3

Im Formsaal stellten die Pflegerinnen den Bruttank unter den Enzymtisch, schlossen die Schläuche an und machten den Computer für die Nährlösung fertig. Sie arbeiteten ruhig und geschickt, als Potter und Svengaard die Skalen prüften. Die Computerassistentin legte die Bänder ein und prüfte die Schaltanlage.

Potter war überwach, wie immer vor einem chirurgischen Eingriff. Er wußte, dem Gefühl der augenblicklichen Spannung würde dann die Sicherheit der Tat folgen.

Svengaard bewegte seine Finger in den Handschuhen, holte tief Atem. Es roch schwach nach Ammonium.

Potter trat an den Bruttank heran. Sein steriler Mantel knisterte beim Gehen. Er warf einen Blick auf den Bildschirm an der Wand, den Rückspielmonitor, der ungefähr das zeigte, was der Chirurg sah und was die Eltern beobachten konnten.

Verdammte Eltern, dachte er, ihretwegen fühle ich mich schuldig.

Auf dem Bruttank lagen die blitzenden Instrumente. Das Pumpengeräusch störte ihn. Svengaard wartete auf der anderen Seite des Tanks. Die Atemmaske verbarg die untere Gesichtshälfte, aber seine Augen drückten Ruhe aus. Er strahlte Verläßlichkeit und Beharrlichkeit aus.

Und wie sieht es wirklich in ihm aus? überlegte Potter. Er wußte, daß es bei einer Formung keinen besseren Assistenten gab als Sven.

»Sie können jetzt die Pyruvsäuregaben erhöhen«, sagte Potter.

Svengaard nickte und drückte den Hebel. Die Computerassistentin schaltete das Band ein.

Sie ließen die Skalen nicht aus den Augen, als die Krebsmarke stieg … 87,0 … 87,3 … 87,8 … 89,4 … 90,5 … 91,99 …

Jetzt, sagte sich Potter, hat die unwiderrufliche Bewegung des Wachstums begonnen. Nur der Tod kann sie aufhalten. »Sagen Sie mir, wenn die Krebsmarke auf hundertzehn steht«, befahl er.

Er stellte Mikroskop und Mikrogeräte ein und ließ sie einrasten. Werde ich das zu sehen bekommen, was Sven sah? überlegte er. Er wußte, es war nicht wahrscheinlich. Der Blitz von außerhalb hatte noch nie zweimal an der gleichen Stelle getroffen. Er kam. Er tat das, was keine menschliche Hand zu tun vermochte. Er verschwand.

Wohin? überlegte Potter.

Die Interribosomallücken schwammen ins Blickfeld. Er erfaßte sie, verstärkte das Mikroskop und ging zu den DNA-Spiralen hinunter. Ja, genau das hatte Sven beschrieben. Der Embryo der Durants war einer von jenen, die in die Übermenschenzentrale hinüberwechseln konnten … falls die Chirurgen Erfolg hatten.

Potter richtete sich auf. »Na, und?« fragte Sven.

»Ziemlich genauso, wie Sie es beschrieben haben. Eine recht eindeutige Geschichte. Ganz glatt.« Das war für die Eltern bestimmt.

Was mochte der Sicherheitsdienst über die Durants herausgebracht haben? Würde man sie mit Vernehmungen, Vorschriften und Einschränkungen belasten? Möglich. Aber es gingen Gerüchte um von neuen Praktiken des Elternuntergrunds, von den Cyborgs, die nun aus den Schatten heraustraten, die sie seit Jahrhunderten verborgen gehalten hatten … falls es überhaupt noch Cyborgs gab. Potter war davon nicht überzeugt.

»Pyruvsäure reduzieren«, wies Svengaard die Computerassistentin an. Sie bestätigte die Anweisung.

Potter richtete seine Aufmerksamkeit auf den Ständer mit den wichtigsten Stoffen, der neben ihm stand. In der ersten Reihe hatten die Pyrimidine, Nukleinsäuren und Proteine Platz gefunden, dann folgten die Aneurin-, Riboflavin-, Pyridoxin- und Pantothensäuren, die Pteroylglutaminsäure, Cholin, Inositol und Sulfhydryl.

