11

In der roten Kugel des Kontrollzentrums waren die Tuyère mit Datenvergleichen und Befehlsdurchsagen beschäftigt. Lichter zuckten auf den Bildschirmen, und die Spione glitzerten. Alle Berichte und Befehle wurden durch die Geräte in mathematische Formeln umgesetzt, in schwingende Kurven und grüne Linien. An diesem Morgen waren es mehr als tausend Regenten, die an den Spionen saßen.

Calapine drehte den Rezepturring an ihrem linken Daumen. Sie war von Rastlosigkeit erfüllt, und sie wußte keinen Namen für ihre Wünsche. Ihre Pflichten in der. Kugel widerten sie allmählich an, ihrer Kameraden war sie überdrüssig. Sie verspürte unerträgliche Langeweile. Jeder ihrer Gefährten schmolz mit allen anderen zusammen zu einem unendlich nichtssagenden Wesen.

»Ich habe noch mal das Proteinsyntheseband des Durantembryos studiert«, sagte Nourse. In seinem Reflektor sah er zu Calapine hinüber und trommelte nervös auf den Armstützen seines Thrones.

»Wir haben etwas übersehen«, spöttelte Calapine und sah Schruille an, dessen Hände ruhelos über seine Robe strichen. Auch er war nervös.

»Zufällig habe ich entdeckt, was wir übersehen haben«, erklärte Nourse.

»Nun … mir erscheint es möglich, daß Potters Operation wiederholt werden kann — vorausgesetzt, wir haben denselben Embryotyp und eine genau dosierte Zufuhr von Spermprotaminen.«

»Hast du den Operationsverlauf rekonstruiert?« fragte Calapine.

»Nicht genau, aber in großen Zügen.«

»Und Potter könnte sie wiederholen?«

»Vielleicht sogar Svengaard.«

»Schütze und bewahre uns«, murmelte Calapine. Das war eine rituelle Formel, die selten einmal an ein Regentenohr gelangte. Diesmal hatte sie selbst die Worte gesprochen, und sie brannten wie Feuer.

»Wo ist Max?« fragte Schruille.

»Er arbeitet«, knurrte Nourse. »Er hat zu tun.«

Schruille sah zu den Spionen hinauf. Hinter diesen Linsen lauerten die Zyniker, die ihr Spiel genossen, die Hedonisten, die um ihr Vergnügen fürchteten, die Unfruchtbaren, die etwas brauchten, um verächtlich grinsen zu können.

Werden wir nun noch eine neue Partei der Brutalen bekommen, überlegte Schruille, die aus Selbsterhaltungstrieb alle Gefühle leugnet? Nourse und Calapine ahnen von dieser Gefahr noch gar nichts. Ihn schauderte.

»Max ruft«, meldete Calapine, »ich habe ihn auf dem Schirm.«

Schruille und Nourse schalteten ihre Geräte parallel und erkannten Allgoods stämmige, muskulöse Gestalt.

»Ich berichte«, begann Allgood.

Calapine musterte sein Gesicht. Es schien vor Angst verzerrt zu sein.

»Was ist mit Potter?« fragte Nourse.

Allgood blinzelte.

»Warum antwortet er nicht?« fragte Schruille.

»Weil er uns verehrt«, spottete Calapine.

»Verehrung wird durch Furcht hervorgerufen«, sagte Schruille. »Vielleicht möchte er uns etwas zeigen, neue Beweise, neue Daten. Stimmt das, Max?«

Allgood starrte vom Schirm herunter einen nach dem anderen an. Wieder hatten sie sich in ein unnützes Wortgeplänkel verloren, dachten nicht an die Zeit, an Beweise und Daten — ein Nebenprodukt endlosen Lebens, des Losgelöstseins von trivialen Notwendigkeiten. Diesmal hoffte er, sie würden unendlich lange so weitermachen.

»Wo ist Potter?« verlangte Nourse zu wissen.

Allgood schluckte. »Potter … hat sich uns entzogen.« Lügen oder Ausflüchte waren sinnlos, das wußte er.

»Wie?« fragte Nourse.

