Der 520. Sonnenkreis

Alle siebenunddreißig Mitglieder der Besatzung hatten sich im Zentralposten, der Kommandozentrale im Vorderteil des Raumschiffes, versammelt. Auf den Gesichtern lag der Ausdruck gespannter Erwartung. Der erste Höhepunkt der Raumreise stand bevor: das Eintreffen bei den Asteroidenjägern.

Als letzter betrat Kommandant Axel Kerulen, ein kräftiger, nicht allzu großer Mann, den hohen, leicht gewölbten Raum. Er warf einen kurzen prüfenden Blick auf die wichtigsten Kontrollinstrumente des Pilotrons, des automatischen Astropiloten. Der Flug verlief planmäßig. Zufrieden ging der Kommandant zum Funk- und Radarpult. „Unser Raumschiff wird in vierzig Minuten seine Einsatzposition erreichen“, sagte er halblaut zu Norbert Franken, dem Funkoffizier. „Senden Sie unser Rufzeichen und stellen Sie die Verbindung mit der Leitrakete her.“

Franken richtete sich rasch in seinem Arbeitssessel auf. Seine langen, schlanken Finger bedienten schnell und sicher eine Anzahl Knöpfe und Tasten.

Aus den in Gruppen beisammenstehenden Besatzungsangehörigen, Männern und Frauen, hatten sich beim Erscheinen des Kommandanten der Ingenieur für die Triebwerke und der Navigator gelöst, um ihre Plätze am Triebwerkspult und am Navigationspult einzunehmen. Die leisen Gespräche verstummten. Stille breitete sich in der Kommandozentrale aus. Norbert Franken konzentrierte sich auf seine Geräte. Er wußte, aus dem Rumpf der Rakete waren soeben kleine Richtantennen automatisch ausgefahren worden. Sie kreisten langsam und suchten, entsprechend den Angaben, die er der Funkautomatik erteilt hatte, ihr Ziel: den Sender der Leitrakete AJ-401.

Auf dem Suchschirm erschien links unten ein helles Fünkchen, das in einem steilen Bogen zur Mitte wanderte. Dort verharrte es. Die gesuchte Funkquelle war gefunden. Sofort schaltete sich der Verstärker ein. Das Fünkchen wuchs schnell an und löste sich in die scharfgezeichneten Buchstaben „AJ-401“ auf. Dabei meldete sich gleichzeitig eine zunächst noch schwache und undeutliche Stimme, die aber zusehends klar und laut wurde:

„Hier AJ-401, Leitrakete der vierten kosmischen Flottille!“ Die Stimme wiederholte einige Male diesen Satz, bis über dem Suchschirm ein gedämpftes grünes Licht aufleuchtete. Die Verbindung war hergestellt. Die Funkautomatik der viele Millionen Kilometer entfernt fliegenden Leitrakete hatte den Anrufer gefunden und sich auf ihn eingestellt.

„Hier AJ-408“, meldete sich der Funkoffizier. „Hier AJ- 408! Meldung an den Leiter der Flottille: AJ-408 erreicht Operationsgebiet. Wir erbitten Einweisung in den Verband.“

„Hier AJ-401. Der Kommodore der Flottille bittet Kommandant Kerulen um die Fluginformation“, antwortete die Leitrakete. Die fast gedrungene Gestalt des Kommandanten beugte sich leicht über das Mikrophon. Sein Blick verriet innere Sammlung und Konzentration.

„Hier AJ-408, Kommandant Kerulen. Ich melde Ihnen, Genosse Astro-Kommodore, unser Eintreffen im Operationsgebiet. Die Besatzung ist wohlauf. Das Schiff ist einsatzbereit, die technischen Einrichtungen funktionieren einwandfrei. An Bord befinden sich die befohlenen Sonderausrüstungen zur Vernichtung von Meteoriten sowie montagefertige Apparaturen zur Errichtung von Funkwarnfeuern auf Asteroiden und Planetoiden. Besatzung und Schiff sind für die Dauer von zehn Monaten Ihrem Kommando unterstellt. Die für diese Zeit notwendigen Vorräte an Wasser, Luft und Lebensmitteln sind entsprechend den kosmischen Sicherheitsvorschriften in doppelter Menge vorhanden. Die Vorräte an spaltbarem Material zur Erzeugung von Energie für die Triebwerke und die Gravitationsmaschinen sind in dreifacher Menge eingelagert. Unsere gegenwärtige Geschwindigkeit beträgt, auf die Sonne bezogen, genau 45 Kilometer in der Sekunde. AJ-408 hat zum festgesetzten Zeitpunkt die Basis auf dem Mars in Richtung Jupiterbahn verlassen. Der Anflug zu unserem Operationsgebiet zwischen Mars- und Jupiterbahn verlief ohne besondere Vorfälle. Anschließend wird Ihnen, Kommodore, unsere Besatzungsliste mitgeteilt. Sie werden auf ihr bewährte Mitarbeiter vorfinden, die bereits das zweite und dritte Mal im Kosmos an der Lösung unserer gemeinsamen Aufgabe teilnehmen.“

Der Kommandant machte eine kleine Pause. Er wandte sich nach den im Hintergrund des Raumes wartenden Besatzungsmitgliedern um und lächelte einigen von ihnen ermutigend zu, bevor er in seinem Bericht fortfuhr: „Ich möchte jetzt aber vor allem vier Besatzungsmitglieder nennen, die zum erstenmal in ihrem Leben unseren Heimatplaneten, die Erde, verlassen haben. Es sind dies die Chemikerin Filitra Goma aus dem südamerikanischen Kulturbereich, der Elektroneningenieur für die Steuer- und Regeltechnik Rai Raipur aus dem indischen Kulturbereich, der Japaner Kioto Yokohata, Pilot für die kleine Aufklärungsrakete, aus dem fernöstlich-asiatischen Kulturbereich, und der Mathematiker Oulu Nikeria aus dem zentralafrikanischen Kulturbereich. Besonders diese jungen Kosmonauten sehen mit großer Ungeduld der ersten Begegnung mit Meteoriten und ihrer Bekämpfung entgegen. Ich schließe damit meinen Bericht und erwarte Ihre Angaben.“

Während der Funkoffizier das Elektronenband mit der Besatzungsliste aus dem Funkspeicher zur Leitrakete überspielte, machte sich im Zentralposten eine steigende Spannung bemerkbar. Alle Kosmonauten ersehnten nach Jahren der Vorbereitung und nach Monaten des Anfluges von der Erde bis zum Mars und dann weiter darüber hinaus einen Auftrag, der der aufgespeicherten Tatkraft freien Spielraum gab. Sie alle wußten, daß solch ein Auftrag, so feierlich er ihnen auch diesmal übergeben werden würde, im Grunde genommen nur in wenigen sachlichen Worten bestand; denn unter den Weltraumfahrern war es selbstverständlich und oft geradezu lebensnotwendig geworden, nur kurze und präzise Hinweise und Mitteilungen auszutauschen.