Er räusperte sich, um seinen Plan für seine Attakke auf die Abwehrkräfte des Keimlings vorzutragen. »Ich werde versuchen, eine Pilotenzelle zu finden, indem ich die Cysteine an einer bestimmten Stelle markiere. Halten Sie Sulfhydryl bereit und richten Sie ein Ersatzband für die Proteinsynthese her.«

»Fertig.« Svengaard nickte der Computerassistentin zu, die mit sicherer Hand das Ersatzband einlegte.

»Krebszyklus?« fragte Potter.

»Steigt auf hundertzehn«, meldete Svengaard.

Gespanntes Schweigen.

»Marke«, sagte Svengaard.

Wieder beugte sich Potter über das Mikroskop. »Band laufen lassen«, ordnete er an. »Zweimal Minimum Sulfhydryl.«

Langsam verstärkte Potter das Mikroskop, wählte eine Zelle für die Maskierung. Der Intrusionsschleier löste sich auf, und er suchte die umgebenden Zellen nach Hinweisen dafür ab, ob die Kernteilung auf der von ihm angepeilten Linie liegen könnte. Langsam … Er hatte gerade erst begonnen, und schon fühlten sich seine Hände schweißfeucht an.

»Adenosintriphosphat bereithalten«, sagte er.

Svengaard schob den Schlauch in den Mikromanipulator und nickte der Tankassistentin zu. Schon ATP. Das war eine heikle Sache.

»Minimum ATP«, wies Potter an.

Svengaard drückte die Zufuhrtaste. Das Summen der Computerbänder klang unnatürlich laut.

Potter schüttelte den Kopf. »Falsche Zelle«, sagte er, »wir müssen eine andere versuchen. Alles noch mal. Genau wie vorher.«

Wieder beugte er sich über das Mikroskop, hantierte geschickt mit den Mikrogeräten, verstärkte Spurweise die Vergrößerung, versuchte in die Zellmasse einzudringen — zart, ganz vorsichtig. Schon das Mikroskop konnte unwiderrufliche Schäden hervorrufen.

Tief im Keiminnern erkannte er endlich eine aktive Zelle. Die Tankstasis hatte hier nur schwach verzögernd gewirkt. Er erkannte die an einer Zuckerphosphathelix hängenden Grundschleifen, als sie durch sein Sichtfeld trieben.

Seine anfängliche Unruhe war verflogen und hatte der altgewohnten Sicherheit Platz gemacht. Die Morula schien ein Ozean zu sein, in dem er schwamm, und der Zellkern war seine Heimat.

»Zweimal Minimum Sulfhydryl«, sagte Potter.

»Sulfhydryl, zweimal Minimum«, antwortete Svengaard, »ATP bereit.«

»Jetzt ATP. Ich werde nun die Austauschreaktion im Mitochondrialsystem hemmen. Oligomycin und Azid geben.«

Svengaard zeigte, was er konnte und befolgte die Anordnung, ohne zu zögern. »Soll ich eine Trennlösung bereithalten?« fragte er, und das war das einzige Zeichen dafür, daß er die Gefährlichkeit dieser Prozedur erkannt hatte.

»Arsenat in eins bereithalten«, befahl Potter.

»Krebszyklus fällt«, meldete die Computerassistentin. »89,4«.

»Intrusionseffekt«, antwortete Potter. »0,6 Minimum Azid.«

Svengaard drückte den Knopf.

»Oligomycin, 0,4«, bestätigte Svengaard.