»Es gab … eine Gewalttat.«

»Dann zeige sie uns.«

»Nein«, warf Calapine ein, »mir genügt sein Wort.«

»Ich will sie sehen«, beharrte Schruille.

»Wie kannst du darauf bestehen?« fragte Calapine unmutig.

»Du kannst ja gehen«, schlug Schruille vor. »Ich … will diese Gewalttat sehen.« Er sah Max an. »Nun, Max?«

Allgood schluckte. Das hatte er nicht erwartet.

»Sie ist geschehen, Schruille«, meinte Nourse, »und wir wissen es.«

»Natürlich wissen wir es. Sie lief doch über unsere Kanäle, und ich wünsche, daß man das Ventil nachsieht, das unsere Empfindungsfähigkeit abschirmt.« Er schnaubte.

Schruille blickte auf die Spione. Viele waren abgeschaltet. Selbst Zyniker stieß diese Geschichte ab.

»Dann zeig die Gewalttat«, befahl Schruille. Allgood zuckte die Achseln. Nourse wirbelte seinen Thron herum und drehte dem Bildschirm den Rükken zu. Calapine bedeckte ihre Augen.

»Wie Ihr befehlt«, antwortete Allgood. Sein Gesicht verschwand vom Bildschirm, auf dem nun aus der Vogelschau der kleine, von hohen fensterlosen Gebäuden umrahmte Platz erschien. Zwei winzige Gestalten gingen um den Brunnen herum. Sie blieben stehen. Potters Gesicht erschien groß auf dem Schirm, und das eines Unbekannten mit kalten Augen. Dann kamen zwei Männer mit Paketen, nach ihnen die Kinder mit ihrer Lehrerin. Plötzlich drängte sich Potter zwischen den Kindern durch; sein Gefährte rannte in die entgegengesetzte Richtung und um den Brunnen herum.

Calapine lugte zwischen den Fingern hervor. Schruille bemerkte es.

Ein greller Schrei ertönte. Potters Gefährte war zu einem Schreckenswesen geworden, dem die Kleider wie Zunder vom Körper gefallen waren; aus seiner Brust erhob sich eine milchige Kugel, die gleißendes Licht ausstrahlte. Dann verschwand das Bild, um die Szene aus einem anderen Blickwinkel zu zeigen.

Calapine starrte nun offen auf den Bildschirm, auch Nourse sah durch sein Schulterprisma zu. Wieder sandte die Gestalt Lichtblitze aus.

»Es ist ein Cyborg«, stellte Schruille fest, »das erkennt man, wenn man ihn beobachtet.«

Nun wurde der Platz aus sehr großer Höhe gezeigt. Die Figuren waren winzig klein, doch der Mittelpunkt des Geschehens war genau zu erkennen. Lichtbündel schossen von einer gebückten Gestalt aus zum Himmel, Flugwagen explodierten und fielen in Trümmern zu Boden. Ein Fahrzeug des Sicherheitsdienstes schob sich hinter den Cyborg. Ein zuckender Strahl gebündelten Lichtes schoß aus ihm hervor und zeichnete breite Rauchspuren an die Mauern. Der Cyborg drehte sich herum und hob eine Hand, deren flammende Finger sich unendlich weit auszustrecken schienen. Sie berührten einen Flugwagen und spalteten ihn in zwei Teile. Die eine Hälfte knallte gegen ein Gebäude, prallte ab und zerschmetterte den Cyborg. Eine strahlende gelbe Lichtkugel hob sich vom Platz ab. Eine Sekunde später erschütterte eine gewaltige Explosion die Luft.

Schruille warf einen Blick zu den Spionen hinauf. Jede der Linsen war besetzt.

Calapine räusperte sich. »Potter ging in das Gebäude rechts.«

»Ist das alles, was du sagen kannst?« fragte Schruille.

Nourse schwenkte seinen Thron herum und sah ihn an.

»War es nicht interessant?« fragte Schruille. »Das ist eine Kriegserklärung.«

Allgoods Gesicht erschien wieder auf dem Bildschirm und sah gespannt zu ihnen hinauf. Natürlich ist er neugierig, wie wir reagieren, dachte Schruille. »Kennst du unsere Waffen, Max?« fragte er.