„Gruß unserer Erde!“ klang es ernst und feierlich aus unsichtbaren, geschickt verborgenen Tonträgern. Das war der Gruß der Kosmosfahrer, den der Kommodore von seiner Leitrakete aus mit ruhiger fester Stimme der Besatzung des Raumschiffes entbot. „Gruß unserer Erde“ — diese drei Worte enthielten die ganze Sehnsucht und Liebe der Menschen im Kosmos zu ihrem schönen, fernen Heimatplaneten. „Ich heiße euch, Ingenieure und Wissenschaftler des Asteroidenjägers AJ-408, im Namen aller Angehörigen unserer Raketenflottille im Operationsgebiet herzlich willkommen. Mein besonderer Gruß gilt den vier jungen Kosmonauten, die sich nach reiflicher Überlegung sicher nicht ohne Grund unserer schwierigen Expedition angeschlossen haben.

Wir erfüllen hier im Kosmos, fern von unserem Heimatplaneten, als Teil eines großen umfassenden Weltraumsicherungsdienstes eine wichtige Pflicht. Indem wir im Bereich der Meteoritenströme zwischen Mars und Jupiter den interplanetaren Raum nach besten Kräften von den Trümmern eines vor undenklichen Zeiten geborstenen Planeten säubern, helfen wir die Meteoritengefahr, die schrecklichste aller Gefahren der Raumfahrt, vermindern. Unsere Hauptaufgabe ist es, Asteroiden, vom Felsbrocken bis zum Planetoiden, aufzuspüren und sie mit Funkwarnfeuern auszustatten. Nebenbei vernichten wir alle Meteoriten, vom Sandkorn bis zum feldsteingroßen Raumgeschoß, soweit sie uns zufällig begegnen.

Unsere Flottille besteht gegenwärtig aus einundzwanzig Raketen. Wir haben zwischen dem 480. und dem 520. Sonnenkreis eine Suchkette gebildet. Der Abstand von Rakete zu Rakete beträgt 2 Millionen Kilometer. Die Geschwindigkeit der Flottille liegt im Mittel bei 15 Kilometer pro Sekunde. AJ-408 wird AJ-417 auf dem äußersten erdfernsten Kreis ablösen. AJ-417 ist von eurem Eintreffen unterrichtet. Die Flottille sendet ihr nächstes gemeinsames Peilzeichen für Erde und Mars zur nächsten kosmischen Zeit, das ist übermorgen von 0.00 Uhr bis 0.15 Uhr. — Bestätigen Sie die Einnahme der neuen Position auf dem 520. Kreis und damit Ihre Ankunft bei der vierten kosmischen Flottille auch dem B. d. A. — Ich wünsche meinen Kameraden von AJ-408 einen vollen Erfolg.“

Die Stimme des Kommodore war verklungen. Norbert Franken bestätigte den Empfang der Sendung. Dann erloschen die Buchstaben „AJ-401“ auf dem Funksuchschirm. Auch das grüne Signal darüber verglomm. Auf dem Rumpf der Rakete versanken wieder die Antennen in den Leib des Schiffes.

Die Arbeit konnte beginnen.

Während der Kommandant nach diesem Funkgespräch zusammen mit dem Mathematiker, dem Navigator und dem Triebwerksingenieur in der Zentrale blieb, um die Berechnungen für das Einsteuern der Rakete auf den 520. Kosmischen Kreis mit Hilfe des Formax, des großen automatischen Rechenzyklons, durchzuführen, gingen alle anderen in den „Raum der Ethik“, in die große Gemeinschafts- und Erholungskabine im Mittelteil des Raumschiffes. Ihnen blieb noch eine halbe Stunde der Ruhe und der Sammlung. Danach würden sie durch die bevorstehenden Bahnmanöver zur Ablösung des anderen Raumschiffes viel Arbeit haben.

Einige setzten sich in die tiefen und bequemen Ruhesessel, andere gingen nachdenklich auf und ab. Alle beschäftigten sich in Gedanken mit dem Funkspruch und mit den darin enthaltenen Anweisungen. Jeder überdachte seine ihm daraus erwachsenden Aufgaben. Niemand labte sich an dem frischen Lufthauch, der zusammen mit gedämpfter Musik den Raum durchdrang, niemand erfreute sich an der schönen Einrichtung dieser fast saalartigen Kabine, an den geschmackvoll verteilten Pflanzen und an dem warmen und freundlichen indirekten Licht.

Ein oberflächlicher Beobachter hätte glauben können, die Kosmonauten seien zutiefst bedrückt. Vielleicht, weil sie der Kommodore auf dem äußersten Flügel der Flottille, am weitesten in den Weltraum vorgeschoben, postiert hatte. Das traf aber nicht zu. Wer tiefer sah, spürte, wie sich jeder einzelne dieser kleinen verschworenen Gemeinschaft überprüfte und sich selbst verantwortungsbewußt Rechenschaft über seine Verfassung, über sein Können und Wissen, über seine Leistungsfähigkeit und Einsatzbereitschaft gab.

Nach einer Weile erhob sich die Chemikerin Filitra Goma, eine derjenigen, die zum erstenmal mitflogen, aus ihrem Sessel. Sie durchquerte die Gemeinschaftskabine und ging hinüber zu der Ecke des Raumes, in dem die lonika, der sphärische Konzertflügel, aufgestellt war. Dort lehnten Sagitta, die Ärztin, und ihr Bruder Norbert Franken, der Funker, mit verschränkten Armen nebeneinander an einer schlanken weißen Säule, die hier als ein architektonischer Blickpunkt zur Verschönerung des Gemeinschaftsraumes errichtet war. Diese einzelne Säule unterteilte den Raum harmonisch und ließ ihn zudem weiter und größer erscheinen.

Die beiden bevorzugten diesen Platz. Sie liebten es, im stillen Einvernehmen nebeneinander an dieser weißen Säule zu lehnen und ihren Blick in die Ferne zu richten. Sie durchdrangen gewissermaßen die Panzerplatten der Rakete und sprengten so die Enge des Raumschiffes. Sie waren ein eigenartiges Geschwisterpaar. Obwohl Sagitta des Schutzes ihres Bruders nicht bedurfte und obwohl sie so selbständig wie jeder andere hier an Bord war, fühlte sie sich bei ihm besonders geborgen. Im Umgang mit anderen Besatzungsmitgliedern waren sie stets lebhaft und beredt. Trafen sie sich aber in ihrer Freizeit an dieser weißen Säule oder in ihren Kabinen, so redeten sie kaum ein Wort miteinander. Fast immer begnügten sie sich mit dieser schweigenden Gemeinsamkeit. Auch jetzt waren sie wieder in ihre Eigenart verfallen. Ein gerauntes Wort, eine Bewegung mit der Hand oder ein Blick genügten, um sich voll und ganz zu verstehen.

