Das Wetter über der Basis hatte sich schon vor einer Weile aufgeklärt, der Ammoniaknebel hatte sich in die unerforschte Zentralregion des Tiefdruckgebiets Alpha verzogen und der Wind sich in eine leichte Nordwestbrise verwandelt. Die Sterne funkelten hell und zogen die Aufmerksamkeit der Meskliniten auf sich, die gerade draußen oder in den Korridoren waren; sie blieben unbemerkt von jenen, die sich in den hell erleuchteten Räumen unterhalb der Transparentdächer befanden.
Da Barlennan sich in der Forschungssektion an der Westseite der Basis aufhielt, als Easy ihn anrief, erreichte die Nachricht ihn nicht sofort.
Einer von Guzmeens Untergebenen brachte ihm die Niederschrift und nahm befehlsgemäß keine Rücksicht darauf, daß Barlennan in einer Konferenz war. Er übergab die Notiz dem Commander, der sich mitten im Satz unterbrach, um sie zu lesen. Bendivence und Deeslenver, die Wissenschaftler, mit denen er gerade verha ndelte, warteten schweigend, bis er den Text studiert hatte; lediglich ihre Körperhaltung ließ ihre Spannung erkennen.
Barlennan las die Durchsage zweimal, durchdachte anscheinend einen Zusammenhang und wandte sich schließlich an den Boten. „Ich nehme an, das ist soeben erst hereingekommen.“
„Ja, Commander.“
„Und wie lange liegt Dondragmers letzte Durchsage zurück?“
„Nicht lange. Weniger als eine Stunde, schätze ich. Es muß aus den Aufzeichnungen ersichtlich sein. Soll ich nachschauen?“
„Wenn du es ungefähr weißt, ist es nicht so dringend. Zuletzt hatte ich die Meldung erhalten, daß die Kwembly, nachdem sie einige Stunden lang den Fluß hinuntergetrieben war, auf Grund gelaufen sei, und das ist schon eine ga nze Weile her. Da Guz nichts mehr verlauten ließ, dachte ich, ansonsten sei alles in Ordnung. Er wird doch in den üblichen Abständen die Zwischenberichte angehört oder die Menschen gefragt haben.“
„Ich weiß es nicht, Commander. Ich war nicht die ganze Zeit im Dienst. Soll ich mich erkundigen?“
„Nein, ich werde mich selbst darum kümmern.
Guz braucht mir nichts mehr hierher zu melden; er soll nur alle Durchsagen notieren.“ Der Bote verschwand, und Barlennan wandte sich wieder den Wissenschaftlern zu. „Manchmal frage ich mich, ob wir nicht doch mehr elektrische Kommunikation haben sollten. Ich möchte wissen, wie lange Don benötigt hat, um uns zu erreichen; aber bevor ich zu Guzmeen gehe, will ich noch einige andere Dinge besprechen.“
Bendivence machte eine Bewegung, die einem Achselzucken entsprach. „Wenn du es willst, können wir das einrichten. Im Labor sind Telefone, die ganz gut funktionieren; wir könnten in der ganzen Basis Leitungen legen, falls wir unser Metall dafür verwenden wollen.“
„Noch nicht. Bleiben wir beim Thema. Hier, lest das. Die Kwembly steckt in Eis oder etwas Ähnlichem fest, und ihre beiden Helikopter sind verschwunden. Einer hatte einen Kommunikator an Bord und stand mit dem Satelliten in Ve rbindung.“
Deeslenver zeigte seine Erregung durch ein leises Summen an und griff nach der Notiz. Wortlos gab Bendivence sie an ihn weiter. Deeslenver las sie, wie Barlennan vor ihm, zweimal durch, ehe er zu sprechen begann.
„Man sollte meinen, die Menschen besäßen ein paar Informationen mehr, da sie doch alles so genau beobachten. Das hier besagt nur, daß Kervenser von einem Flug nicht zurückkehrte und der Kontakt mit dem zweiten Helikopter, der mit einem Kommunikator an Bord nach ihm suchte, plötzlich abbrach; der Bildschirm zeigte ganz unvermittelt nichts mehr.“
„Ich könnte mir einen Grund dafür denken“, bemerkte Bendivence.
„Ich auch“, gab der Commander zur Antwort.
