6

Svengaard hatte dieses Gebäude in den Unterhaltungssendungen des dreidimensionalen Fernsehens gesehen, es war ihm auch schon beschrieben worden, doch tatsächlich vor der Ratshalle und ihrer Quarantänewand zu stehen und sie im Kupferglanz der untergehenden Sonne zu sehen — davon hatte er nicht einmal zu träumen gewagt.

Auf einer Säule neben ihm leuchtete das rote Dreieck einer pharmazeutischen Zapfstelle auf. Er ging daran vorbei und warf einen Blick zurück.

Er hatte in einer Tunnelbahn den halben Kontinent durchquert und er hatte sogar einen Wagen für sich allein gehabt; nur der Sicherheitsagent, seine Eskorte, war immer bei ihm gewesen. Immer war dieser Agent in Grau neben ihm.

Svengaard stieg die Stufen hinauf, und schon lastete die Zentrale auf ihm. Etwas Unheilvolles lag über diesem Ort.

Warum haben sie mich zu kommen aufgefordert? fragte er sich. Die Eskorte weigerte sich, darauf zu antworten. Doch Svengaard bemerkte, daß auch die Eskorte nervös war.

Warum haben sie mich gerufen? überlegte er wieder.

Der Agent räusperte sich. »Du hast doch deine Protokolle bei der Hand?«

»Ich denke ja«, antwortete Svengaard.

»Sobald du die Halle betrittst, mußt du mit den Dienern, die dich von hier aus geleiten, Schritt halten. Die Tuyère werden dich vernehmen — Nourse, Schruille und Calapine. Denke daran, du mußt immer den Namen nennen, sprichst du einen von ihnen direkt an. Verwende nie Worte wie ›töten‹ oder ›sterben‹, auch nicht Andeutungen davon. Laß sie die Unterhaltung führen. Niemals freiwillig etwas sagen.«

Svengaard holte zitternd Atem. Haben sie mich hierher geholt, um mich zu befördern? überlegte er. Wahrscheinlich. Ich habe meine Lehrjahre unter Männern wie Potter und Igan abgedient. Ich werde in die Zentrale befördert.

»Und sag niemals ›Doktor‹«, riet der Agent. »Doktoren sind hier Pharmazeuten oder Genetikingenieure.«

»Ich habe verstanden.«

»Allgood will nach der Unterredung einen ausführlichen Bericht haben.«

»Ja, natürlich«, versprach Svengaard.

Die Quarantänebarriere hob sich.

»Geh jetzt hinein«, befahl der Agent.

»Kommst du nicht mit?« fragte Svengaard.

»Nicht eingeladen«, antwortete der Agent. Er drehte sich um und ging die Stufen hinab.

Svengaard schluckte, trat in den Silberschimmer der Vorhalle und erreichte die große Halle. Je drei Diener zu beiden Seiten schwangen ihre Weihrauchfässer, von denen rosafarbene Rauchwolken aufstiegen. Der Rauch roch antiseptisch.

Die große rote Kugel beherrschte das Ende der Halle; aus dem offenen Segment schossen Blitze und flammten Lichter. Die sich drinnen bewegenden Schatten faszinierten Svengaard.

Zwanzig Schritte vor der Öffnung blieben die Diener stehen; er blickte zu den Tuyère hinauf und erkannte sie durch den Energievorhang: Nourse in der Mitte, ihm zur Seite Calapine und Schruille.

»Ich bin gekommen«, sagte Svengaard; das war der Gruß, den der Agent ihm befohlen hatte. Er rieb seine schwitzenden Hände an seinem besten Überrock trocken.

»Du bist also Svengaard, der Genetikingenieur«, polterte Nourse.

»Ja, Thei Svengaard … Nourse«. Er holte tief Atem. Hatten sie sein Zögern bemerkt?

»Kürzlich hast du bei der genetischen Formung eines Embryos assistiert«, sagte Nourse lächelnd, »dem eines Paares namens Durant.«

»Ja, ich war der Assistent, Nourse.«

»Während der Operation gab es eine Panne«, sagte Calapine.

»Ja, eine Panne … Calapine«, antwortete er.

»Und du hast die Operation genau verfolgt?« fragte Nourse.

»Ja, Nourse.« Er sah anschließend Schruille an, der schweigend und nachdenklich dasaß.

»Dann wirst du in der Lage sein zu berichten, was es ist, das Potter uns über diese genetische Umformung verschwiegen hat?« fragte Calapine.

