Nur Nourse saß auf seinem Thron in der Kontrollkugel und beobachtete aufmerksam die Skalen, Blinklichter und Leuchtsignale, die über Geschehnisse in der Bevölkerung berichteten. Draußen, sagte man, sei jetzt Nacht — Dunkelheit, die sich über die ganze Hemisphäre breitete, von Seatac bis zur Hauptstadt von N’Scotia. Dunkelheit war für ihn die Vorahnung schrecklicher Geschehnisse, und er wünschte, Schruille und Calapine möchten zurückkehren.
Der Bildschirm wurde hell, Allgoods Gesicht erschien. Der Chef des Sicherheitsdienstes verbeugte sich vor Nourse.
»Was ist?« fragte dieser.
»Kontrollstelle Seatac-Ost berichtet von einem Transporter mit einer komischen Ladung von Behältern, der gerade durchgekommen ist, Nourse. Die Turbinen waren mit Schalldämpfern ausgerüstet. Wir haben Atemgeräusche festgestellt, fünf Personen, die unter der Ladung versteckt sind. Als der Transporter weiterfuhr, hörten wir Schreie. Eurer Instruktion entsprechend, haben wir ein Markierungsgerät auf den Transporter gesetzt und halten ihn unter Beobachtung. Wie ist Eure Order?«
Jetzt beginnt es, dachte Nourse. Und ich bin allein hier.
Nourse prüfte die Instrumente, welche die Kontrollstelle Seatac-Ost überwachten. Der Transporter war ein grüner Stecknadelkopf auf einem Bildschirm. Er verglich die Speichereinheiten des Vorfalls mit der Analyse eines Totalplanmotivators. Die Möglichkeiten, die sich ihm auftaten, erfüllten ihn mit einer Vorahnung von Unheil.
»Man hat die Stimmen identifiziert, Nourse«, fuhr Allgood fort. »Es waren …«
»Svengaard und Lizbeth Durant«, ergänzte Nourse.
»Und wo sie ist, kann ihr Mann nicht weit entfernt sein.«
Allgoods logische Bemerkungen ödeten Nourse allmählich an. Und außerdem hatte der Mann vergessen, ihn, Nourse, mit seinem Namen anzusprechen. Das war um so schlimmer, als Allgood seine Unterlassungssünde gar nicht bemerkt zu haben schien.
»Dann bleiben also noch zwei, die noch nicht identifiziert sind.«
»Wir können wissenschaftliche Vermutungen anstellen, Nourse.«
Der Regent warf einen Blick auf seinen Wahrscheinlichkeitsanalogator. »Zwei der verschwundenen Pharmazeuten.«
»Der eine könnte Potter sein, Nourse.«
Nourse schüttelte den Kopf. »Potter bleibt in Seatac.«
»Vielleicht haben sie einen transportablen Bruttank, Nourse, und der Embryo ist bei ihnen«, vermutete Allgood, »aber es ist uns nicht gelungen, die entsprechenden Maschinen festzustellen.«
»Die Maschine hörst du nicht«, antwortete Nourse, »oder wenn du sie hörst, dann erkennst du sie nicht.«
Nourse sah zu den Spionen hinauf — alle besetzt. Die Regenten überwachten also die Kugel. Tag oder Nacht — immer waren sie besetzt. Und sie wissen, was ich meine, dachte er. Rechnen sie vielleicht mit einer aufregenden Möglichkeit von Gewalttaten?
»Es gelingt mir nicht, Nourses Gedanken zu verstehen«, sagte Allgood.
»Nicht nötig«, erwiderte Nourse, Er musterte das Gesicht auf dem Bildschirm. Es erschien jung, doch Nourse hatte etwas bemerkt: in der Zentrale gab es viel Jugendlichkeit, doch keine wirkliche Jugend. Selbst die Sterries, die Dienstboten, machten keine Ausnahme. Plötzlich fühlte er sich den Sterries ähnlich, die einander mißtrauisch nach Anzeichen des Alterns beobachteten und hofften, sie würden im Vergleich mit anderen gut abschneiden.
»Wie sind Nourses Instruktionen?« fragte Allgood.
»Svengaards Schrei beweist, daß er gefangen ist«, sagte Nourse. »Aber wir dürfen doch die Möglichkeit nicht übersehen, daß dies ein geschickter Trick ist.« Seine Stimme klang müde.
»Sollen wir den Transporter zerstören, Nourse?«
»Zerstören? Nein.« Nourse schüttelte sich. »Nein, noch nicht. Halte ihn unter Beobachtung. Warnung an alle. Wir müssen herausbekommen, wohin sie fahren. Jeder Kontakt mit ihnen muß festgehalten und weiterverfolgt werden.«
»Wenn sie uns aber entwischen, Nourse, dann könnte …«
»Hast du ihre Enzymrezepturen gesperrt?«
»Ja, Nourse.«
»Dann kommen sie nicht weit und nicht für lange.«
»Wie Ihr sagt, Nourse.«
»Du kannst jetzt gehen«, befahl Nourse. Er sah noch lange auf den dunklen Bildschirm. Den Transporter zerstören? Das wäre das Ende. Er wollte nicht, daß dieses Spiel jemals zu Ende gehen sollte. Ein Gefühl freudiger Erregung überlief ihn.
