfernt worden. Ringsum an den Wänden lagen synthetische Felle und Pelze mehrfach übereinander ausgebreitet.
Die an einigen Stellen des Raumes bereitgestellten Gläser, Kelche, Teller und Schalen mit Eßwaren, Früchten und Naschwerk sowie Flaschen mit Wein und anderen Getränken erinnerten jedoch an die Wirklichkeit. Selbst der Duft mehrerer großer Stücke Fleisch, die wie in uralten Zeiten auf einem Spieß steckten und gebraten wurden, täuschte nicht über die hohe Zivilisation der Gegenwart hinweg; denn dieses Fleisch wurde mit infraroten Strahlen und hochfrequenten Strömen schmackhaft zubereitet.
Auch die Musik, die die Höhle leise durchdrang, die wohlige Wärme der frischen, regenerierten Luft und vor allem die großen überschlanken Gestalten der Menschen mit ihren zwar improvisierten, aber dennoch fast elegant wirkenden Pelzbekleidungen, ihren grazilen Gliedern, ihrer hohen Stirn und die durchgeistigten und zugleich sportlich-braunen gesunden Antlitze ließen das neue Jahrtausend, das Jahrtausend wahrer Menschlichkeit, unleugbar gegenwärtig sein.
Diese modernen, neuen Menschen hatten trotzdem viele Ähnlichkeiten mit ihren Ahnen aus fernster Vergangenheit. Sie nutzten wie diese die Geschicklichkeit ihrer Hände, die wunderbare Tätigkeit ihrer Hirne und die Macht des Feuers, aber diesmal des atomaren Feuers. Die Astronauten waren wie die Urmenschen eine auf Leben und Tod miteinander verschworene kleine.Gemeinschaft, die sich den rauhen Kräften ihrer Welt gegenüber behaupten mußte. Was sie besaßen, das hatten sie gemeinsam und das teilten sie sich redlich: ihre Aufgaben und ihre Arbeit, Gefahr, Glück und Freude, Leid und Schmerz. Was sie unternahmen, das taten sie gemeinsam. Nur vollzog sich dies alles auf der höheren Organisationsund Geistesstufe Vernunft- und verstandesbegabter Wesen.
Das Steinzeitfest der Astronauten begann. Zuerst wurde eine Taufe vollzogen: Für die Dauer des Festes legte sich die Festgesellschaft einen Sippennamen zu. Sie nannte sich einfach die „Sternschnuppen-Sippe“. Henry Lorcester hielt dazu eine kurze lustige Rede, so wie er es vom Raumschiff der jungen Generation her gewohnt war. Dann schlug er jeden einzelnen durch einen Schlag mit seiner Axt zum Sippenmitglied. Schließlich mußten alle Höhlenmenschen noch eine „Mutprobe“ ablegen, um sich der Sippe „würdig“ zu erweisen. Man mußte entweder ein großes Stück Fleisch verzehren oder mit voller Fellbekleidung über das künstliche Höhlenfeuer springen.
Henry Lorcester, froh darüber, daß sich Filitra an seiner Seite hielt, ihre Zurückhaltung abgelegt und als letzte seine Zugehörigkeit zur Besatzung von AJ-408 anerkannt hatte, faßte kurz entschlossen ihre Hand und zog sie zum Feuer. Sie lief mit ihm auf die Flammen zu und stieß sich kräftig ab. Ihr gemeinsamer Sprung gelang.
Zum Schluß dieser Taufzeremonie, bei der das Lachen angesichts mancher urkomischen Sprünge kein Ende nehmen wollte, wurde, der Faustkeil zum Wahrzeichen der „Sternschnuppen-Sippe“ erklärt.