Svengaard schien seine Stimme verloren zu haben. Er schüttelte nur den Kopf.

»Er hat also nichts verheimlicht?« wandte sich Nourse an ihn. »Ist es wahr, was du da sagst?«

Svengaard nickte.

»Wir wollen dir nichts Böses tun, Thei Svengaard«, warf Calapine ein. »Du kannst sprechen.«

Svengaard schluckte und räusperte sich. »Ich … die Frage … ich habe nichts gesehen … was verheimlich wurde.« Er schwieg, erinnerte sich dann aber daran, daß er sie beim Namen zu nennen hatte und fügte hinzu: »Calapine«, gerade als Nourse zum Sprechen ansetzte.

Nourse hielt inne und runzelte die Brauen. Calapine kicherte.

»Und doch«, erinnerte Nourse ihn, »sagtest du, du seist der genetischen Umformung gefolgt.«

»Ich … ich habe das Mikroskop nicht jede Sekunde im Auge behalten … Nourse. Ich … ah … die Pflichten eines Assistenten … Instruktionen an die Computerassistentin, die Aufsicht über die Nährbänder und dergleichen …«

»Sag nun, ob die Computerassistentin mit dir befreundet war«, gebot Calapine.

»Ich … sie …« Svengaards Lippen waren wie ausgetrocknet. Was wollten sie von ihm? »Wir haben seit vielen Jahren zusammengearbeitet, Calapine. Ich kann nicht sagen, daß wir Freunde waren. Wir waren Kollegen.«

»Hast du den Embryo nach der Operation genau untersucht?« wollte Nourse wissen.

Schruille richtete sich auf und starrte Svengaard an.

»Nein, Nourse«, gab Svengaard zu. »Meine Pflichten sahen vor, daß ich mich um die Sicherheit des Bruttanks und die Zufuhr der Nährflüssigkeiten kümmerte.« Er holte tief Atem. Vielleicht wollten sie ihn nur prüfen? Doch wozu diese seltsamen Fragen?

»Sag nun, ob Potter dein besonders guter Freund ist«, befahl Calapine.

»Er war einer meiner Lehrer, Calapine, und ich habe mit ihm an schwierigen genetischen Problemen gearbeitet.«

»Aber nicht in deinem ureigenen Kreis?« fragte Nourse.

Svengaard schüttelte den Kopf. Er spürte Bosheit und Unheil. Er wußte nicht, was ihn erwartete; vielleicht mochte der große Globus über ihn hinwegrollen, ihn zerschmettern, seinen Körper zu Atomen zermahlen. Aber nein, das konnten die Regenten doch nicht tun. Er musterte die drei Gesichter, die sich nun klar durch den Energievorhang abzeichneten, suchte nach irgendeinem Zeichen. Saubere, sterile Gesichter.

»Warum hast du Potter in dieser Sache konsultiert?« fragte Nourse.

Svengaard holte tief Atem. »Er … die genetische Darstellung des Embryos … beinahe Regent. Potter kennt unser Hospital. Er … ich habe Vertrauen zu ihm; ein brillanter Chir … Genetikingenieur.«

»Sag nun, ob du mit anderen Pharmazeuten gut stehst«, befahl Calapine.

»Sie … ich arbeite mit ihnen, wenn sie zu uns kommen«, antwortete Svengaard.

»Calapine«, mahnte Nourse.

Sie lachte schallend. Svengaard errötete; allmählich wurde er ärgerlich. Welch eine Art Test sollte das sein?

Der Zorn gab ihm die Stimme wieder. »Ich bin nur der Leiter der genetischen Formung in einem Hospital, Nourse, ein kleiner Gebietsingenieur. Ich mache nur Routineumformungen. Ist ein Spezialist nötig, dann folge ich meinen Anweisungen und rufe einen Spezialisten. Potter war der für diesen Fall angegebene Spezialist.«

»Einer der Spezialisten«, berichtigte Nourse.

»Einen, den ich kenne und achte«, erwiderte Svengaard. Er machte sich nicht die Mühe, den Namen des Regenten hinzuzufügen.

»Sag nun, ob du jetzt wütend bist«, befahl Calapine, und ihre Stimme klang wie Musik.

