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Im Planungsbüro herrschten Ungeduld und Verwirrung, aber bisher hatte noch niemand die Nerven verloren. Ib Hoffman, vor zwei Stunden von einem einmonatigen Kurierflug zur Erde und nach Dromm zurückgekehrt, hatte praktisch noch keine Äußerung getan und sich lediglich informieren lassen. Easy, die neben ihm saß, hatte überhaupt noch nichts gesagt, doch sie spürte, daß bald etwas geschehen mußte, das die Diskussion in konstruktive Bahnen lenkte. Sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, vergeudete nur kostbare Zeit.

Noch hilfloser gebärdeten sich die Wissenschaftler am anderen Tischende; sie staunten noch immer darüber, daß ein Tümpel gefrieren konnte, obwohl die Temperatur gestiegen war. Falls ihr Mann nicht endlich eingriff, so beschloß sie, würde sie es tun müssen.

„Ich kenne die Argumentation, und ich akzeptiere sie nach wie vor nicht!“ schnauzte Mersereau.

„Klar, komplexere Apparaturen verlangen weniger Personal, aber auch Spezialinstrumente und für Wartung und Reparatur speziell ausgebildetes Personal. Wären die Fahrzeuge vollautomatisiert, wie einige Le ute es wünschten, befänden sich nun vielleicht bloß einhundert Meskliniten auf Dhrawn anstatt eine erste Truppe von eintausend; andererseits lägen womöglich bereits alle Fahrzeuge still, weil wir gar nicht genug Ersatzteile liefern könnten. Außerdem ist die Zahl technisch geschulter Meskliniten noch zu gering. Ich war einverstanden, Barlennan auch; es schien vernünftig. Aber du und Barlennan, ihr gingt sogar weiter. Er war gegen Helikopter; vielleicht spielte die mesklinitische Akrophobie wirklich eine Rolle dabei, doch jedenfalls sah er ein, daß die Fahrzeuge ohne Luftaufklärung in einer Stunde nur wenige Meilen würden überwinden können. Wir haben ihn überzeugt. Aber viele Ausrüstungsgegenstände waren im Gespräch, die wir gerne bereitgestellt und die sich ausgezahlt hätten; er hat sie uns ausgeredet. Keine Waffen; ich räume ein, daß sie wahrscheinlich nutzlos wären. Aber keine Funksprechgeräte? Keine Interkoms in der Basis?

Es ist reiner Blödsinn, daß Dondragmer sich mit einem sechs Millionen Meilen entfernten Satelliten in Verbindung setzen muß, um seine Meldungen an Barlennan in der Basis durch uns ausrichten zu lassen. Gewöhnlich ergaben sich nie Nachteile, da Barlennan den Fahrzeugen ohnehin nicht unmittelbare Unterstützung gewähren kann, aber jetzt ist es nachteilig, da Dons Erster Offizier in der Umgebung der Kwembly verschwunden ist. Er kann sich zehn Meilen entfernt aufhalten oder einhundert Meilen, und in der ganzen Galaxis gibt es keine Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten, weder von hier noch vom Fahrzeug aus. Warum war Bari gegen Sprechfunkgeräte, Alan? Und warum du?“

„Aus genau jenem Grund, den du soeben erwähnt hast“, antwortete Aucoin mit einer winzigen Spur von Unfreundlichkeit in der Stimme. „Das Instandhaltungsproblem.“

„Du beliebst zu scherzen. Es gibt kein Instandhaltungsproblem. Seit eineinhalb Jahren sind in der Basis und in den Fahrzeugen sechzig Kommunikatoreinheiten im Einsatz, und es hat nie auch nur das kleinste Problem gegeben. Du weißt es, und auch Barlennan muß es wissen. Außerdem, warum richten wir die Durchsagen der Fahrzeuge persönlich an die Basis aus? Eine Relaisautomatik täte es besser und schneller, und niemand kann mir einreden, daß es in diesem Satelliten Instandhaltungsprobleme mit Relaiseinheiten geben kann. Wer hält wen zum Narren?“

Easy wand sich unbehaglich; das war Zündstoff, der einen heftigen Streit entfachen konnte. Ihr Mann bemerkte ihre Regung und berührte besänftigend ihren Ar m. Er würde schon Vorsorgen. Antworten konnte Aucoin natürlich allein.

