Debs’ Traum

Ich erwachte eine ganze Stunde früher als sonst. Das allein war schon ungewöhnlich. Hellwach lag ich da und grübelte. Irgendwas war im Gange, irgendwas nicht in Ordnung - was, das wußte ich nicht. Eine Vorahnung von etwas Schrecklichem bedrückte mich. Etwas war geschehen oder würde geschehen. Aber was? Ich gab mir Mühe, meine Gedanken zu sammeln. Erinnerte mich, daß , zur Zeit des großen Erdbebens, viele Leute behauptet hatten, sie wären kurz vor dem ersten Erdstoß erwacht und hätten während dieser Augenblicke seltsame Angstgefühle durchlebt. Sollte San Francisco wieder von einem Erdbeben heimgesucht werden?

Eine Minute lang lag ich so da, starr vor Erwartung. Aber weder wackelten die Wände, noch krachte irgendwo zusammenbrechendes Mauerwerk. Alles war still. Das war es! Die Stille! Kein Wunder, daß ich durcheinander war. Das Dröhnen der großen betriebsamen Stadt fehlte merkwürdigerweise. Zu dieser Tageszeit fuhren sonst Straßenbahnen durch meine Straße - durchschnittlich alle drei Minuten eine - , aber in den folgenden zehn Minuten kam nicht eine einzige Bahn vorbei. Vielleicht ein Straßenbahnerstreik, war mein erster Gedanke; vielleicht hatte es einen Unfall gegeben, und der Strom war abgeschaltet. Doch nein, die Stille war zu tief. Ich hörte weder das Rasseln und Rattern von Wagenrädern noch das Stampfen von eisenbeschlagenen Pferdehufen, die sich die steilansteigende Pflastersteinstraße hochmühten.

Als ich den Klingelknopf neben meinem Bett drückte, lauschte ich auf den Klang der Glocke, obgleich ich genau wußte, es war unmöglich, daß das Läuten drei Stockwerke tiefer bis zu mir heraufdringen konnte, selbst wenn die Klingel funktionierte. Alles war in Ordnung, denn ein paar Minuten später trat Brown mit dem Tablett und der Morgenzeitung herein. Obwohl sein Gesicht so unbeteiligt aussah wie immer, bemerkte ich einen verstörten, besorgten Ausdruck in seinen Augen. Ich bemerkte auch, daß auf dem Tablett keine Sahne stand.

„Die Milchhandlung hat heute morgen nicht geliefert“, erklärte er, „die Bäckerei auch nicht.“

Ich ließ meinen Blick nochmals über das Tablett gleiten. Es gab keine frischen französischen Brötchen - nur ein paar Scheiben altbackenes Grahambrot von gestern; das abscheulichste Brot überhaupt, soweit es meinen Geschmack betrifft.

„Heute morgen wurde überhaupt nichts geliefert, Sir“, wollte Brown entschuldigend erklären, aber ich fiel ihm ins Wort.

„Die Zeitung?“

„Ja, Sir, die ist gekommen, aber sie war das einzige, und es ist auch das letztemal. Morgen gibt es keine Zeitung. So steht es in der Zeitung. Darf ich jemanden schicken, der Ihnen Kondensmilch besorgt?“

Ich schüttelte den Kopf, trank den Kaffee schwarz und schlug die Zeitung auf. Die Schlagzeilen erklärten alles - erklärten zuviel, denn in der Tat, das Ausmaß an Pessimismus, den das Journal verbreitete, war unsinnig. Ein Generalstreik, meldete es, sei überall in den Vereinigten Staaten ausgerufen worden, und im Hinblick auf die Versorgung der Großstädte erging man sich in den schlimmsten Prophezeiungen.

Ich las rasch weiter, überflog vieles und erinnerte mich deutlich an die Arbeiterunruhen der Vergangenheit. Eine Generation lang war der Generalstreik ein Traum der organisierten Arbeiterschaft gewesen. Ein Traum, der ursprünglich dem Geist von Debs entsprungen war - einem der großen Arbeiterführer vor dreißig Jahren. Ich rief mir ins Gedächtnis zurück, daß ich während meiner ersten Jahre am College sogar einen Artikel zu diesem Thema für eins der Magazine verfaßt hatte unter der Überschrift „Debs’ Traum“. Ich muß gestehen, daß ich dessen Idee sehr herablassend und akademisch als einen Traum und weiter nichts abgetan hatte. Die Zeiten und die Welt hatten sich verändert. Gompers war verschwunden, die Amerikanische Arbeitervereinigung war verschwunden, und verschwunden war Debs mit all seinen stürmischen revolutionären Ideen; aber der Traum hatte überlebt, und jetzt wurde er schließlich doch noch Wirklichkeit. Als ich indessen weiter las, lachte ich über die düstere Prognose der Zeitung. Ich wußte es besser. Ich hatte die organisierten Arbeiter erlebt, die in zu viele Konflikte verstrickt waren. Es würde nur eine Sache von Tagen sein, bis die Angelegenheit beigelegt wäre. Dies war ein nationaler Streik, und die Regierung würde nicht lange brauchen, ihn zu brechen.

Ich warf die Zeitung zur Seite und begann mich anzukleiden. Bestimmt würde es interessant werden, die Straßen von San Francisco zu erleben, wenn kein einziges Rad sich drehte und die ganze Stadt gezwungenermaßen Urlaub machen mußte.