Potter lebte nur noch durch seine Augen über dem Mikroskop und seine Hände an den Mikromanipulatoren. Sein Leben ging im Keimling auf, vereinigte sich mit ihm. Die Augen sagten ihm, daß die peripherale Mitose unterbrochen war, und das war nicht anders zu erwarten. »Ich glaube, wir haben es jetzt«, sagte er. Er kennzeichnete die Mikroskopstellung, verlegte das Blickfeld und ging zu den DNASpiralen über, um die Hydroxylabweichung zu finden, den Makel, der eine fehlerhafte Herzklappe verursachen würde. Nun hatte er, der Künstler, der Formgeber, die Pilotzelle bestimmt, und er schickte sich an, die äußerst empfindliche chemische Struktur des Zellkernes neu zu formen.

»Schnitt vorbereiten«, sagte er.

Svengaard bestückte den Mesonengenerator. »Fertig«, bestätigte er.

»Krebszyklus 61«, meldete die Computerassistentin.

»Erster Schnitt«, sagte Potter. Er schickte den einzelnen, gezielten Strahl los und beobachtete das nun folgende taumelnde Chaos. Der Hydroxylanhang verschwand; Nukleotiden formten sich neu.

»Hemoprotein P-450«, befahl Potter. »Bereithalten zur Reduzierung von NADH.« Er wartete, studierte die Kugelformen der Proteine, die sich vor seinen Augen bildeten, beobachtete die biologisch aktiven Moleküle. Jetzt! Instinkt und Erfahrung sagten ihm den richtigen Augenblick. »Zweieinhalbmal Minimum P-450«, sagte er.

Durch eine Gruppe polypeptider Ketten im Herzen der Zelle tobte ein Aufruhr.

»Reduzieren.«

Svengaard drückte den NADH-Hebel. Er konnte nicht erkennen, was Potter sah, aber der Stirnspiegel des Chirurgen vermittelte ihm einen leicht verzerrten Blick auf das mikroskopische Feld. Das und Potters Instruktionen sagten ihm, daß in der Zelle eine langsame Veränderung stattfand.

»Krebszyklus 58«, meldete die Computerassistentin.

»Zweiter Schnitt«, kündigte Potter an.

»Bereit«, antwortete Svengaard.

Potter suchte das myxödem-latente Isovaltin und fand es. »Strukturband. Isopropylcarboxymethylcystein.«

Das Computerband schnurrte ab, hielt an, lief langsam, gleichmäßig weiter. Das Bild des Isovaltinvergleichs erschien im oberen rechten Quadrat von Potters mikroskopischem Feld. Er verglich die Strukturen Stück für Stück. »Band aus«, befahl er. Das Bild verschwand.

»Krebszyklus 47«, sagte die Assistentin.

Potter holte tief Atem. Noch 27 Punkte bis zum Todesbereich. Der Durantembryo mußte dann untergehen.

Er schluckte und schickte den gezielten Mesonenstrahl los.

Isovaltin zersprang taumelnd.

»Cycloserin ist bereit«, meldete Svengaard.

»D-4-Aminoisoxazolidon-3-Vergleich«, sagte Potter.

Die Assistentin stellte das Band ein. »Fertig.«

Das Vergleichsbild erschien in Potters Blickfeld. »Kontrolle«, befahl er. Das Bild verschwand. »1,8 Minimum.« Er beobachtete die Wechselwirkung der Enzymfunktionsgruppe, als Svengaard das Cycloserin zuführte. Die Aminogruppe zeigte ein schönes, offenes Affinitätsfeld. Die RNA-Übertragung paßte haargenau.

»Krebszyklus 38,6«, sagte die Assistentin.

Wir müssen das Risiko eingehen, überlegte Potter. Dieser Embryo verträgt keinen weiteren Eingriff mehr. »Tankstasis auf die Hälfte reduzieren«, ordnete er an. »ATP verstärken. Mikrozufuhr zehnfaches Minimum Pyruvinsäure.«

»Stasis reduziert«, sagte Svengaard. Das ist hart an der Grenze, dachte er, drückte den ATP-Knopf und den Pyruvinsäurehebel.

»Fünfunddreißig«, meldete die Assistentin. »34,5 … 34 … 33,5 …« Sie war fast atemlos vor Erregung. »33 … 32 … 31 … 30 … 29 …«

»Stasis aufheben. Volles Aminospektrum mit aktivierten Histinen. Pyridoxinzufuhr beginnen, 4,2 Minimum.«

Svengaards Hände huschten über die Knöpfe.