„Die Frage ist nicht, wodurch der Bildschirm plötzlich leer blieb, sondern warum es zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort geschah. Wir dürfen annehmen, daß Reffel den Kommunikatorsatz abgedeckt hat. Es wäre gut gewesen, wir wären auf diese Methode gekommen, ehe wir die Esket aus dem Verkehr ge zogen haben. Das hätte unser Vorgehen gewaltig erleichtert. Irgend etwas muß ihm vor die Kamera geraten sein, das nicht recht in die Esket-Geschichte paßte. Aber was? Die Kwembly liegt fünf oder sechs Millionen Kabel von der Esket entfernt. Vielleicht befa nd sich eins der Luftschiffe in der Gegend, aber was hätte es da zu suchen?“
„Das werden wir wohl erst erfahren, wenn Destigmet das nächste schickt“, antwortete der Wissenschaftler sachlich. „Was mich interessiert — warum haben wir von Kervensers Verschwinden nicht früher erfahren? Wie konnte Reffel losfliegen und ebenfalls verschwinden, ehe wir überhaupt informiert wurden? Ob Dondragmer den Menschen zu spät Meldung erstattet hat?“
„Das bezweifle ich sehr“, meinte Barlennan.
„Bestimmt hat er Kervensers Verschwinden sofort durchgegeben. Vergiß nicht, der Bote erwähnte, daß inzwischen schon andere Meldungen eingetroffen waren. Vielleicht hat Guzmeen es für nicht so wichtig gehalten, um uns umgehend einen Boten zu schicken. Das können wir in wenigen Minuten herausfinden.“
„Andererseits habe ich mich erst kürzlich gefragt, ob die Menschen dort oben die Informationen immer sofort und vollständig weiterleiten. Einoder zweimal hatte ich den Eindruck, daß sie erst einiges Material sammeln, bevor sie eine Gesamtdurchsage machen. Es kann Nachlässigkeit sein; oder vielleicht täusche ich mich.“
„Oder sie wählen sorgsam aus, was wir zu hören bekommen“, sagte Bendivence. „Wir könnten die halbe Truppe verlieren, ohne etwas davon zu erfahren, wenn die Menschen es so treiben. Ich kann mir vorstellen, daß sie befürchten, wir legten den Auftrag nieder und verlangten unseren Heimtransport, wie es, falls sich das Risiko als zu groß erweist, im Vertrag abgemacht ist.“
„Das wäre möglich“, gab Barlennan zu. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Für sehr wahrscheinlich halte ich es nicht, aber je länger ich mir die Situation überlege, um so mehr denke ich an eine Möglichkeit, die Ereignisse zu überprüfen; schließlich sollten wir sicher sein, daß sie sich nicht jedes Mal die Zeit für eine Konferenz nehmen, um zu beschließen, was sie uns erzählen, wenn irgend etwas mit einem der Forschungsfahrzeuge nicht klappt.“
„Hältst du so etwas wirklich für möglich?“ fragte Deeslenver.
„Das ist schwer zu sagen. Gewiß, wir waren nicht ganz ehrlich zu ihnen, aber nach unserer Auffassung haben wir triftige Gründe. Das stört mich nicht weiter. Wir wissen, daß einige dieser Menschen raffinierte Strategen sind, und es ist sicherlich — finden wir uns damit ab — unser Fehler, wenn wir es mit ihnen nicht aufzunehmen vermögen. Allerdings wüßte ich nur zu gerne, ob diese Eigentü mlichkeiten in der Kommunikation auf Nachlässigkeit beruhen oder zu ihren Methoden gehören. Einen Weg, um das zu prüfen, wüßte ich schon; aber damit will ich noch warten. Ich bin um jeden anderen Vorschlag sehr froh.“
„Und wie lautet deiner?“
„Natürlich denke ich an die Esket.
Selbstverständlich würde das sehr viel Zeit beanspruchen. Vor Sonnenaufgang trifft kein Luftschiff mehr ein, und bis dahin sind es noch etwa zwölfhundert Stunden. Gewiß, wir könnten noch in der Nacht die Deedee losschicken…“
„Hätten wir die Orientierungslichter aufgestellt, wie ich es vorgeschlagen…“, begann Deeslenver.
