17. Craken von der Seefestung

Wir sahen ihn, dann einander an. Wir alle hatten den gleichen Gedanken, auch David und das Seemädchen: Jason Crakens Geist gab auf.

»Willkommen ihr alle!« rief er strahlend.

Früher einmal mußte er ein kräftiger Mann gewesen sein. Das ließ sich noch an seinem Knochenbau und an den verbliebenen Muskeln abschätzen. Jetzt war er sehr hager geworden. Die Haut hing ihm lose am Hals herab, und sie hatte merkwürdige grünliche Flecken. Sein Bart war wirr, das Haar hätte längst einmal geschnitten werden müssen. Mein Onkel hatte ihn als Dandy beschrieben. Davon war nichts mehr übrig.

Geschlafen hatte er in seinem Labormantel, der früher einmal weiß war, jetzt aber sehr fleckig und zerknittert aussah. Er blickte an sich hinab und lachte leise. »Ihr seht, ich habe keine Gäste erwartet«, erklärte er ein bißchen verlegen. »Entschuldigt, bitte. Und so ungepflegt begrüße ich die Gäste meines Sohnes nicht gern. Aber meine Experimente, Gentlemen, fressen meine ganze Zeit. Der Tag hat nicht genug Stunden, um alle ...«

David trat zu ihm. »Vater, warum ruhst du nicht ein wenig aus? Ich führe meine Gäste inzwischen in der Kuppel herum.«

Und ständig heulte der mechanische Wächter: Achtung, Achtung!

David machte uns ein Zeichen, und wir verließen alle leise den Raum. Sofort kam er uns nach. »Es fehlt ihm jetzt nichts. Wir gehen jetzt in den Instrumentenraum.«

Das war eine relativ kleine Kammer auf der untersten Ebene der Kuppel. Ein Fernsehschirm war neben dem anderen, so daß der gesamte Meeresboden rund herum zu überblicken war. Nichts war zu sehen.

David nickte besorgt. »Noch nicht«, erklärte er. »Das dachte ich mir schon. Der Robotwächter warnt vor ankommenden Seefahrzeugen, aber er hat eine sehr große Reichweite, so daß sie noch eine Weile nicht zu sehen sein werden.«

»Sie?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht, ob es mehr als einer ist. Die Killer Whale vielleicht, aber die Amphibianer hatten noch einen Seewagen, soviel ich weiß. Den haben sie mir weggenommen. Wie viele es sonst noch waren, kann ich nicht einmal ahnen.«

Gideon runzelte die Brauen. »Das ist Pech. Ich hoffte, sie würden glauben, wir seien alle mit der Dolphin in die Luft gegangen, als der Reaktor explodierte.«

Das Seemädchen schüttelte den Kopf. »Ich sagte euch ja, daß wir gesehen wurden. David, es tut mir leid, daß ich mich sehen ließ, aber ...«

»Maeva, du mußt dich nicht entschuldigen! Du hast uns doch das Leben gerettet.« David nahm ihre Hand und drückte sie. Er musterte nachdenklich die Schirme und nickte.

»Ich muß nach meinem Vater sehen«, sagte er. »Jim, kannst du mitkommen? Ihr übrigen . es wäre besser, ihr würdet die Schirme im Auge behalten.«

Gideon nickte. »In Ordnung«, antwortete er mit seiner sanften Stimme. »Da ist ja, wie ich sehe, ein Mark XIX Feuerkontrollgerät und eine Turmkanone? Ja. Dann können wir sie notfalls von hier aus abwehren. Die Mark XIX kenne ich.«

»Ich glaube, damit kannst du aber nicht viel anfangen«, warnte ihn David. »Das Gerät ist schadhaft. Die Amphibianer haben die Stromkreise zerstört, als sie gegen meinen Vater rebellierten. Wenn sie angreifen, haben wir keine Abwehrwaffen.«

Ich ging mit David, und mir war das Herz in die Schuhe gerutscht. Nichts, womit wir uns verteidigen konnten! Nicht einmal ein Seewagen mehr, in dem man hätte fliehen können!

Aber Gideon machte sich sofort an die Arbeit, baute die ganze Elektroanlage aus und stellte fest, welche Verbindungen unterbrochen waren. Daß er die Kanone reparieren könnte, erschien mir unwahrscheinlich. Aber Gideon hatte schon früher immer halbe Wunder vollbracht.

