5. Besuch aus der See

Das war im Oktober.

Wochen vergingen. Von Morgan Wensley, Kermadec Dome, bekam ich eine Bestätigung, daß mein Brief eingegangen sei und an Mr. Craken weitergeleitet werde. Dieser Morgan Wensley fand kein Wort des Bedauerns wegen Davids Verschwinden.

Soweit es um die Akademie ging, hätte David Craken nie existiert. Er wurde ganz einfach gestrichen. Laddy Angel und ich unterhielten uns ein paarmal über ihn, aber das war alles. Wir gehörten nicht der gleichen Crew an, waren nicht einmal im selben Gebäude untergebracht. Wir trafen uns immer seltener. Und fast vergaß ich David.

Wir hatten auch wenig Zeit, über die Vergangenheit nachzubrüten. Unterricht, Inspektionen, Sport, Training - jede Minute wurde ausgenützt, und hatten wir einmal eine Stunde frei, so übten Bob und ich draußen in den seichteren Gewässern Sporttauchen. Bob war fest entschlossen, für das Marathonschwimmen in bester Form zu sein. »Vielleicht falle ich durch, Jim«, sagte er, »aber das werde ich nicht, denn ich habe mein Bestes getan.« Er war unermüdlich, und manchmal hatte ich zu tun, um bei ihm mitzuhalten. Er schaffte schließlich zweieinhalb Minuten.

Ich war von frühester Kindheit an ein Dreiminutentaucher, doch das war so ziemlich die Grenze. Um Weihnachten herum hatte mich Bob eingeholt. Vierzig und fünfzig Fuß gingen wir hinab, nur mit der Atemluft in unseren Lungen, und schließlich blieben wir dreieinhalb Minuten unten. Wir waren bei jedem Wetter draußen, auch wenn es goß und wenn der Himmel so düster war, daß wir unsere Unterwassermarkierungen nicht mehr sahen. Für Bob hatte sich das auf jeden Fall gelohnt.

Auch sonst wurde er im Wasser viel geschickter. Er verlor Gewicht, wurde drahtiger und dabei muskulöser. Vor den Weihnachtsferien musterte ihn Lieutenant Saxon gründlich. »Sie sind doch beim Tauchtest ausgefallen, nicht wahr?« fragte er.

»Jawohl, Sir.«

»Und jetzt wollen Sie sich wohl ganz umbringen? Mann, schauen Sie doch Ihre Karte an! Sie haben zwanzig Pfund verloren. Sie sind nur noch Haut und Knochen. Was tun Sie denn die ganze Zeit?«

»Nichts, Sir. Ich fühle mich absolut fit.«

»Das beurteile ich.« Aber am Ende ließ ihn Saxon brummend gehen. Bob verausgabte sich, aber es gibt keine Vorschrift, daß ein Kadett sich schonen müsse. Zu den verrücktesten Zeiten trainierte Bob. Ihm lag unendlich viel daran, im Marathonschwimmen nicht durchzufallen. Ich dachte, wenn er schnell mal eine halbe Stunde einlegte, dann übe er, vielleicht Laufen oder sonst etwas zur Verbesserung seiner Atemtechnik.

Nun, ich irrte wieder einmal.

Monate vergingen. Endlich wurde es Frühling.

David Craken hatten wir fast vergessen, diesen seltsamen, verschlossenen Jungen aus der Tiefsee. Im Mai sollte das Marathonschwimmen stattfinden.

Kurz nach dem Mittagessen gingen wir an Bord des Übungsschiffs. Seit Davids Verschwinden waren Bob und ich zum erstenmal wieder auf dem Floß, und Bob schaute mich lächelnd an. »Armer David«, sagte er, und das war alles.

Für ihn; denn ich sah etwas anderes am Geländer, etwas Reptilhaftes, mit einem riesigen, eckigen Kopf, der aus der Tiefe wuchs. In meinen Träumen hatte ich ihn oft gesehen. Aber dieses erste Mal - war es da wirklich auch ein Traum gewesen?