„Zu riskant. Die Gefahr, daß man sie sieht, wäre zu groß. Wir wissen leider nicht, wie gut die Instrumente der Menschen sind und was sie vom Satelliten aus zu erkennen vermögen. Die Wahrscheinlichkeit, daß man auf der Nachtseite des Planeten Lichter bemerkt, ist schlichtweg zu hoch. Deshalb habe ich deine Anregung verworfen, Dee; andernfalls, so räume ich ein, wäre sie sehr gut gewesen.“
„Unsere Metallvorräte reichen für so ausgedehnte Installationen sowieso noch nicht aus“, fügte Bendivence hinzu. „Im Augenblick fällt mir nichts ein. Aber wie gut die Menschen Lichter zu erkennen vermögen, ließe sich sehr leicht testen.“
Wie? Die beiden anderen Meskliniten stellten die Frage nicht verbal, sondern durch Veränderung der Körperhaltung.
„Indem wir ganz unschuldig fragen, ob es ihnen möglich sei, die Scheinwerfer der verschwundenen Helikopter auszumachen.“
Barlennan überlegte sich den Vorschlag.
„Ausgezeichnet. Das läßt sich machen. Wenn sie sagen, sie könnten es nicht, besitzen wir natürlich keine Gewißheit, ob es stimmt; aber sicherlich fallen uns im Laufe der Zeit noch andere Kontrollmethoden ein.“
Er ging voran aus dem Kartenraum, wo die Diskussion stattgefunden hatte; die drei Meskliniten marschierten durch die verzweigten Korridore der Basis zum Kommunikationsraum. In den meisten Korridoren war es relativ dunkel. Die Auftraggeber der Expedition hatten beileibe nicht mit Leuchtkörpern gegeizt, doch Barlennan selbst hatte eine sparsame Verteilung veranlaßt. Der Anblick der Sterne über den Korridoren verlieh den Meskliniten das beruhigende Gefühl, daß ihnen nichts auf den Kopf fallen konnte; Mesklins Sonne, von den Menschen 61 Cygni genannt, gehörte zu den gegenwärtig unter dem Horizont stehenden Sternen.
Unterwegs blickte Barlennan mehr aufwärts als voraus; er versuchte den Satelliten auszumachen, dessen Leuchtbake immerhin die Leuchtstärke eines Sterns vierten Helligkeitsgrades besaß. Der langsam über den Himmel wandernde Funke war der beste Zeitmesser, der den Meskliniten zur Verfügung stand; sie stellten ihre Pendeluhren, die erhebliche Unregelmäßigkeiten aufwiesen, nach ihm.
Sterne und Funke verschwanden, als die drei den hell erleuchteten Kommunikationsraum betraten.
Guzmeen meldete Barlennan, daß noch keine Neuigkeiten über die beiden Helikopter vorlägen.
„Welche Berichte hat Dondragmer seit dem Auflaufen der Kwembly durchgegeben? Ich meine, während der letzten einhundertdreißig Stunden.
Weißt du, seit wann sein Erster Offizier verschwunden ist?“
„Nur ungefähr. Sein Verschwinden wurde ohne Erwähnung gemeldet, zu welchem Zeitpunkt es geschah. Und ich ging davon aus, es sei soeben erst geschehen, und habe nicht gefragt. Beide Fälle wurden innerhalb einer Stunde durchgegeben.“
„Und du hast dich nicht gewundert, warum die Meldungen von Kervensers und anschließend Reffels Verschwinden so kurz hintereinander kamen, obwohl zwischen beiden Vorfällen doch eine längere Zeitspanne verstrichen sein mußte?“
„Ich habe mich gewundert. Eine Erklärung weiß ich nicht dafür. Jedenfalls dachte ich, es sei besser, dir die Entscheidung über eine Rückfrage zu überlassen.“
„Glaubst du, Don hätte — vielleicht, weil er einen Fehler beging — Kervensers Verschwinden nicht sofort gemeldet?“ mischte Bendivence sich ein.
„Ihm könnte die Idee gekommen sein, zu warten, bis Kervenser wieder auftauchen würde, um dann den Zwischenfall in heruntergespielter Fassung zu melden.“
Barlennan musterte den Wissenschaftler abschätzend, antwortete jedoch ohne zu zögern.