»Proteinband rücklaufen lassen«, ordnete Potter an. »Genauer DNA-Bericht über die Computerautomatik.«

Die Bänder liefen zischend ab.

»Es wird langsamer«, sagte Svengaard.

»22«, meldete die Assistentin. »21,9 … 22 … 21,9 … 22,2 … 22,3 … 22,2 … 22,3 … 22,4 … 22,5 …«

Das war ein Kampf, der jeden Nerv in Potter packte. Der Keimling stand am Rande des Todes. In den nächsten Minuten konnte er sterben, aber auch weiterleben. Oder er konnte verkrüppelt daraus hervorgehen. Das geschah manchmal. War der Schaden zu groß, dann wurde der Bruttank abgeschaltet. Aber Potter fühlte sich mit dem Embryo identisch. Er hätte es nicht ertragen, gerade ihn zu verlieren.

»Mutagenimmunisation«, sagte er.

Svengaard zögerte. Der Krebszyklus beschrieb eine Sinuskurve, die sich gefährlich dem Todespunkt näherte. Er wußte, weshalb Potter diese Entscheidung getroffen hatte, aber die karzinogene Gefahr mußte genau abgeschätzt werden. Er überlegte, ob er seine Bedenken geltend machen sollte. Der Embryo hing weniger als vier Punkte über der Todesmarke, der Auflösung. An diesem Punkt zugeführte chemische Mutagene konnten in ihm einen Schock auslösen, der beschleunigtes Wachstum oder Zerstörung zur Folge hatte. Selbst wenn die Mutagenbehandlung von Erfolg war, konnte der Embryo zu Krebs neigen.

»Mutagenimmunisation!« wiederholte Potter.

»Dosierung?« fragte Svengaard.

»Halbes Minimum bei niedrigster Zufuhr. Ich kontrolliere von hier aus.«

Svengaard drückte den Zufuhrhebel und ließ die Augen nicht von der Krebsskala. Noch nie hatte er davon gehört, daß so nahe der Gefahrenmarke eine derart drastische Behandlung gewagt wurde. Mutagene wurden im allgemeinen nur für die mit kleinen Fehlern behafteten Embryos der Sterries verwendet, und sie führten manchmal zu dramatischen Ergebnissen. Gelegentlich suchte sich ein solches Germplasma, das mit Mutagenen behandelt worden war, seinen eigenen Weg, und es konnte dann sogar ein lebensfähiger Keimling entstehen. Doch niemals wurde damit ein Regent erzeugt.

»Krebszyklus 22,3«, meldete die Assistentin.

Steigt ein wenig, dachte Potter.

»Sehr langsam«, sagte Svengaard.

Potter bewachte den Keimling. Er wuchs, quoll und kämpfte mit der ihm innewohnenden ungeheuren Kraft in seinen winzigen Bereichen.

»Krebszyklus 30,4«, meldete Svengaard.

»Ich ziehe die Mutagene zurück«, sagte Potter. Er nahm eine Randzelle ins Blickfeld des Mikroskopes, immunisierte die Nukleoproteine und suchte nach Schadensmerkmalen. Die Zelle war sauber.

Potter schwenkte auf die verschlungenen Zellkerne der DNA-Ketten über; er ahnte ein Wunder.

»Krebszyklus 36,8 steigend«, sagte Svengaard. »Soll ich mit Cholin und Aneurin beginnen?«

»Ja, sofort«, antwortete Potter automatisch und beobachtete die Genstruktur der Zellen. »Ja, anfangen.« Er beschäftigte sich mit einer anderen Randzelle.

Auch sie war sauber. Alle geprüften Zellen waren sauber.