Norbert Franken, in Gedanken versunken, bemerkte, wie jemand herantrat. Er hob seinen Blick und begegnete den fragenden dunklen Augen von Filitra Goma, dem Mädchen aus einer Stadt im Gebiet des ehemaligen Brasilien. „Sage mir, bitte, was bedeuten die drei Buchstaben B. d. A., die der Kommodore zum Schluß erwähnte?“ redete sie ihn an.

Franken nickte ihr freundlich zu. Er brauchte nicht lange zu überlegen; denn er und auch Sagitta waren schon das zweitemal auf Meteoritenjagd, und ihm waren daher solche Bezeichnungen geläufig. „B. d. A. ist eine Abkürzung, die sich bei den Raumfahrern unserer Flottille eingebürgert hat. B. d. A. heißt Befehlshaber der Asteroidenjäger. Dieser Befehlshaber befindet sich in unserer Basis auf dem Mars. Er ist ein erfahrener und befähigter Kosmonaut. Er lenkt von dort aus den Einsatz aller Such- und Raumraketen und unterrichtet uns und auch die anderen Suchgruppen rechtzeitig über besondere Gefahren, zum Beispiel über Kometen, über Sonnenfleckentätigkeit und das damit verbundene sprunghafte Anwachsen von Strahlungen verschiedener Art.“

„Die Basis hält für uns auch die Verbindung zur Erde, sofern der Mars uns näher als der Erdball ist“, ergänzte Sagitta. „Von dort aus werden auch die von der Erde für alle Raumfahrer ausgestrahlten Sendungen des Wissens, der Information, der Unterhaltung und der gefunkten Raumpost mit Richtstrahlern jeweils in das Gebiet des Weltraumes, in dem wir arbeiten, gelenkt. Der B. d. A. sorgt notfalls auch dafür, daß wir in kürzester Zeit zusätzlich ärztliche Hilfe bekommen. Für längere Zeit erkrankte Raumfahrer werden ebenfalls durch seine Entscheidung vor Ablösung des ganzen Schiffes abgeholt und zur Heilung heimwärts transportiert. Schließlich veranlaßt der B. d. A. noch den Aufstieg von Kurier- und Versorgungsraketen vom Mars und von der Erde beziehungsweise vom Mond, die den Asteroidenjägern Ersatzteile und neue Ausrüstungen bei vorzeitigem Verschleiß bringen.“

„Bringt eine solche Kurierrakete auch neue Lebensmittel, Sauerstoff und Kernbrennstoffe?“ fragte Filitra Goma.

„Soweit mir bekannt ist, war das bei Lebensmitteln und bei Sauerstoff noch nie notwendig, denn Lebensmittel und Sauerstoff hat jedes Raumschiff überreichlich an Bord“, sagte Sagitta.

„Bei Kernbrennstoffen ist das allerdings häufiger so, daß sie infolge starken, andauernden Manövrierens bei ganzen Flottillen vorzeitig zur Neige gehen“, berichtete Norbert Franken. „Da sich die Asteroidenjäger bei ihren Suchaktionen weniger als andere Raumschiffe dem antriebslosen Flug überlassen, können, ist ihr Energieverbrauch sehr hoch. Besonders in der Nähe eines Trümmerschwarms wechseln Beschleunigung und Bremsung manchmal tagelang einander ab. Außerdem wird ja auch viel Energie beim Beschuß von Meteoriten durch die konzentrierte Strahlung des Strahlenwerfers verbraucht.“

Inzwischen hatte sich ein Kreis von Zuhörern um die Chemikerin, die Ärztin und den Funker gebildet. Der letzte Satz Norbert Frankens wurde Anlaß zu verschiedenen Vermutungeri über den Zeitpunkt der ersten Begegnung mit Meteoriten.

Filitra Goma behauptete, man werde trotz der modernen technischen Hilfsmittel monatelang suchen müssen, da sich doch nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung die Möglichkeit des Zusammenpralls eines Raumschiffes mit einem Meteoriten nur alle paar Jahre ergebe. Im Innersten ihres Herzens klammerte sie sich an diese theoretische Berechnung. Sie fürchtete sich vor Begegnungen mit Meteoriten und Asteroiden, war aber bemüht, ihre Furcht vor den anderen zu verbergen. Dennoch wurden ihre Augen größer und größer, als sie die Ansichten der anderen Kosmonauten hörte.

Der Pilot der kleinen Erkundungsrakete, Kioto Yokohata, ebenfalls einer der vier kosmischen Erstfahrer, vermutete, daß man spätestens in einigen Wochen einen Meteoritenschwarm aufgespürt haben werde. Aus seinem Blick sprühte der Tatendrang. Man sah es ihm an, daß er sich am liebsten sofort in ein kosmisches Abenteuer gestürzt hätte.

Sicherlich könne man schon in den nächsten Tagen einen Jagderfolg registrieren, hörte man Sagitta sagen. Dabei sah sie Ihren Bruder an. In ihren Augenwinkeln saß der Schalk. Norbert Franken verstand sofort und ergänzte: „Vielleicht entdeckt das Radar schon in der nächsten Minute einen solchen Weltraumsplitter.“ Dieser Optimismus erheiterte alle. Man brach in herzliches Gelächter aus.

Nur Filitra Goma erschauerte bei dem Gedanken an einen eventuell unmittelbar bevorstehenden Zusammenstoß des Schiffes mit einem im All umherirrenden Gesteinsbrocken. Um sich zu beruhigen, wandte sie sich an den Kernphysiker Paro Bacos, ihn nach seiner Meinung über den Zeitpunkt des ersten Zusammentreffens mit einem Asteroiden oder einem Meteoriten fragend.

Paro Bacos, dessen Familie im südeuropäischen Kulturbereich, auf der Balkanhalbinsel, wohnte — seine Vorfahren waren Ungarn —, gehörte zu den alten Hasen. Er flog schon zum drittenmal mit auf Jagd nach Meteoriten. Seit vor acht Jahren sein bester Freund durch ein solches heimtückisches Geschoß aus dem Weltraum zusammen mit der Besatzung einer Forschungsrakete ums Leben gekommen war, stellte er seine Arbeitskraft völlig dem Weltraumsicherungsdienst zur Verfügung.