„Das glaube ich nicht. Zwischen Dondragmer und mir existieren Meinungsverschiedenheiten, aber es gibt Dinge, die keiner von uns beiden tun würde.“
„Auch wenn die Verschleppung dieser Angelegenheit bedeutungslos wäre? Schließlich hätten doch weder die Menschen noch wir umgehende Hilfe leisten können, würden wir sofort davon erfahren haben.“
„Auch dann nicht.“
„Das begreife ich nicht. Warum?“
„Ich habe meine Gründe und keine Zeit für ausführliche Erklärungen. Sollte Dondragmer tatsächlich auf eine unverzügliche Meldung von Kervensers Ve rschwinden verzichtet haben, so aus zweifellos berechtigtem Anlaß. Persönlich jedenfalls bezweifle ich sehr, daß er die Schuld an der Verzögerung trägt. Guz, welche Menschen gaben dir die Berichte? War es derselbe?“
„Nein, Commander. Ich kenne die Stimmen nicht alle, und sie versäumen es oft, sich zu identifizieren. Die Hälfte aller Durchsagen erfolgt in der menschlichen Sprache, den Rest machen vorwiegend die Hoffman-Menschen. Von dem jungen Hoffman-Mensch hatte ich den Eindruck, daß er sehr oft mit der Kwembly in Kontakt gestanden hat, und ich nahm an, daß nichts Ernstes geschehen sein könne, wenn man sich beiläufiges Geplauder leistet.“
„Nun gut. Wahrscheinlich hätte ich ebenso reagiert. Doch mittlerweile habe ich einige Fragen an die Menschen zu richten.“ Barlennan nahm vor dem Apparat Platz; der Bildschirm war leer. Er betätigte den Rufschalter und wartete geduldig. Er hätte bereits sprechen können und sich damit Zeit gespart, aber er wollte zunächst wissen, welcher der Menschen sich zeigen würde.
Das Gesicht, das schließlich auf dem Bildschirm erschien, war ihm unbekannt. Auch fünfzig Erdjahre währender Umgang mit Menschen hatte Barlennan noch nicht befähigt, Familienähnlichkeiten sicher zu beurteilen; jeder Mensch dagegen hätte Benj sofort als Easys Sohn bezeichnet. Guzmeen erkannte den Jungen, aber Benj entledigte ihn der Aufgabe, Barlennan in Kenntnis zu setzen.
„Hier ist Benj Hoffman“, sagte das Abbild. „Seit dem letzten Anruf meiner Mutter vor zwanzig Minuten sind von der Kwembly keine weiteren Nachrichten eingetroffen. Gegenwärtig sind keine Wissenschaftler oder Techniker anw esend, so daß ich, falls technische Probleme anliegen, erst jemand holen müßte. Solltet ihr Einzelheiten über die Ereignisse wissen wollen, kann ich allerdings Auskunft geben, weil ich seit sieben Stunden im Kommunikationsraum bin und wahrscheinlich alle Fragen zu beantworten vermag. Ich warte.“
„Ich habe zwei Fragen“, entgegnete Barlennan.
„Die erste betrifft das Ve rschwinden des zweiten Helikopters. Ich möchte wissen, wie weit er von der Kwembly entfernt war, als die Verbindung abbrach, oder, falls die Entfernung nicht bekannt ist, wie lange er sich zu diesem Zeitpunkt bereits unterwegs befand. Zweitens interessiert mich, ob ihr in der Lage seid, vom Satelliten aus die Scheinwerfer der Helikopter zu erkennen. Ich vermute, ihr könnt es nicht mit bloßem Auge, aber vielleicht besitzt ihr optische Instrumente, von denen ich nichts weiß.“
Benjs Abbild auf dem Schirm hob einen Finger und nickte, als Barlennan soeben zu sprechen aufhörte, aber der Junge wartete mit der Erwiderung, bis ihn die ganze Durchsage erreicht hatte.
