Nachforschungen ergaben, daß der in diesem Bericht erwähnte Kapitalist oder Industrieoligarch, Roger Vanderwater, der neunte aus dem Geschlecht der Vanderwaters war, das seit Hunderten von Jahren die Baumwollfabriken des Südens kontrollierte. Roger Vanderwater stand während der letzten Jahrzehnte des sechsundzwanzigsten Jahrhunderts nach Christus auf dem Gipfel seiner Macht - das war das fünfte Jahrhundert der entsetzlichen Industrieoligarchie, die auf den Ruinen der ersten Republik errichtet worden war.
Inneren Beweisen zufolge sind wir der Überzeugung, daß der nachfolgende Bericht nicht vor dem neunundzwanzigsten Jahrhundert schriftlich niedergelegt wurde. Nicht allein deswegen, weil es in jener Zeit gegen die herrschenden Gesetze verstieß, etwas Derartiges aufzuschreiben oder zu drucken, sondern weil die Arbeiterklasse in solchem Maße analphabetisch war, daß ihre Vertreter nur in den seltensten Fällen lesen oder schreiben konnten. Es war die düstere Herrschaft des Großen Aufsehers, in dessen Rede die Masse des Volkes als „Herdentiere “ charakterisiert wurde. Jegliches Schrifttum war verpönt und wurde ausgemerzt. Aus den damaligen Gesetzbüchern kann zum Beispiel das Schwarze Gesetz angeführt werden, das jeden Mann zum Kapitalverbrecher erklärte, der - egal welcher Klasse er angehörte - einem Vertreter der Arbeiterklasse nur das Alphabet beibrachte. Solche strengen Bildungsbeschränkungen von seiten der herrschenden Klasse waren notwendig, wenn diese Klasse weiter an der Macht bleiben wollte.
Ein Ergebnis dieses Vorgehens war die Entwicklung berufsmäßiger Geschichtenerzähler. Diese Geschichtenerzähler wurden von der Oligarchie bezahlt, und die erzählten Geschichten waren legendenhaft, mythisch, romantisch und harmlos. Aber der Freiheitsgeist erstarb nie ganz, und getarnt als Geschichtenerzähler predigten seine Verkünder der Sklavenklasse den Aufstand. Daß die nachfolgende Geschichte von den Oligarchen verboten wurde, beweisen Akten des Kriminalgerichtshofes von Ashbury, denen zufolge am . Januar ein gewisser John Tourney für schuldig befunden wurde, diese Geschichte in einer Arbeiterkneipe erzählt zu haben, und der daraufhin zu fünf jähriger Strafarbeit in den Boraxminen der Arizona-Wüste verurteilt wurde. - Anmerkung des Herausgebers.
Ein seltsames Fragment
Höret, meine Brüder, ich will euch die Geschichte eines Armes erzählen. Es war der Arm von Tom Dixon, und Tom Di-xon war ein erstklassiger Weber in einer Fabrik jenes Höllenhundes und Herrn, Roger Vanderwater. Die dort schuftenden Sklaven hatten diese Fabrik „Höllenarsch“ getauft. Vermutlich wußten sie weshalb, und sie befand sich in Kingsbury, am
anderen Ende der Stadt von Vanderwaters Sommerschloß aus gesehen. Ihr wißt nicht, wo Kingsbury liegt? Es gibt vieles, was ihr nicht wißt, meine Brüder, und das ist traurig. Das kommt daher, weil ihr nicht wißt, daß ihr Sklaven seid. Wenn ich euch diese Geschichte erzählt habe, möchte ich gern eine Schulklasse bilden, damit ihr geschriebene und gedruckte Rede kennenlernt. Unsere Herren lesen, schreiben und besitzen viele Bücher, und nur deshalb sind sie unsere Herren, leben in Schlössern und arbeiten nicht. Wenn die Zwangsarbeiter lesen und schreiben lernen - alle - , werden sie mächtig; dann werden sie ihre Macht gebrauchen, um die Ketten zu zerbrechen, und es wird nicht länger Herren und Sklaven geben.