Der erfahrene und besonnene Raumfahrer spürte die Furcht des Mädchens. Er nahm sich vor, wahrheitsgetreu zu antworten und dennoch sowohl die ängstliche Filitra zu beruhigen als auch den tatendurstigen Kioto nicht zu enttäuschen. „Wir werden uns nicht zu langweilen brauchen“, sagte der Kernphysiker. „Schließlich zirkulieren viele Millionen kleiner und großer Gesteinsbrocken um die Sonne. Fast alle passieren auf dem sonnenfernsten Teil ihrer Bahn den Raum zwischen den Planeten Mars und Jupiter. Außerdem gibt es mindestens 30000 Asteroiden, von denen erst rund 8000 gefunden und mit Funkwarnfeuern versehen worden sind. Unsere Raketenkette durchforscht den Weltraum zwischen Mars und Jupiter zur Zeit in einer Breite von rund 40 Millionen Kilometern. Das hat uns der Funkspruch von AJ-401 deutlich verraten. Die jeweils 2 Millionen Kilometer zwischen den einzelnen Raketen werden vom Radar abgetastet. Auf diese Weise wird kaum ein Tag vergehen, ohne daß wenigstens ein Meteorit entdeckt und gewissermaßen im Vorübergehen ohne die geringste Gefahr für uns beseitigt wird. Die meisten von ihnen sind auf der Ebene der Ekliptik, der Erdbahnebene, anzutreffen. Deshalb bewegen sich auch die Flottillen der Asteroidenjäger hauptsächlich auf der Ebene der Ekliptik.“

Paro Bacos erhob sich von der Armlehne des Sessels, auf der er bis jetzt gesessen hatte, um mit ausgebreiteten Armen darzustellen, wie die Kette der Raketen bei der Suche vorgehe. „Alle ein bis zwei Monate wird erfahrungsgemäß sogar ein ganzer Schwarm von Meteoriten aufgespürt. Dann wird die Raketenkette zusammengezogen.“ Paro Bacos ließ die ausgebreiteten Arme sinken und näherte seine beiden Handflächen einander bis auf wenige Zentimeter. „Das gibt dann stets ein tüchtiges Feuerwerk unter den Sternen, wenn alle Asteroidenjäger nebeneinander, nur mit wenigen tausend Kilometern Abstand, hinter einem solchen Schwarm herrasen und dabei immer wieder die Strahlenwerfer spielen lassen“, sagte er, vergnügt mit de.r Zunge schnalzend. „Diese dichte Postenkette vermag kein Meteorit zu durchbrechen. Die Raumschiffe schirmen sich gemeinsam gegen den Schwarm ab. Sie bieten sich gegenseitig ausreichenden Schutz.“

Drei laute Gongschläge hallten durch das Schiff und unterbrachen seine Darstellungen. Sie riefen den Teil der Mannschaft auf ihren Posten, der jetzt für den Bereitschaftsdienst eingeteilt war. Der Bereitschaftsdienst eilte in die Kommandozentrale. Dort angekommen, schlüpften die Männer in bereitliegende Sicherheitsanzüge.

Jeder der Weltraumfahrer, gleich, ob Techniker oder Wissenschaftler, war in der Lage, an einem der vier Kommandopulte Dienst zu tun. Wenn auch die automatischen Anlagen das Raumschiff im wesentlichen steuerten, so mußte doch der Mensch die Befehle geben und ihre Tätigkeit überwachen. Umgekehrt mußten wiederum die Ingenieure den Wissenschaftlern in ruhigen Flugperioden bei den Forschungsarbeiten assistieren.

Für Paro Bacos bedeuteten diese Glockenschläge, daß er sich in einen besonderen Raum, in das Regelzentrum der Gravitationsmaschinen, begeben mußte. Eine seiner Aufgaben im Raumschiff war es nämlich, das gesamte Gravitationssystem der Rakete zu überwachen und für das einwandfreie Funktionieren dieser Einrichtung zu sorgen, über die gesamte Länge des Raumschiffes waren Anlagen verteilt, die unabhängig von der Masse des Raumschiffes ein künstliches Gravitationsfeld erzeugten. Dadurch wirkte in allen Räumen der Rakete eine Schwerkraft, die der auf der Erdoberfläche etwa gleichkam. Deshalb konnten sich die Weltraumfahrer jederzeit wie auf der Erde bewegen. Das war bei längeren kosmischen Fahrten für das einwandfreie Funktionieren des menschlichen Organismus von großer Wichtigkeit. Früher, bei veralteten Raketentypen, wurde diese Schwerkraft durch Fliehkraft ersetzt, indem man die Raumschiffe um ihre Längsachse rotieren ließ. Das brachte aber eine Komplizierung der astronautischen Probleme mit sich. Die bessere Methode zur Erzeugung von Schwerkraft — die Erzeugung durch Gravitationsfelder-hatte außerdem noch den Vorteil, daß man dieses künstliche Kraftfeld je nach Bedarf sowohl senkrecht als auch parallel zur Längsachse des Raumschiffes wirken lassen konnte. Paro Bacos hatte also eine der verantwortlichsten Aufgaben zu erfüllen. Deshalb hatte er sich, als die drei Glockenschläge ertönten, die den Bereitschaftsdienst riefen, sofort auf einen Kontrollgang durch das Raumschiff zur Überprüfung des Gravitationssystems begeben.

Als alle Steuer-, Kontroll- und Beobachtungsposten in der Steuerzentrale besetzt waren, gab der Kommandant die bevorstehenden Manöver bekannt; seine Worte wurden durch Tonträger in alle Räume des Schiffes übertragen.

„Wir werden zunächst eine geringfügige Korrektur unserer Flugbahn vornehmen. Unsere Rakete ist um etwa 10000 Kilometer von dem vorgeschriebenen Kurs abgewichen“, sagte Axel Kerulen. „Die Korrektur muß vorgenommen werden, um wieder in exakte Übereinstimmung mit der Ebene der Ekliptik zu kommen, auf der sich unsere Flottille bewegt. Dieses kleine Manöver dauert nicht ganz 4 Minuten. Anschließend soll die Rakete in einer großen Kurve auf den 520. Kreis eingesteuert werden. Wir brauchen dazu 20 Minuten und 42 Sekunden. Drittens soll unsere Reisegeschwindigkeit der der Flottille angepaßt und von 45 auf 16 Kilometer je Sekunde abgebremst werden. Am Schluß der Geschwindigkeitsverringerung befinden wir uns dann in der Nähe von AJ-417. Wir wollen mit unseren Kameraden dort Kontakt aufnehmen und alles zu ihrer Ablösung vorbereiten. Im Augenblick fliegt AJ-417 noch rund 130000 Kilometer von uns entfernt.“

„Wie groß wird der Faktor g und die damit verbundene Gewichtszunahme unseres Körpers sein?“ erkundigte sich der Elektroneningenieur, der Inder Rai Raipur, der vor den Radarschirmen saß.

„g wird nicht mehr als 1,8 erreichen“, antwortete ihm Oulu Nikeria, der schwarze Mathematiker, der noch vor der Tastatur des Rechenzyklons saß, wo er die Flugbahn der Rakete für die Manöver berechnet hatte. „Die Flugbahnkurve ist in jedem Fall groß genug gewählt.“

„Das bedeutet“, ergänzte Kommandant Kerulen, „daß niemand die Konturensessel aufzusuchen braucht. Auch dann nicht, wenn die Bremsdüsen arbeiten. Unser Körpergewicht wird sich nicht einmal verdoppeln.“

Oulu Nikeria erhob sich, um die Kontroll- und Meßkarten für die einzelnen Kommandopulte zu verteilen. Er hatte sie dem Formax, dem elektronischen Rechenzyklon, entnommen, der die Karten nach jeder Flugbahnberechnung automatisch ausdruckte. Auf den Meßkarten standen lange Kolonnen von Zahlen. Sie gaben im voraus die Meßwerte an, die zu einer bestimmten Uhrzeit auf den Skalen der Armaturen abzulesen sein mußten, wenn das Manöver ordnungsgemäß verlief. Eventuelle Abweichungen mußten sofort korrigiert werden.