Jetzt war nicht die richtige Zeit, darüber nachzudenken. Als wir ein Stück auf See waren, rief uns Cadet Captain Roger Fairfane auf, uns zu Crews zu sammeln, und Trainer Blighman drillte uns noch gründlich, jeweils eine Viertelstunde, dann zehn Minuten Pause.

Schließlich wurden wir alle unter Deck befohlen. Die Luken wurden versiegelt, das Schiff tauchfertig gemacht. Die Schlepper erhielten ihre Signale, und wir gingen auf zehn Faden hinab, um unsere Fahrt unter Wasser fortzusetzen. Unser Ziel lag zehn Seemeilen entfernt, eine Meile zu sechstausend Fuß, also insgesamt sechzigtausend Fuß, fast elfeinhalb Landmeilen.

Diese Meilen sollten wir zum Stützpunkt zurückschwimmen, alles in zehn Faden Tiefe, bis wir das seichte Wasser erreichten.

Wir hatten etwa den halben Weg zurückgelegt, als wir in unsere Tauchkleidung befohlen wurden mit Maske, Flossen, Elektrolunge und Thermoanzug. Diese Anzüge brauchten wir, wenn sie uns auch beim Schwimmen hinderten. In zehn Faden Tiefe war unser Feind nicht der Druck, sondern die Kälte. Die Wassertemperatur liegt selbst in den Bermudagewässern Ende Mai nur bei etwa 25° C. Stellt man einen Stahlblock von der menschlichen Körpertemperatur ins Wasser, so kühlt er sehr bald ab. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Stahl und Körper: es tut einem Stahlblock nichts, wenn er nur 25° C warm ist, sehr viel aber einem menschlichen Körper. Der hält das nicht lange aus.

Natürlich erzeugt der Körper ständig Wärme und verbraucht dafür viele Kalorien. Dazu kommt dann noch der Kalorienverbrauch durch die Bewegung - das ist Raubbau am Körper, und deshalb mußten wir die Thermoanzüge tragen.

Früher, ehe es diese Thermoanzüge gab, hatten zum Beispiel die Kanal schwimm er dicke Lagen Fett auf ihren Körper geschmiert, doch das nützte nichts, denn das Fett verteilte erst recht die Wärme. Manche schafften es trotzdem, die meisten mußten aufgeben.

Wir waren hunderteinundsechzig auf dem Schiff, und traditionsgemäß durfte keiner hier durchfallen. Ich drückte also Bobs Arm, als wir die Leiter zur Schleuse hochstiegen. »Du schaffst es«, flüsterte ich Bob zu.

Er grinste mich an, doch er schien besorgt zu sein. »Muß ich doch«, wisperte er zurück, und dann waren wir in der Schleuse. Die Seetorblende ging auf. Hunderteinundsechzig Schwimmer in Thermoanzügen mit Elektrolunge verließen das Übungsschiff.

Grünes Sonnenlicht filterte von oben durch. Wir hatten erst noch Aufwärmübungen zu machen, nur fünf Minuten, dann rief Trainer Blighman die Crewführer auf. Zehn Sekunden Pause, dann ein schrilles Biepsignal, und wir legten ab.

Bob und ich gehörten der letzten Crew unter Roger Fairfane an. Ich war fest entschlossen, Bob nicht allein zu lassen. Fast sofort brach unsere normale Formation auf. Zehn, zwanzig, vielleicht dreißig Schwimmer verteilten sich um uns herum im Wasser.

Bob sah mich an und lachte, dann konzentrierte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die lange Strecke.

Während der ersten Meile kam Cadet Captain Roger Fairfane nahe an uns heran und winkte uns ärgerlich. Wir waren ein Stück hinter den anderen, und er wollte, daß wir aufholen sollten. Ich schüttelte bestimmt den Kopf und deutete auf Bob. Roger schnitt eine fürchterliche Grimasse, schoß voran und kehrte dann um. Verdrossen blieb er auf der ganzen Strecke neben uns. Als Crewoffizier war es seine Pflicht, ein Auge auf Nachzügler zu haben, und das waren wir.

