Tausend Tode

Ich war schon etwa eine Stunde im Wasser. Durchfroren, erschöpft und einen schrecklichen Krampf in der rechten Wade, glaubte ich, meine letzte Stunde hätte geschlagen. Ich hatte erfolglos gegen den Sog der Ebbe angekämpft und war fast wahnsinnig geworden beim Anblick der vorüberziehenden Lichterprozessionen am Hafen. Aber jetzt versuchte ich nicht mehr, gegen den Strom anzuschwimmen, sondern gab mich bitteren Gedanken an ein verpfuschtes Leben hin, das nun bald zu Ende sein sollte.

Ich hatte das Glück, einem ehrbaren englischen Geschlecht zu entstammen. Meine Eltern hatten jedoch viel mehr Geld auf der Bank als Verständnis für das kindliche Wesen und für Erziehung. Wohl war ich mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden, aber die glückliche Geborgenheit in einer Familie kannte ich nicht. Mein Vater, ein sehr gelehrter und berühmter Altertumsforscher, verschwendete keinen Gedanken an seine Familie; er war stets in seine Studien vertieft. Währenddessen genoß meine Mutter, die mehr ihrer Schönheit als ihres Verstandes wegen bekannt war, die Schmeicheleien der Gesellschaft, in die sie sich ununterbrochen stürzte. Ich absolvierte die für einen Jungen aus dem englischen Bürgertum typische Schul- und Universitätsausbildung, und als mit den Jahren Kraft und Leidenschaft in mir wuchsen, wurden auch meine Eltern plötzlich gewahr, daß ich eine unsterbliche Seele besaß, und sie versuchten, die Zügel fester anzuziehen. Aber es war schon zu spät. Ich beging die tollsten und unverschämtesten Torheiten, woraufhin mich meine Eltern enterbten und die Gesellschaft, die ich so lange schockiert hatte, mich ausstieß. Mein Vater händigte mir tausend Pfund aus und gab mir zu verstehen, daß er mich weder noch einmal sehen, noch mir weiteres Geld geben wolle. So trat ich als Passagier der ersten Klasse eine Reise nach Australien an. Seit dieser Zeit führte ich ein ausgesprochenes Wanderleben zwischen Orient und Okzident, zwischen Arktis und Antarktis. Nun fand ich mich, ein tüchtiger Seemann von dreißig Jahren und im vollen Besitz meiner Manneskraft, dem Ertrinken nahe in der San Francisco Bay wieder, denn ich hatte mit unheilvollem Erfolg versucht, von meinem Schiff zu flüchten.

Mein rechtes Bein war völlig verkrampft, und ich litt schreckliche Qualen. Eine von dem leichten Wind bewegte, unruhige Welle spülte mir in den Mund, und ich schluckte Wasser, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Ich brachte es noch immer fertig weiterzuschwimmen, aber das geschah rein mechanisch, denn ich verlor allmählich das Bewußtsein. Ich erinnere mich noch schwach, wie ich an der Mole vorbeitrieb und ganz kurz das Steuerbordlicht eines Flußdampfers wahrnahm. Dann wurde alles still.

Ich hörte das leise Summen von Insekten und fühlte, wie die milde Luft eines Frühlingsmorgens wie Balsam über meine Wangen strich. Allmählich strömte sie rhythmisch, und mein Körper schien auf dieses leichte Pulsieren zu reagieren. Ich schwamm auf einem sanften Sommersee, stieg und fiel mit traumhaftem Behagen auf jeder summenden Welle. Aber das Pulsieren verstärkte sich, das Summen schwoll an, die Wellen wurden größer und grimmiger. Ich wurde in einem stürmischen Meer umhergeworfen. E]in heftiger Schmerz erfaßte mich. Grelle Lichtblitze schössen immer wieder durch meinen Kopf. Der Lärm großer Wassermassen betäubte meine Ohren, dann ein plötzlicher, undefinierbarer Schlag - und ich erwachte.