„Niemand will irgend jemand zum Narren halten.

Es geht nicht um das Instandhaltungsproblem, und ich gebe zu, daß die Wortwahl falsch war. Es dreht sich um die Moral. Die Meskliniten sind eine fähige und sehr von sich selbst überzeugte Rasse.

Auf ihren lächerlichen Floßbauten segeln sie Tausende von Meilen weit über die Ozeane ihrer Welt, Monate von der Heimat und von jeder Hilfe abgeschnitten. Wir gelangten zu der Auffassung, daß es, gestaltete man die Kommunikation zu leicht, ihr Selbstvertrauen tendenziell unterhöhlen könne; es ist nicht sicher, das gebe ich zu.

Meskliniten sind keine Menschen, obwohl ihre Psyche der unseren in vieler Hinsicht ähnelt.

Jedenfalls, Barlennan stimmte in der Frage des Nahfunkverkehrs mit uns überein — er warf sie auf — und hat sich nie über Kommunikationsschwierigkeiten beklagt.“

„Bei uns“, bemerkte Ib in diesem Moment.

Aucoin schnitt eine überraschte, dann verwirrte Miene. „Ja, Alan, bei uns hat er sich nie beklagt.

Was er davon hält, wissen wir nicht.“

„Aber weshalb sollte er sich nicht beschweren oder gar darauf verzichten, Geräte anzufordern, wenn ihm klar wird, daß er sie brauchte?“

„Das weiß ich auch nicht“, gestand Hoffman.

„Ich denke nur an die Erfahrungen, die wir mit Barlennan während der ersten Verhandlungen vor einigen Jahrzehnten gemacht haben. Er verhielt sich hochgradig kooperativ und tat während des Unternehmens Schwerkraft alles für uns, wie verlangt wurde; dann, am Ende, konfrontierte er uns mit einer Erpressung, von der fünf von zehn Menschen, sieben von zehn Paneshken und neun von zehn Drommianern noch immer meinen, wir hätten uns nicht auf sie einlassen dürfen. Ihr wißt so gut wie ich, daß die Vermittlung fortgeschrittener Technologie, selbst wissenschaftlicher Grundkenntnisse, an nichtindustrielle Kulturen die Ökologen bis zur Weißglut treibt, weil sie den Standpunkt vertreten, daß jede Rasse ein Recht auf eigenständige Entwicklung hat; daß die Überängstlichen deshalb in Geheul ausbrechen, weil wir angeblich die bösen Fremden gegen uns bewaffnen; daß die Historiker übel auf uns zu sprechen sind, weil wir ihnen das kulturgeschichtliche Vergleichsmaterial verderben; daß die Administrationen sich ärgern, weil wir ihnen Probleme aufhalsen, denen sie noch nicht gewachsen sind.“

„Das größte Problem sind diese Ängstlichen, die du erwähnt hast“, warf Mersereau ein, „diese Hohlköpfe, die glauben, jede nichtmenschliche Rasse würde unser Feind, sobald sie nur über die technischen Kapazitäten verfügt. Deshalb haben die Meskliniten ausschließlich Apparaturen erhalten, die sie unter keinen Umständen nachbauen können, wie die Konvertereinheiten; die sich ohne fü nferlei Hilfsmittel, zum Beispiel Gammadiffraktionskameras, nicht analysieren lassen. Alans Argume nt klingt gut, aber es ist bloß eine Ausrede. Du weißt, daß ein Mesklinit ein teilautomatisiertes Raumboot zu fliegen sehr wohl lernen könnte, wenn man die Kontrollen für seine Zangen modifiziert, und in diesem Satelliten ist kein Wissenschaftler, der nicht froh wäre, Proben von Dhrawns Oberfläche geliefert zu bekommen.“

„Das stimmt nicht alles, aber enthält viel Wahrheit“, entgegnete Hoffman ruhig. „Ich teile deine Meinung über die Ängstlichen, aber es ist eine Tatsache, daß bei den modernen billigen Energiequellen die Möglichkeit einer interstellaren Kriegsführung nicht mehr so ausgeschlossen ist, wie man früher annahm. Euch ist bekannt, warum dieser Satellit so große Räume hat, obwohl es Platzverschwendung ist und viele von uns sie ungemütlich finden. Der durchschnittliche Drommianer, entdeckte er einen Raum, den zu betreten ihm unmöglich ist, würde sofort den Verdacht hegen, wir verheimlichten ihm etwas. Die Drommianer kennen kein Privatleben und sind — nach unseren Vorstellungen — ernstlich paranoid.