„Die erste Frage kann ich beantworten“, begann er, „und Mr. Cavanaugh sucht schon jemand, der in der zweiten Bescheid weiß. Kervenser startete vor ungefähr elf Stunden, und erst acht Stunden später, als die Kwembly inzwischen festgefroren und Beetchermarlf und Takoorch unter dem Eis gefangen waren, besann man sich auf ihn. Reffel nahm den anderen Helikopter — mit einem Kommunikatorsatz an Bord — und machte sich auf die Suche. Später führten wir eine Diskussion mit Dondragmer, die uns alle interessierte, und einige Minuten lang beachtete niemand den Bildschirm, der mit Reffels Kommunikatorsatz korrespondiert; plötzlich stellte jemand fest, daß es auf dem Schirm nichts mehr zu sehen gab. Er war nicht weiß, wie es zutrifft, wenn ein Sender ausfällt, sondern schwarz, als fiele einfach kein Licht mehr in die Kamera.“
Barlennan sah zu Guzmeen und den Wissenschaftlern hinüber. Keiner sagte etwas; es erübrigte sich. Niemand hatte den Bildschirm beachtet, als Reffel die Kamera abdeckte! Mit solchem Glück durfte man wahrlich nicht jeden Tag rechnen.
Benj hatte seine Durchsage noch nicht beendet.
„Das Mikrofon war nicht eingeschaltet, da niemand mit Reffel gesprochen hatte, und nun weiß keiner auch nur im geringsten, was ihm zugestoßen sein könnte. Seitdem ist kaum eine halbe Stunde vergangen, das ergibt ungefähr zweieinhalb Stunden zwischen Kervensers Verschwinden und dem von Reffel. Auf die andere Frage kann ich noch keine Antwort erteilen; Mr. Cavanaugh ist noch fort.“ Barlennan war ein wenig verwirrt, da der Junge die menschlichen Zahlwörter benutzte, die auf einem anderen numerischen System basierten; doch nach einigen Umrechnungen kam er zurecht.
„Ich schließe aus deinen Angaben“, sagte er, „daß wir über die vollständige Situation der Kwembly und Kervensers Ausbleiben mit erheblicher Verspätung informiert wurden. Kennst du den Grund dafür? Mir ist klar, daß wir nichts hätten tun können, aber ich halte es für angebracht, daß man mich mit Nachrichten von den Fahrzeugen auf dem neuesten Stand hält. Mein Kommunikationspersonal hat mir erzählt, daß du oft mit der Kwembly in Kontakt gestanden hast; also kannst du mir vielleicht Auskunft geben, was eigentlich los ist. Ich warte.“
Für seine Schlußbemerkung hatte Barlennan mehrere Motive. Zunächst wollte der Commander mehr über Benj Hoffman erfahren, weil der Junge die mesklinitische Sprache gut beherrschte und sich, falls Guz recht hatte, gerne mit Meskliniten unterhielt; womöglich, wenn er den anderen Hoffman-Menschen ähnelte, konnte man ihn zu einem weiteren pro-mesklinitischen Besatzungsmi tglied des Satelliten entwickeln. Und für diesen Fall war es wichtig zu prüfen, welchen Einfluß er besaß. Außerdem wünschte der Commander unauffällig Guzmeens Meinung, Benj habe häufig mit Mannschaften der Kwembly geplaudert, bestätigen zu lassen. Schließlich spielte auch eine Rolle, daß Benj für einen Mensche n — und das fiel sogar Barlennan auf — viel zu jung war, um bereits ernsthafter Arbeit nachzugehen: Wortwahl und allgemein umständliche Umschreibungen von Sachverhalten verrieten es nur zu deutlich. Diese Tatsache mochte sich als nützlich erweisen, falls sich eine nähere Bekanntschaft knüpfen ließ.