„Verzeihen Sie, Sir“, sagte Brown, als er mir mein Zigarrenetui reichte, „aber Mr. Harmmed hat darum gebeten, Sie sprechen zu dürfen, bevor Sie ausgehen.“

„Schicken Sie ihn gleich zu mir“, antwortete ich.

Harmmed war der Butler. Als er eintrat, konnte ich sehen, wie er sich anstrengte, seine Erregung unter Kontrolle zu halten. Er kam sofort zur Sache.

„Was soll ich unternehmen, Sir? Lebensmittelvorräte müssen beschafft werden, aber die Lieferanten streiken. Der Strom ist abgeschaltet - ich vermute, man streikt auch.“

„Sind die Geschäfte geöffnet?“ fragte ich.

„Nur die kleinen, Sir. Die Verkäufer streiken auch, deshalb können die großen Geschäfte nicht aufmachen, aber die kleinen Händler führen ihre Läden gemeinsam mit ihren Familien selbst.“

„Dann nehmen Sie das Auto“, sagte ich, „klappern Sie die Läden ab und machen Ihre Besorgungen. Kaufen Sie ausreichend von allem, was Sie brauchen oder brauchen können. Besorgen Sie eine Schachtel Kerzen - nein, nehmen Sie ein halbes Dutzend Schachteln. Und wenn Sie das erledigt haben, sagen Sie Harrison, er soll den Wagen für mich zum Klub fahren - nicht später als elf Uhr.“

Voller Ernst schüttelte Harmmed den Kopf. „Mister Harrison hat sich der Chauffeurgewerkschaft angeschlossen, und ich weiß nicht, wie man ein Auto fährt.“

„Aha, so, hat er, hat sich angeschlossen“, bemerkte ich. „Na gut, wenn Mister Harrison demnächst zufällig bei Ihnen auftauchen sollte, sagen Sie ihm, er könne sich woanders eine Stelle suchen.“

„Ja, Sir.“

„Sie gehören nicht zufällig einer Gewerkschaft der Butler an,

oder doch, Harmmed?“

„Nein, Sir“, lautete die Antwort. „Und selbst wenn es so wäre, würde ich meinen Arbeitgeber nicht in einer Krise wie dieser verlassen. Nein, Sir, ich würde. “

„Schon gut, ich danke Ihnen“, sagte ich. „Machen Sie sich jetzt fertig, und begleiten Sie mich. Ich fahre selbst, und wir werden ein Vorratslager anlegen, um der Belagerung standzuhalten.“

Es war ein wunderschöner erster Mai, gradeso wie Maitage zu sein haben. Der Himmel war wolkenlos, es war windstill, und die Luft war warm - beinahe mild. Viele Autos waren unterwegs, aber deren Besitzer fuhren selbst. Die Straßen waren voller Leute, aber es war still. Die Arbeiterklasse, in den schönsten Sonntagsstaat gekleidet, war unterwegs, um Luft zu schnappen und die Auswirkungen des Streiks zu beobachten. Alles war so ungewöhnlich und obendrein so friedlich, daß ich mich dabei ertappte, es schön zu finden. Vor leichter Erregung zitterte ich. Es war irgendwie ein kleines Abenteuer. Ich fuhr an Miß Chickering vorbei. Sie saß am Steuer ihres leichten Kleinwagens. Sie wendete, fuhr hinter mir her und holte mich an der Ecke ein.

„Oh, Mister Corf!“ begrüßte sie mich. „Wissen Sie, wo ich Kerzen kaufen kann? In einem Dutzend Geschäfte bin ich schon gewesen, und alle sind leer gekauft. Das ist doch ganz entsetzlich, nicht wahr?“

Aber ihre sprühenden Augen straften ihre Worte Lügen. Wie wir anderen auch, amüsierte sie sich großartig. Kerzen zu ergattern war doch ein schönes Abenteuer. Wir mußten erst durch die Stadt und bis in die Arbeiterviertel südlich der Market Street fahren, ehe wir kleine Eckläden fanden, die noch nicht leer gekauft waren. Miß Chickering hielt eine Schachtel für ausreichend, aber ich überredete sie, vier zu nehmen. Mein

Auto war groß, und ich lud ein Dutzend Schachteln ein. Unnötig zu erwähnen, welche Versorgungsschwierigkeiten bei Fortdauer des Streiks auftreten konnten. Und ich packte das Auto außerdem voll mit Mehlsäcken, Backpulver, Konserven und all den üblichen lebensnotwendigen Sachen, die Harmmed vorschlug, der währenddessen herumrannte und über den Einkäufen gluckte wie eine verängstigte alte Henne.

Bemerkenswert an diesem ersten Streiktag war, daß niemand das Ganze wirklich ernst nahm. Über die Meldung der Morgenzeitungen, daß die organisierte Arbeiterschaft einen Monat oder auch drei durchhalten wollte, lachte man. Doch schon am allerersten Tag hätten wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, allein aufgrund der Tatsache, daß sich die Arbeiter praktisch überhaupt nicht an der großen Jagd auf Vorräte beteiligten. Natürlich nicht. Wochen- und monatelang hatten sich alle Arbeiter heimlich private Vorratslager angelegt.



Deshalb erlaubte man uns, bis in die Arbeiterviertel vorzudringen und dort die kleinen Kramläden leer zu kaufen.

