Als die Welt jung war

I

Sehr ruhig und gefaßt, wie es seinem Wesen entsprach, saß er einen Augenblick lang auf der Mauer, um die feuchte Dunkelheit nach verborgenen Warnzeichen zu durchforschen. Doch sein Gehör sondierte nichts weiter als das Klagen des Windes in unsichtbaren Bäumen und das Rascheln der Blätter in sich wiegenden Zweigen. Der Wind trieb einen dichten Nebel vor sich her, und obwohl er den Nebel nicht sehen konnte, blies dieser ihm die Feuchtigkeit ins Gesicht, und die Mauer, auf der er saß, war naß.

Geräuschlos war er von außen auf die Mauer geklettert, und ohne einen Laut ließ er sich auf der anderen Seite zur Erde fallen. Er zog eine Taschenlampe aus der Tasche, machte sie aber nicht an. Es war zwar dunkel auf dem Weg, doch er wollte kein Licht. Die Taschenlampe in der Hand und den Finger am Schaltknopf, schritt er vorwärts durch die Dunkelheit. Der Boden unter seinen Füßen war weich und federnd, bedeckt mit abgestorbenen Tannennadeln, Blättern und einer lockeren Humusschicht, über die offensichtlich seit Jahren niemand gegangen war. Blätter und Zweige schlugen ihm entgegen, aber es war so finster, daß er ihnen nicht ausweichen konnte. Bald darauf lief er mit ausgestreckter Hand tastend vorwärts. Und mehr als einmal stieß er mit der Hand an feste, dicke Baumstämme. Das einzige, was er um sich herum ausmachen konnte, waren diese Bäume. Überall spürte er sie vor sich auftauchen, und er lernte das seltsame Gefühl mikroskopischer Kleinheit kennen inmitten gewaltiger Massen, die sich ihm entgegenstellten, um ihn zu erdrücken. Er wußte, dahinter stand das Haus, und er hoffte, auf einen Trampelpfad oder einen schmalen Weg zu stoßen, der ihn mühelos dorthin führen würde.

Einmal hatte er das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein. Auf allen Seiten stieß er gegen Bäume und Zweige oder stolperte in das Dickicht des Unterholzes, und es schien keinen Ausweg zu geben. Da erst machte er seine Lampe an, und vorsichtig richtete er den Strahl auf den Boden zu seinen Füßen. Langsam und umsichtig ließ er ihn um sich herumwandern, und jedes Hindernis auf dem Weg zeichnete sich scharf und deutlich in der weißen Helligkeit ab. Zwischen zwei riesigen Baumstämmen sah er eine Öffnung, glitt hindurch, machte das Licht aus und betrat trockenen Boden, der vor der Nebelfeuchtigkeit durch ein dichtes Laubdach abgeschirmt war. Sein Orientierungssinn war gut, und er wußte, daß er sich auf dem Weg zum Haus befand.

Und dann geschah es - das Unvorstellbare und Unerwartete. Sein Fuß trat auf etwas Weiches und Lebendiges, das sich unter dem Gewicht seines Körpers mit einem Knurren erhob. Er sprang zur Seite, duckte sich sprungbereit und lauschte angespannt und erwartungsvoll auf den Angriff des Unbekannten. Er wartete eine Weile und hätte gern gewußt, was für ein Tier er aufgestört hatte, das jetzt weder einen Laut von sich gab noch eine Bewegung machte und angespannt und erwartungsvoll wie er sprungbereit lauern mußte. Die Spannung wurde unerträglich. Als er die Taschenlampe nach vorn richtete, den Knopf drückte, sah er es. Und vor Entsetzen schrie er laut auf. Auf alles war er vorbereitet gewesen, auf ein erschrecktes Kalb oder ein Rehkitz, selbst auf einen angriffslustigen Löwen, aber nicht auf das, was er jetzt sah. Der winzige Lichtkegel hatte ihm in jenem Augenblick scharf und deutlich etwas gezeigt, was tausend Jahre ihn nicht vergessen lassen würden - einen Menschen, riesig und hellhäutig, mit strohgelbem Haar und Bart, nackt bis auf ein Ziegenfell um die Lenden und Mokassins. Arme, Beine sowie Schultern und der größte Teil des Brustkorbes waren bloß. Die Haut war glatt und unbehaart, aber von Sonne und Wind gebräunt, und die darunterliegenden starken Muskeln waren wie fette Schlangen ineinander verknotet.

Doch das allein, so unerwartet es wohl war, war nicht der Grund, weshalb der Mann aufgeschrien hatte. Was sein Entsetzen ausgelöst hatte, war die unaussprechliche Grausamkeit des Gesichtes, der tierisch wilde Blick in den vom Licht kaum geblendeten blauen Augen, waren die im verfilzten Bart und Haar hängenden Tannennadeln und der Anblick des schreckenerregenden Körpers, geduckt lauernd und zum Sprung auf ihn bereit. Alles das nahm er in dem einen Augenblick wahr, und während noch sein Schrei in der Luft hing, sprang dieses Etwas. Er schleuderte ihm seine Taschenlampe entgegen und warf sich zu Boden. Er spürte dessen Füße und Schienbeine gegen seine Rippen prallen, bäumte sich auf und rollte zur Seite, und das Wesen landete mit einem laut krachenden Aufprall im Unterholz.

Als das Geräusch des Sturzes verklungen war, hielt der Mann, auf Händen und Knien wartend, inne. Er konnte das Wesen hören, wie es herumlief und nach ihm suchte, und er hatte Angst, mit einem Fluchtversuch sein Versteck zu verraten. Er wußte, daß er ein Knacken im Unterholz nicht vermeiden konnte und dann verfolgt werden würde. Einmal zog er seinen Revolver hervor, änderte aber seinen Entschluß wieder. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen und hoffte, sich geräuschlos davonmachen zu können. Mehrere Male hörte er, wie das Wesen auf der Suche nach ihm das Dickicht durchstöberte, und es gab Momente, in denen es ebenfalls innehielt und lauschte. Dadurch kam der Mann auf einen Einfall.