Hätten wir ihnen die Teilhabe an unserer Technologie verwehrt, ihr Planet hätte sich in einen Vulkan von Verfolgungswahnsinnigen verwandelt, weitaus gefährlicher als alle Verrückten, die die Erde jemals hervorgebracht hat. Ich habe keine Ahnung, ob die Meskliniten ähnlich reagieren würden, aber ich schätze, ihre Ausbildung auf Mesklin stattfinden zu lassen, war die geschickteste Lösung.“

„Nachdem die Meskliniten die Vermittlung von Kenntnissen erpreßt hatten, ja.“

„Eben“, bestätigte Hoffman. „Aber das sind Nebenprobleme. Der entscheidende Punkt ist gegenwärtig, daß wir nicht wissen, was Barlennan wirklich denkt oder plant. In einer Beziehung können wir allerdings absolut sicher sein — er hätte niemals seine Einwilligung gegeben, daß wir ihn und zweitausend andere Meskliniten auf eine fast völlig unerforschte, sogar für seine Rasse sehr gefährliche Welt schicken, besäße er dafür nicht selbst einen guten Grund.“

„Den haben wir ihm geliefert“, deutete Aucoin an.

„Ja, indem wir sein Erpressungsmanöver imitierten. Wir erklärten uns zur Fortführung der Lehrtätigkeit auf Mesklin nur unter der Bedingung bereit, wenn er für uns die Expedition nach Dhrawn übernehmen würde. Ich räume gerne ein, daß Barlennan ein Idealist sein mag, aber ich kann nicht abschätzen, in welchem Maß sein Idealismus mit Patriotismus geladen ist. Aber auch diese Dinge gehören nicht hierher; die Meskliniten waren mit der Zusammenstellung der Ausrüstungen einverstanden — warum auch immer. Wir können ihnen weiterhin mit Informationen über physikalische Vorgänge helfen, die sie nicht kennen und die ihre Wissenschaftler kaum selbst zu erarbeiten vermögen, denn wir verfügen über Computer. Ein unerhört teures Expeditionsfahrzeug ist auf Dhrawn festgefroren, und einhundert Meskliniten sitzen darin fest. Sollten wir Barlennan zur Annahme neuer Ausrüstungen bewegen können, nun gut; aber was läßt sich tun, um Dondragmer baldmöglichst zu helfen? Das ist mir unklar. Ich sehe nicht die geringste Möglichkeit.“

„Vermutlich hast du recht, Ib, aber ich kann nicht anders, ich muß an Kervenser denken und wie vernünftiger es gewesen wäre, wenn…“

„Er hätte eins der Geräte mitnehmen können. Die Kwembly hat vier Kommunikationseinheiten an Bord, alle transportabel. Die Entscheidung, eine mitzuführen oder nicht, lag ganz bei Kervenser und dem Captain. Lassen wir das Jammern und versuchen wir es lieber mit einigen konstruktiven Überlegungen.“

Mersereau schwieg, ein wenig irritiert durch Ibs energische Formulierung, aber jedenfalls war seine Auseinandersetzung mit Aucoin vorerst beendet.

Der Planer ergriff wieder die Initiative und wandte sich an die am anderen Tische nde sitzenden Wissenschaftler, die ihre Unterhaltung inzwischen eingestellt ha tten. „Nun, McDevitt, habt ihr euch einigen können, was geschehen sein mag?“

„Nicht restlos, aber wir haben einen Gedanken, den zu prüfen sich lohnen dürfte. Du weißt, daß die Kwembly berichtete, die Temperatur sei seit der Nebelbildung unverändert geblieben und daß sogar ein sehr schwacher Wärmetrend bestehe. Seit das Fahrzeug feststeckt, seien die Barometerwerte langsam gestiegen. Die gemeldeten Temperaturen lagen weit unter den Gefrierpunkten von reinem Wasser und reinem Ammoniak, aber erheblich über dem der eute ktischen Ammoniakmonohydratlösung. Wir hatten vermutet, daß das Tauwetter durch die vom Ammoniaknebel und der Wasserschneeschicht eingegangene Reaktion ausgelöst wurde; Dondragmer hatte diese Möglichkeit befürchtet.