Dann begann das große Festmahl. Das Fleisch am Bratspieß war inzwischen gar gegrillt. Die Sippenmitglieder zückten Messer und Gabel und schnitten sich Fleischstreifen vom Spieß. Aus Mangel an steinernen Schneidwerkzeugen mußte man sich wohl oder übel der vorhandenen Tischbestecke bedienen, obwohl sie die Illusion eines steinzeitlichen Festes beeinträchtigten. Manche wagten es deshalb, ihr Fleisch aus der Faust zu essen. Auch den anderen Herrlichkeiten, dem Wein und dem Obst, wurde ausgiebig zugesprochen.
Nach dem Essen führten Norbert Franken und Axel Kerulen aus dem Stegreif eine Jagd auf einen Höhlenbären vor. Der Faustkeil, mit dem sich der Kommandant bewaffnet hatte, und die Keule des Funkers waren die Waffen im Kampf gegen das Ungetüm. Die beiden Männer entpuppten sich als Könner der Pantomime. Der Beifall, den sie für ihre Vorführung ernteten, war groß. Dann ging der Meteorit noch einmal von Hand zu Hand. Er wurde bestaunt, bewundert und gefürchtet. Man hielt etwas in der Hand, was bei einer Begegnung im freien Weltraum den Tod für viele Astronauten bedeuten konnte.
Filitra ließ sich, nachdem auch sie noch einmal den Stein aus dem Kosmos betrachtet hatte, ermüdet vom festlichen Treiben, auf ein Fell an der Wand nieder. Während ihr Blick zu der hohen Kuppel des Felsgewölbes schweifte, dachte sie über sich nach. War es recht von ihr, sich heute abend nur einem der Kosmonauten anzuschließen? Durfte sie hier draußen im Kosmos einen bevorzugen und ihm mehr Freundschaft und Kameradschaft entgegenbringen als allen anderen? Wollte Henry überhaupt von ihr bevorzugt werden, und sei es nur heute? Der Abend mit ihm war bisher nett gewesen. Er würde ein guter Bordkamerad werden. Sie hatten zusammen gegessen und getrunken, getanzt, gesungen und geplaudert. Filitra hatte auch schon früher mit anderen Astronauten gegessen, getrunken, getanzt, gesungen und geplaudert. Alle hatten sich bemüht, ihr, die sie die Jüngste hier an Bord war und dazu noch neben Sagitta das einzige Mädchen, Kamerad zu sein und sie zu achten. Auch Henry war kameradschaftlich, und sie fühlte, daß auch er sie achtete. Das war in einer für lange Zeit auf engem Raum lebenden Gemeinschaft sehr wichtig.
Henry hatte inzwischen die Höhlenzeichnungen betrachtet. Er wandte sich jetzt davon ab, durchquerte den Saal und schlenderte auf sie zu, vorbei an plaudernden Gruppen, die beisammen saßen oder standen. Plötzlich ließ die Schwerkraft nach. Das künstliche Gravitationsfeld des Raumschiffes schwand zusehends. Die Menschen verloren ihr Körpergewicht. Der Boden rutschte ihnen unter den Füßen weg. Es gab kein Oben und kein Unten mehr. Der Pilot griff zuerst nach dem Meteoriten. Er wollte verhindern, daß er unkontrolliert durch den Raum schwebte. Es gelang ihm, sich an dem Griff einer Frischluftklappe festzuhalten. Der Inhalt eines Weinglases entleerte sich, schwebte auf ihn zu, klatschte ihm ins Gesicht, zerstob und verklebte ihm die Augen.
Kerulens erster Gedanke galt der Steuerwache. Hoffentlich war sie auf dem Posten. Drohte Gefahr? Gespannt lauschte er. Aber das erwartete Alarmsignal des Pilotrons ertönte nicht.
Filitra war eben im Begriff gewesen aufzustehen. Die Muskelkraft ließ ihren Körper raketengleich zur Decke der Höhle emporschnellen. Henry griff zu und erwischte gerade noch Filitras Füße. Sie wirbelten, einander festhaltend, durch den Raum. Mehrmals stießen sie heftig irgendwo an.