Seine rechte Hand lag auf einem abgebrochenen Holzstück. Vorsichtig, die Dunkelheit um sich herum abtastend, um sicherzugehen, daß sich in Reichweite seines Armes kein Hindernis befand, ergriff er das Holzstück und schleuderte es weit von sich. Es war kein großes Stück, und es flog weit und landete geräuschvoll in einem Gebüsch. Er hörte, daß das Wesen einen Satz auf das Gebüsch zumachte, und zur selben Zeit kroch er zielstrebig davon. Langsam und vorsichtig bewegte er sich auf Händen und Knien vorwärts, bis seine Knie von dem Morast naß waren. Als er um sich horchte, hörte er nichts, nur den klagenden Wind und das Tröpfeln der Nebelfeuchtigkeit von den Zweigen. Die Vorsicht nicht außer acht lassend, erhob er sich und lief weiter bis zur Steinmauer, kletterte hinauf und ließ sich auf der anderen Seite zur Straße herunterfallen.

Tastend suchte er einen Weg durch ein Gestrüpp von Büschen, zog ein Fahrrad heraus und wollte aufsteigen. Gerade als er dabei war, das gegenüberliegende Pedal in die richtige Stellung zu bringen, hörte er den dumpfen Aufprall eines schweren Körpers, der offensichtlich leicht auf den Füßen landete. Er wartete nicht länger, sondern rannte los, die Hände an der Lenkstange, bis er in den Sattel springen, die Pedale erfassen und losrasen konnte. Hinter sich im Staub der Straße hörte er das schnelle Tapsen von Füßen, doch er ließ es immer weiter hinter sich zurück, und es verlor sich.

Dummerweise war er in die Richtung losgestürzt, die ihn von der Stadt wegführte, und fuhr nun aufwärts, den Bergen zu. Er wußte, daß es auf dieser abgelegenen Straße keine Abzweigung gab. Der einzige Rückweg führte vorbei an jenem Schreckensding, und soviel Mut, dem ins Auge zu sehen, brachte er nicht auf. Nach einer halben Stunde auf einem ständig ansteigenden Hang stieg er ab. Der größeren Sicherheit wegen ließ er das Rad am Straßenrand zurück und kletterte durch einen Zaun auf eine Bergwiese, breitete eine Zeitung auf dem Boden aus und setzte sich.

„Mein Gott!“ sagte er laut und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

Und „Mein Gott!“ sagte er noch einmal, als er sich eine Zigarette drehte und dabei grübelte, wie er zurückkommen sollte.

Aber er versuchte es überhaupt nicht erst. Fest entschlossen, in der Dunkelheit diese Straße nicht wieder zu betreten, legte er den Kopf auf die Knie, schlummerte ein und wartete auf den Anbruch des Tages.

Wie lange er so gesessen hatte, wußte er nicht. Vom kläffenden Gebell eines jungen Kojoten wurde er geweckt. Als er sich suchend umschaute, entdeckte er ihn auf dem Kamm eines Hügels hinter sich. Er bemerkte die Veränderung, die sich im Antlitz der Nacht vollzogen hatte: der Nebel hatte sich aufgelöst, Mond und Sterne waren zu sehen, sogar der Wind hatte sich gelegt. Eine Verwandlung in eine milde kalifornische Sommernacht. Er versuchte wieder einzuschlafen, doch das Kläffen des Kojoten störte ihn dabei. Im Halbschlaf vernahm er einen wilden und unheimlichen Gesang. Während er suchend um sich sah, fiel ihm auf, daß der Kojote sein Jaulen eingestellt hatte und nun den Hügelrücken entlang davonlief, dicht auf seinen Fersen jagte jene nackte Kreatur hinter ihm her, der er im Garten begegnet war und die jetzt nicht mehr sang. Der Kojote war jung, und er wurde eingeholt, als die Jagd dem Blick des Mannes entschwand. Am ganzen Körper wie vor Kälte zitternd, raffte er sich auf, kletterte über den Zaun und stieg auf das Rad. Denn dies war seine Chance, und das wußte er. Das Grauen lag nicht länger zwischen ihm und Mill Valley.

Er raste in halsbrecherischer Fahrt den Berg hinunter, aber in den dunklen Schatten einer Kurve am Fuße des Berges übersah er ein Schlagloch und sauste mit dem Kopf voran über die Lenkstange.

„Das hat mir heute nacht gerade noch gefehlt“, knurrte er vor sich hin, während er die gebrochene Gabel seines Fahrrades untersuchte.

Das nutzlose Rad auf der Schulter, stapfte er mühsam weiter. Als er die Steinmauer erreichte, suchte er die Straße nach Spuren ab, weil er kaum glauben konnte, was er erlebt hatte. Und er fand sie - Mokassinabdrücke, groß, vorn bei den Zehen tief in den Staub eingedrückt. Während er sich noch forschend darüber beugte, hörte er abermals jenen furchteinflößenden Gesang. Er hatte gesehen, wie diese Kreatur den Kojoten gejagt hatte, und er wußte, daß ihm keine Chance blieb, wenn er einfach davonlief. Er ver- suchte es nicht, sondern begnügte sich mit einem Versteck im Schatten des Straßenrandes.

Und noch einmal sah er das Wesen, leichtfüßig und schnell kam es angelaufen und sang dabei. Direkt ihm gegenüber hielt es. inne, und der Herzschlag des Mannes setzte aus. Aber anstatt auf sein Versteck zuzugehen, sprang das Wesen in die Luft, ergriff den Zweig eines am Straßenrand stehenden Baumes, schwang sich mühelos hoch und dann weiter von Ast zu Ast wie ein Affe. Es hangelte sich über die Mauer und, ein Dutzend Fuß hoch darüber, in das Geäst eines anderen Baumes, dann ließ es sich fallen und war nicht mehr zu sehen. Der Mann wartete gebannt noch eine Weile, dann brach er auf.

II

Herausfordernd lehnte Dave Slotter am Schreibtisch, der ihm den Weg ins Privatbüro von James Ward, dem Seniorpartner der Firma Ward, Knowles & Co. versperrte. Dave war verärgert. Jeder im Vorzimmer hatte ihn mißtrauisch gemustert, und der Mann ihm gegenüber sah besonders mißtrauisch drein.

„Sie sollen Mr. Ward melden, es sei wichtig“, drängte er.