Die zweite Meile ging ganz gut. Bob zeigte keine Müdigkeit. Während der dritten Meile spürten wir allmählich die Kälte und die Müdigkeit. Die anderen waren nun alle außer Sicht. Bob machte eine kurze Pause, rollte sich auf den Rücken und streckte sich aus .

Und beschrieb eine richtige Schleife. Roger und ich schossen besorgt auf ihn los, doch er richtete sich aus, grinste und machte mit den Fingern das V-Zeichen. Nun war ich überzeugt, Bob würde es schaffen. Die langen Monate seines verbissenen Trainings schienen sich gelohnt zu haben.

Ungefähr eine Meile vom Akademiegelände entfernt zogen wir in die leichte Brandung. Es war jetzt dunkel, and die letzten Schwimmer mußten längst da sein.

So müde wir auch waren, Bob und ich klatschten begeistert in die Hände. Roger stand ungeduldig im seichten Wasser und schnarrte etwas Gereiztes, doch das war uns egal. Bob hatte es geschafft!

Roger nahm aus seinem wasserdichten Hüftbeutel eine Signalpistole und schoß das Signal ab, daß wir gut angekommen seien. Das war deshalb nötig, weil sonst Suchgruppen ausgeschickt worden wären. »Na, kommt schon endlich«, knurrte er.

Wir nahmen Masken und Mundstücke ab und taten tiefe Atemzüge in der warmen, duftenden Luft. Dann schlüpften wir aus den Thermoanzügen und grinsten. »Kommt doch!« schrie Roger. »Worauf wartet ihr noch?«

Noch immer lachend stapften wir zu ihm durch das seichte Wasser. Drüben, jenseits des Akademiegeländes, brannten schon die gelben Lichter in den Ferienhotels, und der Himmel über Hamilton war hell. Ein voller, dicker, goldener Mond erhob sich über den Horizont. Von der Akademie her stieg eine scharlachrote Rakete auf zum Zeichen dafür, daß unser Signal gesehen worden war und alle durchgehalten hatten.

Roger schrie wütend: »He, Eskow, willst du endlich aufwachen? Du hast die ganze Crew aufgehalten, du Geleehering!« Da schwieg er plötzlich und schaute in das Wasser zwischen uns. Eine Welle hatte etwas an uns vorbeigewaschen, etwas, das schwach blau schimmerte.

Es war ein kleiner Metallzylinder, nicht größer als eine Seerationsdose. Die Welle zog sich zurück und nahm die Dose mit. Bob bückte sich und fischte die Dose aus dem Wasser.

Wir sahen es sofort. Das schwache Glühen stammte von einer Edenitbeschichtung!

»He, Jim, das ist beschichtet!« rief er. »Was, in aller Welt ...«

Es mußte also etwas aus der Tiefsee sein, denn Edenit war für Tiefsee-Tauchen, für nichts sonst. Ich nahm das Ding. Es war schwer, konnte aber noch schwimmen. Hier in der Atmosphäre schimmerte das Edenit nur schwach, aber der winzige Feldgenerator innen mußte noch arbeiten. Ich sah, wie sich das Licht rippelte, als mein Atem an den Zylinder schlug und eine Druckveränderung bewirkte. Und dann bemerkte ich eine dunkle Linie, wo zwei Hälften zusammengefügt waren.

»Das Ding ist zu öffnen«, stellte ich fest, und Roger kam nun ebenfalls herangeplatscht.

»Was habt ihr da? Laßt mich mal sehen.« Instinktiv reichte ich es Bob, und er hielt es zögernd Roger entgegen, ohne es abzugeben.