Trifft dies zu, könnte der Gefrierprozeß infolge der Verdunstung des in der eutektischen Lösung enthaltenen Ammoniaks entstanden sein. Wir brauchten Ammiditätsmessungen…“

„Was?“ unterbrachen Hoffman und Aucoin spontan und wie aus einem Mund.

„Verzeihung. Fachsprache.

Ammoniakteildruckwerte im Verhältnis zum Sättigungsgrad — analog dem Verhältnis des Wasserfeuchtigkeitsgrads. Solche Messungen müßten wir haben, um zu entscheiden, ob die Vermutung zutrifft, und die Meskliniten haben sie nicht vorgenommen.“

„Könnten sie es?“

„Ich bin sicher, daß sich eine Methode mit ihnen erarbeiten ließe. Wie viel Zeit das beansprucht, weiß ich nicht. Wasserdunst würde nicht stören; sein Ausgleichsdruck liegt in diesem Temperaturbereich um vier oder fünf Werte niedriger als beim Ammoniak. Es dürfte nicht allzu schwierig sein.“

„Mir ist klar, daß es sich mehr um eine Hypothese handelt als um eine ausgereifte Theorie. Bildet sie eine ausreichende Grundlage, um Maßnahmen einzuleiten?“

„Das hängt von den Maßnahmen ab.“ Aucoin machte eine ungeduldige Geste, und der Meteorologe sprach hastig weiter. „Ich meine, ich würde auf dieser Grundlage keine Aktionen entwickeln, die nach dem Prinzip >alles oder nichts< ablaufen, aber man könnte alles versuchen, das nicht kostbare Materialvorräte der Kwembly erschöpft oder das Fahrzeug in noch größere Gefahr bringt.“

Der Planer nickte. „Nun gut. Möchtest du bleiben und uns weiter mit Anregungen versorgen oder wäre es effektiver, diese Angelegenheit umgehend mit den Meskliniten zu besprechen?“

McDevitt verzog die Lippen und dachte einen Moment lang nach. „Wir verständigen uns regelmäßig mit ihnen, aber bis jetzt ist von ihrer Seite mehr nützliches Material gekommen als von…“ Er verstummte; Easy und ihr Mann unterdrückten ein Lächeln. Aucoin, der den faux pas anscheinend nicht bemerkt hatte, nickte nochmals. „Gut. Informiert uns, wenn euch irgendwelche neuen Ideen kommen, die erfolgversprechend sein könnten.“

Die vier Wissenschaftler versprachen es und verließen den Raum. Die zehn übrigen Konferenzteilnehmer schwiegen für einige Minuten, bis Aucoin endlich aussprach, was sie alle dachten.

„Finden wir uns damit ab“, sagte er langsam.

„Der richtige Streit kommt erst, wenn wir diesen Bericht an Barlennan weiterleiten.“

Ib Hoffmann richtete sich heftig auf. „Das habt ihr noch nicht?“ schnauzte er.

„Bis jetzt weiß er nur, daß die Kwembly strandete, aber nichts davon, daß sie plötzlich festgefroren ist.“

„Warum nicht?“ Easy spürte die Drohung in der Stimme ihres Mannes; sie überlegte, ob sie schlichten solle. Aucoin reagierte auf die Frage mit Überraschung.

„Das weißt du so gut wie ich. Ob er es jetzt, in zehn Stunden oder in einem Jahr erfährt, macht keinen Unterschied. Er kann kurzfristig gar nichts für Dondragmer tun, und wenn er überhaupt etwas unternehmen könnte, dann etwas, das wir wahrscheinlich auch diesmal ablehnen würden.“

„Und das wäre?“ fragte Easy freundlich. Sie hatte sich entschieden, wie das Gespräch zu führen war.