„Ich sage Ihnen doch, er diktiert gerade und darf nicht gestört werden“, war die Antwort. „Kommen Sie morgen.“

„Morgen ist es zu spät. Setzen Sie sich schon in Bewegung und sagen Sie Mr. Ward, es ginge bei der Angelegenheit um

Leben und Tod.“

Der Sekretär zögerte, und Dave nutzte seinen Vorteil.

„Sagen Sie ihm nur, ich sei gestern nacht gegenüber der Bucht in Mill Valley gewesen und wolle ihn über etwas aufklären.“

„Wie ist der Name?“ war die Rückfrage.

„Der tut nichts zur Sache. Mr. Ward kennt mich nicht.“

Als Dave ins Privatbüro geführt wurde, war er immer noch in herausfordernder Geistesverfassung, doch als er den großen blonden Mann sah, der einer Stenotypistin diktiert hatte und sich nun im Drehstuhl zu ihm herumschwang, änderte sich Daves Haltung schlagartig. Er wußte nicht, warum das so war, und insgeheim ärgerte er sich darüber.

„Sie sind Mr. Ward?“ fragte Dave mit einer Einfältigkeit, die ihn noch mehr verwirrte. Das war ganz und gar nicht seine Absicht gewesen.

„Ja“, kam die Antwort. „Und wer sind Sie?“

„Harry Bancroft“, log Dave. „Sie kennen mich nicht, und mein Name spielt keine Rolle.“

„Sie haben sagen lassen, Sie seien gestern nacht in Mill Valley gewesen?“

„Sie wohnen doch dort, oder?“ konterte Dave und blickte dabei die Stenotypistin mißtrauisch an.

„Ja. Weshalb wollen Sie mich eigentlich sprechen? Ich bin sehr beschäftigt.“

„Darüber würde ich gern allein mit Ihnen reden, Sir.“

Mr. Ward warf ihm einen kurzen, durchdringenden Blick zu, zögerte eine Sekunde und hatte sich dann entschieden.

„Das reicht im Augenblick, Miß Potter.“

Das Mädchen erhob sich, sammelte ihre Aufzeichnungen zusammen und ging hinaus. Dave sah Mr. James Ward verwundert an, bis dieser seine soeben begonnenen Gedankengänge unterbrach.

„Nun?“

„Ich war gestern nacht drüben in Mill Valley“, fing Dave verstört an.

„Das habe ich vorhin schon gehört. Was wollen Sie?“

Und Dave fuhr trotz eines wachsenden, aber unglaublichen Verdachts fort:

„Ich war in Ihrem Haus, auf Ihrem Grundstück, wollte ich sagen.“

„Was haben Sie da gemacht?“

„Ich wollte einbrechen“, antwortete Dave in aller Offenheit. „Ich habe gehört, daß Sie dort allein mit einem chinesischen Koch wohnen, und das erschien mir günstig. Nur, ich bin nicht eingebrochen. Es geschah etwas, was mich davon abbrachte. Deshalb bin ich hier. Ich komme, um Sie zu warnen. Ich traf auf einen wilden Mann, der frei auf Ihrem Grundstück herumlief - einen regelrechten Teufel. Der könnte einen Burschen wie mich glatt in Stücke reißen. Seinetwegen bin ich um mein Leben gerannt. Er hat sozusagen nichts weiter an, klettert wie ein Affe auf Bäume und rennt wie ein Reh. Ich hab gesehen, wie er einen Kojoten gejagt hat, und das letzte, was ich davon mitgekriegt habe, bei Gott, er hat ihn erwischt.“

Dave unterbrach sich und wartete auf die Wirkung seiner Worte. Aber nichts geschah. James Ward war voll verhaltener Neugier, das war alles.

„Sehr merkwürdig, sehr merkwürdig“, murmelte er. „Ein Wilder, sagen Sie. Warum erzählen Sie mir das?“

„Um Sie vor einer Gefahr zu warnen. Ich bin selbst ein ziemlich hartgesottener Kerl, aber ich halte nichts davon, Leute umzubringen. . na ja, wenn’s nicht nötig ist. Ich hab gemeint, daß Sie in Gefahr wären. Da hab ich gedacht, ich sollte Sie warnen. Ehrlich, das ist alles. Selbstverständlich, wenn Sie mir etwas für meine Mühe geben wollen, sag ich nicht nein. Daran hab ich auch gedacht. Aber es ist mir egal, ob Sie mir etwas geben oder nicht. Ich hab Sie jedenfalls gewarnt und meine Pflicht getan.“

Mr. Ward grübelte und trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Dave fielen die großen, kräftigen Hände auf, die alles in allem trotz der dunklen Sonnenbräune sehr gepflegt waren. Er registrierte auch, was ihm schon vorher ins Auge gefallen war - ein winziges fleischfarbenes Pflaster auf der Stirn oberhalb des rechten Auges. Und immer noch hielt er den Gedanken, der sich ihm aufdrängte, für unglaublich.

Mr. Ward zog seine Brieftasche aus der Jackentasche, nahm eine grüne Banknote heraus und reichte sie Dave, der beim Einstecken feststellte, daß es zwanzig Dollar waren.

„Ich danke Ihnen“, sagte Mr. Ward und deutete damit an, daß das Gespräch beendet war. „Ich werde die Angelegenheit untersuchen lassen. Ein Wilder, der frei herumläuft, ist gefährlich.“

Aber dadurch, daß Mr. Ward so gelassen war, kehrte Daves Mut zurück. Außerdem hatte eine neue Theorie von ihm Besitz ergriffen. Offenbar war der Wilde ein Bruder dieses Mr. Ward, ein Geisteskranker in privater Verwahrung. Dave hatte schon solche Geschichten gehört. Vielleicht wollte Mr. Ward nicht, daß die Sache an die Öffentlichkeit drang. Deshalb hatte er ihm die zwanzig Dollar gegeben.