»Ich bin wütend.«

»Dann erkläre, warum.«

»Warum bin ich hier?« fragte Svengaard. »Weshalb werde ich verhört? Habe ich etwas Unrechtes getan? Werde ich gerügt?«

Nourse beugte sich ihm entgegen. »Du wagst es, uns zu fragen?«

Svengaard starrte den Regenten an; trotz dieser Frage, dem Ton, in dem sie gestellt war, fühlte er sich plötzlich ruhig. »Ich werde alles tun, was ich kann, um Euch zu helfen. Alles. Aber wie kann ich helfen oder antworten, wenn ich nicht weiß, was Ihr wollt?«

Nourse hob die Hand. »Unser ernstlicher Wunsch ist es, dir das sagen zu können. Doch du weißt sicher, daß wir mit dir nicht diskutieren können. Wie solltest du begreifen, was wir verstehen? Kann eine Holzschüssel Schwefelsäure aufnehmen? Vertraue uns. Wir wollen das Beste für dich.«

Ein Gefühl warmer Dankbarkeit wallte in Svengaard auf. Natürlich vertraute er ihnen. Sie waren der genetische Höhepunkt der Menschheit. Und sie sind die Macht, die uns liebt und für uns sorgt, sagte er sich vor. Er seufzte. »Was wünscht Ihr von mir?«

»Du hast all unsere Fragen beantwortet«, erklärte Nourse. »Selbst unsere Nicht-Fragen sind beantwortet.«

»Und nun wirst du alles vergessen, was hier zwischen uns vorgefallen ist«, befahl Calapine. »Du wirst keinem Menschen gegenüber von unserer Unterredung sprechen.«

Svengaard räusperte sich. »Keinem … Calapine?«

»Keinem.«

»Max Allgood hat angeordnet, daß ich ihm Bericht erstatte …«

»Max muß enttäuscht werden«, sagte sie. »Keine Angst, Thei Svengaard, wir werden dich beschützen.«

»Wie Ihr befehlt … Calapine«, antwortete Svengaard.

»Wir wünschen nicht, daß du glaubst, wir würdigten deine Loyalität nicht«, sagte Nourse. »Wir erkennen deine gute Absicht und wollen in deinen Augen nicht kalt und hartherzig erscheinen. Du mußt wissen, daß wir uns um die größten Güter der Menschheit sorgen.«

»Ja, Nourse«, antwortete Svengaard.

Das war eine ziemlich offenherzige Äußerung; ihr Ton war beunruhigend, doch jetzt wurde ihm manches klar. Er erkannte nun, in welche Richtung sich seine Neugier bewegte, wohin sein Verdacht zielte. Hatte Potter sein Vertrauen wirklich mißbraucht? Die Sache mit dem gelöschten Tonband sahen sie also nicht als Panne an? Nun, die Verbrecher würden bestraft werden.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte Nourse.

»Mit unserem Segen«, fügte Calapine hinzu.

Svengaard verbeugte sich, und er bemerkte, daß Schruille sich weder bewegt noch auch nur einmal hatte vernehmen lassen. Sollte er das als schlechtes Zeichen auffassen? Die Knie zitterten ihm, als er sich umwandte und, flankiert von den weihrauchfaßschwingenden Dienern, die Halle verließ.

Die Tuyère sahen ihm nach, bis die Barriere hinter Svengaard herabgelassen wurde.

»Noch einer, der nicht weiß, was Potter erreicht hat«, bemerkte Calapine.

»Bist du dessen sicher, daß Max es nicht weiß?« fragte Schruille.

»Ja, dessen bin ich sicher.«

»Dann hätten wir es ihm sagen müssen.«

»Auch das, woher wir es wissen?« fragte sie.

»Ich kenne die Argumente«, erwiderte Schruille. »Die Instrumente abstumpfen, die Arbeit verpfuschen.«

»Dieser Svengaard ist vertrauenswürdig«, warf Nourse ein.

»Es heißt, daß wir auf des Messers Schneide wandeln«, meinte Schruille, »und dann muß man genau aufpassen, wohin man seine Füße setzt.«

»Welch ekelhafter Gedanke«, tadelte Calapine und wandte sich an Nourse. »Beschäftigst du dich immer noch mit da Vinci, Lieber?«

»Er führte einen großartigen Pinsel«, antwortete Nourse. »Eine ungeheuer genaue Kunst. In vierzig oder fünfzig Jahren müßte ich soweit sein.«

»Vorausgesetzt, daß du genau Schritt vor Schritt tust«, sagte Schruille.