Davids Vater schlief wieder, als wir zu ihm zurückkehrten. David weckte ihn behutsam auf. Er rieb sich die Augen und blinzelte David an.

Diesmal hatte seine Stimme nicht die Heiterkeit von vorher. Er schien sich dessen zu erinnern, was um ihn herum vorging, und er mochte auch sehr verzweifelt sein.

»David«, sagte er, »David . « Er schüttelte sich, stand auf und taumelte mehr als er ging zum Labor und füllte ein kleines Glas aus einer Flasche mit farbloser Flüssigkeit. Das Glas trank er mit einem Schluck leer. Dann kam er lächelnd und viel sicherer zu uns zurück.

»Setzt euch doch«, forderte er uns auf und schob Bücherstapel einfach von ein paar Stühlen. »David, ich hatte dich schon aufgegeben. Wie gut, dich zu sehen.«

David Craken beeilte sich, einen Stuhl für den alten Mann zu finden, doch der setzte sich lieber auf die Feldbettkante und strich sich mit den Fingern durch das schütter werdende Haar.

»Dad, du bist doch krank«, sagte David.

Jason Craken zuckte die Schultern. »Nur ein paar unglückliche Reaktionen.« Geistesabwesend sah er auf die grünlichen Flecken an seinen Händen. »Vermutlich habe ich ein paarmal zu oft Versuchstier gespielt. Aber ich bin noch kräftig, David. Kräftig genug für Joe Trencher und um mir das zurückzuholen, was mir gehört.«

Seine Augen lagen in tiefen Höhlen und waren blutunterlaufen, doch sie glänzten in einem sonderbaren Licht, das vom Fieber - oder Wahnsinn kam. Er winkte uns mit seiner knochigen Hand zu.

»Dad, wir werden angegriffen«, sagte David. »Weißt du das denn nicht? Vor zehn Minuten kam die Roboterwarnung.«

Jason Craken schüttelte ungeduldig den Kopf. Mit einer verächtlichen Handbewegung wischte er die Angreifer weg. »Es hat schon viele Angriffe gegeben«, erklärte er, »doch ich bin noch immer hier. Und ich bleibe hier, solange ich lebe. Bin ich gestorben, David, dann kommst ja du nach mir.«

Er stand auf, schwankte ein wenig und ging wieder zum Labor, um sein Glas nachzufüllen. Diese farblose Flüssigkeit schien ihn sehr zu beleben. »Joe Trencher wird es schon noch lernen. Ich werde ihn besiegen, wie wir die Saurier besiegt haben, David.«

Mit der Miene eines Vogelscheuchenkaisers setzte er sich auf das Feldbett, als wäre es ein Thron. »Jim Eden«, sagte er zu mir, »ich heiße dich im Tonga-Graben willkommen. Nie habe ich damit gerechnet, daß ich einmal die Hilfe brauchen würde, die dein Onkel mir versprach. Es ist schon viele Jahre her. Nie hätte ich gedacht, daß Trencher und seine Leute sich gegen mich auflehnen würden!

Trencher! Ich versichere dir, Jim Eden, daß ohne meine Hilfe diese Amphibianer noch immer das Leben von Tieren führen würden. So fand ich sie nämlich, in ihren unterseeischen Höhlen. Wäre ich überheblich, würde ich sagen, ich habe sie geschaffen, und das käme der Wahrheit ziemlich nahe. Aber wie undankbar sind sie! Gegen mich haben sie sich gewandt. Sie und die Saurier, und ich muß ihnen jetzt zeigen, wer hier der Herr ist, ich muß sie zerquetschen ...«

Wild starrte er uns an. David ging zu ihm, streichelte ihn und redete ihm zu, bis er sich wieder beruhigte.

Eines aber wußte ich nun: David Crakens Vater war dem Wahnsinn nahe.

Zwischen Anfällen konnte er recht vernünftig reden, und so gelang es auch David diesmal, ihn zu beruhigen. Wir saßen da und warteten. Worauf warteten wir? Ich wußte es nicht.

Der Roboterwachmann war abgeschaltet worden, so daß seine Warnschreie nicht mehr gegen unsere Ohren schlugen. Trotzdem wußten wir, daß wir angegriffen wurden. Noch war kein Geschoß gegen uns abgefeuert worden, aber der Roboter hatte sich ganz gewiß nicht geirrt.