Die Antwort des Jungen, als sie endlich eintraf, war in der einen Hinsicht unergiebig, in der anderen jedoch vielversprechend. „Ich habe keine Ahnung, warum du über das Festfrieren der Kwembly und Kervensers Verschwinden nicht sofort informiert worden bist“, bekannte er. „Ich glaubte, das hätte man getan. Ich habe sehr viel mit Beetchermarlf gesprochen, einem von Dons Steuermännern. Als ich erfuhr, daß er unter dem Eis steckt, habe ich mich haup tsächlich darum gekümmert, wie man ihm wohl helfen könne. Ich gebe zu, daß man dir eher hätte Bescheid geben sollen. Wenn du willst, erkundige ich mich, warum das versäumt wurde; meine Mutter müßte es wissen, oder Mr. Mersereau. Ich war nicht ständig im Kommunikationsraum, er ist nicht mein Arbeitsbereich; ich kam nur, um mit Beetchermarlf zu reden, wenn ich Zeit dazu hatte. Gewöhnlich arbeite ich nämlich im Meteorologischen Labor mit, ich mache dort eine Art von Praktikum, nach dessen Ablauf man entscheidet, ob ich eine weitergehende Ausbildung auf diesem Gebiet erhalte. Man macht es mir nicht schwer, wie ich sagen muß. Während der letzten Tage durfte ich viel Zeit im Gespräch mit Beetchermarlf verbringen.“ Seine fünfzigjährige Erfahrung gestattete es Barlennan, den Sinn des menschlichen Wortes Tag sofort zu durchschauen. „Natürlich machen meine Sprachkenntnisse mir es leichter“, plapperte der Junge weiter, „Gründe für häufige Aufenthalte im Kommunikationsraum zu finden, und inzwischen sieht man es ganz gerne, wenn ich hier ein bißchen aushelfe. Ich habe eure Sprache von meiner Mutter gelernt, die sie schon seit zehn Jahren kann, seit mein Vater am Dhrawn-Projekt mitarbeitet… Dort kommt Mr. Cavanaugh mit Tebbetts, einem unserer Astronomen. Sie werden deine zweite Frage beantworten, während ich in der anderen Sache nachforsche.“
Benjs Gesicht auf dem Bildschirm wich einem anderen, einem breiten, dunklen Kopf, dessen Anblick Barlennan ziemlich verblüffte. Noch nie war ihm ein bärtiger Mensch begegnet, obschon er sich an die Verschiedenartigkeit der menschlichen Behaarung längst gewöhnt hatte. Tebbetts besaß lediglich ein kleines Bärtchen im Stile van Dykes, aber für mesklinitische Augen stellte es eine drastische Abweichung von der normalen Physiognomie dar. Barlennan sagte sich, daß es taktlos sein würde, näheres über diese Abnormität zu erfragen. Es war besser, sich später bei Benj zu erkundigen.
Zur Erleichterung des Commanders störte der Gesichtsauswuchs nicht das Sprechvermögen des Menschen. Tebbetts war offensichtlich bereits über die Frage informiert, denn er begann ohne Umschweife die Antwort zu erteilen. „Wir können von hier aus eure sämtlichen Lichtquellen, auch die transportablen, mühelos erkennen. Dazu verwenden wir Instrumente, die wir Teleskope nennen.
Innerhalb weniger Minuten können wir nahezu jede beliebige Lichtquelle ausfindig machen; hast du einen diesbezüglichen Wunsch?“
Diese überraschende Frage brachte Barlennan in Verlegenheit. Während der Minuten, die seit seinem Gespräch mit den beiden Wissenschaftlern verstrichen waren, hatte er mehr und mehr die Überzeugung gewonnen, die Menschen würden seine Frage verneinen. Selbstverständlich hätte der Commander, wäre er etwas vorausschauender gewesen, nicht so geantwortet, wie er es nun tat.
„Dann sollte es euch leicht fallen, die Position der Kwembly auszumachen; ihr kennt ihren ungefähren Aufenthaltsort ohnehin besser als ich, und die Brücke nbeleuchtung dürfte eingeschaltet sein. Die beiden Helikopter sind erst vor relativ kurzer Zeit verschwunden; sie sind mit Scheinwerfern ausgerüstet. Ich hätte gerne, daß ihr das Gebiet um die Kwembly um, sagen wir, zweihundert Meilen absucht und mich benachrichtigt, wenn ihr Lichter entdeckt. Würde das lange dauern?“
Die Übermittlungsverzögerung gab Barlennan Zeit genug, um seine Worte zu bereuen; in der Tat bemerkte er seinen Fehler, bevor die Durchsage den Satelliten erreichte, aber es war zu spät. Die Antwort erleichterte ihn ein wenig; vielleicht wirkte sein Fehler sich nicht allzu schwerwiegend aus — vorausgesetzt, die Menschen entdeckten in der Nähe der Kwembly nicht mehr als zwei Lichter.
„Ganz so einfach ist es nicht“, sagte Tebbetts.
„Ich sprach davon, daß wir Lichtquellen erkennen können, aber ihre exakte Position zu bestimmen, dürfte — vor allem aus dieser Entfernung — schwerer sein. Falls die verschwundenen Helikopter zu Bruch gegangen sind, funktionieren ihre Scheinwerfer höchs twahrscheinlich nicht mehr.