»Manchmal, Schruille«, erklärte er nach kurzem Nachdenken, »erlaubst du dir, zynisch zu sein.« Nourse studierte die Skalen, Anzeigegeräte und Spione an der Innenwand der Kugel gegenüber von Calapine. »Heute ist es eigentlich recht ruhig. Überlassen wir die Kontrolle für heute Schruille, Cal, und gehen wir hinunter, um zu schwimmen und den Pharmazeuten aufzusuchen.«

»Immer nur eure körperliche Spannkraft«, beklagte sich Schruille. »Habt ihr je daran gedacht, fünfundzwanzigmal in den Teich zu hüpfen, statt nur zwanzigmal?«

»In letzter Zeit redest du die erstaunlichsten Dinge«, meinte Calapine. »Soll sich Nourse vielleicht sein Enzymgleichgewicht verderben? Ich verstehe dich wirklich nicht mehr.«

»Dann gib’s auf«, riet Schruille.

»Können wir sonst noch etwas für dich tun?« fragte sie.

»Mein Kreislauf hat mich in die betrüblichste Monotonie verfallen lassen«, antwortete Schruille. »Kannst du vielleicht etwas dagegen tun?«

Nourse musterte Schruille im prismatischen Reflektor. In letzter Zeit war seine Stimme manchmal recht weinerlich und mehr und mehr langweilig geworden. Allmählich bedauerte er es, daß die Gleichartigkeit des Geschmackes und der körperlichen Bedürfnisse sie zusammengeführt hatte. Wenn der Dienst der Tuyère vorüber war, vielleicht …

»Eintönigkeit«, meinte Calapine achselzuckend.

»Oh, in der wohlüberlegten Eintönigkeit liegt ein gewisser Triumph«, behauptete Nourse. »Ich glaube, das ist von Voltaire.«

»Und mir klang es wie reinster Nourse«, spöttelte Schruille.

»Ich halte es manchmal für vorteilhaft, dem Volk unsere gesegnete Sorge zu schenken«, sagte Calapine. »Denk doch an das Schicksal dieser armen Computerassistentin, abstrakt, natürlich. Tut sie dir nicht leid?«

»Mitleid ist Verschwendung«, erwiderte Schruille, »und Sorge für jemanden ist verwandt mit Zynismus.« Er lächelte. »Das geht vorüber. Und jetzt geht schwimmen; Wenn es euch guttut, dann denkt an mich … hier.«

Nourse und Calapine standen auf und gaben Auftrag, die Schwebebalken in Position zu bringen.

»Tüchtigkeit«, sagte Nourse. »Wir brauchen mehr Tüchtigkeit bei unseren Günstlingen. Nichts verläuft glatt genug.«

Schruille sah ihnen zu; er wäre froh gewesen, endlich ihre Stimmen nicht mehr hören zu müssen. Sie übersahen die wichtigen Dinge, ja, sie weigerten sich, diese Dinge zu sehen.

»Tüchtigkeit?« fragte Calapine. »Vielleicht hast du recht.«

Schruille konnte seinen Ärger nicht länger verbergen. »Tüchtigkeit ist das Gegenteil von Kunstfertigkeit«, sagte er unmutig. »Denkt daran!«

Endlich glitten Nourse und Calapine nach unten. Schruille blieb allein zurück; nur die glitzernden Augen der Spione, die an der oberen Wölbung der Kugel in Tätigkeit waren, und das Flimmern der grün-blau-roten Blinklichter der Schaltanlage waren um ihn. Einundachtzig Spione, einundachtzig seiner. Kameraden beobachteten ihn, wie er das Volk und seine Arbeit kontrollierte.

Ich hätte sie vor Svengaard warnen sollen, überlegte er; daß man sich nicht darauf verlassen konnte, daß es eine besondere Vorsehung für Narren gebe. Und Svengaard ist ein Narr, der mir Sorgen macht. Gleichzeitig wußte er, daß Nourse und Calapine Svengaard verteidigt hätten; sie wären jede Wette eingegangen, daß er verläßlich, ehrenhaft und loyal sei. Fast konnte er Nourses überhebliche Worte hören: Unsere Meinung von Svengaard ist richtig.

Und das ist es, was mir Sorgen macht, dachte er. Svengaard verehrt uns, ebenso wie Max es tut. Doch Verehrung ist zu neun Zehntel Furcht. Allmählich wird alles zur Furcht … Er sah zu den Spionen hinauf. »Zeit«, sagte er laut, »Zeit … Zeit …«

Загрузка...