Erst als ich nachmittags in den Klub kam, spürte ich zum erstenmal die Bedrohung. Es war ein einziges Durcheinander. Da gab es keine Oliven zum Cocktail, die Bedienung ging stoßweise und mit großen Verzögerungen vor sich. Die meisten Männer waren verärgert, besorgt aber waren alle. Ein Stimmengewirr schlug mir entgegen, als ich eintrat. General Folsom, der seinen Fettwanst auf einem Fensterplatz im Rauchsalon hätschelte, verteidigte sich gerade gegen ein halbes Dutzend erregter Gentlemen, die von ihm forderten, etwas zu unternehmen.

„Was soll ich denn noch tun, ich hab doch alles versucht“, sagte er gerade. „Anweisungen aus Washington gibt es nicht. Wenn Sie, meine Herren, eine freie Telefonleitung bekommen, tue ich alles, was mir befohlen wird. Aber ich weiß nicht, was man tun könnte. Sofort als ich heute morgen vom Streik hörte, habe ich als erstes Truppen aus der Predidio-Kaserne angefordert - dreitausend Mann. Sie bewachen die Banken, die Münze, das Postamt und alle öffentlichen Gebäude. Es gibt keinerlei Aufruhr. Die Streikenden verhalten sich völlig friedfertig. Sie können doch von mir nicht erwarten, daß ich sie zusammenschieße, wenn sie mit ihren Frauen und Kindern in bester sonntäglicher Aufmachung herumspazieren.“

„Zu gern würde ich wissen, was in der Wall Street los ist“, hörte ich im Vorbeigehen Jimmy Wombold sagen. Ich konnte mir seine Besorgnis vorstellen, denn ich wußte, wie tief er in dem großen Consolidated-Western-Geschäft drinsteckte.

„Sagen Sie mal, Corf“, sprach mich Atkinson gehetzt an, „fährt Ihr Auto noch?“

„Ja“, antwortete ich, „aber was ist mit Ihrem los?“

„Eine Panne, und alle Autowerkstätten sind geschlossen. Und meine Frau ist irgendwo in der Nähe von Truckee. Ich glaube, unterwegs steckengeblieben. Nicht für Geld und gute Worte kann ich ihr eine Nachricht zukommen lassen. Sie hätte heute abend eintreffen sollen. Vielleicht ist sie am Verhungern. Leihen Sie mir Ihr Auto.“

„Man kommt nicht über die Bucht“, sagte Halstead laut. „Die Fähren gehen nicht. Aber ich sag Ihnen, was Sie machen können. Dort ist Rollinson - ach, Rollinson, kommen Sie doch einen Augenblick herüber. Atkinson möchte mit dem Auto über die Bucht. Seine Frau ist unterwegs bei Truckee steckengeblieben. Können Sie nicht die Lurlett aus Tiburon rüberbringen und sein Auto übersetzen?“

Die Lurlett war eine zweihundert Tonnen schwere seetüchtige Schonerjacht.

Rollinson schüttelte den Kopf. „Nicht einen Hafenarbeiter wird man dazu bewegen können, das Auto an Bord zu befördern. Selbst wenn ich die Lurlett rüberbringen könnte, was ich aber nicht kann, weil die ganze Mannschaft in der Seemannsgewerkschaft organisiert ist und wie alle anderen auch streikt.“ „Aber meine Frau verhungert vielleicht“, konnte ich Atkinson klagen hören, als ich weiterging.

Am anderen Ende des Rauchsalons stieß ich auf eine Gruppe von Männern, die aufgeregt und ärgerlich Bertie Messener umdrängte. Bertie hetzte sie auf und stachelte sie in seiner eiskalten zynischen Art an. Der Streik interessierte Bertie nicht. Eigentlich interessierte ihn gar nichts. Er war blasiert - jedenfalls allen normalen Dingen des Lebens gegenüber; Alltäglichkeiten besaßen keinen Reiz für ihn. Er war zwanzig Millionen Dollar schwer, sein ganzes Vermögen war in sicheren Investitionen angelegt, und noch nie im Leben hatte er einen Handschlag an praktische Arbeit verschwendet - alles war ererbt von seinem Vater und zwei Onkeln. Überall war er schon gewesen, alles hatte er gesehen, alles gemacht bis aufs Heiraten, und das trotz der heftigen und entschlossenen Attacken einiger hundert ehrgeiziger Mütter. Seit Jahren war er die beste Partie, und dennoch hatte er es bis jetzt vermeiden können, eingefangen zu werden. Er war in schändlicher Weise begehrenswert. Abgesehen von seinem Reichtum war er auch noch jung, gutaussehend und, wie gesagt, fast ohne Makel. Er war ein großartiger Sportler, ein junger blonder Gott, beherrschte alles perfekt und bewundernswert, mit der einzigen Ausnahme - den Ehestand. Er kümmerte sich um nichts, verfolgte keine ehrgeizigen Ziele, hatte keine Leidenschaften, kein Verlangen, gerade die Dinge zu tun, die er ohnehin viel besser konnte als andere Männer. „Das ist Aufruhr!“ rief einer der Männer aus der Gruppe.

Ein anderer nannte es Revolte und Revolution, ein weiterer Anarchie.