Kingsbury, meine Brüder, liegt im alten Staat Alabama. Seit dreihundert Jahren gehört Kingsbury mit all seinen Sklavenbaracken und Fabriken den Vanderwaters, dazu noch weitere Sklavenbaracken und Fabriken in vielen anderen Orten und Staaten. Ihr kennt die Vanderwaters - wer kennt sie nicht - , aber laßt mich erzählen, was ihr nicht von ihnen wißt. Der erste Vanderwater war ein Sklave, einer wie du und ich. Versteht ihr? Er war Sklave, und das ist über dreihundert Jahre her. Sein Vater war Maschinist in Alexander Burrells Sklavenbaracken -und seine Mutter war dort Waschfrau. Darüber besteht kein Zweifel. Ich erzähl euch die Wahrheit. Das ist Geschichte. Es steht gedruckt - jedes Wort - in den Geschichtsbüchern unserer Herren; in den Büchern, die ihr nicht lesen könnt, weil es euch eure Herren nicht erlauben, lesen zu lernen. Ihr werdet begreifen, weshalb man euch nicht erlaubt, das Lesen zu erlernen, wenn derartiges in den Büchern steht. Sie wissen es, und sie sind sehr klug. Wenn ihr solche Sachen lesen würdet, könntet ihr es euren Herren gegenüber an Achtung fehlen lassen, und das wäre gefährlich... für eure Herren. Aber ich weiß es, denn ich kann lesen, und ich erzähle euch, was ich mit eigenen Augen in den Geschichtsbüchern unserer Herren gelesen habe.
Der Name des ersten Vanderwater lautete nicht Vanderwater, sondern Vange - Bill Vange, Sohn des Yergis Vange, Maschinist, und der Waschfrau Laura Carnly. Der junge Bill Vange war stark. Er hätte bei den Sklaven bleiben und sie in die Freiheit führen können, statt dessen je- doch diente er den Herren und wurde gut belohnt. Schon als Kind begann er seinen Dienst als Spion in der Sklavenbaracke, wo er zu Hause war. Es ist bekannt, daß er seinen eigenen Vater wegen einer staatsgefährdenden Äußerung angeschwärzt hat. Das ist Tatsache. Ich hab es, mit eigenen Augen in den Akten gelesen. Er war ein zu guter Sklave, als daß er in den Sklavenbaracken arbeiten konnte. Alexander Burrell nahm ihn dort schon als Kind heraus, und ihm wurde Lesen und Schreiben beigebracht. Vieles lehrte man ihn, und er wurde in den Geheimdienst der Regierung aufgenommen. Selbstverständlich trug er nun nicht länger Sklavenkleidung, außer zur Tarnung, wenn er hinter die Geheimnisse und Verschwörungen der Sklaven zu kommen versuchte. Er war es, der - damals nicht älter als achtzehn Jahre - den großen Helden und Kameraden Ralph Jacobus vor Gericht und auf den elektrischen Stuhl brachte. Selbstverständlich kennt ihr alle den verehrten Namen von Ralph Jacobus, aber neu für euch ist, daß er durch den ersten Vanderwater, dessen wirklicher Name Vange war, zu Tode kam. Ich weiß es. Ich habe es in den Büchern gelesen. Es stehen viele andere, ähnlich interessante Dinge in den Büchern.
Und nachdem Ralph Jacobus eines so schändlichen Todes gestorben war, begannen die vielen Namenswandlungen des Bill Vange. Weit und breit war er als „Vange der Fuchs“ bekannt. Im Geheimdienst machte er eine großartige Karriere und wurde großzügig belohnt, aber dennoch war er kein Angehöriger der Herrenklasse. Die Männer waren damit schon einverstanden, doch es waren die Frauen dieser Klasse, die sich weigerten, Vange den Fuchs als einen der ihren anzuerkennen. Vange der Fuchs leistete seinen Herren gute Dienste. Er war selbst Sklave gewesen und kannte sich mit ihnen aus. Man konnte ihn nicht hinters Licht führen. In jenen Tagen waren die Sklaven tapferer als heute, und sie strebten ständig nach ihrer Freiheit. Vange der Fuchs tauchte überall auf - bei allen geheimen Verschwörungen und Plänen - , und er brachte ihre Verschwörungen und Pläne zum Scheitern, ihre Anführer auf den elektrischen Stuhl. Man schrieb das Jahr , als sich sein Name abermals änderte. Es war jenes Jahr, in dem der Große Aufstand stattfand. Im Gebiet westlich der Rocky Mountains schlugen sich siebzehn Millionen Sklaven tapfer, um ihre Herren zu stürzen. Wer weiß, hätte Vange der