Die Szene, auf der ich als Hauptakteur erschien, war absonderlich. Ein Blick genügte, um mir klarzumachen, daß ich mich auf dem Kajütenboden der Jacht eines Gentlemans befand, in einer überaus mißlichen Lage. Zu beiden Seiten befanden sich zwei seltsam gekleidete, dunkelhäutige Kreaturen, die meine Arme ergriffen hatten und wie Pumpenschwengel auf und ab bewegten. Obwohl mit den meisten Eingeborenenrassen vertraut, konnte ich ihre Nationalität nicht erraten. An meinem Kopf hatte man einige Schläuche befestigt, die meine Atmungsorgane mit der Maschine verbanden, welche ich sogleich beschreiben will. Die Nasenlöcher waren allerdings verschlossen, so daß ich durch den Mund atmen mußte. Ich sah zwei Röhrchen, durch den schiefen Blickwinkel verkürzt; sie ähnelten kleinen Gummischläuchen, bestanden jedoch aus einem anderen Material. Sie traten aus meinem Mund hervor und teilten sich in spitzem Winkel. Der eine Schlauch endete abrupt auf dem Fußboden neben mir; der andere führte in vielen Windungen über den Boden zu dem Apparat, den zu beschreiben ich versprochen habe.

In den Tagen, als mein Leben noch nicht von Nebensächlichkeiten bestimmt wurde, hatte ich mich ziemlich gründlich in den Naturwissenschaften umgetan, und da ich mit den Apparaten und der allgemeinen Ausrüstung eines Laboratoriums vertraut war, bewunderte ich die Maschine, die ich jetzt erblickte. Sie bestand größtenteils aus Glas; ihre Konstruktion war von der für das Experimentalstadium typischen ungeschlachten Art. An einem von einer Luftkammer umgebenen Wassergefäß war ein vertikales Rohr befestigt, das von einer Kugel überragt wurde. In der Mitte befand sich ein Vakuummeter. In dem Rohr stieg und fiel eine Wassersäule, Ein- und Ausatmungsvorgänge simulierend, die durch den Schlauch auf meinen Körper übertragen wurden. Damit und mit Hilfe der Männer, die meine Arme so energisch bewegten, war meine Atmung künstlich aufrechterhalten worden, wobei sich mein Brustkorb hob und senkte und meine Lungenflügel so lange expandiert und kontrahiert wurden, bis die Natur endlich nachgab und ihre gewohnte Arbeit wieder aufnahm.

Als ich nun die Augen öffnete, waren die Schläuche von meinem Kopf, aus den Nasenlöchern und dem Mund entfernt worden. Nachdem ich einen dreifachen Kognak hinuntergekippt hatte, rappelte ich mich auf, um meinem Retter zu danken und erblickte - meinen Vater. Aber die langen Jahre, in denen ich mit der Gefahr auf du und du stand, hatten mich Selbstbeherrschung gelehrt. So wartete ich ab, ob er mich erkennen würde. Er tat es nicht. Er sah in mir nur einen geflüchteten Seemann und behandelte mich entsprechend.

Er überließ mich der Fürsorge der Schwarzen und begann, die Aufzeichnungen durchzusehen, die er über meine Wiederbelebung angefertigt hatte. Während ich mich über die kräftige Mahlzeit hermachte, die man mir vorgesetzt hatte, wurde es auf Deck lebendig. Der Gesang der Seeleute und das Rattern von Flaschenzügen ließen mich vermuten, daß wir uns in Bewegung setzten. Was für ein Streich! Auf und davon zu einer Kreuzfahrt mit meinem eigenbrötlerischen Vater in die Weiten des Pazifiks. Wie wenig ahnte ich damals, als ich in mich hineinlachte, wer zuletzt lachen würde. Ach, hätte ich es gewußt, ich wäre über Bord gesprungen, zurück zu dem schmutzigen Vordeck, von wo ich gerade geflüchtet war.

Man ließ mich nicht an Deck, bis wir die Farallones und das letzte Lotsenboot hinter uns gelassen hatten. Ich schätzte die Klugheit meines Vaters und nahm mir vor, ihm auf meine rauhe Seemannsart herzlich zu danken. Ich konnte ja nicht ahnen, daß er seine eigenen Ziele verfolgte, als er meine Anwesenheit vor jedermann, abgesehen von der Mannschaft, geheimhielt. Er berichtete mir kurz von meiner Rettung durch seine Seeleute, wobei er versicherte, daß eigentlich er mir zu Dank verpflichtet sei, denn mein Erscheinen sei ihm höchst willkommen gewesen. Er habe nämlich den Apparat konstruiert, um eine Theorie zu beweisen, die gewisse biologische Phänomene betreffe, und nur auf eine Gelegenheit gewartet, ihn zu erproben.