„Ich sehe das nicht so“, meinte Bertie. „Den ganzen Morgen war ich in der Stadt. Es herrscht völlige Ordnung. Noch nie habe ich eine gesetzestreuere Bevölkerung erlebt. Ist doch sinnlos, darüber zu schimpfen. Es ist schlichtweg das, was es ist - ein Generalstreik. Und jetzt sind Sie am Zug, Gentlemen.“

„Und wir werden das Spiel schon machen!“ rief Garfield, einer der Eisenbahnmillionäre. „Wir werden dem Pöbel zeigen, wo er hingehört - dieses Gesindel! Wartet nur, bis die Regierung die Sache in die Hand nimmt.“

„Aber wo ist die Regierung?“ warf Bertie ein. „Sie könnte genausogut auf dem Meeresgrund stecken, zumindest was Sie hier betrifft. Sie wissen nicht, was in Washington los ist. Sie wissen noch nicht einmal, ob Sie eine Regierung haben oder nicht.“

„Darüber machen Sie sich nur keine Sorgen!“ platzte Garfield heraus.

„Ich versichere Ihnen, besorgt bin ich nicht“, Bertie lächelte gleichgültig. „Aber mir scheint, genau das ist es, was Sie, meine Freunde, augenblicklich bewegt. Sehen Sie in den Spiegel, Garfield.“

Das tat Garfield nicht, hätte er aber in den Spiegel geschaut, einen sehr erregten Herren mit zerwühltem, stahlgrauem Haar, einem rot angelaufenen Gesicht, griesgrämlich verkniffenem Mund und wildglühenden Augen würde er erblickt haben.

„Es ist nicht recht, sag ich euch“, meinte der kleine Hanover, und seinem Tonfall nach zu schließen, hatte er dies bereits mehrmals gesagt.

„Also das geht jetzt zu weit, Hanover“, erwiderte Bertie. „Freunde, Sie langweilen mich, Sie sind alle freie Geschäftsleute. Sie liegen mir ständig mit Ihrem endlosen Gerede für eine freie Marktwirtschaft und für das Recht der Menschen auf Arbeit in den Ohren. Seit Jahren schwingen Sie große Reden in dieser Richtung. Die Arbeiter begehen doch kein Verbrechen, wenn sie in den Generalstreik treten. Sie verletzen weder ein Gebot Gottes noch, eins der Menschen. Erzähl mir nichts, Hanover. Zu lange schon predigst du Veränderungen des gottgegebenen Rechts, zu arbeiten, oder auch nicht zu arbeiten. Jetzt kannst du den Konsequenzen nicht ausweichen. Ein schmutziger, kleiner schäbiger Streit ist das - darum geht’s bei der ganzen Geschichte. Ihr habt die Arbeiter in die Knie gezwungen, sie unterdrückt, und jetzt haben sie euch am Kragen und drücken zu. Das ist alles, und ihr lamentiert.“

Alle Umstehenden widersprachen empört und leugneten, die Arbeiter jemals unterdrückt zu haben.

„Nein, Sir!“ rief Garfield. „Wir haben das beste für die Arbeiter getan. Statt sie zu unterdrücken, haben wir ihnen eine Chance zum Leben gegeben. Wir haben ihnen Arbeitsplätze geschaffen. Wo wären denn die Arbeiter, wenn es uns nicht gegeben hätte?“

„Na, wesentlich besser dran“, knurrte Bertie. „Sie haben die Arbeiter kurzgehalten und sie, wann immer es Ihnen möglich war, übers Ohr gehauen. Und sie hatten Ihre eigenen Methoden, solche Möglichkeiten zu schaffen.“

„Nein! Nein!“ schrie man laut.

„Da gab es den Streik der Lastwagenfahrer, direkt hier in San Francisco“, fuhr Bertie unerschütterlich fort. „Der Unternehmerverband hat diesen Streik heraufbeschworen. Sie wissen das. Und Sie wissen, daß ich es auch weiß, denn hier, in diesen Räumen hab ich gesessen und die geheimen Absprachen und Meldungen über die Auseinandersetzungen gehört. Zuerst haben Sie den Streik provoziert, dann den Bürgermeister und den Polizeipräsidenten gekauft und schließlich den Streik niedergeschlagen. Ein entzückendes Schaustück, wie Sie Philanthropen die Lastwagenfahrer in die Knie gezwungen und ihnen das Fell über die Ohren gezogen haben.

Warten Sie, ich bin noch nicht fertig mit Ihnen. Erst letztes Jahr war es, daß die Arbeitervertreter in Colorado einen Gouverneur wählten. Er wurde nie in sein Amt eingesetzt. Sie wissen ja, warum. Sie wissen, wie Ihre feinen Brüder, die Philanthropen und Kapitalisten von Colorado, das Ding gedreht haben. Das war ein Beispiel dafür, wie man Arbeiter unterdrückt und betrügt. Sie haben den Vorsitzenden des Südwestlichen Vereinigten Bergarbeiterverbands drei Jahre lang auf eine gefälschte Mordanklage hin im Gefängnis festgesetzt, und als er Ihnen nicht mehr im Wege stand, haben Sie den Verband zerschlagen. Das war Betrug an den Arbeitern, geben Sie es zu.

Zum dritten war es ein Betrug, die gestaffelte Einkommenssteuer als nichtverfassungsgemäß zu erklären. So auch der Gesetzentwurf über den Achtstundentag, den Sie auf der letzten Kongreßsitzung niedergeschlagen haben.