Fuchs nicht gelebt, vielleicht wäre es ihnen gelungen. Aber Vange der Fuchs war nur zu lebendig. Die Herren erteilten ihm in dieser Angelegenheit das Oberkommando. In den acht Monaten des Kampfes wurden eine Million dreihundertfünfzigtausend Sklaven getötet. Vange, Bill Vange, Vange der Fuchs tötete sie und zerschlug den Großen Aufstand. Er wurde großartig belohnt, und an seinen Händen klebte das rote Blut der Sklaven, daß man ihn danach nur den „blutigen Vange“ nannte. Versteht ihr, meine Brüder, was für interessante Dinge in den Büchern zu finden sind, wenn man sie lesen kann? Und ich gebe euch mein Wort darauf, es gibt viel mehr und noch interessanteres in den Büchern. Und wenn ihr erst bei mir gelernt haben werdet, dann können in einem Jahr - ach, was sag ich - , in sechs Monaten schon einige von euch diese Bücher selbst lesen. Der blutige Vange erreichte ein hohes Alter, und noch bis zuletzt empfing man ihn auf den Ratssitzungen der Herren; er selbst wurde aber niemals ein Herr. Er hatte das Licht der Welt in einer Sklavenbaracke erblickt, versteht ihr. ja, gut belohnt wurde er! Er besaß ein Dutzend Schlösser. Er, der kein Herr war, nannte Tausende Sklaven sein eigen, hatte eine großartige Luxusjacht am Meer, eigentlich mehr ein schwimmendes Schloß - und eine ganze Insel gehörte ihm, wo zehntausend Sklaven auf seinen Kaffeeplantagen schufteten. Aber auf seine alten Tage war er einsam, lebte abgeschieden und von seinen Brüdern, den Sklaven, gehaßt. Diejenigen, denen er gedient hatte, blickten verächtlich auf ihn herab und weigerten sich, seine Brüder zu sein. Die Herren schauten von oben auf ihn her- unter, weil er ein geborener Sklave war. Unermeßlich reich starb er, aber er starb grauenvoll; gefoltert von Gewissensqualen, bereute er sein Tun und den blutigen Schandfleck auf seinem Namen.
Aber seinen Kindern erging es anders. Sie wurden nicht in einer Sklavenbaracke geboren, und aufgrund einer Sonderverfügung des damaligen Oberoligarchen, John Morrison, stiegen sie in die Herrenklasse auf. Und zu der Zeit verschwindet der Name Vange aus den Geschichtsaufzeichnungen. Er wird zu Vanderwater, und Jason Vanderwater, der Sohn des blutigen Vange, hieß nun Jason Vanderwater und begründete das Geschlecht der Vanderwaters. Alles das ereignete sich vor dreihundert Jahren. Die heutigen Vanderwaters haben ihre Herkunft vergessen; glauben, sie wären aus einem anderen Stoff gemacht als ihr oder ich und alle übrigen Sklaven. Und ich frage euch, weshalb sollte ein Sklave Herr eines anderen Sklaven werden? Warum sollte der Sohn eines Sklaven Herr über viele Sklaven sein? Die Beantwortung dieser Fragen überlasse ich euch; vergeßt aber nicht, daß die Vanderwaters ursprünglich Sklaven waren.
Und jetzt meine Brüder, komme ich zum Anfang meiner Geschichte zurück und erzähle euch von Tom Dixons Arm. Roger Vanderwaters Fabrik in Kingsbury wurde mit Recht „Höllenarsch“ genannt, aber die Menschen, die sich dort totschufteten, waren doch Menschen, wie ihr erfahren werdet. Auch Frauen schufteten dort und Kinder - kleine Kinder. Ihnen allen standen die geltenden gesetzlichen Sklavenrechte zu, doch nur auf dem Papier, denn um viele ihrer Rechte wurden sie von den beiden Oberaufsehern im „Höllenarsch“ - Joseph Clancy und Adolph Munster - betrogen.
Es ist eine lange Geschichte, aber ich werde euch nicht alles erzählen. Nur von jenem Arm werde ich berichten. Es war so, daß einem Gesetz zufolge ein Teil des Hungerlohnes der Sklaven jeden Monat einbehalten und einem Son- derfonds zugeführt wurde. Es war vorgesehen, aus diesem Fonds jenen unglücklichen Arbeitskollegen zu helfen, die Unfälle erlitten hatten oder von Krankheit heimgesucht wurden. Ihr kennt das ja von euch, diese Fonds werden von den Aufsehern kontrolliert. So will es das Gesetz, und so kam es, daß dieser Fonds im Höllenarsch von den zwei Aufsehern - verflucht seien ihre Namen - kontrolliert wurde.