Während sich die Männer in die langen Zahlenkolonnen vertieften, trat Kerulen an den Pilotron, den automatischen Astropiloten. Das U-förmige Gehäuse des Pilotrons befand sich im Zentrum des ovalen Steuerraumes. Auf seiner polierten Oberfläche waren zahlreiche Hebel, Klinken, Skalen, Knöpfe, Tasten und verschiedenartige Kontrollämpchen angeordnet. Außerdem waren Tabellen, Diagramme, Sicherungen und das Glas mehrerer kleiner Bildschirme und Oszillographen sowie einige Mikrophone und Lautsprecher zu erkennen. Kerulen nahm ebenfalls eine Meßwertkarte, um an Hand der Angaben dem automatischen Piloten die neuen Kurswerte für die bevorstehenden Manöver mitzuteilen. Das Einstellen der entsprechenden Hebel und Klinken und das Niederdrücken einiger Tasten und Knöpfe nahm nur wenige Minuten in Anspruch. Danach blieben noch bis zum Beginn des Manövers einige Minuten Zeit. Kerulen, der die Einstellungen am Pilotron stehend vorgenommen hatte, ließ sich abwartend in seinem Kommandosessel an der offenen Seite des U-förmigen Pultes nieder.

Im großen Steuerraum war es jetzt ganz still geworden. Nur wer genau hinhörte, vermochte das stark gedämpfte zeitweilige Knacken und Klicken der rastlos arbeitenden verschiedenen Automatiken und das leise beständige Summen des Formax festzustellen, der in der Rückwand der Zentrale eingebaut war. Der Kommandant hob seine Hand zu einem der Knöpfe. Die helle Beleuchtung im Steuerraum verringerte sich fast unmerklich um drei Viertel. In dem nun herrschenden Halbdunkel traten um so mehr die grünlich, bläulich und rötlich schimmernden Skalenbeleuchtungen am Pilotron und an den Hilfspulten, dem Navigationspult, dem Triebwerkspult dem Funk- und Radarpult sowie am Förmax und am Helicon hervor. Von den Männern im Sicherheitsanzug waren nur noch die Umrisse zu erkennen. Kerulen wandte sich zur anderen Seite seines U-Pultes, um dort die Tasten für den großen Bildschirm und für die Außenkameras niederzudrücken.

Dieser Bildschirm nahm einen großen Teil der Stirnseite des Steuerraumes ein. Er war über fünf Meter breit und etwa zwei Meter hoch. Kabel verbanden ihn wahlweise mit sechs verschiedenen Gruppen von Fernsehkameras, die am Bug, am Heck und an den vier Seiten der Rakete in die äußere Panzerung eingelassen waren.

Der große Bildschirm erhellte sich langsam. Das All tat sich den Astronauten mit seiner ganzen schwarzen Unendlichkeit auf. über diesen Abgrund waren die gestochen scharfen Fünkchen der Myriaden ferner und fernster Sterne wie ein zur Ewigkeit erstarrter Schleier gebreitet.

Die wenigen Minuten waren verstrichen. Ein hohes, helles Klingen durchdrang warnend alle Räume des Weltraumschiffes. Dies war das Zeichen dafür, daß der Pilotron in einigen Sekunden mit den Kursänderungen beginnen würde.

In den Nachhall des Warntones drang ein dumpfes Rauschen und Brausen. Der Atomantrieb begann zu arbeiten. Steuerdüsen im Heck drückten aus einer Richtung auf die Rakete und änderten ihre Lage im Weltraum. Der Bug des Schiffes neigte sich mehr und mehr. Die starre, sonst unbewegliche Sternenwelt begann sich auf dem großen Bildschirm langsam zu verschieben. Die hellen, gut sichtbaren Sterne im Vordergrund, die bisher am unteren Rand des Bildes standen, verschoben sich zur Mitte, wanderten weiter und verharrten schließlich im oberen Teil des Schirmes. Aber schon nach einer Minute rutschten die hellen Sterne im Vordergrund in umgekehrter Richtung über den Bildschirm, bis sie wieder auf ihrem alten Platz am unteren Rand standen.

Die Rakete hatte ihre alte Lage eingenommen. Der erste Teil des Manövers war ausgeführt. Das Schiff hatte die etwa 10000 Kilometer, die es von der Ebene der Ekliptik abgewichen war, ausgeglichen. Es befand sich jetzt also auf der gedachten, theoretisch angenommenen Scheibe, auf der sich die Erde im Verlauf eines Jahres einmal um die Sonne bewegt. Diese Scheibe war zur besseren Orientierung der Navigatoren der Weltraumschiffe in Gedanken über den Erdbahndurchmesser hinaus bis an den Rand des Sonnensystems verlängert worden.

Sachlich und nüchtern folgten die Männer auf ihren Plätzen den Zeigerausschlägen ihrer Meßgeräte. Mit äußerster Konzentration prüften sie die Angaben der Geräte und verglichen sie mit den Zahlen ihrer Meßkarten. „Meßwerte bisher klar!“ meldete der Navigator. Von den anderen Pulten wurde die gleiche Meldung an den Kommandanten gegeben. Sie bedeutete, daß alle vorher im Formax errechneten Meßwerte mit den tatsächlichen übereinstimmten.

Nur Rai Raipur vom Radarpult teilte kurz mit: „Partikel 20:27, leicht steigend. Meßwerte sonst klar.“

Aus dieser Meldung ging hervor, daß der kosmische Staub, Mikrometeorite von wenigen tausendstel Millimeter Durchmesser, geringfügig zugenommen hatte. Die entsprechende Meßapparatur, die zuvor 20 Zusammenstöße des Raumschiffes pro Minute mit Mikrometeoriten registriert hatte, zeigte jetzt 27 Zusammenstöße an. Der Zeiger stand aber trotzdem noch tief unter der Warnmarke; denn die Mikrometeoriten durchschlugen infolge ihrer geringen Masse nicht die Außenhaut der Rakete. Sie verwandelten ihre Bewegungsenergie beim Aufprall in Wärmeenergie, so daß jeweils nur eine winzige Menge Metall des Schutzpanzers der Rakete verdampfte.

Der Pilotron kündigte durch das helle, hohe Klingen den Beginn des nächsten Manövers an. Er steuerte das Raumschiff in einem weiten Bogen nach links auf den 520. Sonnenkreis ein, also auf eine kreisförmige Flugbahn, die in einem Abstand von 520 Millionen Kilometern um die Sonne führen würde. Die hellen Vordergrundsterne wanderten jetzt langsam von links nach rechts über den großen Bildschirm. Neue Sterne erschienen am linken Bildrand, überquerten den Schirm und verschwanden wieder am rechten Rand.

Der Navigator war aufgestanden und zu einem großen Tisch getreten, auf dem Sternkarten ausgebreitet lagen. Sorgsam verglich er die Sternkarten mit dem Fernsehbild.