„Eins der bei der Basis bereitstehenden Fahrzeuge zur Unterstützung losschicken, wie er es im Falle der Esket wollte.“

„Du wärst auch jetzt dagegen.“

„Selbstverständlich, aus den gleichen Gründen, die Barlennan damals akzeptiert hat. Es geht nicht bloß darum, daß wir diese beiden Fahrzeuge für andere Aufgaben vorgesehen haben, aber das ist ein Grund. Wie du auch von mir denken magst, Easy, ich schätze Leben nicht als wertlos ein, weil es nichtmenschliches Leben ist. Dennoch bin ich dagegen, weil ich immer gegen Vergeudung von Zeit und Hilfsmitteln bin. Die Änderung des Vorgehens inmitten einer Operation führt gewöhnlich zu beidem.“

„Wenn du immer behauptest, daß dir mesklinitisches Leben nicht weniger als menschliches bedeutet, wie kannst du dann so etwas sagen?“

„Easy, du ignorierst die Tatsache, daß sich die Kwembly ungefähr dreizehntausend Meilen von der Basis entfernt befindet. Ein Hilfsfahrzeug benötigte etwa zweihundert bis zweihundertfünfzig Stunden, um sie zu erreichen. Überdies ist sie von ihrer ursprünglichen Route abgetrieben worden, und womöglich ist das Plateau jetzt nicht länger passierbar.“

„Wir könnten die Richtung anhand von Satellitenfotos bestimmen.“

„Zweifellos. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß Barlennan, wenn Dondragmer die gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht selbst zu bewältigen vermag, nichts zu seiner Unterstützung tun kann, falls die Kwembly akuter Gefahr ausgesetzt ist; falls sie lediglich vorübergehend festgefroren ist, können ihr schnellzyklisches Versorgungssystem und die Fusionskonverter sie lange genug am Leben erhalten, bis Barlennan und wir uns eine langfristige und risikolose Hilfsmaßnahme ausgedacht haben.“

„Wie bei Destigmets Esket“, antwortete die Frau mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme. „Sieben Monate sind vergangen, und du würgst, wie damals, noch immer jedes Wort über eine Rettungsaktion ab!“

„Damals war die Situation völlig anders. Die Esket steht noch — unverändert, soweit die Kameras diesen Schluß zulassen — an ihrem Platz, aber die Besatzung ist verschwunden. Wir haben nicht die geringste Vorstellung, was ihr widerfahren sein kann, aber da niemand an Bord ist, müssen wir annehmen, daß sie umgekommen ist. Auch Meskliniten können, wenn sie nichts als ihre Schutzanzüge mitführen, auf Dhrawn nicht sieben Monate lang überleben.“

Easy wußte keine Antwort. Rein logisch betrachtet, hatte Aucoin völlig recht; aber Easy vermochte sich mit dem Gedanken, daß das Problem sich nur logisch lösen ließ, nicht abzufinden. Ib wußte, wie sie empfand, und kam zu der Einsicht, daß es angebracht sei, wieder einzulenken. Grundsätzlich teilte er, in gewissen Grenzen, die Meinung des Planers, aber ihm war klar, daß seine Frau wohl kaum damit einverstanden sein konnte.

„Das dringendste aller Probleme ist“, sagte Hoffman, „daß einige von Dondragmers Leuten noch außerhalb des Fahrzeugs sind. Wie ich es verstehe, befinden zwei sich unter dem Eis — und niemand kann sagen, ob der Tümpel nicht bis auf den Grund gefroren ist. Ich verma g die Chancen für Meskliniten, die sich — wenn auch in Schutzanzügen — in einer solchen Lage befinden, nicht abzuschätzen. Temperaturschwankungen dürften ihnen nicht schaden, aber niemand weiß, welchen anderweitigen physiologischen Beschränkungen sie unterliegen. Was Dondragmers Ersten Offizier angeht, der von einem Aufklärungsflug überfällig ist, so können wir nicht unmittelbar helfen, da er keinen Kommunikator an Bord hat; aber die Kwembly verfügt über einen zweiten Helikopter. Hat Dondragmer die Absicht geäußert, mit der anderen Maschine — mit einer Kamera ausgestattet — nach seinem Ersten Offizier suchen zu lassen, und hat er deshalb Unterstützung von uns angefordert?“

„Seit einer halben Stunde hat er sich nicht gemeldet“, erwiderte Mersereau.

„Dann empfehle ich dringend, daß wir ihm einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten.“

Aucoin nickte zustimmend und sah dann zu Easy hinüber. „Deine Aufgabe, würde ich sagen.“

„Als ob man mir das sagen müßte.“ Easy stand auf, kniff Ib im Vorbeigehen in ein Ohrläppchen und ging hinaus.

