Die Instrumente im großen Kontrollraum waren verhältnismäßig ruhig. Calapine und Schruille saßen auf ihren Thronen. Die Tribüne drehte sich langsam, so daß sie den ganzen Raum überblicken konnten. Die Kaleidoskopfarben der Instrumente, grüne, rote und purpurne Lichtflecke, spielten eine einschläfernde Melodie.
Calapine war müde vor Selbstmitleid. Die Enzymanalysatoren schienen nicht in Ordnung zu sein. Vielleicht war es der Untergrundbewegung gelungen, die pharmazeutischen Computer zu stören.
Schruille hatte zu dieser Überlegung nur gelacht.
Auf Calapines Bildschirm erschien Allgoods Gesicht. Sie hielt die Tribüne an, als er sich verbeugte. »Ich melde mich zum Bericht, Calapine«, sagte er. Sie bemerkte die dunklen Ringe um seine Augen und erkannte die durch Drogen gestützte Spannkraft an der steifen Haltung seines Kopfes.
»Hast du sie gefunden?« fragte Calapine.
»Sie sind irgendwo im Wildnisgebiet, Calapine«, antwortete er. »Sie müssen dort sein.«
»Müssen!« fauchte sie. »Du bist ein närrischer Optimist, Max.«
»Wir kennen einige ihrer Verstecke, Calapine.«
»Für jedes, das du kennst, haben sie neun, die du nicht kennst.«
»Das ganze Gebiet ist eingekreist, Calapine. Wir rücken langsam vor und untersuchen jeden Fußbreit Boden. Sie sind dort, und wir werden sie finden.«
»Er plappert Unsinn«, sagte sie und sah Schruille an.
Schruille lachte höhnisch und musterte Max durch seinen Reflektor. »Max, hast du herausgefunden, woher der Ersatzembryo stammt?«
»Noch nicht, Schruille.« Verwirrt über den militärischen Befehlston und die Heftigkeit seiner Regenten blickte er hinauf.
»Suchst du in Seatac?« fragte Calapine.
Allgood fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen.
»Heraus damit!« schrie sie. Ach, diese Angst in seinen Augen … »Wir suchen dort, Calapine, aber…«
»Du glaubst also, wir seien zu voreilig gewesen?« fauchte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Du benimmst dich seltsam«, warf Schruille ein. »Hast du Angst vor uns?«
»Ja, Schruille«, gab er zögernd zu.
»Ja, Schruille!« höhnte Calapine.
Er sah sie an. Die Furcht in seinen Augen wurde zur Wut. »Ihr wißt, Calapine, daß ich alles tue, was mir möglich ist.«
Sie fühlte eine gewisse Entschlossenheit in ihm, und sie staunte darüber. War das möglich? Hatte Schruille das auch beobachtet?
»Max, warum hast du dich bei uns gemeldet?« fragte Schruille.
»Ich … um zu berichten, Schruille.«
»Du hast aber gar nichts berichtet.«
Zögernd griff Calapine zu ihren Instrumenten, um Max einer besonderen Prüfung zu unterziehen. Schrecken mischte sich mit Zorn. Cyborg! Man hatte Max, ihren Max, entweiht und geschändet!
»Du!« zischte Calapine. »Wie kannst du es wagen? Warum, Max?«
»Was ist denn?« fragte Schruille.
Aber im Schockmoment ihrer Frage hatte Allgood bemerkt, daß man ihn entdeckt hatte. In ihren Augen las er, daß dies sein Ende war. »Ich sah … ich fand die Doppelgänger«, stammelte er.
Ärgerlich drehte sie den Ring an der Armlehne ihres Thrones. Sonische Erschütterungen hüllten Max ein, verwischten das Bild seines Gesichtes. Lautlos bewegten sich seine Lippen. Er brach zusammen.
»Warum hast du das getan?« fragte Schruille.
»Er war ein Cyborg!« kreischte sie und deutete auf ihre Instrumente.
»Max?« Er musterte die Instrumente und nickte. »Aber er hat dich geliebt und verehrt.«
»Und jetzt tut er nichts dergleichen mehr«, flüsterte sie. Sie schaltete den Bildschirm ab und starrte ihn an. Der ganze Vorfall begann schon ihrem Gedächtnis zu entschwinden.
»Liebst du … direkte Aktionen?« fragte Schruille.
Was sollte das nun wieder heißen? Das klang wie eine Aufforderung zur Gewalttat.
»Wir haben jetzt keinen Max mehr«, fuhr Schruille fort.
»Wir können doch einen anderen Doppelgänger aufwecken«, entgegnete sie. »Im Augenblick kommt der Sicherheitsdienst auch ohne ihn aus.«
»Wer sollte es denn tun? Igan und Boumour sind nicht mehr bei uns.«
»Was hält Nourse so lange auf?«
»Enzymschwierigkeiten«, erklärte Schruille, und das klang ganz nach Schadenfreude.
»Nourse kann den Doppelgänger erwecken«, meinte sie eigensinnig. Warum brauchte sie eigentlich einen Doppelgänger? Ach ja, Max war weg.
»Die neuen Doppelgänger sind aber nicht so gut wie die alten«, wandte Schruille ein. »Außerdem muß der neue Max erst für seine Rolle geschult und vorsichtig darauf eingestellt werden. Das kann Monate, sogar Jahre dauern.«
»Solange kann einer von uns den Sicherheitsdienst leiten«, meinte sie.
»Glaubst du, das bringen wir fertig?« zweifelte Schruille.