Jedenfalls, ich werde dir zu helfen versuchen.“
„Wie steht es mit ihren Energieeinheiten?“ fragte Barlennan, nun entschlossen, sich auch über die möglicherweise schlimmste Folge seines Mißgeschicks zu informieren. Als die Frage den Satelliten erreichte, hatte Tebbetts den Kommunikationsraum bereits verlassen, um sein Versprechen zu erfüllen; zum Glück vermochte Benj Auskunft zu geben, ohne seinerseits rückzufragen, weil dieser Sachverhalt zu den Grundkenntnissen über das ganze Projekt gehörte, in die man ihn ausführlich eingeweiht hatte.
„Die Fusionskonverter strahlen Neutrinos aus, die wir registrieren können“, erklärte er dem Commander. „Allerdings kommt sehr viel Neutrinostrahlung von der Sonne und überlagert die Neutrinoquellen auf Dhrawn, so daß wir letztere nur äußerst schwer zu lokalisieren vermögen. Die Meßsatelliten verzeichnen die Neutrinoabsorption der verschiedenen Gebiete des Planeten, und wir hoffen, in einigen Jahren ein komplettes Röntgenbild — das ist wohl der beste Vergleich — von Dhrawn zu besitzen; ich meine, ziemlich genaue Kenntnisse über Dichte und Zusammensetzung des Planeteninnern. Du weißt, daß man noch immer diskutiert, ob man Dhrawn einen Planeten oder einen Stern nennen soll — beziehungsweise, ob seine extremen Temperaturverhältnisse von einem stetigen schwachen Fusionsprozeß im Innern oder von Oberflächenradioaktivität herrühren. Aber ich bin nahezu sicher, daß sich die verschwundenen Helikopter nicht aufgrund der Neutrinostrahlung ihrer Konverter — falls sie überhaupt noch intakt sind — ausfindig machen lassen.“
Es gelang Barlennan, seine grenzenlose Erleichterung über diese Angaben zu verbergen; nun faßte er sich kurz. „Danke. Man kann nicht alles haben. Bitte informiere mich, wenn euer Astronom zu einem Ergebnis gekommen ist, gleichwohl zu welchem. Du verstehst, daß ich über das Schicksal meiner Mitarbeiter beunruhigt bin.“
Barlennan, der mehr Umgang mit Menschen gepflegt hatte, war in der Lage gewesen, aus Benjs Äußerungen mehr über die Empfindungen des Jungen zu schließen als Dondragmer; er betrachtete Benjs Teilnahme an mesklinitischen Angelegenheiten unter Nützlichkeitserwägungen und hatte sich lediglich deshalb gehalten gesehen, diese Einstellung des jungen Hoffman durch seinen letzten Satz zu fördern. Vorerst jedoch, als er sich vom Kommunikator abwandte, vergaß er diesen Aspekt.
„Es könnte besser sein, aber auch übler“, bemerkte er zu den beiden Wissenschaftlern.
„Jedenfalls taten wir gut daran, das Blinksystem nicht aufzubauen. Selbstverständlich hätten sie es gesehen.“
„Nicht zwangsläufig“, entgegnete Deeslenver.