Nun ja, Glancy und Munster verwendeten diesen Fonds zu eigenen Zwecken. Stießen den Arbeitern Unfälle zu, dann war es üblich, daß die Kollegen aus diesem Fonds Spenden gaben. Aber die Oberaufseher verweigerten die Auszahlung der Spenden. Was konnten die Sklaven tun? Laut Gesetz hatten sie ihre Rechte, aber Zugang zum Gesetz hatten sie nicht. Wer sich bei den Oberaufsehern beschwerte, wurde bestraft. Ihr wißt ja, wie solche Bestrafungen aussehen - Abzüge für schlechte Arbeit, die gar nicht schlecht ist, Extraaufschläge für Kredite im Laden der Company, schikanöse Behandlung der Frauen und Kinder und Zuweisung von schlechten Arbeitsplätzen, an denen man verhungern kann, soviel man auch arbeitet.
Einmal legten die Sklaven im Höllenarsch bei Vanderwater Protest ein. Es war die Jahreszeit, in der er mehrere Monate in Kingsbury zubrachte. Einer der Sklaven konnte schreiben, heimlich hatte ihm seine Mutter das beigebracht, so wie sie es von ihrer Mutter gelernt hatte. Deshalb verfaßte dieser Sklave eine Klageschrift, in der er ihre Leiden aufführte, und alle anderen Sklaven unterzeichneten mit einem Kreuz. Und, versehen mit entsprechenden Briefmarken auf dem Umschlag, wurde die Klageschrift an Roger Vanderwater geschickt. Und Roger Vanderwater unternahm nichts weiter, als daß er das Schreiben den beiden Oberaufsehern übergab. Clancy und Munster waren wutentbrannt. Nachts ließen sie die Wachmannschaften auf die Sklavenbaracken los. Die Wachen waren mit Spitzhackenstielen bewaffnet. Man sagt, nur die Hälfte der Sklaven konnte am darauffolgenden Tag im Höllenarsch arbeiten. Man hatte sie gründlich verprügelt. Der Sklave, der schreiben konnte, war so furchtbar geschlagen worden, daß er nur noch drei Monate lebte. Aber bevor er starb, schrieb er noch einmal. Warum, werdet ihr hören.
Vier oder fünf Wochen später riß ein Treibriemen dem Sklaven Tom Dixon den Arm ab. Wie immer setzten seine Arbeitskollegen aus dem Fonds eine Spende für ihn aus, und wie immer verweigerten Clancy und Munster die Auszahlung. Der schreibkundige Sklave, der bereits im Sterben lag, verfaßte erneut eine Schilderung ihrer Leiden. Dieses Dokument steckte man in die Hand von Tom Dixons abgerissenem Arm.
Der Zufall wollte es, daß am anderen Ende von Kingsbury Roger Vanderwater in seinem Schloß krank daniederlag - keine so schlimme Krankheit, wie sie euch oder mich niederstreckt, Brüder, eher leichte Gallenbeschwerden oder vielleicht auch nur schlimmes Kopfweh, weil er beim Essen und Trinken des Guten zuviel getan hatte. So etwas reichte schon aus, denn ständiges Wohlleben hatte ihn verzärtelt und verweichlicht. Männer, die ihr Leben lang in Watte gepackt werden, sind ungewöhnlich empfindlich und anfällig. Glaubt mir, Brüder, Roger Vanderwater fühlte sich mit seinen Kopfscherzen nicht minder elend - zumindest empfand er es so - wie Tom Dixon, dessen Arm mit allen Fasern ausgerissen worden war.