Überraschend erlosch das Licht. Auch das noch, dachte Kerulen, der sich an der Türklinke festhielt. Mitten in das Durcheinander der Dunkelheit tönte die Stimme der Steuerwache: „Keine Gefahr. Das ist ein Scherz von Paro. Er hat zuviel Wein getrunken, glaube ich.“
Gleich darauf ging wieder das Licht an, und auch die Schwerkraft kehrte langsam zurück. Der Kommandant wußte nicht, sollte er nun ärgerlich über diesen recht zweifelhaften Scherz sein, oder sollte er über diese weinselige Ungezogenheit eines sonst zuverlässigen erfahrenen Kosmonauten lachen.
Kerulen sah sich um.
Franken, der an der Decke herumspazierte, Mirsanow, dem seine Pelzverkleidung über die Ohren gerutscht war, Oulu und Sagitta, die sich an die weiße Säule geklammert hatten, Henry und Filitra, die mitten durch den Raum trudelten, Rai Raipur, der sich unsinnigerweise an einer leeren Weinflasche festklammerte, und alle anderen begannen sanft zum Boden zurückzugleiten. Dieser Anblick war so belustigend, daß Kerulen lachen mußte. Auch die anderen stimmten mit ein. Paro Bacos' Scherz war zwar etwas grob, aber alle waren froh, daß keine Havarie die Ursache für die kleine Episode war.
Schnell wurde gemeinsam die entstandene Unordnung beseitigt. Herumliegende Gläser, Teller, Schalen, Früchte und Flaschen wurden aufgesammelt und auf ihre Plätze zurückgestellt. Aus etlichen Gläsern hatte sich der Wein bei der Schwerelosigkeit entleert. Er hatte sich in viele tausend winzige Tröpfchen aufgelöst und im Raum verteilt. Er benetzte nun die Wände, die Gegenstände und die Menschen.
Als Paro Bacos lächelnd wieder die Höhle betrat, wurde er zwar ausgepfiffen und tüchtig durchgebeutelt. Aber dann ging das Steinzeitfest der Astronauten noch viele Stunden bei Tanz, Musik, Spiel und Plauderei weiter.
Es gab nur einen Astronauten, der bei dem ganzen festlichen Treiben nicht so recht froh werden konnte. Das war der Triebwerksingenieur Salamah El Durham. Man merkte ihm an, daß er irgendwie bedrückt war. Ein stiller Beobachter hätte denken können, er sei wegen seiner nachlässigen Dienstauffassung bestraft worden. Das war aber nicht der Fall.
Fast jeder von der Besatzung des Asteroidenjägers hatte in der letzten Zeit irgendeine kleine Beobachtung gemacht, die ihn an der Zuverlässigkeit des Arabers zweifeln ließ. In der letzten Nacht aber, als El Durham bei dem Meteoritenalarm einfach in seiner Kabine geblieben war, hatten sich auch bei den größten Optimisten ernste Befürchtungen eingestellt. Dennoch hatte niemand bisher ein Wort über diesen Zwischenfall verloren. Es war selbstverständlich auch keiner auf die Idee gekommen, den Triebwerksingenieur deswegen von dem Fest auszuschließen.
Dennoch fühlte El Durham, daß etwas nicht in Ordnung war. Er ahnte auch, was der Grund für die Verstimmung der anderen sein konnte. Das alles bedrückte ihn. Er spürte es, wie er hier und dort gemieden oder geflissentlich übersehen wurde. Er spürte, daß dies nicht sein Fest war. Wenn er in sich hineinhorchte, empfand er, wie gleichgültig ihm im Grunde dieses Fest um den ersten Meteoriten war. Und trotzdem fühlte er sich unglücklich darüber, daß er in der Gemeinschaft der Astronauten einen Platz am Rande erhalten hatte.
Salamah El Durham war der einzige stille Teilnehmer an den Vergnügungen der „Sternschnuppen-Sippe“. Er machte nur zum Schein mit. Sein Lachen war erzwungen, sein Lächeln gequält. Oft saß er unbeweglich und starrte vor sich nieder. Er horchte in seine innere Leere und hoffte, daß sich irgend etwas in ihm regen möge.