„Sagen Sie“, fing Dave an, „wenn ich jetzt so darüber nachdenke, sah der Wilde Ihnen doch sehr ähnlich. “

So weit kam Dave noch, denn im selben Augenblick wurde er Zeuge einer Verwandlung und sah sich denselben unaussprechlich wilden blauen Augen der vergangenen Nacht gegenüber, denselben fest zupackenden, klauenähnlichen Händen und derselben furchterregenden Massigkeit, bereit, ihn anzuspringen. Doch diesmal hatte Dave keine Taschenlampe bei sich, die er werfen konnte, und zwei starke Arme packten ihn mit einem derartig harten, entsetzlichen Griff, daß er vor Schmerz aufstöhnen mußte. Er sah große, weiße, gefletschte Zähne, geradeso wie bei einem Hund, der zubeißen will. Mr. Wards Bart streifte sein Gesicht, als die Zähne sich zum Biß seinem Hals näherten. Doch zum Biß kam es nicht. Statt dessen spürte Dave, wie der Körper seines Gegenübers in eiserner Beherrschung erstarrte, und dann wurde er zur Seite geschleudert, mühelos, aber mit derartiger Gewalt, daß sein Flug nur durch die Wand gebremst wurde und er nach Luft schnappend zu Boden fiel.

„Sie haben wohl geglaubt, Sie könnten hierherkommen und versuchen, mich zu erpressen?“ stieß Mr. Ward wütend hervor. „Los, geben Sie mir das Geld zurück!“ Ohne ein Wort gab Dave die Banknote zurück.

„Ich hatte angenommen, Sie wären in guter Absicht gekommen. Jetzt weiß ich, was ich von Ihnen zu halten habe. Ich will nie wieder etwas von Ihnen sehen oder hören, oder ich bringe Sie ins Gefängnis, wo Sie hingehören. Haben Sie mich verstanden?“

„Ja, Sir“, keuchte Dave.

„Dann verschwinden Sie.“

Und Dave ging, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Seine beiden Oberarme schmerzten unerträglich. Von dem brutalen Griff hatte er Blutergüsse. Als er die Hand an der Türklinke

hatte, wurde er zurückgehalten.

„Sie haben Glück gehabt“, sagte Mr. Ward, und Dave entdeckte in Gesicht und Augen des anderen Grausamkeit, Boshaftigkeit und Stolz. „Sie haben Glück gehabt. Hätte ich gewollt, hätte ich Ihnen die Muskeln ausreißen und sie dort in den Papierkorb werfen können.“

„Ja, Sir“, sagte Dave, völlig davon überzeugt und mit zitternder Stimme.

Er öffnete die Tür und ging hinaus. Der Sekretär blickte ihn fragend an.

„Mein Gott!“ war alles, was Dave herausbrachte, und mit dieser Bemerkung verließ er das Büro und die Geschichte.

III

James J. Ward war vierzig Jahre alt, ein erfolgreicher Geschäftsmann und sehr unglücklich. Vierzig Jahre lang hatte er vergeblich versucht, ein Problem zu lösen, das eigentlich er selbst war und das sich im Lauf der Jahre zu einem immer schmerzhafteren Leiden ausgewachsen hatte. Er be- stand aus zwei Persönlichkeiten, und in historischen Zeiträumen betrachtet, waren diese beiden durch mehrere tausend Jahre voneinander getrennt. Er hatte die Frage der gespaltenen Persönlichkeit wahrscheinlich gründlicher studiert als das halbe Dutzend führender Spezialisten- auf diesem komplizierten, rätselhaften Gebiet der Psychologie. Sein Fall unterschied sich von jedem anderen bisher bekanntgewordenen. Selbst die kühnsten Gedankenflüge von Romanschriftstellern erfaßten sein Problem nicht ganz. Er war weder ein Dr. Jekyll oder Mr. Hyde, noch war er so wie der unglückselige junge Mann in Kiplings größtem Roman. Seine beiden Ichs waren so miteinander verwoben, daß sie sich ständig ihrer selbst und des anderen bewußt waren.

Sein eines Ich war das eines Mannes, der eine moderne Erziehung und Bildung genossen hatte und der in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wiewohl auch in der ersten Dekade des zwanzigsten gelebt hatte. Sein anderes Ich hatte er als das eines Wilden und Barbaren erkannt, der wie vor mehreren tausend Jahren unter primitiven Bedingungen lebte. Doch welches Ich nun er war und welches das andere, konnte er nie sagen. Denn er war beides, und beides zur selben Zeit. In der Tat kam es nur sehr selten vor, daß das eine Ich nicht wußte, was das andere gerade tat. Hinzu kam, daß er weder Vorstellungen noch Erinnerungen an jene Vergangenheit besaß, in der das Ich der Vorzeit gelebt hatte. Jenes Ich lebte nun in der Gegenwart, aber stand dabei doch unter dem Zwang, eine Lebensweise zu führen, die einer entfernten Vergangenheit angemessen war.

In seiner Kindheit war er ein Problem für seine Mutter und seinen Vater gewesen, auch für die Hausärzte, doch nie hatten sie auch nur im entferntesten eine Ahnung von der Ursache seines unberechenbaren Verhaltens. Folglich konnten sie weder sein übermäßiges Schlafbedürfnis am Vormittag noch seine außergewöhnliche Aktivität in der Nacht verstehen. Als man beobachtete, wie er nachts in den Korridoren herumwanderte, über schwindelerregende Dächer kletterte oder in den Bergen herumlief, entschied man, er sei ein Schlafwandler. In Wirklichkeit war er hellwach und war lediglich dem nachtwandlerischen Drang seines Ur-Ichs ausgeliefert. Von einem einfältigen Medikus befragt, sagte er einmal die Wahrheit und mußte seine Offenheit mit der Schmach bezahlen, gebrandmarkt zu sein und verächtlich als „Träumer“ abgetan zu werden.

Die Sache war so, daß er bei Anbruch der Dämmerung und des Abends munter wurde. Die vier Wände seines Zimmers beengten und bedrückten ihn. Er hörte tausend Stimmen, die ihm in der Dunkelheit zuflüsterten. Die Nacht rief ihn, denn in diesen Stunden des Tages war er in erster Linie ein streunendes Wesen der Nacht. Aber niemand verstand das, und nie wieder versuchte er, etwas zu erklären. Man erklärte ihn zum Schlafwandler und traf dementsprechende Vorsichtsmaßnahmen -Maßnahmen, die sehr oft nutzlos waren. Je größer er wurde, desto findiger wurde er auch, so daß er den größten Teil seiner Nächte im Freien verbrachte und sein anderes Ich ausleben konnte. Die Folge davon war, daß er vormittags schlief. Morgendliches Lernen und Schulbesuche waren nicht möglich, und man stellte fest, daß ihm nur nachmittags etwas beigebracht werden konnte, unter Anleitung von Privatlehrern. Auf diese Weise wurde sein modernes Ich gebildet und entwickelt.