Nun war es so, daß Roger Vanderwaters Leidenschaft der wissenschaftlichen Pflanzenzucht galt, und auf seiner Farm, drei Meilen außerhalb von Kingsbury, war es ihm gelungen, eine neue Erdbeersorte zu züchten. Er war sehr stolz darauf und wäre gern hinausgefahren, um die ersten reifen Beeren zu sehen und zu pflücken, wenn nicht seine Krankheit dazwischengekommen wäre. Deshalb hatte er dem alten Farmsklaven befohlen, die erste Erdbeerkiste persönlich bei ihm abzuliefern. Durch die Geschwätzigkeit eines Küchenjungen im Schloß, der jede Nacht in den Sklavenbaracken schlief, erfuhr man davon. Eigentlich hätte der Plantagenaufseher die Beeren hinbringen sollen, aber beim Versuch, ein junges Pferd zuzureiten, hatte der sich ein Bein gebrochen und mußte das Bett hüten. Am Abend brachte der Küchenjunge die Neuigkeit mit, und man wußte, daß am darauffolgenden Tag die Beeren geliefert werden sollten. Und die Männer aus den Sklavenbaracken im Höllenarsch, die wirkliche Männer waren und keine Feiglinge, hielten Rat.
Der schreibkundige Sklave, der seit der Strafaktion dahinsiechte, erklärte sich bereit, Tom Dixons Arm hinzutragen; schon deshalb, so sagte er, weil er ohnehin zum Sterben verurteilt sei, und so mache es ihm nichts aus, ein wenig früher zu sterben. Daraufhin schlichen sich in jener Nacht fünf Sklaven aus den Sklavenbaracken, nachdem die Wachen ihre letzte Runde gemacht hatten. Einer der Sklaven war der Mann, der schreiben konnte. Sie hielten sich im Gebüsch am Straßenrand bis zum hellen Morgen versteckt, bis der alte Farmsklave mit den kostbaren Früchten für den Herrn in die Stadt fuhr. Und da der Farmsklave alt und rheumatisch war, der schreibkundige Sklave von den Prügeln steif und verletzt, bewegten sich beide beim Laufen in ziemlich gleicher Art. Der Sklave, der schreiben konnte, schlüpfte in die Sachen des anderen, zog den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht, kletterte auf den Wagensitz und fuhr weiter in die Stadt. Den alten Farmsklaven hielt man im Gebüsch gefesselt - den ganzen Tag lang bis zum Abend, dann erst ließen ihn die anderen laufen und kehrten in die Sklavenbaracken zurück, um ihre Bestrafung wegen Pflichtverletzung entgegenzunehmen.
In der Zwischenzeit ruhte Roger Vanderwater in seinem wunderschönen Schlafzimmer und wartete auf die Beeren - so wunderbare Dinge und solchen Komfort gab es dort, daß es euch und mir, die wir derartiges nie gesehen haben, die Augen geblendet hätte. Der schreibkundige Sklave erzählte später, es wäre ein Blick ins Paradies gewesen.
Warum auch nicht? Die Arbeit und das Leben von zehntausend Sklaven steckten in diesem Schlafgemach, sie selbst aber schliefen auf schmutzigen Lagern wie wilde Tiere. Der schreibkundige Sklave trug die Erdbeeren auf einem Silbertablett oder einer Platte hinein - versteht ihr, Roger Vanderwater wollte sich mit ihm persönlich über die Beeren unterhalten.
Mit letzter Kraft wankte der sterbenskranke Sklave quer durch das wundervolle Zimmer, fiel vor der Couch Vanderwaters auf die Knie und streckte ihm das Tablett entgegen. Große grüne Blätter bedeckten das Tablett, die der danebenstehende Leibdiener rasch entfernte, damit Vanderwater die Früchte sehen konnte. Und Roger Vanderwater, auf seinen Ellenbogen gestützt, sah. Sah die frischen köstlichen Beeren, ausgebreitet wie kostbare Juwelen, und mitten darin Tom Dixons Arm, so wie er von dessen Körper gerissen worden war -natürlich ordentlich gewaschen, meine Brüder - , kreideweiß im Gegensatz zu den blutroten Erdbeeren. Und zwischen den steifen toten Fingern sah er auch die Petition seiner Sklaven, die im Höllenarsch schufteten.
„Nehmen Sie, lesen Sie“, sagte der Sklave. Und noch während der Herr nach der Petition griff, schlug der Leibdiener, der bis dahin vor Überraschung wie angewurzelt gestanden hatte, dem knienden Sklaven mit der Faust ins Gesicht. Der Sklave war ohnehin auf dem Weg ins Jenseits, er war sehr schwach, und es kümmerte ihn nicht. Keinen Ton gab er von sich, fiel zur Seite, lag stumm da, und Blut floß aus seinem Mund. Der Arzt, nach dem man die Palastwachen geschickt hatte, kam, und man zerrte den Sklaven auf die Füße. Während sie ihn hochzogen, ergriff er Tom Dixons Arm, der auf den Fußboden gefallen war.