Und der Gipfel all dieser ausgesprochen unmoralischen Machenschaften war die Zerschlagung des Gewerkschaftsprinzips. Sie wissen, wie das gelaufen ist. Sie haben sich Farburg, den letzten Vorsitzenden der alten Amerikanischen Arbeiterföderation, gekauft. Er war Ihr Strohmann - oder der Strohmann aller Unternehmer- und Monopolverbände, was aufs gleiche hinausläuft. Sie haben den großen Gewerkschaftsstreik zu Fall gebracht. Farburg verriet den Streik. Sie haben gewonnen, und die Amerikanische Arbeiterföderation brach völlig in sich zusammen. Zerstört haben Sie sie, Freunde, und somit sich selbst ruiniert, denn auf dem Höhepunkt der Ereignisse begann sich die I. L. W. als Organisation zu formieren - die größte und stabilste Arbeiterorganisation, die es jemals in den Vereinigten Staaten gegeben hat. Für ihr Bestehen sind Sie verantwortlich, wie für den gegenwärtigen Generalstreik auch. Alle alten Vereinigungen haben Sie zerschlagen und so die Arbeiter in die I. L. W. getrieben, und die I. L. W. hat den Generalstreik ausgerufen - kämpft noch immer um Gewerkschaftsrechte. Und da haben Sie die Unverfrorenheit, sich hinzustellen und mir geradewegs ins Gesicht zu sagen, daß Sie die Arbeiter niemals unterdrückt und betrogen haben? Pah!“

Diesmal gab es kein Ableugnen. Garfield setzte zur Verteidigung an:

„Wir haben nichts getan, was wir nicht tun mußten, wenn wir gewinnen wollten.“

„Dagegen sage ich ja gar nichts“, antwortete Bertie. „Worüber ich mich beklage ist Ihr Gejammer, jetzt wo Sie Ihre eigene Medizin zu schmecken bekommen. Wie viele Streiks haben

Sie gewonnen, indem Sie die Arbeiter bis zur Unterwerfung ausgehungert haben? Nun, die Arbeiter haben jetzt ein Komplott geschmiedet, mit dem sie Sie bis zur Unterwerfung aushungern wollen. Sie fordern das Gewerkschaftsrecht, und wenn sie es bekommen können, indem Sie verhungern - na gut, dann werden Sie verhungern.“

„Ich stelle fest, daß Sie in der Vergangenheit ganz gut gelebt haben, und zwar durch genau die von Ihnen erwähnten Betrugsmanöver an den Arbeitern“, gab Brentwood zu verstehen, der einer der verschlagensten und scharfsinnigsten Rechtsanwälte unseres Verbandes war. „Mitgefangen, mitgehangen“, höhnte er. „Sie hatten zwar Ihre Hände nicht in dem dreckigen Spiel, aber Sie haben Ihren Anteil bekommen.“

„Das steht ganz außer Frage, Brentwood“, sagte Bertie betont langsam. „Sie sind genau so schlimm wie Hanover, indem Sie den moralischen Aspekt mit ins Spiel bringen. Ich habe keineswegs etwas von Schuld oder Nichtschuld gesagt. Das Ganze ist ein niederträchtiges Spiel, das weiß ich. Ich nehme einzig Anstoß daran, daß Sie, liebe Freunde, jetzt herumjammern, weil die Arbeiter Sie in die Knie zwingen wollen und unter Druck setzen. Natürlich habe ich dadurch meine Vorteile gehabt und - dank Ihnen, Gentlemen - mußte ich selbst nicht die Dreckarbeit machen. Das haben Sie für mich erledigt - und glauben Sie mir, nicht weil ich rechtschaffener wäre als Sie, sondern weil mein guter Vater und mehrere seiner Brüder mir eine Menge Geld hinterlassen haben, mit dem ich für diese Dreckarbeit bezahlen kann.“

„Wenn Sie damit sagen wollen.“, fing Brentwood erbost an. „Hören Sie auf, lassen Sie sich doch nicht alle aus der Fassung bringen“, unterbrach Bertie anmaßend. „Es hat doch keinen Sinn, in dieser Diebeshöhle den Heuchler zu spielen. Das Erhabene und Edle ist etwas für Zeitungen, Pfadfinder und Sonntagsschulen - das gehört nun mal zum Spiel dazu. Aber, um Himmels willen, wir müssen doch einander nichts vormachen. Sie wissen genau und wissen, daß ich es auch weiß, welche Korruption beim Bauarbeiterstreik im letzten Herbst gelaufen ist, wer das Geld dafür gab, wer das erledigt hat und davon profitierte.“ (Brentwood schoß das Blut ins Gesicht.) „Aber wir sind alle aus demselben Holz geschnitzt, und das beste, was wir tun können, ist die Moral aus dem Spiel zu lassen. Ich wiederhole, spielen Sie das Spiel, spielen Sie es bis zum letzten Stich, aber, um Gottes willen, jammern Sie nicht, wenn Sie getroffen werden.“

Als ich die Gruppe verließ, war Bertie schon wieder bei einem anderen Thema und quälte die Männer mit den ernsthafteren Aspekten der Situation, verwies auf die Lebensmittelknappheit, die bereits zu spüren war, und fragte, was sie dagegen unternehmen wollten. Kurze Zeit später traf ich ihn in der Garderobe, er wollte gehen, und ich nahm ihn in meinem Auto nach Hause mit.