Dennoch blieb er stets ein Problemkind. Er war als kleiner Teufel von gefühlloser Grausamkeit und Gemeinheit bekannt. Die Hausärzte bescheinigten ihm insgeheim geistige Abnormität und Entartung. Die an sich wenigen Spielgefährten, die er hatte, bestaunten ihn wie ein Wunder, obwohl alle sich vor ihm fürchteten. Er übertraf jeden von ihnen beim Klettern, Schwimmen, Laufen und bei Teufeleien, und niemand wagte es, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Seine Stärke war einfach zu ungeheuerlich, seine Wildheit zu unberechenbar.

Als Neunjähriger riß er von zu Hause aus und lief in die Berge, wo er es sich gut gehen ließ, des Nachts herumstreunte, bis er nach sieben Wochen entdeckt und nach Hause gebracht wurde. Man wunderte sich, wie er es fertiggebracht hatte, sich in dieser Zeit zu ernähren und am Leben zu erhalten. Man wußte es nicht, und er sprach nie davon. Niemand ahnte etwas von den Kaninchen, die er getötet hatte, von den Wachteln, jungen und alten, die er gefangen und verzehrt, von den Hähnen der Farmer, die er erbeutet hatte, noch wußte man von jenem Höhlenlager, das er sich gebaut und mit trockenem Laub und Gräsern ausgepolstert und wo er warm und angenehm die Vormittage vieler Tage verbracht hatte.

Am College war er wegen seiner Schläfrigkeit und Einfältigkeit während der morgendlichen Vorlesungen und für seinen Scharfsinn am Nachmittag bekannt. Mit zusätzlichem Lesen und indem er sich die Mitschriften seiner Kommilitonen auslieh, brachte er mit Mühe und Not die verhaßten Morgenkurse hinter sich, seine Nachmittagskurse aber waren triumphale Erfolge. Beim Football erwies er sich als Riese und Schrecken zugleich, so auch in fast allen Disziplinen der Leichtathletik. Wenn er nicht gerade einen seiner merkwürdigen berserkerhaften Wutanfälle, in die er manchmal ausbrach, hatte, konnte man gewiß sein, daß er gewann. Aber seine Kameraden hatten Angst, mit ihm zu boxen, denn sein letzter Ringkampf erregte dadurch Aufsehen, daß er die Zähne in die Schulter seines Gegners schlug.

Nach dem College brachte ihn sein verzweifelter Vater bei Cowboys auf einer Ranch in Wyoming unter. Drei Monate später mußten diese beherzten Männer gestehen, daß sie ihm nicht gewachsen waren, und telegrafierten seinem Vater, den Wilden wieder abzuholen. Als der Vater eintraf, um ihn mitzunehmen, erklärten die Cowboys, daß sie viel lieber mit heulenden Kannibalen, Kauderwelsch plappernden Irren, unbändigen Gorillas, Grizzlybären und menschenfressenden Tigern zusammenhausen würden als mit diesem ganz besonderen jungen Collegefrüchtchen, das einen Mittelscheitel trug.

Es gab eine Ausnahme, was das geringe Erinnerungsvermögen an das Leben seines Ur-Ichs betraf, und das war die Sprache. Durch irgendeinen atavistischen Zufall war dem Ur-Ich ein gewisser Teil der Sprache seines früheren Daseins vererbt worden. In Augenblicken des Glücks, der Erregung oder des Kampfes neigte er dazu, in wilde barbarische Lieder oder Gesänge auszubrechen. Dadurch war es ihm möglich, jene heimatlose Hälfte seines Ichs, die schon seit Tausenden von Jahren tot und zu Staub zerfallen sein sollte, zeitlich und räumlich festzulegen. Einmal sang er einige dieser vorzeitlichen Gesänge absichtlich in Gegenwart von Professor Wertz, der Seminare in Altsächsisch hielt und ein anerkannter und leidenschaftlicher Philologe war. Schon beim ersten Lied spitzte der Professor die Ohren und wollte unbedingt wissen, um was für einen abartigen Dialekt oder um welche Art von verballhorntem Germanisch es sich dabei handele. Als der zweite Gesang ertönte, geriet der Professor in höchste Erregung. James Ward beendete seinen Vortrag mit einem Lied, das jedesmal unwiderstehlich seinen Lippen entschlüpfte, wenn er in einen wilden Kampf oder in eine Auseinandersetzung verwickelt war. Daraufhin erklärte besagter Professor Wertz, das sei kein verballhorntes Germanisch, sondern Altgermanisch oder ein frühes Teutonisch aus einer Zeit, die weit vor alldem lag, was jemals von Gelehrten entdeckt und überliefert worden war. Es läge so weit zurück, daß es selbst sein Wissen überstieg, aber dennoch sei diese Sprache voller Wortformen, deren Klänge ihm bekannt vorkämen und von denen seine geschulte Intuition ihm sage, daß sie originalgetreu und echt seien. Er verlangte die Quelle der Lieder zu erfahren und bat darum, ihm jenes kostbare Buch, in dem sie verzeichnet wären, zu leihen. Er wollte auch unbedingt wissen, weshalb der junge Ward immer so getan hätte, als sei er der germanischen Sprachen völlig unkundig. Und Ward konnte weder seine vorgegebene Unwissenheit erklären noch ein derartiges Buch verleihen. Woraufhin Professor Wertz nach wochenlangem Bitten und Betteln dem jungen Mann gegenüber eine Abneigung entwickelte und glaubte, er sei ein Lügner, und ihn als einen außerordentlich selbstsüchtigen Menschen bezeichnete, weil jener ihm nicht einen einzigen Blick in diese wundervolle Aufzeichnung gewährte, die doch älter «sein mußte als alles, wovon Philologen je gewußt oder geträumt hätten.