Das geänderte Genbild blieb stabil; es war ein Bild, das die Menschheit seit dem zweiten Jahrhundert der Zellformung nicht mehr zu sehen bekommen hatte. Um sicherzugehen, wollte Potter ein Vergleichsbild haben; da niemals ein Band weggeworfen wurde, mußte es im Computer vorrätig sein. Aber er wagte es doch nicht, es war zu gefährlich. Doch er brauchte es auch nicht. Das war die klassische Form, die er fast täglich während seiner ganzen medizinischen Ausbildung studiert hatte.

Falls dieser Embryo zur Geschlechtsreife kam und auf eine fruchtbare Partnerin traf, konnte er gesunde, lebensfähige Kinder zeugen, die keines Genchirurgen bedurften. Sie brauchten auch keine Enzymrezepturen, um überleben zu können, ja sie würden auch ohne diese Rezepturen das zehnfache durchschnittliche Lebensalter anderer Menschen erreichen. Mit einigen genau ausgeklügelten Enzymgaben mochte dieser Embryo sogar in die Reihen der Unsterblichen aufrücken.

Der Embryo der Durarits konnte eine neue Menschenrasse zeugen, ähnlich jenen Unsterblichen in der Zentrale, trotzdem grundverschieden von diesen. Es war sogar möglich, daß er zur natürlichen Zuchtwahl zurückführte, die nicht mehr der Kontrolle durch die Regenten unterlag. Und er war von jener Grundform, von der, um leben zu können, kein menschliches Wesen zu weit abweichen durfte, doch er war gleichzeitig absolut einmalig — eine Tatsache, welche die Zentrale fürchtete.

Jedem Genchirurgen wurde es während seiner Ausbildungszeit eingehämmert: Natürliche Auslese ist ein Unsinn, der seine menschlichen Opfer blindlings durch ein leeres Leben tappen läßt. Die Auswahl lag bei den Regenten, hing von ihrer Vernunft und Logik ab.

Potter wußte, als fühle er die Zeit voraus, daß der Embryo der Durants mit einer fruchtbaren Partnerin zusammentreffen mußte; er hatte von außen her ein Geschenk erhalten, einen Reichtum an Spermarginin — den Schlüssel zur Fruchtbarkeit. Unter der Flut der Mutagene, welche die Aktivkerne des DNA aufschlossen, hatte der Keimling eine Stabilität erhalten, von der kein Mensch zu träumen wagte.

Weshalb habe ich die Mutagene gerade in diesem Augenblick eingesetzt? überlegte Potter. Ich wußte, sie waren nötig. Aber woher hatte ich dieses Wissen? War ich das Instrument einer höheren Macht?

»Krebszyklus 58 und ständig steigend«, meldete Svengaard.

Potter verlangte nach der Möglichkeit, dieses Problem mit Svengaard zu besprechen, aber da waren ja noch diese verdammten Eltern und die Leute von der Sicherheit — und sie beobachteten … War es möglich, daß irgend jemand genug gesehen hatte, um zu erkennen, was hier geschehen war? dachte er. Warum habe ich überhaupt Mutagene eingesetzt?

»Können Sie die Form schon erkennen?« erkundigte sich Svengaard.

»Noch nicht«, log Potter.

Der Embryo wuchs, wuchs rasch. Potter studierte die Zellteilung. Es war ein einmalig schönes Erlebnis.

»Krebszyklus 64,7«, sagte Svengaard.

Ich habe zu lange gewartet, überlegte Potter. Die Großköpfe von der Zentrale werden wissen wollen, warum ich solange gewartet habe, diesen Embryo zu töten. Ich kann es nicht! Er ist zu schön.

Die Zentrale ließ das Volk bewußt in Unwissenheit darüber, wer in Wirklichkeit an den Fäden zog und täuschte es damit, daß es das Leben der halbtoten Sklaven durch kostbare Enzymgaben verlängerte. Das Volk sagte: »In unserer Welt gibt es zwei Welten: eine, die nicht arbeitet und ewig lebt, und eine, die nicht lebt und ewig arbeitet.«

Hier in diesem Bruttank lag ein winziger Ball von Zellen, ein lebendes Wesen von kaum mehr als einem halben Millimeter Durchmesser, und es trug die Fähigkeit in sich, selbst die Übermenschen-Regenten zu überleben.