Es war nicht daran zu zweifeln, daß draußen, etwas außerhalb der Reichweite des Mikrosonars, Joe Trencher und die Killer Whale lauerten und sich bereitmachten, die Kuppel zu zerschlagen, die uns schützte. Und wir hatten keine Waffen.

Ich wußte, Gideon machte einen Wettlauf mit der Zeit, wenn er versuchte, die demolierten Stromkreise wieder in Ordnung zu bringen, doch das war eine äußerst mühsame Arbeit. Die beste Crew konnte das vielleicht in einer Woche schaffen, und Gideon war allein, vermutlich mit einer fremden, unvollständigen Ausrüstung. Aber irgendwie hatte ich doch keine Angst.

Nach einer Weile hatte sich Jason Craken wieder beruhigt, und da begann er nun von meinem Vater und meinem Onkel zu sprechen. Wie klar er sich jeder Einzelheit aus dieser Zeit erinnerte! Das lag doch schon Jahrzehnte zurück, und dabei wußte er kaum zu sagen, wie er in den Monaten von Davids Abwesenheit gelebt hatte.

»Sprich mit ihm über seine Erfahrungen und Entdeckungen«, wisperte mir David zu, »das hält ihn ruhig.«

»Mr. Craken, erzählen Sie mir doch einiges über diese merkwürdigen Pflanzen, die Sie da außerhalb der Kuppel haben«, bat ich gehorsam. »Ich war schon früher in der Tiefsee, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.«

Er nickte. Die Augen hatte er halb geschlossen. »Jim Eden, die hat auch sonst noch keiner gesehen. Die Tiefen sind so etwas wie ein Lebenskamin. Dies trifft für überall zu, nur nicht für hier. Weißt du, was ich damit meine?«

Ich nickte, denn trotz der uns drohenden Gefahr nahm mich dieser seltsame alte Mann gefangen. »Ich erinnere mich, einer meiner Lehrer sagte das. Hier im Ozean sei das Leben wie ein Kamin, den man von oben her füllt. Winzige Pflanzen wachsen nahe der Oberfläche, wo sie noch etwas Sonnenlicht bekommen können. Von diesen Pflanzen ernähren sich winzige Kreaturen, die wiederum werden von größeren gefressen und so fort. Aber alles hängt von diesen winzigen Pflanzen an der Oberfläche ab, die aus dem Sonnenlicht Nahrung erzeugen. Nur ein paar Krumen geben den Abzug hinab in die Tiefe.«

»Das stimmt!« rief der alte Mann. »Und hier haben wir noch einen Kamin, Jim Eden. Einer, der auf dem Kopf steht, ist das. Diese Pflanzen sind das Geheimnis des Tonga-Grabens, das größte Geheimnis überhaupt, denn von ihnen hängen alle anderen Wunder meines Königreichs ab. Sie haben ihre eigene Energiequelle. Das ist ein atomarer Prozeß. Ich ... Mir ist es selbst noch nicht gelungen, alle Geheimnisse zu enthüllen«, bekannte er. »Glaub mir, ich habe es versucht. Jedenfalls ist es aber eine nukleare Reaktion; ich glaube, die Energie entsteht aus unstabilen Pottasche-Isotopen im Seewasser. Es ist mir jedoch noch nicht gelungen, diesen Prozeß im Reagenzglas nachzuvollziehen. Aber das wird mir auch noch gelingen!«

Er stand auf und ging, diesmal langsamer und sehr nachdenklich, zum Labortisch. Er goß sich noch einmal von diesem Elixier, das für ihn so kostbar zu sein schien, in das Glas, stellte es dann aber weg. Das Geheimnis des Tonga-Grabens schien ein ebenso wirksames Elixier zu sein wie die wasserhelle Flüssigkeit. Ich ahnte, was diesen Mann am Leben gehalten hatte: ein unbarmherziger Zwang, der große Männer - und Irre - schafft.