„Sie haben meine Theorie zweifelsfrei bestätigt“, sagte er, fügte jedoch mit einem Seufzer hinzu: „Allerdings nur für den besonderen Fall des Ertrinkens.“

Um meine Erzählung hier kurz zu unterbrechen, er bot mir einen Vorschuß von zwei Pfund auf den Lohn, den ich für meinen Verbleib an Bord erhalten sollte. Das erschien mir großzügig, denn eigentlich brauchte er mich nicht. Entgegen meinen Erwartungen wurde mir nicht die vordere Mannschaftsmesse zugewiesen, sondern eine bequeme Kajüte und ein Platz am Tisch des Kapitäns. Er hatte bemerkt, daß ich kein gewöhnlicher Seemann war, und ich beschloß, diese Gelegenheit zu nutzen, um mir wieder sein Wohlwollen zu verdienen. Ich erfand mir eine Vergangenheit, die meine Bildung und gegenwärtige Situation erklärte, und tat mein Bestes, meinem Vater näherzukommen. Ich beeilte mich, ihm meine Vorliebe für wissenschaftliche Forschungen zu enthüllen, er sich, mir seine Zufriedenheit über meine Fähigkeiten mitzuteilen. Ich wurde sein Assistent mit einer entsprechenden Gehaltsaufbesserung. Nach kurzer Zeit, in der er zu mir Vertrauen faßte und mir seine Theorien darlegte, war ich ebenso enthusiastisch wie er selbst.

Die Tage vergingen wie im Fluge, denn ich war an meinen neuen Studien außerordentlich interessiert, verbrachte meine wachen Stunden in seiner wohlausgestatteten Bibliothek, lauschte seinen Plänen oder half ihm bei seiner Arbeit im Laboratorium. Allerdings waren wir gezwungen, auf viele verlok-kende Experimente zu verzichten, denn ein schlingerndes Schiff ist nicht unbedingt der passende Ort für feine und komplizierte Arbeiten. Er versprach mir jedoch viele herrliche Stunden in dem ausgezeichneten Laboratorium, zu dem wir unterwegs waren. Er hatte sich, wie er sagte, in den Besitz einer auf keiner Karte verzeichneten Südseeinsel gebracht und sie in ein wissenschaftliches Paradies verwandelt.

Wir waren noch nicht lange auf der Insel, als ich den schrecklichen Betrug entdeckte, auf den ich hereingefallen war. Aber bevor ich die sonderbaren Dinge beschreibe, die mir noch widerfahren sollten, muß ich kurz die Ursachen darlegen, die zu einer Erfahrung führten, wie sie schrecklicher wohl noch kein Mensch vor mir gemacht hat.

Mein Vater war nicht mehr jung, als er dem muffigen Zauber der Altertumsforschung entsagte und der Faszination dessen erlag, was man gemeinhin mit dem Begriff Biologie faßt. Da er sich schon früh deren Grundlagen vollständig erarbeitet hatte, drang er schnell zu den höheren Zweigen vor, soweit sie der Wissenschaft zugänglich waren, und fand sich plötzlich im Niemandsland des Unerforschten. Es war sein Bestreben, einen Anspruch auf einen Teil dieses noch nicht abgesteckten Terrains zu erwerben. In dieser Etappe seiner Forschungen waren wir uns wiederbegegnet. Da ich, auch wenn ich mich selbst loben muß, ein heller Kopf bin, hatte ich mir seine Spekulationen und Denkmethoden soweit zu eigen gemacht, daß ich schon fast so verrückt war wie er. Aber so sollte ich nicht reden. Die wunderbaren Ergebnisse, die wir später erzielten, waren eher ein Beweis für seinen Verstand. Dennoch sage ich, er war die abnormste Verkörperung kaltblütiger Grausamkeit, die mir je begegnet ist.