„Das ist schon ein großartiger Schachzug, dieser Generalstreik“, sagte er, als wir durch die überfüllten, aber friedlichen Straßen dahinrollten. „Das ist ein niederschmetternder Tiefschlag. Die Arbeiter haben uns im Schlaf erwischt und an unserer empfindlichsten Stelle getroffen, dem Magen. Ich habe vor, aus San Francisco zu verschwinden, Corf. Folgen Sie meinem Rat, und machen Sie auch, daß Sie davonkommen. Gehen Sie aufs Land, irgendwohin. Da haben Sie mehr Chancen. Kaufen Sie sich einen Lebensmittelvorrat, und besorgen Sie sich ein Zelt oder irgendwo eine Hütte. Bald wird es in dieser Stadt für uns nichts als Hunger geben.“

Wie recht Bertie Messener haben sollte, hätte ich mir nie träumen lassen. Ich hielt ihn für einen Schwarzseher. Und was mich betraf, so war ich ganz zufrieden damit, hierzubleiben, um mir den Spaß anzusehen. Nachdem ich ihn abgesetzt hatte, fuhr ich nicht geradewegs nach Hause, sondern machte mich erneut auf die Jagd nach Lebensmitteln. Zu meiner Überraschung mußte ich feststellen, daß die kleinen Geschäfte, in denen ich morgens eingekauft hatte, inzwischen leer waren. Ich dehnte meine Suche bis nach Potrero aus und hatte Glück, eine weitere Schachtel Kerzen, zwei Säcke Weizenmehl, zehn Pfund Schrotmehl (für die Diener würde das reichen), eine Kiste Büchsenmais und zwei Kisten Tomatenkonserven zu ergattern. Es sah ganz so aus, als ob es zumindest eine zeitweise Lebensmittelknappheit geben würde, aber angesichts des reichlichen Vorratslagers, das ich angelegt hatte, tröstete ich mich.

Am nächsten Morgen nahm ich wie gewöhnlich meinen Kaffee im Bett ein, und mehr noch als die Sahne vermißte ich die Tageszeitung. Ich empfand den Informationsverlust - nicht zu wissen, was in der Welt passierte - als gravierendes Übel. Unten im Klub gab es wenig Neues. Rider hatte von Oakland aus die Bucht in seiner Barkasse überquert, und Halstead war in seinem Auto bis runter nach San Jose und zurück gefahren. Sie berichteten, daß es dort genauso aussah wie in San Francisco. Alles war durch den Streik lahmgelegt. Alle Lebensmittellager waren von der Oberschicht leer gekauft worden. Und eine friedvolle Ordnung herrschte. Aber was geschah in den restlichen Teilen des Landes - in Chicago, New York, Washington? Höchstwahrscheinlich das gleiche wie hier auch, schlußfolgerten wir. Doch die Tatsache, daß wir es nicht mit absoluter Bestimmtheit wußten, beunruhigte schon.

General Folsom wußte etwas mehr. Man hatte versucht, Armeetelegrafisten in den Telegrafenämtern einzusetzen, aber die Leitungen in alle Richtungen waren gekappt. Dies war bislang das einzige ungesetzliche Vorgehen der Arbeiter, und der General war der vollen Überzeugung, daß dies ein geplanter Anschlag war. Über Funk hatte er Verbindung mit einem Armeeposten in Benicia aufgenommen; an den Telegrafenlinien -sogar bis runter nach Sacramento - patrouillierten Soldaten. Einmal bekamen sie das Rufzeichen von Sacramento, aber nur einen kurzen Moment, dann wurden die Leitungen irgendwo wieder getrennt. General Folsom war der Meinung, daß alle offiziellen Behörden im ganzen Land ähnliche Versuche unternahmen, um eine Verständigung herzustellen, aber er war keineswegs so überzeugt, ob diese Versuche auch erfolgreich sein würden. Sorge machte ihm das Kappen der Telegrafenleitungen; er mußte annehmen, daß es eine entscheidende Taktik im finsteren Verschwörungsplan der Arbeiter war. Er bedauerte auch, daß die Regierung das seit langem von ihr geplante Projekt einer Funkstationenkette noch nicht realisiert hatte. Die Tage kamen und gingen, und eine Zeitlang war es geradezu langweilig. Nichts passierte. Die heftige Erregung war abgeflaut. Die Straßen waren nicht mehr so belebt. Die Arbeiter kamen nicht mehr in unsere Wohnviertel, um zu sehen, wie wir den Streik hinnahmen. Und es fuhren nicht mehr so viele Autos. Reparaturgeschäfte und Autowerkstätten waren geschlossen, und immer wenn ein Auto nicht mehr funktionierte, wurde es verschrottet. Bei meinem brach die Kupplung, und weder für Geld noch für gute Worte konnte ich sie reparieren lassen. Wie die anderen ging ich nunmehr zu Fuß. San Francisco war tot, und was anderswo im Lande vor sich ging, wußten wir nicht. Aber allein aus der Tatsache, daß wir nichts wußten, schlußfolgerten wir, daß der Rest des Landes so tot wie San Francisco sein müsse. Von Zeit zu Zeit wurde die Stadt mit Proklamationen der organisierten Arbeiter bepflastert - Monate vorher gedruckt, bewiesen sie, wie gründlich sich die I. L. W. auf den Streik vorbereitet hatte. Jede Kleinigkeit war lange im voraus bedacht. Gewalttätigkeit gab es noch nicht, außer daß einige Telegrafenzerschneider von Soldaten erschossen wurden. Aber die Leute aus den Slums hungerten und wurden bedrohlich unruhig.