Schließlich machte er sich an seinem feststehenden, zur Schiffsachse justierten und auf den Fernsehschirm gerichteten Projektor zu schaffen. Er entnahm einer Kassette, die den mikrofilmierten Sternenkatalog vollständig enthielt, eine bestimmte Himmelsaufnahme der Äquatorzone, um sie in den Projektor einzulegen. Dieses Bild mußte im gegebenen Moment auf den Fernsehschirm projiziert werden.

Fünfzehn Minuten nach Beginn des zweiten Manövers schaltete Kerulen das Bugradar mit auf den zentralen Fernsehschirm. In wenigen Minuten, kurz vor Ende dieser zweiten Kursoperation, würde das wachsame Radarauge der Rakete in Flugrichtung einen unbekannten Körper im Weltraum ausmachen und Alarm geben. Gespannt wartete der Kommandant auf diesen Augenblick. Seine Absicht war es, die Besatzung, vor allem aber die vier Neulinge, einer kleinen Prüfung zu unterziehen. Sicherheitshalber blockierte er den Helicon, den Strahlenwerfer. Damit war zwar das Schiff vorübergehend wehrlos gegen Meteoriten; aber der Pilotron hatte ja noch die Möglichkeit, bei einer unvorhergesehenen Begegnung mit der Rakete auszuweichen. Außerdem flog das Raumschiff bereits in der allgemeinen Richtung der Meteoritenströme, die mit der Richtung der Drehbewegung des Sonnensystems übereinstimmte, so daß die Gefahr eines Zusammenstoßes schon deshalb wesentlich vermindert war. Durch die Blockade des Hilicons war die automatische Abwehr gesperrt und damit die Sicherheit der Rakete AJ-417, die jetzt angeflogen wurde, gewährleistet.

Der Navigator beobachtete nichtsahnend aufmerksam den großen Bildschirm. Die Sterne verschoben sich nur noch ganz wenig, kaum merklich. Der Bogen, den die Rakete im All beschrieb, ging seinem Ende entgegen und wurde immer flacher und flacher.

Von der Mitte des oberen Randes zog sich der breite, schimmernde Streifen der Milchstraße quer über den Schirm bis zur rechten unteren Ecke. In der obersten rechten Ecke, im Sternbild der Leier, glänzte als hellster Stern strahlend die Wega. Nicht ganz so hell, aber sich noch gut aus dem matten Schimmern des Sternenmeeres hervorhebend, leuchteten über das Bild verteilt Sterne wie der Atair im Sternbild des Adlers, die Sirrah im Andromeda, der Scheat im Pegasus und Fomalhaut im Sternbild südlicher Fisch.

Von den 20 Minuten und 42 Sekunden, die zum Einschwenken und Einsteuern auf den 520. Sonnenkreis benötigt wurden, waren mittlerweile 19 Minuten vergangen. Der Navigator schaltete zur optischen Überprüfung des endgültigen Kurses den auf die Schiffsachse geeichten Projektor ein. Auf dem großen Fernsehschirm entstand ein heilloses Durcheinander. Alle Sterne waren jetzt doppelt zu sehen. Langsam ordnete sich das Chaos. Beide Bilder, das Fernsehbild und das projizierte, schoben sich von Sekunde zu Sekunde mehr ineinander. Sobald sie übereinstimmten, war der 520. Kosmische Kreis erreicht.

Plötzlich stutzte der Navigator. Er runzelte die Stirn und starrte überrascht auf den Fernsehschirm, über den linken Rand schob sich ein sehr heller Stern, der nicht in dieses Sternbild gehörte. Dieser helle Unbekannte befand sich bei dem bekannten Stern G 77 in der Nähe des galaktischen Südpols. Das war doch unmöglich.

Im gleichen Augenblick schrillten die automatischen Alarmglocken des Radars ihre Meteoritenwarnung durch alle Räume. Blitzschnell schnallten sich die Männer an.

Kerulen beobachtete aufmerksam seine Gefährten.

Rai Raipur wehrte sich gegen den aufkommenden Schreck. Seine Kiefer preßten sich unwillkürlich aufeinander. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er riß seinen Blick vom großen Fernsehschirm weg zu seinen Instrumenten. Der Entfernungsmesser des Radars schnellte auf der Skala nach rechts und pendelte bei 60000 Kilometern aus. Ungewollt schob sich vor Rais Augen das Bild seiner Lebensgefährtin Intra. Er sah ihre großen, langbewimperten Augen, ihr streng nach hinten gekämmtes schwarzes Haar, das braune Gesicht und die schlanke, zierliche Gestalt in dem weiten, verhüllenden Gewand seiner indischen Kulturheimat.

Die Zahl 60000 drang wieder in sein Bewußtsein. Rai teilte diese Entfernung, nun wieder gefaßt, halblaut den anderen mit. Die Distanz zu dem Radarreflex, der mit 16 Kilometer in der Sekunde flog, verringerte sich verhältnismäßig langsam. Das Raumschiff würde bei seiner gegenwärtigen Geschwindigkeit frühestens in fünfunddreißig Minuten in der Nähe des Radarobjektes sein. Rai Raipur begann an seinen Instrumenten die einzelnen Werte über Richtung, Geschwindigkeit, Größe und Form des Radarobjektes abzulesen. Zusehends erhellte sich der Ausdruck seines Gesichtes.

Oulu Nikeria, der Mathematiker, schnellte auf seinem Drehsessel am Formax herum. Noch sitzend, leicht vorgebeugt, beide Hände fest auf die Armlehnen gepreßt, wirkte seine große kräftige Gestalt wie zum Sprung bereit. Fragend ruhten seine Augen auf dem Gesicht des Kommandanten, bereit, sofort einen seiner Befehle auszuführen.

Seine angespannte Bereitschaft wich einer nicht geringen Verwunderung. Kerulen schien gar nicht an Befehle zu denken. Der Kommandant saß bequem und ruhig mit ungerührter Miene in seinem Sessel am Pilotron. Oulu lauschte gespannt nach dem leisen Summen des Formax. Aber auch das Elektronenhirn blieb bei seinem gewohnten Ton. Im Moment der Gefahr hätte dieses Rechenwerk, das mit dem Pilotron gekoppelt war, doch infolge schlagartig anschwellender Rechenoperationen stark aufsummen müssen.