Als er einmal unversehens aufblickte, machte er eine unvermutete Entdeckung. Er begegnete einem Paar heller, klarer Augen, einem zwingenden Blick. Dieser Blick hatte wohl schon lange auf ihm geruht. In ihm war etwas Fragendes, Prüfendes. El Durham war von diesem Blick so betroffen, daß er noch lange danach nur immer diese Augen sah, ohne zu wissen, aus welchem Gesicht sie zu ihm gesprochen hatten.
Der Ingenieur verließ bald darauf das Fest. Kaum jemand bemerkte es. Er wollte jetzt allein sein. Er mußte sich bezwingen und diese Gleichgültigkeit in sich besiegen. Er mußte die Macht einer unsichtbaren Gewalt, die hinter ihm stand und ihn überall belauerte, brechen. Die schwarze gnadenlose Tiefe des Alls war im Begriff, ihn seelisch zu töten.
Er spürte keinen Tatendrang mehr in sich, ihm fehlte die Freude zur Arbeit. Jeder Handschlag war ihm zuviel, jede Überlegung lästig.
Der Araber war in seiner Kabine angelangt. Er warf sich auf sein Bett und stöhnte gequält. Hatte denn niemand von den Kameraden begriffen, in welchem Zustand er sich befand? Kam denn keiner, ihm zu helfen? Sollte er auf sich allein angewiesen bleiben?
Nur der Schlaf kam, ihm zu helfen und ihn zu erlösen. — Irgendwann nach langer Zeit, Stunden mochten vergangen sein, erwachte El Durham allmählich. Langsam stieg sein Bewußtsein aus der Tiefe traumlosen Schlafes zur Oberfläche des Wachseins, des Begreifens empor. Gleichzeitig stiegen hinter seinen noch schlafschweren Lidern traumhaft schön die schlanken, himmelhoch ragenden Laubsäulen grüner Pappeln in einem taufrischen, sonnigen Morgen empor. Er ahnte Gutes. Dieses Traumbild konnte nur Gutes bedeuten. Eine Stimme sprach leise zu ihm. Es war eine Frauenstimme. Der Araber wagte nicht, sich zu rühren. War diese Stimme Traum oder Wirklichkeit? El Durham ließ die Augen geschlossen und versuchte, den Sinn der Worte zu erfassen. Zunächst erkannte er voller Verwunderung diese Stimme. Es war die der Ärztin.
Sagitta hatte sich nach dem Ende des Festes mit einigen Astronauten über Salamah El Durham beraten. Sie fühlte, daß sie jetzt als Arzt eingreifen mußte. Man gelangte übereinstimmend zu der Auffassung, daß den Araber der Aufenthalt im Weltraum deprimiert habe. Es wäre gut, so meinten Kerulen, Franken und Nikeria, ihn noch einige Tage zu beobachten. Dann trennte man sich. Sagitta aber war entschlossen, sofort zu handeln. Sie hatte El Durham schon einige Zeit beobachtet. Ihre Diagnose war gestellt. Sie war sich darüber klar, was nun zu tun war, welche Heilmethode zu wählen war. Sie wollte ihm — ein Märchen erzählen.
Sagitta ging den langen zentralen Gang entlang, bis sie vor der Tür El Durhams stand. Sie drückte auf den großen Schaltknopf des Türmechanismus. Die Tür öffnete sich, und das Licht flammte auf. Die Ärztin trat ein. Hinter ihr schnappte die Tür wieder zu. Sie erblickte den Araber, der in voller Kleidung, mit dem Gesicht nach unten, quer über seinem Bett lag. Sie trat heran, beugte sich über ihn und erkannte, daß er fest schlief. Das war ein gutes Zeichen. Sagitta dämpfte das Licht und begann dann leise auf den Schlafenden einzusprechen.