Geschäftsleute, Millionäre und die höheren Angestellten hielten Versammlungen ab, verfaßten Resolutionen, aber es gab keine Möglichkeit, diese Erklärungen zu veröffentlichen. Man konnte sie nicht einmal drucken lassen. Jedoch im Ergebnis einer dieser Versammlungen wurde General Folsom überredet, die militärische Verwaltung der Großhandelshäuser sowie aller Mehl-, Getreide- und Lebensmittellagerhäuser zu übernehmen. Das war höchste Zeit, denn in den Häusern der Reichen breitete sich die Not immer mehr und schärfer aus. Brotrationierungen waren erforderlich. Ich wußte, daß meine Diener anfingen, lange Gesichter zu ziehen, und verblüffend war, was für ein Loch sie in mein Vorratslager rissen. Tatsächlich bestahl mich jeder meiner Diener - mutmaßte ich später - und legte sich heimlich ein privates Vorratslager an.

Aber mit der Einführung der Brotzuteilung traten neue Ärgernisse auf. In San Francisco gab es nur begrenzt Lebensmittelreserven, und selbst im besten Falle konnten sie nicht lange reichen. Wir wußten, die organisierten Arbeiter besaßen ihre eigenen Vorräte; trotzdem reihte sich die gesamte Arbeiterklasse in die Brotzuteilungsschlangen ein. Demzufolge nahmen die von General Folsom verwalteten Bestände mit rasender Geschwindigkeit bedrohlich ab. Wie sollten die Soldaten zwischen einem armselig gekleideten Mann aus der Mittelklasse, einem Mitglied der I. L. W. oder einem Slumbewohner unterscheiden? Vom ersten bis zum letzten mußten alle versorgt werden, aber die Soldaten kannten nicht alle Männer in der Stadt, die zur I. L. W. gehörten, viel weniger deren Frauen, Söhne und Töchter. Da die Arbeitgeber mithalfen, wurden ein paar der bekannten Gewerkschaftsleute von der Brotzuteilung ausgeschlossen, aber das änderte so gut wie nichts. Die Lage spitzte sich zu, als die staatseigenen Schlepper, die bislang Nahrungsmittel aus Armeebeständen von Mare Island nach Angel Island befördert hatten, keine Nahrungsmittel mehr zum Befördern fanden. Jetzt erhielten auch die Soldaten ihre Rationen aus den konfiszierten Beständen, und zwar als erste.

Der Anfang des Endes war in Sicht. Die Gewalt begann ihr Gesicht zu enthüllen. Gesetz und Ordnung wurden mißachtet -mißachtet, so muß ich zugeben, von den Slumbewohnern und ebenso von den Leuten der Oberschicht. Die organisierten Arbeiter hielten immer noch eine disziplinierte Ordnung aufrecht. Sie konnten es sich leisten - sie hatten ausreichend zu essen. Ich erinnere mich an einen Nachmittag im Klub, als ich Hal-stead und Brentwood tuschelnd in einer Ecke antraf. Sie zogen mich in ihr waghalsiges Unternehmen hinein. Brentwoods Auto fuhr immer noch, und sie hatten vor, eine Kuh zu stehlen. Halstead besaß ein langes Fleischermesser und ein Hackbeil. Wir fuhren hinaus zum Stadtrand. Hier und da grasten Kühe, aber sie wurden von ihren Besitzern bewacht. Wir setzten unsere Suche fort, immer entlang der Stadtgrenze in Richtung Osten, und in den Bergen bei Hunter’s Point trafen wir auf eine Kuh und ein kleines Mädchen. Ein Kälbchen gab es auch. Wir verschwendeten keine Minute mit überflüssigen Erklärungen. Das kleine Mädchen rannte schreiend davon, indessen schlachteten wir die Kuh. Auf Einzelheiten gehe ich nicht ein, denn sie sind unerfreulich - für uns war solche Arbeit ungewohnt, und wir stümperten.

Aber mittendrin - wir arbeiteten in angstvoller Eile - hörten wir Schreie und sahen ein paar Männer auf uns zulaufen. Wir verzichteten auf die Beute und nahmen die Beine in die Hand. Zu unserer Überraschung wurden wir nicht verfolgt. Als wir uns umblickten, sahen wir die Männer eilig die Kuh zerlegen.

Sie waren auf das gleiche ausgewesen wie wir. Es war genug für alle da, meinten wir, und rannten zurück. Was nun kam, spottet jeder Beschreibung.

Wir kämpften und stritten um die Verteilung wie die Wilden. Ich erinnere mich, daß Brentwood zur echten Bestie wurde, die Zähne fletschte, um sich biß und mit Mord drohte, falls wir nicht einen angemessenen Anteil bekämen.