Wenig Gutes hatte es dem völlig verwirrten jungen Mann eingebracht, daß er nun wußte, seine eine Hälfte war spätes Amerikanisch und die andere Hälfte frühes Teutonisch. Trotz alledem, der späte Amerikaner in ihm war kein Schwächling, und deshalb (wenn er ein Mann sein wollte und ein Teil seines Daseins außerhalb dieser beiden Ichs lag) zwang er sich zu einer Übereinkunft oder einem Kompromiß zwischen dem einen Ich, das ein nächtlich herumstreunender Wilder war und sein anderes Ich jeden Morgen schläfrig sein ließ, und jenem kultivierten, geistig höherstehenden Ich, das normal sein wollte, leben, lieben und Geschäften nachzugehen wünschte wie andere Leute auch. Die Nachmittage und frühen Abende teilte er dem einen zu, die Nächte dem anderen. Die Vormittage und Teile der Nacht waren dem Schlaf beider Ichs vorbehalten. Morgens jedoch schlief er wie ein zivilisierter Mensch im Bett, während der Nachtstunden aber wie ein wildes Tier, so wie in jener Nacht, als Dave Slotter im Wald über ihn gestolpert war.

Nachdem er seinen Vater überredet hatte, ihm etwas Kapital vorzuschießen, trat er ins Geschäftsleben ein und baute ein stabiles und erfolgreiches Unternehmen auf. Nachmittags widmete er sich mit vollem Einsatz seiner Arbeit, während morgens sein Partner die Geschäfte leitete. Die frühen Abendstunden verbrachte er in Gesellschaft, aber wenn die Zeit auf neun oder zehn Uhr vorrückte, überfiel ihn eine unwiderstehliche Unruhe, und er verließ die bei Männern beliebten Aufenthaltsorte bis zum nächsten Nachmittag. Seine Freunde und Bekannten glaubten, er würde einen großen Teil seiner Zeit mit Sport verbringen. Und sie hatten ja auch recht, obwohl sie es sich niemals hätten träumen lassen, welcher Art Sport er nachging, selbst wenn sie ihn bei nächtlichen Verfolgungsjagden auf Kojoten in den Bergen von Mill Valley gesehen hätten. Man schenkte auch den Schonerkapitänen keinen Glauben, die in den Gezeitenströmungen der Raccoon Straits und in den wirbelnden Strudeln zwischen Goal Island und Angel Island, meilenweit vom Strand entfernt, einen Mann an kalten Wintermorgen beim Schwimmen beobachtet hatten.

Er lebte allein in dem kleinen Haus in Mill Valley, und nur Li Sing, der chinesische Koch und das Faktotum, wußte eine ganze Menge über die Eigenheiten seines Herrn. Er wurde gut für seine Verschwiegenheit bezahlt und ließ nie etwas verlauten. Nach Nächten, die er seinem Bedürfnis entsprechend genossen hatte, einem morgendlichen Schlaf und einem von Li Sing zubereiteten Frühstück überquerte James Ward mit der Mittagsfähre die Bucht nach San Francisco, ging in den Klub und von dort in sein Büro, wie jeder andere normale, konventionell lebende Geschäftsmann in der Stadt. Aber zu fortgeschrittener Zeit am Abend rief ihn die Nacht. All seine Wahrnehmungen beschleunigten sich, und Rastlosigkeit überfiel ihn. Ganz plötzlich verfeinerte sich sein Gehör, Myriaden von Nachtgeräuschen erzählten ihm eine verlockende und vertraute Geschichte, und wenn er allein war, begann er im engen Zimmer auf und ab zu schreiten wie ein gefangenes, wildes Tier im Käfig.

Einmal wagte er es, sich zu verlieben. Diese Art von Zeitvertreib erlaubte er sich nie wieder. Er hatte Angst. Und die junge Dame, die unter Schrecken zumindest einen Teil ihrer jugendlichen Unerfahrenheit eingebüßt hatte, hatte mehrere Tage lang an Armen, Schultern und Handgelenken blaue Flecke - Zeichen der Zärtlichkeit, die er ihr in aller wohlwollenden Zuneigung erwiesen hatte, nur leider zu spät in der Nacht. Das war der Fehler. Hätte er die Liebkosungen am Nachmittag gewagt, wäre alles gut gewesen, denn dann hätte er ihr seine Liebe als ruhiger Gentleman gezeigt - nachts jedoch war er der ungehobelte, Frauen raubende Wilde aus den dunklen germanischen Wäldern. Aus dieser Einsicht heraus entschied er, daß eine nachmittägliche Liebesbeziehung erfolgversprechend sein konnte, aber aufgrund derselben klugen Einsicht war er davon überzeugt, daß eine Ehe sich als ein furchtbarer Fehlschlag erweisen würde. Allein die Vorstellung, verheiratet zu sein und nach Einbruch der Dunkelheit seiner Frau zu begegnen, war erschreckend für ihn.

Deshalb war er allen Liebesaffären aus dem Weg gegangen, hatte sein Doppelleben geordnet, eine Million im Geschäft gemacht, kuppelnde Mütter und junge Damen unterschiedlichsten Alters sanft abgewehrt, selbst wenn sie strahlende und vielversprechende Augen machten, war Lilian Gersdale begegnet und hatte es sich zur strengen Regel gemacht, sie nie später als acht Uhr abends aufzusuchen, jagte nachts seine Kojoten und schlief in Waldlagern - und nur so hatte er sein Geheimnis wahren können, außer vor Li Sing. und nun auch Dave Slotter. Die Entdeckung seiner beiden Ichs durch den letzteren flößte ihm Furcht ein. Trotz der Angst, die er dem Einbrecher eingejagt hatte, war zu befürchten, daß dieser redete. Und selbst wenn er das nicht täte, früher oder später würde ein anderer ihn entlarven.