»Gib her!« knurrte Roger. »Ich hab’s zuerst gesehen.«

»Moment mal«, widersprach Bob ruhig. »Ich spürte es an meinem Bein, bevor du es gesehen hast. Du warst damit beschäftigt, mich einen Geleehering zu nennen, und ...«

»Es gehört mir!«

Da mischte ich mich ein. »Warum machen wir’s nicht auf und sehen nach, was drinnen ist?«

Beide schauten mich an. Roger zog eine verächtliche Grimasse. »Na, schön. Aber vergeßt nicht, ich bin euer Kadettoffizier. Ist der Inhalt wichtig, so ist es meine Pflicht, ihn in Verwahrung zu nehmen.«

»Klar«, meinte Bob und reichte mir den Zylinder. Ich bemerkte, wie er mir kaum merklich zublinzelte und nahm das Ding an beiden Enden. Es ließ sich leicht öffnen. Sofort hörte der Schimmer der Edenitbeschichtung auf. Ich schüttelte den Inhalt in meine Hand. Es war eine dicke Rolle Papier - Geld! Sehr viel Geld, zusammengerollt und mit einem Gummiband zusammengehalten. Dann kam ein Dokument zum Vorschein, das wie ein Brief aussah. In diesem Brief steckte ein winziges Samttäschchen. Und als ich da hineinschaute, verschlug es mir den Atem.

»Was ist?« herrschte mich Roger an.

Ich schüttelte den Kopf und schüttete den Inhalt des Täschchens in meine Hand. Es waren dreizehn riesige, schimmernde Perlen, die wie milchiges Edenit im gelben Mondlicht glühten.

Dreizehn Perlen! Sie waren ungewöhnlich schön und perfekt, alle von einheitlicher Größe.

»Perlen!« stöhnte Roger. »Tonga-Perlen! Ich hab’ einmal eine gesehen. Sie sind unbezahlbar!«

»Tonga-Perlen«, flüsterte Bob ehrfürchtig. »Stell dir vor .«

Wir alle hatten von ihnen gehört, kaum einer hatte je eine gesehen. Und hier waren ganze dreizehn Stück, riesig und vollkommen! Das waren die wertvollsten und geheimnisvollsten Perlen der See überhaupt, denn sie leuchteten aus sich heraus in einem geisterhaft silbernem Schimmer von solcher Schönheit, die keine Wissenschaft je hatte erklären können. Die Perlengründe, von denen sie stammten, hatte noch niemand entdeckt. Ein Tiefsee-Mann hatte einmal gesagt: »Es heißt, sie stammen aus dem Tonga-Graben aus einer Tiefe von sechs Meilen, und deshalb heißen sie Tonga-Perlen. Aber Austern leben nicht in dieser Tiefe, unter fünftausend Fuß gibt es keine mehr, jedenfalls keine großen. Ich war dort, soweit ich mit dem Edenit hinunterkam, und da ist nichts als kaltes Wasser und toter, schwarzer Schlamm.«

Aber von irgendwoher mußten sie ja wohl kommen ...

»Ich bin reich!« rief Roger erregt. »Steinreich! Jede ist viele Tausender wert, und ich hab’ dreizehn Stück davon!«

»Moment mal«, wandte ich scharf ein. Er blinzelte mißtrauisch und griff nach meiner Hand, doch ich entzog sie ihm.

»Die gehören mir!« schrie er. »Verdammt, Eden, gib sie her! Ich hab’ sie gesehen und geb’ sie nicht her! Meines Vaters Anwälte werden .«

Bob Eskow holte tief Atem. »Nun, Roger, mein Vater hat zwar keine Anwälte, aber ich meine, wir drei haben sie gemeinsam gefunden. Also teilen wir drei auch.«

»Eskow, du stinkiger kleiner .«

»Moment«, unterbrach ich ihn. »Ihr habt beide vergessen, daß uns dies nicht gehört. Jemand hat sie verloren und will sie zurückhaben. Vielleicht haben wir gewisse Fundrechte, aber im Moment müssen wir die ganze Sache wohl dem Kommandanten übergeben. Er hat zu entscheiden, was dann zu geschehen hat. Und dann .«

»Seht, leise!« warnte Bob, schaute über meine Schulter den Strand entlang und kniff die Augen zusammen. »Ich fürchte, du hast recht, Jim«, flüsterte er. »Jemand hat sie verloren. Und jemand kommt jetzt und holt sie zurück.«

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