„Der Kerl hier soll lebendig den Hunden vorgeworfen werden!“ schrie der Leibdiener wutschnaubend. „Lebendig, den Hunden zum Fraß!“
Roger Vanderwater jedoch, der seine Kopfschmerzen vergessen hatte, bat sich Ruhe aus und fuhr fort, die Petition zu lesen. Während er las, herrschte Stille, alle standen herum: der vor Wut kochende Leibdiener, der Arzt, die Palastwache und mitten unter ihnen der Sklave, dem das Blut aus dem Munde rann und der immer noch Tom Dixons Arm festhielt. Als Roger Vanderwater fertig war, wandte er sich dem Sklaven zu und sagte:
„Wenn auf diesem Papier auch nur eine einzige Lüge steht, wird es dir leid tun, jemals geboren worden zu sein.“
Und der Sklave entgegnete: „Mein Leben lang habe ich das bedauert.“
Roger Vanderwater blickte ihn fest an, und der Sklave fuhr fort:
„Das schlimmste haben Sie mir bereits angetan. Jetzt sterbe ich. In einer Woche bin ich tot, deshalb ist mir egal, ob Sie mich jetzt umbringen.“
„Was machst du damit?“ fragte der Herr und zeigte auf den Arm, und der Sklave gab zur Antwort:
„Ich bring ihn zurück zu den Baracken und beerdige ihn. Tom Dixon war mein Freund. Wir haben nebeneinander am Webstuhl gearbeitet.“
Viel mehr gibt es nicht zu erzählen, Brüder. Man schickte den Sklaven mit dem Arm auf einem Karren zurück. Keiner der anderen Sklaven wurde für das, was geschehen war, bestraft. Und tatsächlich ließ Roger Vanderwater die Angelegenheit untersuchen und bestrafte die beiden Oberaufseher, Joseph Clancy und Adolph Munster. Ihr Grundbesitz wurde enteignet. Sie wurden auf der Stirn gebrandmarkt, man hackte ihnen die rechte Hand ab und setzte sie auf die Straße, so daß sie bis ans Lebensende bettelnd herumziehen mußten. Danach wurde der Fonds eine Zeitlang ordnungsgemäß verwaltet - nur für kurze Zeit, meine Brüder, denn nach Roger Vanderwater kam sein Sohn, Albert, ein grausamer und halb verrückter Herr.
Brüder, jener Sklave, der dem Herrn den Arm brachte, war mein Vater. Er war ein tapferer Mann. Und so heimlich wie seine Mutter ihn, lehrte er mich das Lesen. Da er bald darauf an den Folgen der Prügelstrafe verstarb, nahm Roger Vanderwater mich aus den Sklavenbaracken und versuchte, etwas Besseres aus mir zu machen. Ich hätte Oberaufseher im Höllenarsch werden können, zog es aber vor, als Geschichtenerzähler durch das Land zu ziehen, um so meinen Brüdern, den Sklaven, nahe zu sein - wo immer sie auch leben. Und ich erzähle euch Geschichten wie diese - heimlich - und weiß, ihr werdet mich nicht verraten; tätet ihr das, wißt ihr so gut wie ich, daß man mir die Zunge herausreißen würde und ich euch keine Geschichten mehr erzählen könnte. Brüder, meine Botschaft lautet, daß eine bessere Zeit kommen wird, in der alles auf der Welt seine Ordnung hat, es weder Herren noch Sklaven gibt. Doch bis dahin müßt ihr euch auf diese Zeit vorbereiten und lesen lernen. Das gedruckte Wort ist eine Macht. Und ich bin hier, um euch das Lesen zu lehren. Außerdem werden andere dafür sorgen, daß ihr Bücher erhaltet, wenn ich auf meinem Weg weitergezogen bin - die Geschichtsbücher, in denen ihr alles über eure Herren erfahrt und lernt, so stark und mächtig wie sie zu werden.
Anmerkung des Herausgebers: aus „Historische Fragmente, und Skizzen “, erstmals veröffentlicht im Jahre in fünfzig Bänden, und heute, nach nunmehr Jahren, vom Nationalkomitee für Historische Forschungen wegen seines historischen Wertes und der genauen Darstellung der Verhältnisse herausgegeben und wieder veröffentlicht.