Nachdem er die Geheimnisse der Physiologie und der Psychologie ergründet hatte, führte ihn seine Überlegung an die Grenzen eines großen Feldes, für dessen genauere Erforschung er Studien der höheren organischen Chemie, der Pathologie, der Toxikologie sowie anderer Gebiete und Untergebiete begann, die sich als seinen spekulativen Hypothesen verwandt und zugehörig erwiesen. Ausgehend von der Annahme, daß die unmittelbare Ursache für die zeitweilige und permanente Unterbrechung der Lebenstätigkeit in der Koagulation gewisser Elemente und Verbindungen des Protoplasmas gesucht werden müsse, hatte er diese verschiedenen Substanzen isoliert und unzähligen Experimenten unterzogen. Eine zeitweilige Unterbrechung der Lebensfunktionen führt zum Koma, eine permanente Unterbrechung zum Tode. Er ging davon aus, daß die Koagulation des Protoplasmas durch künstliche Mittel aufgehalten, verhindert, und selbst in einem extremen Stadium der Gerinnung überwunden werden könne. Oder, einfacher gesagt, er behauptete, daß der Tod, wenn nicht gewaltsam herbeigeführt oder von Organzerstörungen begleitet, lediglich eine unterbrochene Lebenstätigkeit sei und daß unter diesen Umständen das Leben durch die Anwendung geeigneter Methoden wieder zur Aufnahme seiner Funktionen veranlaßt werden könne. Und das war sein Plan: Er wollte die Methode entdekken und praktisch erproben, mit der die Lebensfunktionen in einem Organismus reaktiviert werden konnten, aus dem das Leben scheinbar entwichen war. Natürlich erkannte er die Nutzlosigkeit eines solchen Unterfangens, nachdem die Verwesung bereits eingesetzt hat. Er benötigte Organismen, die noch vor einem Moment, vor einer Stunde oder einem Tag quicklebendig waren. An mir hatte er seine noch nicht völlig ausgereifte Theorie bewiesen. Ich war wirklich ertrunken, wirklich tot, als man mich aus der San Francisco Bay fischte, aber mein Lebensfunke wurde mit dem aerotherapeutischen Apparat, wie er ihn nannte, wieder angefacht.

Jetzt aber zu seinen dunklen Zielen, bei denen ich eine Rolle spielen sollte. Erst einmal machte er mir klar, wie vollkommen ich ihm ausgeliefert war. Er hatte die Jacht für ein Jahr weggeschickt und nur die beiden Schwarzen bei sich behalten, die ihm blind ergeben waren. Dann legte er mir seine Theorie ausführlich dar und umriß die von ihm entwickelte Beweismethode. Er schloß mit der furchteinflößenden Ankündigung, daß ich sein Versuchsobjekt sein sollte.

In vielen verzweifelten Situationen hatte ich dem Tod schon ins Auge geblickt und meine Chancen abwägen müssen, aber nie in dieser Art. Ich schwöre, ich bin kein Feigling, aber die Aussicht, im Grenzland des Todes hin- und herzureisen, flößte mir das kalte Grauen ein. Ich bat um Bedenkzeit, die er mir gewährte, allerdings nicht ohne die Versicherung, daß ich nur die eine Wahl hätte: mich zu unterwerfen. Eine Flucht von der Insel war unmöglich, Flucht durch Selbstmord kam auch nicht in Frage, obwohl sie dem vorzuziehen war, was mich erwartete. Die einzige Hoffnung bestand darin, meine Peiniger zu vernichten. Aber auch diese letzte Möglichkeit wurde durch die Vorsichtsmaßregeln vereitelt, die mein Vater getroffen hatte. Ich stand unter ständiger Beobachtung; selbst wenn ich schlief, bewachte mich einer der beiden Schwarzen.

Nachdem ich ihn vergeblich gebeten hatte, mich zu verschonen, enthüllte und bewies ich ihm, daß ich sein Sohn war. In diesen meinen letzten Trumpf hatte ich all meine Hoffnungen gesetzt. Er war jedoch unerbittlich; er war kein Vater, sondern eine Forschungsmaschine. Es ist mir unverständlich, wie es jemals geschehen konnte, daß er meine Mutter heiratete und mich zeugte, denn es gab in seinem Wesen nicht das kleinste Körnchen Gefühl. Verstand war für ihn das A und , und Dinge wie Liebe oder Sympathie für andere konnte er nicht verstehen, es sei denn als Schwäche, die man bekämpfen muß. So setzte er mir auseinander, daß er, der mir ja am Anfang das Leben gegeben habe, nun das größte Recht beanspruchen könne, dieses Leben wieder zu nehmen. Das jedoch sei nicht sein Wunsch; er wolle es sich nur gelegentlich ausleihen und pünktlich zur festgesetzten Stunde wieder zurückgeben. Natürlich sei eine Panne nicht ganz auszuschließen, aber ich hätte keine Wahl, als auf mein Glück zu hoffen. Das sei aber ganz normal.