So stand die Sache, als James Ward einen erneuten und heldenhaften Versuch unternahm, den teutonischen Barbaren, der eine Hälfte seines Ichs ausmachte, unter Kontrolle zu bekommen. Er legte so sehr Wert darauf, Lilian nachmittags und an den frühen Abenden zu besuchen, daß bald die Zeit kam, wo sie ihn gern sah in Freude und Leid und er heimlich und inbrünstig betete, daß kein Unglück geschehen möge. Kein Preisboxer hat sich in dieser Zeit härter und gewissenhafter auf einen Wettkampf vorbereitet als er in dem Bemühen, den wilden Barbaren in sich zu zähmen. Bei allem, was er tat, war er bemüht, sich am Tage völlig zu verausgaben, so daß der Schlaf ihn für den Ruf der Nacht taub machte. Er nahm Urlaub vom Büro, ging auf lange Jagdausflüge und verfolgte das Wild durch die unwegsamsten und ödesten Gegenden, die er finden konnte - und das immer während des Tages. Die Nacht traf ihn ermüdet im Hause an. Dort baute er eine Vielzahl von Trainingsapparaturen auf, und wo andere Menschen eine bestimmte Übung zehnmal ausführen, machte er sie hundertmal. Gewissermaßen als Kompromiß baute er im zweiten Stock eine Schlafveranda. Hier konnte er wenigstens die geliebte Nachtluft ahnen. Doppelgitter verhinderten sein Entfliehen in die Wälder, und jede Nacht sperrte Li Sing ihn dort ein und ließ ihn am Morgen wieder heraus.

Es kam die Zeit, man schrieb August, da stellte er weitere Bedienstete ein, damit sie Li Sing zur Hand gehen konnten, und er wagte es, in seinem Haus in Mill Valley eine Party zu geben. Lilian, ihre Mutter und ihr Bruder sowie ein halbes Dutzend gemeinsamer Freunde waren die Gäste. Zwei Tage und Nächte lang ging alles gut. Und in der dritten Nacht, bis elf Uhr wurde Bridge gespielt, hatte er allen Grund, stolz auf sich zu sein. Erfolgreich verbarg er seine Ruhelosigkeit, aber wie das Schicksal es wollte, war seine Gegenspielerin zur Rechten Lilian Gersdale. Wie eine zarte, zerbrechliche Blume war diese Frau, und in seiner nächtlichen Stimmung reizte ihn ihre Schwäche. Nicht etwa, daß er sie weniger liebte, aber er verspürte den unwiderstehlichen Drang, nach ihr zu greifen, sie grob anzufassen und zu mißhandeln. Ganz besonders dann, als sie dabei war, gegen ihn zu gewinnen.

Er hatte einen der Jagdhunde mit hereingebracht, und immer wenn er das Gefühl hatte, vor innerer Spannung in tausend Stücke zu zerspringen, verschaffte es ihm Erleichterung, mit einer Hand das Tier zu tätscheln. Die Berührung des haarigen Fells beruhigte ihn sofort, und so konnte er den Abend beim Spiel durchstehen. Keiner der Anwesenden ahnte etwas von dem schrecklichen Kampf des Gastgebers, zumal er sorglos lachte und eifrig und besonnen spielte.

Als man sich zur Schlafenszeit trennte, achtete er darauf, sich in Gegenwart der anderen von Lilian zu verabschieden. Auf seiner Schlafveranda und sicher eingeschlossen, verdoppelte, verdreifachte, ja vervierfachte er sofort seine körperlichen Übungen, bis er sich erschöpft auf das Bett fallen ließ, um Schlaf zu suchen und um über zwei Probleme nachzugrübeln, die ihn besonders beunruhigten. Das eine betraf die Übungen. Es war paradox. Je mehr er in dieser exzessiven Art und Weise Leibesübungen machte, um so kräftiger wurde er. Und es stimmte auch, daß er so sein nachtstreunendes teutonisches Ich völlig erschöpfte, doch andererseits schien er nur jenen verhängnisvollen Tag weiter hinauszuschieben, an dem seine Kraft für ihn zu stark sein und ihn überwältigen würde, eine Kraft, die gewaltiger wäre als alles, was er je gekannt hatte. Das andere Problem betraf seine Heirat und die Kunstgriffe, die er würde anwenden müssen, um seiner Frau nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Wege zu gehen. Und derartig ergebnislos vor sich hin grübelnd, schlief er ein.

Lange noch blieb es ein Rätsel, woher in jener Nacht der riesige Grizzlybär auftauchte, während die Leute vom Springs-Brothers-Zirkus, der in Sausalito gastierte, lange und vergeblich nach „Big Ben, dem größten Grizzly in Gefangenschaft“, suchten. Doch Big Ben war entwischt, und in einem Irrgarten von einem halben Tausend Bungalows und Landsitzen suchte er sich das Anwesen von James Ward für einen Besuch aus. Das erste, was James Ward bewußt wahrnahm, als er zitternd vor Erregung und Spannung auf den Beinen stand, war ein Gefühl von Kampfeslust, und der alte Kriegsgesang kam von seinen Lippen. Von draußen drang das wilde Kläffen und Bellen der Hunde herauf. Und scharf war das tödliche Schmerzgeheul eines getroffenen Hundes inmitten des Höllenlärms zu hören -seines Hundes, das wußte er.

Er hielt sich nicht mit den Schuhen auf, durchbrach im Schlafanzug die Tür, die Li Sing so sorgfältig verschlossen hatte, raste die Treppen hinunter und hinaus in die Nacht. Als seine nackten Füße den Kiesboden der Auffahrt berührten, hielt er plötzlich inne, griff unter die Treppe, einem ihm vertrauten Versteck, und zog einen gewaltigen Holzknüppel hervor - seinen alten Begleiter bei vielen verrückten nächtlichen Abenteuern in den Bergen. Der rasende Tumult der Hunde kam immer näher, und den Knüppel schwingend, sprang er geradewegs hinein in das Dickicht, aus dem der Lärm kam.

Die aus dem Schlaf aufgeschreckten Bewohner des Hauses versammelten sich auf der breiten Veranda. Jemand schaltete die elektrische Beleuchtung an, aber außer ihren eigenen entsetzten Gesichtern konnten sie nichts sehen. Hinter der hell erleuchteten Auffahrt bildeten die Bäume eine Mauer von undurchdringlicher Finsternis. Doch irgendwo in dieser Dunkelheit tobte ein entsetzlicher Kampf. Da war ein infernalisches Gebrüll von Tieren, ein gewaltiges Knurren und Belfern, der Klang von ausgeteilten Schlägen und das Krachen und Niederschmettern schwerer Körper im Gestrüpp.