„Der nächste Punkt“, sagte Hoffman. „Ich meine, daß Barlennan über die neueste Situation der Kwembly informiert werden muß.“

„Weshalb sollten wir uns mehr Ärger einhandeln als erforderlich?“ fragte Aucoin. „Ich streite mich ungern mit jemand, dem es freisteht, ob er mir zuhören will oder nicht.“

„Streit dürfte sich erübrigen. Erinnere dich, daß er in dieser Beziehung schon einmal mit uns übereinstimmte.“

„Vor einigen Minuten hast du angedeutet, daß du an seiner Aufrichtigkeit zweifelst.“

„Er hätte der Esket, wäre ihm wirklich daran gelegen gewesen, gegen unseren Rat ein Hilfsfahrzeug schicken können. Er tat es, wie du dich entsinnst, bei mehreren anderen Anlässen.“

„Ja, aber diese Fahrzeuge, die in Schwierigkeiten waren, lagen in der Nähe der Basis, und schließlich haben wir sein Verhalten doch gebilligt“, entgegnete Aucoin.

„Weil wir wußten, daß er es ohnehin tun würde.“

„Nein, weil deine Frau auf Barlennans Seite stand und uns überredete. Und unglücklicherweise spricht deine Argumentation dagegen, ihn über die neue Situation zu unterrichten.“

„Und auf welcher Seite stand sie, als es um die Esket ging? Ich bin dafür, Barlennan zu informieren, und nicht bloß der Aufrichtigkeit wegen, sondern weil er früher oder später merken wird, daß wir Expeditionsberichte zensieren.“

„Zensur würde ich es nicht nennen. Wir haben nie etwas verändert.“

„Aber ihr habt die Übermittlung oftmals verzögert, um zu prüfen, ob er etwas erfahren durfte oder nicht, und das ist kein Verhalten, das wir mit ihm vereinbart haben. Schon im eigenen Interesse täten wir gut daran, uns sein Vertrauen so lange wie möglich zu bewahren.“

Mehrere andere Konferenzteilnehmer, die während des Streitgesprächs geschwiegen hatten, fingen nun nahezu gleichzeitig zu reden an, und Aucoin benötigte einige Sekunden, um den Sinn ihrer Äußerungen zu erfassen, doch schließlich wurde ihm doch klar, daß sie Ibs Meinung befürworteten. Der Planer nickte würdevoll; es entsprach nicht seiner Art, sich gegen das ganze Team zu stellen. „Also gut. Sobald die Sitzung beendet ist, geben wir Barlennan die vollständige Nachricht durch.“ Er sah Ib an. „Das heißt, falls Easy es nicht schon getan hat. Was ist der nächste Punkt?“

Einer der Männer, der bisher vorwiegend nur zugehört hatte, meldete sich nun zu Wort. „Ib, du und Alan, ihr habt vor ein paar Minuten beide behauptet, daß Barlennan damit einverstanden gewesen sei, die Menge komplizierten Expeditionsgeräts auf ein absolutes Minimum zu beschränken. Soviel war mir auch bekannt; aber du, Ib, hast ebenfalls erwähnt, du hegtest an seiner Ehrlichkeit gewisse Zweifel. Beruhen diese Zweifel auf der Tatsache, daß er die Helikopter akzeptiert hat?“

Hoffman schüttelte den Kopf. „Nein. Unsere Argumente, die wir für ihre Verwendung vorbrachten, waren überaus stichhaltig, es überraschte mich lediglich, wie schnell er sich darauf einließ.“

„Aber Meskliniten sind von Natur aus akrophobisch. Der Gedanke des Fliegens muß jemanden, der von einer Welt mit derartiger Gravitation stammt, doch schlichtweg unvorstellbar anmuten.“

Ib lächelte grimmig. „Stimmt. Aber als erstes unternahm Barlennan, nachdem er den Handel mit den Leitern des Unternehmens Schwerkraft zustande gebracht hatte, einen Flug mit einem selbstgebauten Heißluftballon, und zwar in Mesklins Polarzone, wo die Gravitation am höchsten ist. Was Barlennan auch motivieren mag, die Akrophobie ist es nicht. Ich mißtraue ihm nicht regelrecht; doch ich bin unsicher über seine Denkweise, wenn diese etwas vage Formulierung erlaubt ist.“

„Ich denke ähnlich darüber“, warf Aucoin ein.