Um den Erfolg weitgehend abzusichern, sollte ich nach seinem Willen bei bestmöglicher Gesundheit sein. So bekam ich eine spezielle Diät und wurde wie ein berühmter Athlet vor dem entscheidenden Wettkampf trainiert. Was konnte ich tun? Wenn ich das Risiko auf mich nehmen mußte, war es das beste, in guter Verfassung zu sein. In meinen Ruhepausen erlaubte er mir, bei der Einrichtung des Apparates und bei verschiedenen Hilfsexperimenten zu assistieren. Das Interesse, das ich all diesen Operationen entgegenbrachte, kann man sich vorstellen. Ich beherrschte die Arbeit ebenso vollkommen wie er, und oft hatte ich das Vergnügen, einige meiner Vorschläge und Neuerungen realisiert zu sehen. Danach lächelte ich grimmig, denn ich wurde mir bewußt, daß ich bei meiner eigenen Beerdigung mitwirkte.

Er begann mit einer Serie von toxikologischen Experimenten. Als alles bereit war, wurde ich durch eine kräftige Dosis Strychnin getötet und etwa zwanzig Stunden liegengelassen. In dieser Zeit war mein Körper tot, absolut tot. Atmung und Blutzirkulation hatten aufgehört. Das schlimme jedoch war, daß ich, während die Koagulation des Protoplasmas voranschritt, bei vollem Bewußtsein und somit in der Lage war, sie in allen ihren gräßlichen Einzelheiten zu verfolgen.

Der Wiederbelebungsapparat war eine luftdichte Kammer, groß genug, meinen Körper aufzunehmen. Der Mechanismus war einfach - ein paar Ventile, eine drehbare Welle mit Kurbel und ein Elektromotor. War der Apparat in Aktion, so wurde der Innendruck abwechselnd erhöht und verringert, so daß meine Lungen ohne die früher notwendigen Schläuche künstlich beatmet wurden. Obwohl mein Körper funktionslos und nach allem, was ich wußte, im ersten Stadium der Zersetzung war, konnte ich alle Vorgänge wahrnehmen. Ich wußte, wann sie mich in die Kammer legten, und obwohl alle meine Sinne stillgelegt waren, spürte ich, wie man mir ein Präparat unter die Haut spritzte, das auf den Koagulationsprozeß einwirken sollte. Dann wurde die Kammer geschlossen und der Mechanismus in Gang gesetzt. Meine Furcht war unbeschreiblich; aber der Kreislauf wurde allmählich reaktiviert, die verschiedenen Organe nahmen ihre jeweilige Funktion wieder auf, und nach einer Stunde aß ich eine herzhafte Mahlzeit.

Man kann nicht sagen, daß ich mich an dieser Testserie oder den folgenden mit besonderer Begeisterung beteiligt hätte, aber nach zwei erfolglosen Fluchtversuchen erwachte doch mein Interesse. Dazu kam die Gewöhnung. Mein Vater war außer sich über den Erfolg, und im Laufe der folgenden Monate wurden seine Spekulationen immer und immer wahnwitziger. Wir gingen die drei großen Klassen der Gifte durch: die Nervengifte, die gasförmigen Betäubungsmittel und die Reizstoffe. Wir vermieden jedoch sorgfältig einige der mineralischen Reizstoffe und übergingen die Gruppe der Ätzmittel ganz. Während der Giftexperimente gewöhnte ich mich beinahe ans Sterben, und es gab nur eine Panne, die mein gewachsenes Vertrauen erschütterte. Beim Schröpfen einer Anzahl kleiner Blutgefäße in meinem Arm spritzte mein Vater mir eine winzige Menge des schrecklichsten aller Gifte, jenes Pfeilgiftes, das man auch Kurare nennt, ein. Augenblicklich verlor ich das Bewußtsein, schnell folgten Atem- und Herzstillstand. Die Gerinnung des Protoplasmas schritt so weit fort, daß mein Vater jede Hoffnung fahrenließ. Aber buchstäblich in letzter Sekunde nutzte er eine Erfindung, an der er gerade gearbeitet hatte, jetzt allerdings mit doppelter Energie.