Sie hatte sich einen Sessel herbeigezogen und saß unbeweglich. Es war, als sei niemand da. Nur ihre Stimme hing im Raum, und diese Stimme erzählte vom Fest der Astronauten. Sorgsam beobachtete sie dabei den Schläfer. Nach etwa zehn Minuten bemerkte sie, wie er allmählich erwachte. Als sie sicher war, daß er sie hörte und verstehen konnte, begann sie das Märchen zu erzählen, das Märchen von den drei Zauberern und ihrem Zyklopen:
„Es waren einmal drei große Zauberer. Sie wohnten hinter hohen Bergen in drei gläsernen Hallen. Der erste Zauberer, der klügste, hatte stets weiße gewänder an. Er bewohnte die kleinste Halle. Der zweite trug nur eine schwarze Hose und war sonst nackt vom gürtel an. Sein Haus war dreimal größer. Er war der stärkste, und er verstand es, zu den klugen Ideen des ersten die Zauberinstrumente aus dem Gestein der Berge zu erschaffen. Der dritte Zauberer, von gestalt der größte, war von den dreien der wichtigste, denn er trug die blauen Gewänder. Sein reich war die größte der drei Hallen aus Glas, die dreiunddreißigmal größer war als die des ersten Zauberers.
Eines tages beschlossen diese drei großen Zauberer, eine Zaubermaschine zu bauen, die ihnen das tägliche einfache zaubern abnahm, denn die alltägliche einfache Zauberei nahm ihnen viel Zeit, so daß sie nicht genug Stunden hatten, um die geheimnisse der großen Zauberei zu enträtseln.
So setzte sich der erste Zauberer, der im weißen Kittel, hin und sann über diese schwere Aufgabe nach. Schließlich nahm er seinen kleinen Zauberstift und schrieb Zaubersprüche und Zauberformeln auf viele kleine blätter weißen Papiers. Dann endlich ergriff er seinen großen Zauberstab und ging zu einem großen Blatt Papier von noch weißerer und reinerer Färbe, das auf einem großen Tisch befestigt war. Da erschienen auf diesem großen Blatt Papier auf geheimnisvolle weise Kreise, Linien und Kurven, mit vielen Ziffern versehen.
Oft warf der Zauberer bei seiner Arbeit durch das gläserne Dach seines gläsernen Hauses einen langen, nachdenklichen Blick zu den hohen, mit grünen Nadelwäldern bewachsenen Bergen und zu den noch höheren mit Eis und Schnee bedeckten Gipfeln, die von fern das tal der drei Zauberer bewachten. Und jedesmal, wenn ein großer bogen Papier mit Kreisen und Kurven bedeckt war, erschien die Sonne hinter einer Wölke. Sie schaute sich das werk des weißen Zauberers an und malte dann und wann noch einen goldenen Kringel oder eine goldene Linie mit goldenen Ziffern hinzu. Auf diese weise war bald viel kleines und großes Papier mit magischen kreisen, Linien und formeln bedeckt.
Als der erste Zauberer seine Arbeit getan hatte, kam der zweite, der in den schwarzen hosen und nackt vom gürtel an. Er nahm das ganze Papier mit. Zu hause in seiner dreimal größeren Halle begann er nach den zauberzeichen auf dem Papier die Zaubermaschine zu bauen, wobei er immer wieder die klugen Ideen des ersten Zauberers bewunderte.
Oft sah er mit angestrengtem Blick durch den gläsernen Fußboden seiner gläsernen Halle, um in der dunklen Tiefe der Erde das richtige gestein zu entdecken. Er grub es aus und verwandelte es unter viel mühe in die großen und kleinen Teile, aus denen er dann die Zaubermaschine zusammensetzte. Sein wichtigster Helfer war das Feuer, das er gebändigt hatte und das in einer ecke der Halle unter rauschen und prasseln in hohen Flammen loderte. Zum schluß seiner Arbeit, am 333. tag, hüllte er die Zaubermaschine in ein riesiges Tuch ein.