Am Triebwerkspult zuckten, als das Alarmzeichen ertönte, zwei Hände hoch. Der Ingenieur für die Atomtriebwerke, der Araber Salamah El Durham, wollte instinktiv die Hebel der Bremsdüsen herumwerfen. Auf halbem Wege ließ er wieder die Arme sinken. Er besann sich darauf, daß der Pilotron zusammen mit dem Elektronenhirn schon längst im Bruchteil einer Sekunde seine Entscheidungen getroffen hatte und rechtzeitig reagieren würde. Der Ingenieur hakte noch nicht einmal den breiten Gurt ein, der ihn davor bewahren sollte, bei Abbremsungen des Fluges aus dem Sessel herausgeschleudert zu werden. Es war ihm alles gleichgültig. Ein Anfall von Lethargie hatte ihn wieder einmal gepackt. Dem Navigator schoß es beim Alarmklingeln sofort durch den Kopf: Radarreflex gleich AJ-417. Unwillkürlich mußte er lächeln. Der neue Unbekannte beim Stern G77 war also gar kein Stern, sondern der in das Fernsehbild eingeblendete Radarreflex eines ziemlich großen oder aber sehr metallhaltigen Körpers im Weltraum. Dieser auftauchende Körper mußte AJ-417 sein, das abzulösende Raumschiff.

Inzwischen hatten sich die beiden Bilder auf dem großen zentralen Bildschirm an der Stirnseite der Steuerzentrale überdeckt.

„Rakete auf den 520. Kreis eingesteuert. Neuer Kurs liegt an!“ meldete der Navigator mit völlig ruhiger Stimme. Dann schaltete er den Projektor ab.

Kerulen dankte für die Meldung. Er war mit seinen Beobachtungen in diesen Augenblicken der vermeintlichen Gefahr zufrieden. Keiner seiner Männer im Steuerraum hatte bei der Probe versagt. Niemand hatte im ersten Schreck nervös, fahrig und unüberlegt gehandelt. Jeder hatte auf seine Weise reagiert: menschlich, beherrscht und willensstark. Er konnte ihnen vertrauen und sich auf sie verlassen. Nur El Durham machte ihm Sorge. Dem aufmerksamen Blick des Kommandanten war es nicht entgangen, daß der Araber unangeschnallt im Sessel saß.

Axel Kerulen beugte sich zum Mikrophon für den Bordfunk. „Alarm beendet! Alarm beendet! Radarobjekt als AJ-417 identifiziert. Radarobjekt ist Asteroidenjäger 417.“

* * *

Filitra Goma hatte vor Beginn der Manöver den Raum der Ethik, den großen Gemeinschaftsraum, verlassen. Sie ging in ihre Wohnkabine, um einige Briefe an ihre Eltern und an Bruder und Schwester zu schreiben. Noch hatte sie ihre Furcht vor den Meteoriten nicht ganz überwunden. Der erfahrene und besonnene Paro Bacos hatte ihr die Angst durch seine Erklärungen nicht völlig nehmen können. Die Briefe und die Gedanken an daheim würden ihr guttun und ihr helfen, jede Unsicherheit abzulegen. Diese Briefe sollten mit der heimkehrenden Rakete AJ-417 zur Basis auf den Mars und von dort weiter zur Erde und nach Südamerika gelangen. In zwei Monaten würden Vater und Mutter in ihrem Haus an den Wasserfällen des Iguassu diesen mit eigener Hand geschriebenen Gruß erhalten; in zwei Monaten wollte sie, obwohl unerreichbar fern, bei ihren Lieben weilen; in zwei Monaten sollte daheim das innige Band ihrer unsichtbaren Gegenwart schwingen.

Filitra hätte sich natürlich auch der gefunkten Raumpost bedienen können, aber davon würde sie in den kommenden zehn Monaten noch oft genug Gebrauch machen können. Die sich in einigen Stunden bei der Ablösung der Besatzung der Rakete AJ-417 ergebende Möglichkeit, einen geschriebenen Brief mitzugeben, war vorläufig die letzte Gelegenheit.

Sie scheute sich nicht, diese alte Form des Gedankenaustausches anzuwenden. Sie liebte diese Gepflogenheit vergangener Jahrhunderte. Ein solcher Brief war wie etwas, was lebte und was auch durch seinen Flug in der Leere des Alls seine Wärme und seine Lebendigkeit nicht verlor. Wenn sie auf der Erde einen handgeschriebenen Brief erhielt, so erschien er ihr gegenüber den üblichen, mit Diktaphon geschriebenen Briefen wie ein unersetzliches Kleinod.

Die hohe Wertschätzung handgeschriebener Briefe hatte sich noch unter einem großen Teil der Bevölkerung der Erde erhalten, obwohl es schon seit langem die verschiedensten technischen Mittel, wie Diktaphon, Skriptophon und kleine elektronische Gedankenspeicher, für den persönlichen Gebrauch eines jeden einzelnen gab. Immer wieder tauschten die Menschen handgeschriebene Briefe aus. Sie wurden meist zwischen miteinander sehr Vertrauten gewechselt. Handschriftliche Mitteilungen waren vor allem das heilige Vorrecht Liebender.

Filitra Goma schritt den langen Zentralgang des Raumschiffes entlang. Dieser Gang zog sich vom Hauptbefehlsstand im Vorderteil des Schiffes durch die ersten vier Fünftel des Rumpfes bis zur schweren, dicken Schutzwand vor dem letzten Fünftel der Rakete. Von diesem Gang aus konnte man sowohl die Wohn- und Erholungsräume als auch die Laboratorien und sonstigen Arbeitsräume, die technischen Anlagen, die Werkstätten, die Vorratsräume, kurz — alle Räume und Zellen erreichen, die es im Weltraumschiff gab. Nur der Raum hinter der schweren grauen Schutzwand am Ende des Ganges war unzugänglich. Er enthielt die physikalischen Energieerzeuger, die Atomtriebwerke. Das Betreten des Heckteils der Rakete war nur unter Beachtung besonderer Sicherheitsvorschriften und nach ganz bestimmten Maßnahmen möglich. Für diese Fälle gab es einen engen Einstiegsschacht in der Schutzwand.

Übrigens war der Zentralgang nicht schnurgerade und eintönig, nicht wie eine gleichmäßig von Türen durchbrochene Tunnelflucht. Die Ingenieure hatten auf den Rat der Psychologen hin spiralförmige Windungen, Treppen, kleine Galerien, Überführungen, Knicke und Nischen in den Gang eingebaut. Bei der Ausstattung hatten dann die Architekten diesen Gang durch Lichteffekte, Farben, durchmusterte Wandflächen, Pflanzen, Zeichnungen und Bilder, kleine Skulpturen und Plastiken noch abwechslungsreicher gestaltet.

Filitra erreichte eine runde Erweiterung. In der Mitte sprudelte in einem Becken eine kleine Fontäne. Das Mädchen blieb stehen. Der Miniaturspringbrunnen lud zum Verweilen ein. Sein sprudelndes Glitzern war ein Stück Heimat, verkörperte für sie den Regen, die Quelle in den Bergen, den Strom und die mächtigen Wogen des Ozeans. Filitra riß sich los und ging weiter. Zur Furcht drohte sich Heimweh zu gesellen. Das durfte nicht sein.

Sie stieg die achtzehn Stufen einer Treppe hinauf, die zu zwei Wohnungen führte. Jede dieser beiden Wohnungen bestand aus zwei geräumigen Kabinen. Eine der Wohnungen war die ihrige. Die andere war noch unbesetzt, sie wurde für einen Wissenschaftler frei gehalten, der bei der Ablösung von AJ-417 nach AJ-408 herüberwechseln sollte.