Die Kampfeswoge rollte unter den Bäumen hervor auf die Auffahrt zu, gerade unter den Standort der Zuschauer. Dann sahen sie es. Mrs. Gersdale schrie auf und klammerte sich, das Bewußtsein verlierend, an ihren Sohn. Lilian, die sich so krampfhaft am Gitter festhielt, daß die schmerzhaften Druckstellen an ihren Fingerspitzen noch tagelang danach zu erkennen waren, erblickte mit Entsetzen einen gelbhaarigen, wildäugigen Riesen, in dem sie den Mann erkannte, der ihr Gemahl werden sollte. Er schwang einen riesigen Knüppel und kämpfte in heftiger Wut, doch mit aller Entschlossenheit gegen ein zottiges Ungetüm, das größer war als jeder Bär, den sie jemals vorher gesehen hatte. Ein Schlag von den Pranken der Bestie hatte Wards Pyjamajacke zerrissen, und seine Haut war blutverschmiert.



Lilian Gersdales größte Angst galt dem geliebten Mann, aber andererseits hatte sie auch Furcht vor diesem Mann. Nie hätte sie sich träumen lassen, daß unter dem gestärkten Hemd und der konventionellen Kleidung ihres Bräutigams sich ein solch außergewöhnlicher und prächtiger Wilder verbarg. Und niemals hatte sie eine Vorstellung davon gehabt, wie ein Mann kämpft. Ein derartiger Kampf war sicherlich nicht zeitgemäß, und sie hatte ja auch keinen Mann ihrer Zeit vor sich, obwohl sie das nicht wußte. Denn dies war nicht Mr. James J. Ward, der Geschäftsmann aus San Francisco, sondern ein namenloses, unbekanntes, rohes und gewalttätiges wildes Wesen, das einer zufälligen Laune der Natur zufolge nach dreimal tausend Jahren wieder zum Leben erwacht war.

Die Hunde umkreisten unaufhörlich bellend den Kampf, sprangen immer wieder den Bären an und lenkten ihn so ab. Wenn das Tier sich umdrehte, um solchen Flankenangriffen zu begegnen, sprang der Mann hinzu und ließ seinen Knüppel niedersausen. Durch jeden dieser Schläge erneut gereizt, stürzte sich der Bär auf den Mann, der hin und her tänzelte, um den Hunden auszuweichen, und mal rückwärts sprang oder sich zur einen oder anderen Seite drehte. Diesen Platzvorteil ausnutzend, sprangen die Hunde wiederum herbei und zogen so die Angriffslust des Tieres auf sich.

Das Ende kam plötzlich. Um sich wirbelnd, erwischte der Grizzly einen Hund mit einem weit ausholenden Schlag, der dem Tier die Rippen eindrückte, den Rücken brach und es zwanzig Fuß weit zu Boden schmetterte. Daraufhin geriet das menschliche Untier außer sich. Vor Wut schäumend, öffnete er den Mund in einem wilden, unartikulierten Schrei, sprang, den Knüppel wild mit beiden Händen schwingend, drauflos und ließ ihn mit aller Wucht auf den Kopf des sich aufrichtenden Grizzlys niedersausen. Nicht einmal der Schädel eines Grizzlys konnte der zerschmetternden Gewalt eines solchen Schlages widerstehen, und das Tier sank zu Boden - nun den Bissen der Hunde ausgesetzt. Aus diesem Knäuel sprang der Mann mit aufgerichtetem Körper ins helle elektrische Licht, und auf seinen Knüppel gestützt, ließ er einen Triumphgesang in einer unbekannten Sprache ertönen - einen Gesang, der so alt war, daß Professor Wertz zehn Jahre seines Lebens dafür gegeben hätte.

Jubelnd eilten seine Gäste ihm entgegen, doch James Ward, der plötzlich mit den Augen des vorzeitlichen Teutonen das liebliche, zarte Mädchen aus dem zwanzigsten Jahrhundert erblickte, das er liebte, spürte etwas in seinem Kopf knacken. Wankend taumelte er auf sie zu, ließ den Knüppel fallen und wäre fast gestürzt. Irgend etwas war mit ihm passiert. In seinem Kopf herrschte eine unerträgliche Agonie. Seine Seele schien auseinanderzufliegen. Den vor Aufregung erstarrten Blicken folgend, blickte er sich um und sah den Kadaver des Bären. Dieser Anblick erfüllte ihn mit Schrecken. Er stieß einen Schrei aus und wäre fortgelaufen, hätte man ihn nicht zurückgehalten und ins Haus geführt.

James J. Ward ist heute noch im Vorstand der Firma Ward, Knowles & Co. Aber er wohnt nicht mehr auf dem Lande und verfolgt nachts im Mondlicht auch keine Kojoten mehr. In jener Nacht beim Kampf mit dem Bären in Mill Valley starb der urzeitliche Teutone in ihm. James J. Ward ist heute nur noch James J. Ward, und er teilt seine Persönlichkeit nicht mehr mit einem anachronistischen Vagabunden aus der grauen Vorzeit. Und James J. Ward ist ein so vollkommener Vertreter seiner Zeit, daß er das bittere Ausmaß des Fluchs unserer zivilisierten Furcht kennt. Jetzt fürchtet er sich vor der Dunkelheit, und eine Nacht im Wald ist etwas, was ihm grenzenloses Grauen einjagt. Sein Stadthaus zeichnet sich durch blitzblanke Ordnung aus, und er bekundet starkes Interesse an einbruchssicheren Schutzvorrichtungen. Sein Heim ist von einem Gewirr elektrischer Drähte durchzogen, und wenn Schlafenszeit ist, kann ein Gast kaum tief atmen, ohne einen Alarm auszulösen. Er war auch der Erfinder eines schlüssellosen Türschlosses, das Reisende in der Westentasche aufbewahren können und das man sofort problemlos überall einbauen kann. Seine Frau jedoch hält ihn nicht etwa für einen Feigling. Sie weiß es besser. Und wie jeder Held ist er es zufrieden, auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Und nie wird sein Mut von denjenigen seiner Freunde in Frage gestellt, die von den Ereignissen in Mill Valley wissen.



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