»Es ist ziemlich aufregend, Entscheidungen zu fällen«, antwortete sie. »Ich muß schon sagen, die letzten paar hundert Jahre haben mich entsetzlich gelangweilt. Jetzt fühle ich mich wieder lebendig, tatkräftig, fasziniert.« Sie warf einen Blick zu den Spionen hinauf. »Und dabei bin ich nicht allein.«
»Lebendig …«, murmelte Schruille. »Aber Max ist… tot.«
»Jeder Max kann ersetzt werden.« Sie sah Schruille an. »Du sprichst heute aber außerordentlich roh«, tadelte sie. »Soviel ich mich erinnere, hast du heute schon zweimal vom Tod gesprochen.«
»Roh?« meinte er erstaunt. »Ich habe doch Max nicht ausradiert?«
Sie lachte laut. »Meine eigenen Reaktionen erregen mich, Schruille.«
»Und hat sich dein Enzymbedarf geändert?«
»Ein wenig. Und wenn schon, die Zeiten ändern sich auch. Das gehört zum Dasein. Es verlangt Anpassung.«
»Ja, wirklich«, pflichtete er ihr bei.
»Wo bekamen sie nur den Ersatz für den Durantembryo her?«
»Vielleicht kann das der neue Max entdecken … Oder … willst du einen ganz neuen Max schaffen?«
»Spotte nicht über mich, Schruille.«
»Das würde ich nicht wagen … Vielleicht haben sie einen eigenen Ersatzembryo gezeugt.«
»Wie denn, bei allem, was uns heilig ist?«
»Man kann das empfängnisverhütende Gas aus der Luft filtern«, schlug er vor.
»Du bist einfach ekelhaft, Schruille.«
»Wirklich? Ich überlege mir die ganze Zeit, was Potter verborgen hielt. Er widmete sein ganzes Leben der Erhaltung des Lebens. Aber was hat er in sich verschlossen gehalten?«
»Potter ist nicht mehr … Meinst du, er kannte die Quelle des … der Einwirkung von außen her?«
»Vielleicht. Und er wüßte auch, wo ein neuer Embryo zu finden wäre.«
»Dann läßt sich auch die Quelle feststellen.«
»Ich überlege gerade …«
»Nicht möglich«, sagte sie und sah in ihr Prisma.
»Daß ich überlege?«
»Nein, das, was du denkst. Du weißt, was ich meine.«
»Es ist aber möglich, Cal. Du als weibliches Wesen solltest eine solche Möglichkeit nicht so starrköpfig abstreiten.«
»Du bist wirklich widerlich.«
»Wir wissen, wo Potter einen lebensfähigen Keimling fand. Dort muß es viele davon geben, männlich und weiblich. Aus der Geschichte kennen wir die Kapazitäten eines solchen rohen Zusammenschlusses. Das ist ein Teil unserer natürlichen und wirklichen Herkunft.«
»Du bist unerträglich!« Calapine atmete rasch.
»Das kannst du nicht ertragen, wohl aber die Gegenüberstellung mit dem Tod«, stellte Schruille fest. »Sehr interessant, möchte ich sagen.«
»Aber der Ersatzembryo war nicht lebensfähig!« behauptete sie.
»Verständlich, wenn man sich überlegt, für welchen Zweck sie ihn geopfert haben, oder nicht?«
»Und wo sollten sie Bruttanks, Enzyme und Chemikalien finden?«
»Früher hat es das auch nicht gegeben.«
»Was?« staunte Calapine.
»Sie haben den Durantembryo wieder in die Mutter eingepflanzt«, sagte Schruille. »Dessen können wir sicher sein. Wäre es nicht logisch, ihn erst einmal dort zu lassen, ihn niemals mehr in einen Bruttank zu stecken?«
Calapine war sprachlos. Ihr war, als müsse sie sich übergeben. Mit meiner Enzymeinstellung scheint etwas nicht zu stimmen, dachte sie. Dann bemühte sie sich, klar und deutlich zu sprechen. »Ich werde mich sofort zum Pharmazeuten melden. Ich fühle mich nicht wohl.«
»Unter allen Umständen«, pflichtete ihr Schruille bei. Er sah hinauf zu den Spionen — alle besetzt.
Vorsichtig erhob sich Calapine und glitt den Schwebebalken hinab. Bevor sie das Segment öffnete, warf sie einen Blick zurück. Welcher Max wurde ausgelöscht? überlegte sie. Es gab so viele davon … ein recht erfolgreiches Modell für unseren Sicherheitsdienst … Ein Max nach dem anderen zog an ihrem Geist vorüber, und jeder wurde zur Seite gefegt, sobald seine Erscheinungsform die Meister langweilte. Sie reichten zurück bis ins Unendliche, eine Folge zahlloser Bilder und Spiegelbilder.
Was bedeutet einem solchen Max das Ausgelöschtwerden? überlegte sie. Ich bin eine ununterbrochene Existenz. Aber ein Doppelgänger hat kein Gedächtnis, er unterbricht die Folge … wenn die Zellen sich nicht erinnern … Erinnerung … Zellen … Embryos …
Sie dachte an den Embryo in Lizbeth Durant. Widerlich, aber einfach. So wundervoll einfach. Ihr Magen hob sich bis in ihre Kehle. Sie ließ sich auf den Boden der Halle gleiten und rannte zum nächstgelegenen Enzymzapfhahn. Während sie rannte, ballte sie die Hand zur Faust, die Max getötet und eine Hauptstadt ausradiert hatte.