„Und ich glaube, damit sind wir uns vorerst einig.

Ich schlage vor, uns in, sagen wir: sechs Stunden noch einmal zu besprechen. Inzwischen können wir Überlegungen anstellen, im Kommunikationsraum den Meskliniten zuhören oder mit ihnen reden; jedenfalls etwas, das sich eignet, uns vielleicht neue Anregungen zu liefern. Ihr kennt meine Vorstellungen davon.“

Einer der Wissenschaftler meldete sich nochmals.

„Ich kann nicht anders, ich muß mich immer wieder, wenn eins der Fahrzeuge Schwierigkeiten hat, selbst wenn sie eindeutig natürlicher Art sind, mit der Esket beschäftigen.“

„Ich schätze, so geht es uns allen“, erwiderte Aucoin.

„Je länger ich darüber nachdenke, um so mehr verfestigt sich mein Verdacht, daß sie auf einen intelligenten Widerpart getroffen ist. Immerhin wissen wir, daß es auf Dhrawn anderes Leben gibt als nur das Gesträuch und die Pseudoalgen, die die Meskliniten gefunden haben. Quantitativ widerspräche eine solche Beschränkung den atmosphärischen Verhältnissen; irgendwo muß ein kompletter ökologischer Komplex existieren, und zwar, wie ich vermute, in den wärmeren Regionen.“

„Wie die Tiefdruckzone Alpha.“ Hoffman erweiterte den aufgeworfenen Gedanken. „Ich halte die Möglichkeit, daß eine intelligente Spezies Dhrawn bewohnt, für erwägenswert. Bisher haben wir aus dem Raum keine Spur von ihr entdeckt, und die Meskliniten sind ihr nicht begegnet — vorausgesetzt, die Esket hat es nicht getan; aber siebzehn Milliarden Quadratmeilen sind eine Menge Land. Die Idee ist plausibel, und du bist keineswegs der erste, dem sie geko mmen ist; Easys Angaben zufolge hat auch Barlennan schon daran gedacht, im Verlauf der Debatte um die Esket, aber aufgrund der Ausdehnung unerkundeten Gebiets wollte er keine Suche durchführen.

Selbstverständlich wollten wir nichts erzwingen.“

„Warum nicht?“ fragte Mersereau. „Kämen wir mit Eingeborenen in Kontakt, wie damals auf Mesklin, das Projekt liefe weitaus zügiger! Wir wären nicht mehr so abhängig von… oh!“

Aucoin lächelte düster. „Genau“, sagte er. „Nun haben wir einen Grund, an Barlennans Aufrichtigkeit zu zweifeln. Ich behaupte nicht, er sei ein eiskalter Politiker, der das Leben seiner Leute opfert, um seine Teilhabe am Dhrawn-Projekt zu sichern, aber die Besatzung der Esket war mit Gewißheit ohnehin längst nicht mehr zu retten, als er sich bereit erklärte, die Kalliff nicht auszuschicken.“

„Da ist noch ein anderer Aspekt“, konstatierte Hoff man nachdenklich.

„Welcher?“

„Ich weiß nicht, ob es sich zu erwähnen lohnt, aber die Kwembly steht unter dem Befehl von Dondragmer, seit langer Zeit einer von Barlennans Partnern, und nach herkömmlichen Vorstellungen müßten die beiden sehr eng befreundet sein.

Besteht die Möglichkeit, daß Barlennan sich davon beeinflussen läßt und wider alle Vernunft eine Rettungsaktion einleitet? Diese Raupe ist nicht einfach der Kommandant einer Expedition. Seine Kaltblütigkeit ist eine rein physische Eigenschaft.“

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht“, erwiderte der Chefplaner. „Schon vor Monaten habe ich mich sehr gewundert, daß er Dondragmer überhaupt auf Erkundung schickte, aber ich habe mich dann nicht weiter darum gekümmert.

Selbstverständlich weiß niemand von uns genug über die mesklinitische Psyche im allgemeinen und Barlennans Motivationen im besonderen, um derartige Dinge in der Planung zu berücksichtigen.