In einem Glasvakuum, ähnlich, aber nicht genau wie eine Crookessche Röhre aufgebaut, wurde ein Magnetfeld erzeugt. Wenn hier polarisiertes Licht hindurchdrang, so erzeugte es weder Phosphoreszenz noch Erscheinungen der geradlinigen Projektion von Atomen, dafür sandte es unsichtbare Strahlen aus, die den Röntgenstrahlen ähnlich waren. Konnten aber die Röntgen strahlen in optisch dichten Medien verborgene undurchsichtige Objekte sichtbar machen, so hatten diese Strahlen ein noch viel feineres Durchdringungsvermögen. Damit fotografierte er meinen toten Körper und fand auf dem Negativ eine unendlich große Zahl verschwommener Schatten, deren Ursache die noch immer in mir ablaufenden chemischen und elektrischen Vorgänge waren. Das war ein unfehlbarer Beweis dafür, daß die Leichenstarre, in der ich mich befand, nur scheinbar war; daß die geheimnisvollen Kräfte, jene zarten Bande, die meinen Leib und meine Seele zusammenhielten, noch in Aktion waren.

Bei allen anderen Giften waren die Wirkungen nicht so schlimm; eine Ausnahme bildeten die Quecksilberverbindungen, die mich gewöhnlich für einige Tage niederstreckten.

Eine Serie ergiebiger Experimente wurde mit Elektrizität durchgeführt. Wir bewiesen Teslas Behauptung, daß Hochspannung völlig ungefährlich sei, indem wir Volt durch meinen Körper jagten. Da mir das nichts ausmachte, wurde die Spannung auf Volt reduziert, wodurch ich schnell getötet wurde. Dieses Mal wagte sich mein Vater so weit vor, mich volle drei Tage tot - oder im Zustand unterbrochener Lebenstätigkeit -liegenzulassen. Mich zurückzuholen dauerte volle vier Stunden.

Einmal führte er zusätzlich einen Kinnbackenkrampf herbei; mein Todesschmerz war so qualvoll, daß ich es rundweg ablehnte, mich weiter ähnlichen Experimenten zu unterziehen. Die leichtesten Todesarten waren die Erstickung, etwa das Ertrinken oder Strangulieren sowie Gasvergiftungen. Auch Morphium-, Opium-, Kokain- und Chloroformvergiftungen waren keineswegs schlimm.

Einmal ließ er mich, nachdem ich erstickt worden war, drei Monate lang im Kühlraum liegen, wobei ich weder erfrieren noch verwesen durfte. Dies geschah ohne mein Wissen, so daß ich einen gewaltigen Schreck bekam, als ich die Zeitdifferenz bemerkte. Ich bekam Angst vor dem, was er noch alles mit mir anstellen könnte, während ich tot war, und meine Furcht wurde durch die Vorliebe vergrößert, die er für die Vivisektion zu entwickeln begann. Nach meiner letzten Wiederauferstehung entdeckte ich, daß er sich an meinem Brustkorb zu schaffen gemacht hatte. Obwohl die Schnitte sorgfältig genäht und verbunden waren, mußte ich einige Zeit im Bett bleiben. In dieser Genesungszeit entwickelte ich meinen endgültigen Fluchtplan.

Ich heuchelte grenzenlose Begeisterung für die Arbeit, bat aber um Urlaub von den Experimenten. In dieser Zeit widmete ich mich der Laborarbeit, während sich mein Vater zu sehr in die Vivisektionen der vielen von den Schwarzen gefangenen Tiere vertiefte, um meine Arbeit beachten zu können.

Meine Theorie gründete ich auf die folgenden zwei Lehrsätze; erstens auf die Elektrolyse oder die Aufspaltung von Wasser in seine gasförmigen Bestandteile mittels Elektrizität, und zweitens auf die hypothetische Existenz ‘einer Kraft, die man als Umkehrung der Gravitation ansehen kann und die Astor „Apergie“ genannt hat. Die Erdanziehungskraft beispielsweise zieht Objekte zusammen, verbindet sie aber nicht. Daraus folgt, daß Apergie lediglich Abstoßung ist. Die Anziehungskraft zwischen den Atomen und Molekülen zieht diese nicht nur zusammen, sondern verbindet sie. Die Umkehrung davon, eine Zersetzungskraft, wollte ich nicht nur entdecken und erzeugen, ich wollte sie willkürlich steuern. Die Moleküle des Wasserstoffs und Sauerstoffs reagieren miteinander, spalten sich auf und formen neue Moleküle, in denen beide Elemente vertreten sind - sie bilden Wasser. Die Elektrolyse veranlaßt diese Moleküle, sich aufzuspalten und in ihren ursprünglichen Zustand zurückzukehren, wodurch die zwei Gase wieder getrennt vorliegen. Die Kraft, die ich suchte, sollte dies nicht nur mit zwei, sondern mit allen Elementen tun, unabhängig davon, in welchen Verbindungen sie auftreten würden. Könnte ich meinen Vater in die Reichweite dieser Kraft locken, wäre er augenblicklich zersetzt und als Masse isolierter Elemente in alle Winde verstreut.