Am Ende der Treppe angelangt, drückte Filitra auf einen Knopf in der Wand. Die hermetisch schließende Tür öffnete sich langsam und schloß sich dann wieder lautlos, nachdem das Mädchen hindurchgegangen und in ihre Wohnkabine eingetreten war. Das Licht flammte selbsttätig auf, aber nur solange, bis Filitra die gedämpfte Beleuchtung über dem Kopfende der Wohnraumliege eingeschaltet hatte. Sie legte gewohnheitsmäßig ihr Kleid ab, befestigte es im Wandschrank und streckte sich dann auf der Liege aus.

Sie trug jetzt einen enganliegenden elastischen ganzteiligen Anzug aus erdbeerroter Wollkapillare, einem synthetischen Stoff. Neben der Liege hing vorschriftsmäßig griffbereit der Sicherheitsanzug mit der Atemmaske. Mit dem weichen, wärmenden Trikot bekleidet, konnte sie bei Gefahr schnell diesen Anzug überstreifen. Sie würde nicht behindert sein, wenn es einmal darauf ankommen sollte, sich in Sekunden vor den elementaren Gefahren einer Havarie im Weltraum, vor plötzlicher Kälte, vor Sauerstoffmangel oder Strahlungen vorerst notdürftig zu schützen.

Während der Manöver lag Filitra lang ausgestreckt auf der Liege, weniger um den Gewichtsveränderungen ihres Körpers vorbeugend entgegenzuwirken, als vielmehr, um ihre Gedanken für die Briefe in Ruhe zu sammeln und zu ordnen. Ihrem Bruder würde sie vor allem die Basis auf dem Mars schildern und die technischen Einrichtungen der Rakete. Ihre Schwester, eine Innenarchitektin, wollte sie über die Ausstattung des Raumes der Ethik, des Zentralganges und der Wohnkabinen unterrichten…

Irgend etwas störte den Gedankenfluß. Eine Kraft drückte ihren Körper beständig nach rechts. Wahrscheinlich wurde die Rakete jetzt mit einer Linkskurve in die Kette der Asteroidenjäger eingesteuert. Filitra zog einen verborgenen Gurt aus dem Polster und hakte sich fest.

Ihr Vater hatte ihr bei der Abreise gesagt, daß er etwas über die Menschen erfahren wolle, die mit ihr in der kleinen Welt der Rakete eingeschlossen waren. Und die Mutter sollte all das wissen, was für die Sicherheit der Raumfahrer unternommen wurde. Mutter sollte sich nicht sorgen.

Mitten in diese Gedanken hinein schrillte plötzlich die Alarmglocke. Das Mädchen zuckte zusammen. Heimweh und Angst zerstoben unter dem elementaren Zwang des Augenblicks der Gefahr. Mechanisch folgte sie den Befehlen des Hirns. Die Hände führten wie im Traum all die Griffe aus, die sie viele Male für den Alarmfall geübt hatte.

Blitzschnell hatte sie den Gurt der Liege abgehakt; zum Anlegen des Sicherheitsanzuges genügten dank der Schnellverschlüsse wenige Griffe. Mit der Atemmaske am Gürtel, sprang Filitra zu einer Nische in der Wand der Wohnkabine.

Sie mußte sofort auf ihren Posten. Ihr Platz war jetzt bei den Anlagen in der chemotechnischen Sektion des Raumschiffes. Die schmale Nische in der Wand war ohne Boden. Eine Kletterstange führte senkrecht in einen Schacht hinab. Die Chemikerin ergriff die Stange und schwang sich in diesen Schacht. Schnell glitt sie hinab. Nach fünfzehn Metern hatte sie wieder Boden unter den Füßen. Ein schmaler, etwa fünfundzwanzig Meter langer Gang hatte sie aufgenommen. Er verlief quer zur Längsachse der Rakete inmitten der chemotechnischen Sektion des Rumpfes. Von diesem Gang aus konnte man durch Schotten in die einzelnen Zellen der Sektion gelangen. Jede Zelle beherbergte eine bestimmte Maschinengruppe. Hier waren die Pumpen für die Kühlflüssigkeit, die Maschinen für die Regenerierung der Luft und die Druckausgleicher untergebracht. Filitra mußte auch dafür Sorge tragen, daß die Akkumulatoren für die Notstromversorgung und die Plaste zum Verschließen eventueller Lecks einsatzbereit waren.

Gleich ihr waren auch die anderen Besatzungsmitglieder, die keinen Dienst in der Steuerzentrale hatten, auf ihre Stationen geeilt. Schritte polterten, irgendwo fiel ein Schott dröhnend zu. In einer Druckkammer fauchte ein Ventil.

Filitra Goma hatte erst einige der Zellen inspiziert, als Kerulens Stimme, von den Tonträgern auch hierher übertragen, ertönte: „Alarm beendet! Alarm beendet! Radarobjekt als AJ-417 identifiziert. Radarobjekt ist Asteroidenjäger 417.“

Tief aufatmend setzte sich Filitra auf einen Drehschemel. Unwillkürlich blickte sie auf ihre Uhr am Handgelenk. Seit Beginn des Alarms konnten höchstens zwei Minuten vergangen sein. Einmal, wenige Tage nach dem Abflug von der Erde, hatte Filitra ausprobiert, wieviel Zeit sie bei Alarm von ihrer Wohnkabine bis zur chemotechnischen Station brauchen würde. Dank der Kletterstange hatte sie es in siebzehn Sekunden geschafft, einschließlich des Anlegens des Sicherheitsanzuges. Die Kletterstange war gut. Die Konstrukteure hatten überall im Raumschiff solche senkrechten Schächte mit Kletterstangen einbauen lassen. Fahrstühle konnten versagen, zum Beispiel bei Ausfall der Energieversorgung oder bei mechanischen Fehlern. Sie waren deshalb nur an drei Stellen im Raumschiff eingebaut worden.

Als der Pilotron das Bremsmanöver ankündigte, stand die Chemikerin von ihrem Schemel auf und verließ die Station. Sie folgte den Gängen und erreichte einen der drei Aufzüge. Das Gehen war jetzt mühsam. Der Druck der Abbremsung lag mit spürbarer Schwere auf den Gliedern. Es war wie ein Schreiten durch einen zähen, unsichtbaren Brei, der träge in Richtung der Raketenspitze floß.

Als Filitra in ihre Kabine zurückgekehrt war, legte sie wieder den Sicherheitsanzug ab. Auf der Liege sitzend, erwartete sie das Ende des Bremsmanövers. Dann holte sie sich die Schreibsachen und setzte sich an den Tisch, um mit den Briefen zu beginnen. Ihre Hand zog nicht schnell, aber gleichmäßig über das Papier. Zeile reihte sich an Zeile. Häufig traten Pausen ein. Die dem Schreiben entwöhnte Hand hatte es schwer. Nur allmählich füllte der Stift Seite um Seite.

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