Man muß diese Frage jedoch auf die Liste der unbeantworteten setzen. Unterhalten wir uns noch über die beiden Besatzungsmitglieder, die anscheinend unter der Kwembly eingefroren sind; aber dann müssen wir die Sitzung wirklich beenden.“

„Ein Fusionskonverter kann ein Drahtgebilde ganz nett erhitzen, und Widerstände sind keine besonders komplizierten Gegenstände“, führte Mersereau aus. „Überhaupt wäre Heizgerät auf Dhrawn beileibe nicht fehl am Platze — hätten wir nur…“

„Aber wir haben nicht“, unterbrach ihn Aucoin ungeduldig.

„Du solltest mich ausreden lassen. Trotzdem, die Konverter der Kwembly sind eine gewaltige Energiequelle. Es muß sich doch irgendwelches Metall an Bord befinden, aus dem man Widerstände oder Lichtbogen herstellen könnte. Ob die Meskliniten eine so heikle Angelegenheit zu verwirklichen vermögen, kann ich nicht beurteilen.

Auch ihrer Temperaturverträglichkeit müssen Grenzen gesetzt sein. Immerhin können wir uns ja erkundigen, ob sie schon eine ähnliche Idee hatten.“

„Du übersiehst eins. In den Fahrzeugen gibt es kaum Metall, und ich wäre überrascht, würde mesklinitisches Tauwerk sich plötzlich als leitfähig erweisen. Aber ich bin nicht dagegen, daß wir Dondragmer fragen. Easy ist wahrscheinlich noch im Kommunikationsraum; sie kann dir helfen, falls erforderlich. Und jetzt machen wir Schluß.“

Mersereau nickte, während er bereits zur Tür ging, und die Versammlung löste sich auf. Aucoin folgte ihm, wogegen die übrigen Personen den Raum durch andere Türen verließen. Nur Hoffman blieb am Tisch zurück.

Sein Blick war grüblerisch und sein Gesicht auf eine Weise nachdenklich verzogen, die ihn älter als seine vierzig Jahre wirken ließ.

Er mochte Barlennan. Dondragmer mochte er, wie seine Frau, sogar noch mehr. Er hatte nicht den leisesten Anlaß, den Ablauf des Dhrawn-Projekts zu bemängeln. Abgesehen von jenem Erpressungsmanöver vor einem halben Jahrhundert gab es keinen konkreten Grund, dem mesklinitischen Kapitän zu mißtrauen. Den Menschen die hypothetische Existenz von Eingeborenen vorzuenthalten, dafür konnte es einfach kein Motiv geben, ganz gewiß nicht.

Barlennan würde klar sein, daß die Umstände, die es den Menschen bereiten mußte, solchen Geschöpfen, falls sie existierten, die Durchführung des Forschungsprojekts zu übertragen, es lediglich stark verzögern und seine Auftraggeber deshalb darauf verzichten würden.

Die gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen und den Meskliniten ließen sich als unbedeutend einstufen. Dergleichen geschah zehnmal häufiger zwischen Menschen und Drommianern. Nein, es gab keine Berechtigung zu der Annahme, daß die Meskliniten bereits eigenen, von den menschlichen Plänen unabhängigen Absichten nachgingen.

Dennoch, Barlennan hatte keine Helikopter gewollt und sie erst nachträglich akzeptiert; derselbe Barlennan, der, kaum daß er sich einige wissenschaftliche Kenntnisse angeeignet hatte, einen Heißluftballon baute und ihn flog.

Er hatte darauf verzichtet, der Esket Hilfe zu schicken, obwohl zur vollständigen Erfüllung des Forschungsprogramms alle Fahrzeuge — a usnahmslos — erforderlich waren, und trotz der Tatsache, daß sich ungefähr einhundert seiner Gefährten an Bord befanden.

Er hatte Nahfunkgeräte abgelehnt, obschon ihr Nutzen auf der Hand lag. Seine Argumentation gegen sie war ebenso lächerlich haltlos wie unüberwindbar hartnäckig gewesen.

Er hatte, fünfzig Jahre zuvor, nicht bloß beiläufig die Chance wahrgenommen, für Meskliniten fremdes Wissen zu erlangen, sondern seine Weitergabe von seinen nichtmesklinitischen Auftraggebern rücksichtslos erzwungen.

Ib Hoffman vermochte sich schlichtweg des Eindrucks nicht zu erwehren, daß Barlennan insgeheim erneut etwas im Sinn führte.

Er fragte sich, wie Easy darüber dachte.

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