Dieser Keimling mußte sterben. Sie werden seinen Tod befehlen, überlegte Potter, und man wird mich verdächtigen. Was würde dann mit der Genchirurgie geschehen? Fallen wir dann zurück, um nur noch kleine Schäden zu reparieren? So war es ja, bevor wir daran gingen, Übermenschen zu formen. Übermenschen!

»Krebszyklus genau einhundert«, verkündete Svengaard.

»Wir sind jetzt überm Berg«, stellte Potter fest. Er riskierte einen raschen Blick zur Computerassistentin, aber sie stand mit dem Rücken zu ihm und beschäftigte sich mit ihrem Gerät. Ohne dieses Computerband wäre es möglich, zu verheimlichen, was hier geschehen war. Das Band konnte weder den Regenten noch dem Sicherheitsdienst etwas verbergen. Svengaard hatte nicht genug gesehen. Die Bruttankassistentin konnte nicht einmal etwas davon ahnen. Nur die Computerassistentin mochte es vermuten, und der Bericht lag in ihrer Maschine.

»Ich habe noch niemals gehört, daß man so weit heruntergegangen ist«, sagte Svengaard. »Zwanzig ist natürlich die unterste Grenze, aber ich habe noch nie erlebt, daß ein Embryo weniger als fünfundzwanzig überlebt hat. Sie, Doktor?«

»Nein«, antwortete Potter.

»Ist es die Form, die wir wollten?«

»Ich möchte jetzt nicht zu sehr eingreifen«, erwiderte Potter.

»Natürlich nicht. Aber jedenfalls war es eine begnadete Operation.«

Begnadete Operation! dachte Potter. Was würde dieser Tölpel sagen, wenn er wüßte, was wir hier haben? Einen absolut lebensfähigen Embryo, ein vollkommenes Wesen! Töte ihn, würde er sagen, denn er ist ein ergebener Sklave. Dieses neue Leben braucht keine Enzyme, es kann Nachkommen zeugen. Die ganze traurige Geschichte der Genformung wäre mit diesem Embryo gerechtfertigt, aber sieht man in der Zentrale das Band, dann wird dieser Embryo vernichtet. Sie werden sagen: ausmerzen, denn sie verwenden kein Wort wie ›töten‹.

Potter beugte sich über das Mikroskop. Wie furchterregend schön dieser Embryo doch war! Er riskierte einen zweiten Blick zur Computerassistentin. Sie sah ihn an, ließ die Maske fallen und lächelte. Es war ein wissendes Verschwörerlächeln. Sie hob die Hand, um den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ihr Ärmel streifte einen Schalter. Ein rasselnder, sirrender Ton kam aus dem Computer. Sie wirbelte herum. »Oh, du mein Gott!« rief sie und ihre Hände huschten über die Schaltanlage, doch das Band quoll weiter aus der Transporterspule. Sie versuchte den Transparentdeckel abzunehmen, unter dem die großen Spulen wie verrückt abschnurrten.

»Es ist auf Löschen geschaltet!« schrie Svengaard. Er eilte ihr zu Hilfe, um die Deckplatte abzunehmen, doch sie klemmte. Potter sah ihnen in einer Art Trancezustand zu. Das letzte Stückchen des Bandes lief ab und begann, sich wieder aufzuspulen.

»Oh, Doktor, es ist alles gelöscht!« jammerte die Assistentin.

Potter starrte auf den kleinen Monitorschirm am Arbeitstisch der Computerassistentin. Hatte sie die Operation genau verfolgen können? Manchmal entgeht ihnen kein Handgriff, dachte er, und diese Assistentinnen sind verdammt gescheit. Sie könnte genau wissen, was wir erreicht haben, oder sie vermutet es wenigstens. War die Bandlöschung tatsächlich nur eine Panne?

Sie wandte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. »Oh, Doktor, es tut mir so leid«, sagte sie.