Endlich kam der dritte Zauberer, der größte und wichtigste, der in den blauen Kleidern. Er schaffte die Zaubermaschine in seine dreiunddreißigmal größere Halle. Und als das Tuch zu boden sank und die geheimnisvolle Zaubermaschine enthüllte, da stand in der weiten Halle ein gigantischer, stählerner Zyklop. Der Zauberer im blauen gewand ergriff seinen Zauberstab, schwang ihn und rief, wobei er den Finger auf den elektrischen Einschaltknopf drückte, mit lauter stimme die Zauberworte: zir-ku-bal va-ku-zon!
Da erwachte der Zyklop.
Die Signallampen des riesen glommen wie Augen rot auf, und auf seiner Stirn begannen die Zeiger der Meßinstrumente zu zittern und zu pendeln. Auf Meßschirmen schlängelten grünliche Linien hin und her. Ein leises summen schwoll zu einem tosen, brausen und dröhnen an. Durch die feinen nervenstränge des Zyklopen blitzten fünkchen mit befehlen hin und her. Durch seine Muskeln begannen mächtige Ströme von Energien zu kreisen, und durch seine adern ergossen sich Kaskaden von Öl. In seinen eingeweiden verdaute der Zyklop gewaltige mengen an gestein, Erde und Kohle, und zwischen seinen stählernen Zahnen zermalmte er mit gräßlichem knirschen zahllose Stangen aus Metallen und Kunststoffen.
Der Zauberer in den blauen Kleidern ging am Zyklopen auf und ab. Er beobachtete ihn sorgsam und zog hier eine Schraube und dort eine fest. Er kühlte heiße stellen und beseitigte Verstopfungen, stellte Hebel und drückte auf Knöpfe. Dabei murmelte der blaue Zauberer hin und wieder ein Zauberwort. Dann ging er fort, um sich zusammen mit den anderen zauberem der großen Zauberei zu widmen. Nur ab und zu kam er wieder, um nach dem rechten zu sehen und nach dem dröhnenden puls des Zyklopen zu horchen.
Der Zyklop arbeitete viele tage und jahre. Er schuf den drei Zauberern viele brauchbare und nützliche Dinge, darunter manche Wunderwerke. So konnten die Zauberer fortan nach getaner Arbeit täglich andere Kleider tragen, bunt, warm und leicht. Sie hatten in Hülle und Fülle zu essen und zu trinken. Ihr Zyklop spie Apparate aus, mit denen sie in die Ferne sehen, hören und sprechen konnten, und er zauberte gerate, auf denen die Zauberer unter und über der Erde, in der luft und auf dem Wasser schnell und sicher über Meere zu den anderen ländern und auch zu anderen Sternen eilen konnten.
Schließlich aber waren die Zauberer alt geworden, und kein Zauberwort konnte sie vor dem nahen tod bewahren. Da tat es ihnen leid, daß all ihre Zauberformeln und ihre Zauberinstrumente vergessen werden sollten und niemandem mehr Nutzen bringen würden. Sie luden deshalb die menschen zu sich ein, um diese das zaubern zu lehren. Und die Menschen kamen und lernten. Sie waren gelehrige Schüler. Nur den Zyklopen, den riesen, durften sie nicht sehen.
Bald darauf starb der dritte Zauberer, der in den blauen Gewändern, der, der den Zyklopen beherrschte. Die Herrschaft über den Zyklopen hatte seine Kräfte am schnellsten verbraucht. Nur kurze zeit verging, als auch der zweite Zauberer, der, der aus den Gesteinen der Berge die Zauberinstrumente zu erschaffen wußte, zu Grabe getragen wurde. Nach einiger Zeit zählte auch der erste, der klügste, der die weißen Gewänder trug und der die kleinste der drei gläsernen Hallen bewohnte, nicht mehr zu den lebenden. In seiner letzten Stunde übergab er den menschen den Schlüssel zu der dreiunddreißigmal größeren Halle des Zyklopen.