Unter ihm öffnete sich das Kugelsegment, und Calapine kam, gefolgt von Schruille, herein. Sie nahmen ihre Sitze ein. Keiner sprach. Sie schienen in sich versunken, eigenartig ruhig zu sein. Nourse überlegte, ob nicht ein kleines Gewitter sie aufmuntern könnte.
Endlich schaltete Schruille den Sensorkontakt zu den Spionen in den Bergen. Mondlicht überflutete nun die Bildschirme, Nachtvögel zwitscherten, Blätter raschelten. Weit hinter den von Mondlicht übergossenen Hügeln bezeichneten Lichtflecke Küste und Häfen der Hauptstadt und die weitverzweigten, übereinander liegenden und miteinander verbundenen Linien der Luftwege.
Calapine sah geistesabwesend auf den Bildschirm, dachte an Juwelen und allen möglichen Tand, das Spielzeug der Müßiggänger. Sie hatte es in Jahrhunderten nicht fertiggebracht, auf diese Dinge zu verzichten. Doch diese Lichter waren keine Juwelen.
Nourse prüfte die Doppelpyramiden und die Aktionsanalogatoren nach, welche die Bewegungen der Bevölkerung in der Hauptstadt wiedergaben.
»Alles normal … und bereit«, sagte er.
»Normal!« höhnte Schruille.
»Wer von uns …?« fragte Calapine.
»Ich habe die Notwendigkeit am längsten vorausgesehen«, sagte Schruille. »Ich werde es tun.« Er rollte eine Ringschlinge im Arm seines Thrones, und im gleichen Augenblick war er entsetzt über die Einfachheit dieser Tat. Der Ring und die Kräfte, die er kontrollierte, standen seit Jahrhunderten zur Verfügung, ein gefühlloses Verbindungsglied zwischen einer Reihe von Maschinen. Es bedurfte nur einer leichten Drehung, einer Hand und eines Willens, der diese Hand leitete.
Calapine beobachtete ihren Bildschirm — Mondlicht über den Hügeln, Spielzeug ihrer Launen. Die letzte Gruppe der Spezialisten war schon weg, wie sie wußte. Unersetzliche Dinge, die vielleicht zerstört werden konnten, hatte man verlagert. Alles war bereit.
In den Lichtketten flammten goldgelbe Blitze auf. Die Explosionen der sonischen Waffen verwischten das durch die Spione übertragene Bild. Lichter gingen aus, erst das eine oder andere, dann ganze Gruppen, schließlich alle im betroffenen Gebiet. Eine Woge grünen Nebels überflutete die Landschaft, füllte die Täler, überspülte die Hügel.
Alle Lichter erloschen. Nur der grüne Nebel war noch zu sehen. Es sah aus, als krieche er bis zum Mond hinauf, durch ihn hindurch, hinter ihn, bis es nichts anderes mehr gab als grünen Nebel.
Schruille beobachtete die Reihen der Zahlenanalogatoren, die unpersönlichen Berichterstatter, die nur zählten, aussortierten und die verbleibenden Reste meldeten … Nullen. Kein Bild zeigte, wie das Volk in den Tunnels und Mietskasernen starb, in den Labors, auf den Straßen, beim Spiel.
Schruille weinte.
Sie sind tot, dachte er, alle sind sie tot. Sein Geist empfand dieses Wort als Fremdling bar jeder persönlichen Bedeutung. Es war ein Wort, das man auf Bakterien, vielleicht auf Unkraut anwenden konnte. Man sterilisierte ein Gebiet, bevor man es mit hübschen Blumen bepflanzte. Aber weshalb weine ich? fragte er sich. Hatte er überhaupt jemals vorher geweint? Vielleicht …, aber das war schon so lange her … lange her … weinen … Die Worte hatten plötzlich keine Bedeutung mehr. Das ist der Nachteil, wenn man ewig lebt, dachte er. Wiederholt sich alles zu oft, dann verliert es seine Bedeutung.
Der grüne Nebel auf dem Schirm … Ein paar Reparaturen, dann können wir neue Menschen dort ansiedeln, dachte er, Menschen von einem weniger empfindlichen Gentyp. Doch wo gab es Menschen eines solchen Typs? Das Problem von Seatac existierte praktisch überall.
Doch er erkannte den grundlegenden Fehler. Eine Generation war zu sehr isoliert von den anderen. Es gab keine Tradition, keine Fortsetzung in die Zukunft, und von diesem Gedanken war das Volk besessen, unterwühlte die Grundlagen.
Als Gott den ersten unzufriedenen Menschen erschuf, überlegte Schruille, machte er ihn außerhalb der Zentrale ansässig. Aber wir haben dieses Volk geschaffen. Wie aber haben wir den unzufriedenen Menschen erschaffen?
Er wandte sich um und sah, daß auch Calapine und Nourse weinten.
»Warum weint ihr?« fragte er.
Doch sie schwiegen.