»Schon gut«, antwortete Potter. »Mit diesem Embryo ist nichts Besonderes los, abgesehen davon, daß er am Leben bleiben wird.«

»Waren es die Mutagene?« wollte Svengaard wissen.

»Ja«, bestätigte Potter. »Ohne sie wäre er gestorben.«

Potter sah die Assistentin an. Er konnte es nicht genau sagen, aber er glaubte, einen Ausdruck grenzenloser Erleichterung über ihr Gesicht huschen zu sehen.

»Ich werde meinen Bericht auf Band sprechen«, versprach Potter, »das müßte für diesen Embryo reichen.« Wann fängt eine Verschwörung an? dachte er. Ist dies deren Beginn? War es eine Verschwörung, dann gab es noch viel zu tun. Kein wissendes Auge konnte jemals mehr diesen Embryo durch das Mikroskop betrachten, ohne zum Verschwörer — oder Verräter zu werden.

»Wir haben ja noch das Band für die Proteinsynthese«, sagte Svengaard. »Das gibt uns die chemischen Faktoren durch Schlußfolgerungen und den zeitlichen Ablauf.«

Potter dachte über das Proteinsyntheseband nach. War es gefährlich? Nein, es gab nur an, welche Stoffe eingesetzt worden waren, nicht aber, wie sie benützt wurden. »Das wird es auch«, antwortete Potter. Er deutete auf den Monitorschirm. »Die Operation ist zu Ende. Die direkte Leitung kann unterbrochen werden, die Eltern können in den Empfangsraum gehen. Es tut mir außerordentlich leid, daß wir nicht mehr erreichen konnten, aber wenigstens wird es ein gesunder Mensch werden.«

»Sterrie?« fragte Svengaard.

»Viel zu früh für Voraussagen«, erklärte Potter. Er sah die Computerassistentin an. Es war ihr gelungen, den Deckel abzuheben und das Band abzustellen. »Wie kann denn das hier passiert sein?«

»Vielleicht Solonoiddefekt?« vermutete Svengaard.

»Das Gerät ist ziemlich alt«, meinte die Assistentin. »Ich habe schon oft um einen Austausch gebeten, aber wir scheinen auf der Prioritätsliste nicht sehr weit oben zu stehen.«

»Ja«, meinte Potter, »aber jetzt werden Sie Ihr neues Gerät bestimmt kriegen.« Hatte jemand gesehen, daß sie den Schalter drückte? überlegte er. Wer im Raum konnte sie beobachtet haben? Hatte einer der Männer vom Sicherheitsdienst sie beobachtet? Wenn ja, dann ist sie so gut wie tot, und ich bin es auch.

Potter hatte den Eindruck einer wortlosen Verständigung mit der Computerassistentin. Er bemerkte, daß der große Schirm nur noch eine graue Fläche war. Die Durants sahen nicht mehr zu. Soll ich selbst mit ihnen sprechen? überlegte er. Wenn sie dem Untergrund angehören, könnten sie mir helfen. Mit diesem Embryo muß etwas geschehen. Am sichersten wäre er, wenn wir ihn von hier wegbringen könnten … aber wie?

»Ich werde hier alles abbauen«, versprach Svengaard, und begann die Verschlüsse des Bruttanks und die Vorschriften für die Zufuhr der Nährlösungen zu prüfen und den Mesonengenerator abzubauen. »Die Eltern werden enttäuscht sein«, fuhr er fort. »Sie wissen ja im allgemeinen, was es heißt, wenn ein Spezialist zugezogen wird, und jetzt werden sie enttäuscht sein.«

Die Tür zum Warteraum öffnete sich; Potter erkannte einen Mann von der Sicherheitszentrale, dessen Vollmondgesicht so nichtssagend war, daß man es fünf Minuten später wieder vergessen konnte. Der Sicherheitsbeamte trat auf ihn zu. Ist das das Ende für mich? schoß es Potter durch den Kopf. Laut fragte er: »Was ist mit den Eltern?«

»Die sind einwandfrei. Konversation normal, keine geheimen Geräte. Was sie reden, ist belanglos.«

»Sonst keine Hinweise? Keine Möglichkeit, den Sicherheitsdienst ohne Geräte zu hintergehen?«

»Unmöglich!« knurrte der Mann.