»Du siehst also«, sprach er weiter, »es gibt hier einen zweiten Lebenskamin, dieses leuchtende Tanggewächs, das seine eigene Energie erzeugt und kein Sonnenlicht braucht. Die kleinen Tiere, die sich davon ernähren. Die größeren, die Saurier und Amphibianer, leben von den kleinen Pflanzen und Tieren.«

»Die Saurier«, warf ich ein, »die sind doch eine Art Gefahr, nicht wahr?«

»Gefahr?« fragte der alte Mann und sah seinen Sohn vorwurfsvoll an. Als sei dieses Wort der auslösende Faktor, griff er nach dem Glas und trank es leer. »Gefahr? Ah, David, du kannst doch die Saurier gar nicht fürchten! Uns in der Kuppel können sie keinen Schaden zufügen.« Er wandte sich wieder an mich wie ein Lehrer, der eine Vorlesung für seine Schüler hält. »Das ist eine Sache der Brutverhaltensweisen. Die Saurier legen Eier, und die können nicht den Druck des Seebodens vom Graben aushalten, dort, wo das schimmernde Gras wächst. Sie müssen also jedes Jahr um die Brutzeit auf den Seeberg kommen, um ihre Eier abzulegen. Seit Urzeiten legten sie diese Eier in einer Höhle ab, und ich habe diese Kuppel ausgerechnet über dieser Höhle erbaut!«

Er lachte leise, als habe er damit etwas besonders Gescheites getan. »Als sie gezähmt wurden, habe ich ihnen erlaubt, die Höhle zu benützen. Aber jetzt werden sie diese nicht mehr betreten! Dieser Graben gehört mir, und ich habe die Absicht, ihn zu behalten!

Vielleicht brauche ich Hilfe«, gab er zu. »Es sind sehr viele Saurier, aber du bist ja hier. Du und die anderen, ihr müßt mir helfen. Ich kann euch bezahlen. Sehr gut sogar, denn der ganze Reichtum des Tonga-Grabens ist mein! Tonga-Perlen! Ich habe eine Möglichkeit gefunden, die Ernte zu vergrößern, so wie die alten Japaner die Zuchtperlen erfanden. Mit gewöhnlichen Austern kann man das nicht machen, denn die Tonga-Perlen brauchen einen radioaktiven Nukleus, der von diesem schimmernden Tang kommt. Jim Eden, ich habe Tonga-Perlen angepflanzt, und die erste Ernte ist bereit. Sie braucht nur eingesammelt zu werden.«

Er stand auf. Wenn er sich auch gebückt hielt, so überragte er uns doch noch immer.

»Ich biete euch einen Anteil von tausend Tonga-Perlen! Du schuldest mir diese Hilfe sowieso, denn dein Vater und dein Onkel haben sie versprochen. Was meinst du, Jim Eden? Willst du mir helfen, das Reich vom Tonga-Graben zu verteidigen?« Jetzt glühten seine Augen wild.

»Du mußt deinen Tiefsee-Kreuzer nehmen, die Dolphin! Damit mußt du das Schiff zerstören, das Joe Trencher benützt. Für die Saurier genügt die Bewaffnung der Kuppel. Ich habe hoch oben eine sehr wirksame Kanone montiert, Munition ist reichlich vorhanden, und die allermodernste Feuerkontrolle ist eingebaut. Vernichte Joe Trencher für mich - die Kuppel selbst wird die Saurier vernichten, wenn sie durchzukommen versuchen. Jim Eden, bist du dazu bereit?«

David und ich schauten einander düster an, und in seines Vaters Augen starb das Licht der Begeisterung.

Jason Crakens Geist wanderte wieder. Er hatte zu lange gegen die See gekämpft, zu lange seine Zaubertränklein getrunken. Und da hatte er sich nun einen Kampfplan ausgedacht mit der Kanone im Mittelpunkt, die nicht mehr funktioniert, und einem Schiff, das längst gesunken war.

Was sollten wir ihm da noch sagen?

Es war nicht nötig, denn von draußen hörten wir seltsam kratzende Schritte, und dann kam Maeva, das Seemädchen, keuchend hereingerannt.

»David!« schrie sie und kämpfte um Atem. »David, sie kommen! Die Saurier greifen an, und sie werden angeführt von einem Tiefsee-Schiff!«

Wir sprangen auf, doch ehe wir noch den Raum verlassen konnten, erschütterte eine dumpfe Explosion die ganze Kuppel.

Eine Tiefsee-Rakete von der Killer! Der Kampf um den Tonga-Graben hatte begonnen ...

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