»Dieses Gerede von Waffen widert mich an«, fauchte Nourse. »Wozu soll es gut sein?«

»Wofür haben wir Waffen, wenn wir sie nicht anwenden?« fragte Schruille. »Kennst du die Antwort darauf, Max?«

»Ich kenne die Waffen«, antwortete Allgood, »sie sind zu Eurem persönlichen Schutz da.«

»Natürlich haben wir Waffen!« brüllte Nourse. »Aber weshalb müssen wir …«

»Nourse, nimm dich zusammen!« mahnte Calapine.

»Mich zusammennehmen?« knurrte Nourse und umklammerte die Armstützen seines Thrones.

»Laßt uns lieber über die neue Entwicklung nachdenken«, schlug Schruille vor. »Wir wissen, daß es Cyborgs gibt. Sie haben sich bei uns eingenistet. So ist es ihnen gelungen, unsere Befehlskanäle zu kontrollieren und sich Sympathien im Volk zu erwerben. Wir haben nun gesehen, daß sie eine Armee haben, die ein Mitglied opfern kann — ich sage bewußt: opfern — zum Wohl des Ganzen.«

Nourse starrte ihn ungläubig an.

»Und wir«, fuhr Schruille fort, »wir haben vergessen, wie man mit Nachdruck brutal sein muß.«

»Pah!« fauchte Nourse.

»Verletzt man einen Mann mit einer Waffe«, sagte Schruille, »welcher Teil ist dann dafür verantwortlich — der Mann oder die Waffe?«

»Erkläre uns, was du damit meinst«, flüsterte Calapine.

Schruille deutete auf Allgoods Bild. »Dort ist unsere Waffe. Wir haben sie unendlich oft geführt, bis sie lernte, sich selbst zu führen. Wir haben nicht vergessen, wie brutal wir sein müssen: was wir vergessen haben, ist, daß wir es sind.«

»Welch ein Unsinn!« murrte Nourse.

»Schau mal«, riet ihm Schruille und deutete zu den Spionen hinauf. »Dort oben ist mein Beweis. Wann haben uns jemals so viele beobachtet?«

Einige der Lichter gingen aus, glänzten aber wieder auf, weil andere Beobachter sie übernahmen.

Allgood schien unter einem Bann zu stehen. Er versuchte tief Atem zu holen, doch ein Band schnürte ihm die Brust ein. Die Übermenschen-Regenten sehen sich einer Gefahr gegenüber! Ein unendlich langes Leben der Euphorie — und nun das! Allgood fand diese Idee beinahe absurd.

»Wer hat sich noch bei uns eingeschlichen?« fragte Schruille, der sonst so Schweigsame.

Allgood war keiner Antwort fähig.

»Die Durants sind verschwunden«, fuhr Schruille fort. »Svengaard konnte nicht gefunden werden. Wer noch?«

»Keiner, Schruille, sonst keiner.«

»Wir wünschen, daß sie eingefangen werden«, befahl Schruille.

»Selbstverständlich, Schruille.«

»Und zwar lebend«, ergänzte Calapine.

»Wenn es möglich ist«, sagte Schruille.

Allgood nickte. »Ich gehorche, Schruille.«

»Du kannst dich jetzt an deine Arbeit machen«, befahl Schruille.

Der Bildschirm wurde grau.

Schruille beschäftigte sich mit den Kontrollknöpfen an der Armlehne seines Thrones.

»Was tust du da?« fragte Nourse.

»Ich beseitige die Zensoren, die uns die Gewalttaten vorenthalten haben«, erklärte Schruille. »Es ist höchste Zeit, daß wir uns mit den Realitäten befassen.«

Nourse seufzte. »Wenn du glaubst, daß es nötig ist…«

»Ich weiß, daß es nötig ist.«

»Sehr interessant«, meinte Calapine.

Nourse sah sie an. »Was findest du so interessant an diesen Obszönitäten?«

»Sie sind aufregend«, antwortete Calapine, »und sehr interessant.«

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