»Dr. Svengaard glaubt, daß der Beschützerinstinkt des Vaters und die Mütterlichkeit der Mutter allzu stark ausgeprägt sind«, erklärte Potter.

»Die haben Sie ja selbst geformt.«

»Möglich. Manchmal kann man sich nur um die großen Dinge kümmern; da entgehen einem dann Kleinigkeiten.«

»Sind Ihnen heute auch Kleinigkeiten entgangen?« fragte der Agent. »Ich habe gehört, das Band sei gelöscht … Panne.«

Gefahr! dachte Potter. Er bemühte sich um einen gleichgültigen Ton. »Natürlich ist alles möglich.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich bin der Meinung, daß hier nichts Außergewöhnliches vorliegt. Um den Embryo zu retten, mußten wir auf die Höchstform verzichten.«

»Sollen wir die Unterlagen des Embryos besonders kennzeichnen?«

»Wie Sie meinen«, erwiderte Potter. Er ahnt etwas, dachte er. »Ich werde einen Bericht auf Band sprechen. Vielleicht ist er genauso korrekt wie das Bildband. Sie können warten und selbst entscheiden.«

»Das werde ich auch tun«, entgegnete der Agent.

Svengaard hatte inzwischen das Mikroskop vom Bruttank entfernt, wie Potter erleichtert feststellte. Nun konnte wenigstens niemand mehr einen gefährlichen Blick auf den Embryo werfen.

»Anscheinend haben wir Sie umsonst hierher geholt«, entschuldigte sich Potter, »aber die Eltern bestanden auf dem Zusehen.«

»Viel besser, wir kommen umsonst, als die Eltern erfahren zuviel. Aber wie ist denn das mit dem Band passiert?«

»Panne. Altes Gerät«, antwortete Potter. »Der technische Bericht wird bald fertig sein.«

»Erwähnen Sie das alte Gerät nicht in Ihrem Bericht«, riet der Agent. »Das haben Sie mir ja gesagt. Allgood muß den Bericht nämlich der Tuyère vorlegen.«

Potter nickte verständnisvoll. »Natürlich.« Die Leute in der Zentrale wußten ja, daß man den Regenten beunruhigende Dinge nicht vorlegen durfte.

»Eines Tages werden wir all diese Geheimniskrämerei nicht mehr nötig haben«, meinte der Agent und sah sich im Raum um. »Für mich ist’s dann allerdings zu spät.« Er drehte sich um und ging.

Potter sah ihm nach. Wie genau dieser Mann doch in seine Stellung paßte! Eine großartige Formung mit nur einem kleinen Makel — das war verdächtig. Zuviel kalte Logik, zuwenig Neugier und Vorstellungsvermögen, viel zu wenig Bereitschaft, die Abenteuer des Zufalls zu ergründen. Hätte er Druck auf mich ausgeübt, überlegte Potter, dann hätte er mich gehabt. Die Panne hätte ihn viel mehr interessieren müssen. Aber wir neigen immer dazu, unsere Meister zu kopieren — selbst ihre blinden Flecken. Aber wie soll ich wissen, ob dem Agenten meine Erklärung genügt hat? Nun, ich weiß es, daß er zufrieden ist — doch woher weiß ich das?

Ihm wurde nun klar, daß er schon lange genug das Zellinnere erforschte und an seiner Formung arbeitete, um für dessen äußeres Erscheinungsbild mehr Verständnis aufzubringen als andere Menschen. Ihm konnte nicht der leiseste Betrug in den Reaktionen des Gentyps entgehen. Ich kann in den Menschen lesen, stellte er fest.

Das war eine bestürzende Erkenntnis. Er sah sich im Raum um. Als er den Augen der Computerassistentin begegnete, wußte er, daß sie absichtlich das Band zerstört hatte. Er wußte es.

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