„Der Mensch sagte, sie können Lichter sehen, aber daraus schließe ich keineswegs, daß es ihre Gewohnheit ist, danach Ausschau zu halten. Sie werden ihre Instrumente für wichtigere Zwecke einsetzen.“
„Das Risiko ist trotzdem zu groß“, sagte Barlennan. „Gegenwärtig nutzte es uns ohnehin nichts, weil sie gerade ihre besten Instrumente auf uns richten.“
„Aber sie wollen doch die Nachbarschaft der Kwembly absuchen, die mehrere Millionen Kabel von uns entfernt liegt.“
„Stell dir vor, du müßtest einen bestimmten Teil des Planeten mit einem Teleskop untersuchen. Was für eine Mühe würde es dich schon kosten, es auf einen anderen Teil einzuschwenken?“
Deeslenver pflichtete dem Argument mit einer Geste bei. „Also warten wir entweder bis Sonnenaufgang oder veranlassen einen Sonderflug, falls du nach wie vor die Esket zu verwenden beabsichtigst. Ich gestehe, daß mir noch nichts anderes eingefallen ist. Ich weiß noch nicht einmal, wie ein brauchbarer Test beschaffen sein sollte.“
„Das ist weniger wichtig. Wir wollen hauptsächlich herausfinden, wie schnell und wie korrekt die Menschen Nachrichten an uns weiterleiten und ob vollständig. Ich werde mir innerhalb der nächsten zwei Stunden etwas ausdenken. War in Kürze nicht ohnehin ein Forschungsflug eingeplant?“
„So bald nicht“, sagte Bendivence. „Außerdem stimme ich mit der Meinung, daß Einzelheiten bedeutungslos seien, nicht überein. Sicher willst du sie nicht darauf stoßen, daß wir etwas mit dem Ausfall der Esket zu tun haben. Selbstverständlich sind die Menschen nicht blöde.“
„Das habe ich keineswegs angenommen. Der Test muß den Charakter irgendeines ganz natürlichen Vorfalls haben. Wir werden der Tatsache Rechnung tragen, daß die Menschen über die natürlichen Vorgänge auf dieser Welt viel weniger wissen als wir. Ihr kehrt nun zurück in die Forschungssektion; sagt allen Beteiligten, daß der Start vorverlegt wird. In zwei Stunden habe ich für Destigmet eine Anweisung geschrieben.“
„In Ordnung.“ Die beiden Wissenschaftler verschwanden durch die Tür; Barlennan folgte ihnen langsam. Ihm kam zu Bewußtsein, wie wichtig der Hinweis von Bendivence war. Was ließ sich im Bereich der Kameras der Esket tun, ohne daß den Menschen der Verdacht kam, daß Meskliniten es taten? Oder ohne daß sie einen berechtigten Grund zur Verzögerung der Meldung erhielten? Es bestand immerhin die Möglichkeit, daß die Verzögerung, die im Falle der Kwembly aufgetreten war, lediglich aus Mißverständnissen resultierte; jeder der Menschen konnte geglaubt haben, ein anderer kümmere sich um die Weitergabe. Von Barlennans Standpunkt aus hätte so etwas ungeheuerliche Unfähigkeit und völlige Desorganisation, ein geradezu unentschuldbares Durcheinander bedeutet; aber es war nicht das erste Mal, daß er den Menschen so etwas zutraute, jedenfalls einigen. Der Test mußte selbstverständlich durchgeführt werden, und die Kommunikatoren der Esket erboten sich als geeignete Werkzeuge; die Sender funktionierten noch, aber natürlich mußte die Besatzung es sorgfältig vermeiden, vor die Kameras zu geraten.
Es war lange her, daß die Menschen das letzte Mal von dem gescheitertem Fahrzeug gesprochen hatten. Auf den Gedanken, daß Kameras sich verdecken ließen, war man erst geko mmen, nachdem Destigmet mit der Errichtung der zweiten, den Menschen unbekannten Basis begonnen hatte, und Barlennan war bisher, trotz wiederholter Anfragen Destigmets und seines Ersten Offiziers Kabremm, dagegen gewesen, diese Maßnahme an dem Fahrzeug nachzuholen, weil er die Esket bei den Me nschen nicht wieder ins Gespräch bringen wollte. Naturgemäß war die Situation unbefriedigend, da die Besatzung sehr viel Umstände und Unbequemlichkeiten hatte; und nun, so überlegte Barlennan, vermochte man vielleicht zwei Fische in einem Netz zu fangen; die plötzliche Verdunklung eines oder gar aller Bildschirme im Satelliten würde zweifellos die Aufmerksamkeit der Menschen erregen. Ob sie einen Grund sahen, den Vorfall zu verschweigen, ließ sich nicht voraussagen; aber man mußte es versuchen.
Der Plan gefiel Barlennan immer besser, und er genoß das Gefühl, ein großes Problem allein gelöst zu haben, bis einer von Guzmeens Boten erschien.
„Commander! Guzmeen sagt, du möchtest sofort zurück in den Kommunikationsraum kommen.
Einer der Menschen, der namens Mersereau, hat sich gemeldet. Er behauptete, in der Esket sei etwas im Gange — etwas habe sich im Laboratorium bewegt!“