Als tags darauf die Menschen in die riesige Halle traten, erstarrten sie vor Schreck und Staunen. Vor ihnen stand in dem dämmrigen weiten rund der Halle ein schreckliches Ungetüm, das sie nun beherrschen sollten. Einige von ihnen wollten in ihrer angst das Ungetüm zerschlagen. Sie wurden von denen gehindert, für die der Zyklop ein Gott war. Sie wurden aber auch von denen zurückgehalten, für die das Monstrum vorerst noch ein häßliches Untier, eine gierige Echse war, die gnadenlos ihre stählernen Zähne in die Glieder derjenigen menschen schlug, die unvorsichtig waren und ihr zu Nahe kamen.
Aber nicht lange, da war den Menschen aus dem Gott ein mächtiger, aber gehorsamer diener und aus der schrecklichen Echse ein behutsamer und gutmütiger Elefant geworden. Es war den Menschen gelungen, den Zyklopen vollends zu beherrschen. — Noch lange Zeit trugen die Menschen bei der Arbeit als zeichen dafür, wessen Zauberformel sie gelernt hatten, weiße Kittel oder blaue Kleider.
Und weil die Menschheit unsterblich ist — denn sie hatte ihren Untergang wohl zu verhüten gewußt —, konnte sie noch viele neue Zauberformeln entdecken. Die Menschen schufen bald danach einen neuen, besseren Zyklopen, der ihnen noch mehr wünsche erfüllte.
Du, El Durham, bist auch ein Mensch. Auch du kannst zaubern. Arbeite, zaubere. Arbeite mit uns, wir wollen große Geheimnisse lösen, Geheimnisse des Kosmos. Hilf und unterstütze uns bei dieser Aufgabe.“
El Durham machte eine schwache, unbestimmte Handbewegung. Das war und blieb das einzige Zeichen. Die Ärztin vermochte daraus nicht. zu deuten, ob sie Erfolg gehabt hatte, ob sie dem Gefährten geholfen hatte. Sie schwieg noch etliche Minuten. Dann stand sie auf und ging leise hinaus. In den nächsten Tagen würde es sich zeigen, ob ihre Behandlung richtig war, ob er ihr Märchen verstanden hatte.
El Durham dachte überhaupt nicht über den tieferen Sinn und die Bedeutung des Märchens nach. Er ließ einfach nur die Gegenwart dieser Frau, die Gegenwart eines Menschen, eines Gefährten im All, auf sich nachwirken — eines Menschen, der gut zu wissen schien, was in ihm vorging, und der ihm auf eine ganz einfache und unaufdringliche Weise helfen wollte. Das alles gab ihm Kraft.
Erst lange, nachdem Sagitta gegangen war, entdeckte er den Sinn ihrer Worte, spürte er ihren Stolz auf die Menschen, die sie in ihrem Märchen mit Zauberern verglichen hatte, die mit ihrem Wissen und Können große Macht hatten, solange sie gemeinsam miteinander arbeiteten. Er erinnerte sich an das, was er vergessen hatte: an die Macht der schöpferischen, Werte schaffenden und Werte erhaltenden Arbeit des Menschen, an das sinnvolle Zusammenspiel der Tätigkeit eines jeden einzelnen in der großen menschlichen Gemeinschaft, an die Arbeit, die die Menschen erst zu Menschen gemacht hatte.
Später, als Salamah El Durham die Leere und die Gleichgültigkeit in sich überwunden hatte, fragte er einmal Sagitta, ob noch jemand außer ihr von diesem nächtlichen Besuch und von dem Märchen etwas wisse.
Er fürchtete ein wenig, daß ihn vielleicht dieser oder jener im stillen belächeln würde, weil er wie ein Kind an einem Märchen genesen war. „Nein, niemand“, antwortete sie, ihm voll und offen in die Augen sehend, „außer Oulu. Er ist ich. Wenn ihn einmal das All bedrücken sollte, werde ich ihm auch ein Märchen erzählen.“ Ihre Offenheit überzeugte ihn. Hatte sie ihm doch eben ein großes Geheimnis offenbart.