Man darf nicht glauben, daß diese Kraft, die ich schließlich zu beherrschen lernte, Materie vernichtete; sie löste nur die Form auf. Schnell fand ich auch heraus, daß sie nicht auf anorganische Verbindungen wirkte. Aber für alle organischen Formen war sie absolut verhängnisvoll. Dies verwirrte mich zunächst, hätte ich mir allerdings die Zeit genommen, gründlicher nachzudenken, wäre mir die Sache klargeworden. Da die Zahl der Atome in organischen Molekülen viel größer ist als in den kompliziertesten anorganischen Molekülen, sind organische Verbindungen instabil und können leicht durch physikalische Kräfte oder chemische Reagenzien aufgespalten werden.

Ein Paar speziell für diesen Zweck konstruierte Magnete, von starken Batterien gespeist, sandten zwei gewaltige Strahlen aus. Für sich genommen, waren diese völlig harmlos. Sie erfüllten jedoch ihre Bestimmung, wenn sie sich in einem bestimmten Punkt im Räume kreuzten. Nach einer praktischen Demonstration ihrer Wirkung, bei der ich mich um ein Haar selbst ins Jenseits befördert hätte, legte ich meine Falle aus. Ich versteckte die Magnete so, daß ihre Strahlen den Eingang zu meiner Kammer in ein Todesfeld verwandelten. An meiner Couch befestigte ich einen Schalter, mit dem ich den Strom aus den Batterien zu den Magneten schicken konnte. Dann ging ich zu Bett.

Die Schwarzen bewachten noch immer meine Schlafräume, wobei sie sich um Mitternacht ablösten. Ich schaltete den Strom ein, als der erste Mann seinen Dienst übernahm. Kaum war ich eingenickt, da erwachte ich schon wieder von einem scharfen, metallischen Klang. Drüben, mitten auf der Schwelle, lag das Halsband von Dan, dem Bernhardiner meines Vaters. Mein Bewacher eilte herbei, um es aufzuheben. Er verschwand wie ein Windhauch, wobei seine Kleider auf dem Boden zu einem Haufen zusammenfielen. Die Luft roch ganz leicht nach Ozon, da aber die wesentlichen gasförmigen Bestandteile seines Körpers Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff waren, allesamt färb- und geruchlos, gab es keinerlei weitere Anzeichen seines Verschwindens. Als ich jedoch den Strom abgeschaltet hatte und die Kleidungsstücke entfernte, fand ich ein Häufchen tierischer Holzkohle, dazu andere Pulver - die separierten festen Bestandteile seines Organismus wie Schwefel, Kalium und Eisen. Ich baute die Falle wieder auf und kroch zurück ins Bett. Um Mitternacht stand ich auf und beseitigte die Überreste des zweiten Schwarzen, dann schlief ich ruhig bis zum Morgen.

Ich wurde durch die schrille Stimme meines Vaters geweckt, der mich vom anderen Ende des Laboratoriums her rief. Ich lachte in mich hinein. Es gab niemanden mehr, der ihn wecken konnte, und er hatte verschlafen. Ich konnte ihn hören, wie er sich meinem Raum in der Absicht näherte, mich zu wecken. So setzte ich mich im Bett auf, damit ich seine Verwandlung -vielleicht besser seine „Apotheose“ - genauer beobachten konnte. Auf der Schwelle hielt er einen Moment inne, dann tat er den verhängnisvollen Schritt. Puff! Es hörte sich an, als würde der Wind zwischen Fichten singen. Er war verschwunden. Seine Kleidungsstücke fielen zu einem phantastischen Haufen auf den Boden. Außer Ozon nahm ich den leichten, knoblauchartigen Geruch von Phosphor wahr. Ein kleines Häufchen fester Elementarteilchen lag zwischen den Sachen. Das war alles. Die weite Welt stand mir offen. Meine Peiniger gab es nicht mehr.



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