Und wir erhielten gerade unseren Anteil, als auf dem Schauplatz ein neuerliches Ärgernis eintrat. Diesmal waren es die gefürchteten Ordnungshüter der I. L. W. Das kleine Mädchen hatte sie geholt. Mit Peitschen und Knüppeln waren sie bewaffnet, und es waren viele. Das kleine Mädchen sprang vor Wut auf und ab, Tränen liefen über ihre Wangen, und sie schrie: „Gebt’s ihnen! Gebt’s ihnen! Der Kerl mit der Brille -der war’s! Schlagt ihm das Gesicht zu Brei! Zerschlagt ihm ‘s Gesicht!“ Der mit der Brille war ich, und das Gesicht wurde mir auch übel zugerichtet, doch ich war vorher noch so geistesgegenwärtig, die Brille abzunehmen. Mann, wir erhielten eine solche Tracht Prügel, daß wir in alle Winde davonstoben. Brentwood, Halstead und ich flohen zum Auto. Brentwoods Nase blutete, und Halsteads Wange war aufgeplatzt und vom Hieb einer Schwarzschlangenpeitsche mit einem dunkelroten Striemen gezeichnet.

Und siehe da, als die Hatz vorbei war und wir das Auto erreichten, stand dahinter versteckt - das erschreckte Kalb. Brentwood ermahnte uns, vorsichtig zu sein, und sprang wie ein Wolf auf das Tier. Messer und Hackbeil hatten wir zurücklassen müssen, aber noch hatte Brentwood seine Hände, und zusammen mit dem armen kleinen Kalb wälzte er sich auf der Erde hin und her, als er es erwürgte. Den Kadaver warfen wir ins Auto, bedeckten ihn mit einem Mantel und machten uns auf den Heimweg. Aber ein Unglück kommt selten allein. Ein Reifen platzte. Eine Möglichkeit, ihn zu reparieren gab es nicht, und dunkel wurde es auch schon. Wir ließen das Auto zurück. Brentwood stolperte keuchend voran. Das Kalb, mit dem Mantel bedeckt, hing quer über seine Schultern. Wir wechselten uns mit dem Tragen ab und waren fast am Ende unserer Kräfte. Außerdem verirrten wir uns. Und dann, nach stundenlangem Umherlaufen und all der Plackerei, stießen wir auf eine Rowdybande. Das waren keine I. L. W.- Männer, und ich vermute, sie waren so ausgehungert wie wir. Auf jeden Fall kriegten sie das Kalb und wir die Prügel. Brentwood tobte wie ein Verrückter auf dem Rest des Heimwegs. Und er sah auch so aus mit seinen zerrissenen Sachen, der geschwollenen Nase und den Veilchen auf den Augen.

Kuhdiebstähle gab es danach nicht mehr. General Folsom schickte seine Kavallerie aus und konfiszierte alle Kühe, und seine Kavalleristen, unterstützt von der Bürgerwehr, aßen das meiste Fleisch. General Folsom traf keine Schuld. Es war seine Pflicht, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, und er tat das mit Hilfe seiner Soldaten, demzufolge war er verpflichtet, sie zunächst einmal zu versorgen.

Um diese Zeit herum setzte die große Panik ein. Die Reichen suchten ihr Heil in der Flucht, dann wurden die Slumbewohner davon angesteckt, und die Massen stürmten wild aus der Stadt. General Folsom freute sich. Schätzungsweise hatten wenigstens zweihunderttausend Leute San Francisco verlassen, und auf diese Weise war sein Ernährungsproblem gelöst. Und wie gut ich mich an diesen Tag erinnere: Morgens hatte ich ein Stück hartes Brot gegessen, den halben Nachmittag nach Brot angestanden. Nach Einbruch der Dunkelheit war ich müde und elend mit einem Kilo Reis und einer Scheibe Schinkenspeck nach Hause gekommen. An der Tür empfing mich Brown. Sein Gesicht sah erschöpft und verstört aus. Alle Diener seien geflohen, informierte er mich. Er allein war übriggeblieben. Seine Anhänglichkeit rührte mich, und als ich hörte, daß er den ganzen Tag lang nichts gegessen hatte, teilte ich mein Essen mit ihm. Wir kochten die Hälfte des Reises, brieten die Hälfte des Specks und teilten gerecht. Die andere Hälfte hoben wir für den nächsten Morgen auf. Hungrig ging ich zu Bett und warf mich die ganze Nacht ruhelos herum. Am Morgen stellte ich fest, daß Brown mich verlassen hatte, und, was ein noch größeres Unglück war, er hatte den übriggebliebenen Reis und Speck gestohlen.

An jenem Morgen versammelte sich eine trübselige Handvoll Männer im Klub. Bedienung gab es überhaupt nicht mehr. Der letzte Bedienstete war fort. Ich stellte auch fest, daß das Silber verschwunden war, und erfuhr wohin. Die Bediensteten hatten es nicht genommen, vermutlich aus dem einfachen Grunde, weil die Klubmitglieder schneller gewesen waren. Die Sachen wieder loszuwerden war einfach. Weiter unten, südlich der Market Street, in den Wohnvierteln der . L. W. hatten ihnen die Hausfrauen eine ordentliche Mahlzeit zum Tausch angeboten. Ich ging wieder nach Hause zurück. Ja, mein Silber war verschwunden - alles bis auf einen massiven Krug. Den wickelte ich ein und trug ihn bis südlich der Market Street.

Nach dem Essen fühlte ich mich besser und kehrte in den Klub zurück, um zu erfahren, ob sich etwas Neues ergeben hatte. Hanover, Collins und Dakon waren gerade im Gehen begriffen. Drinnen sei niemand, erzählten sie mir und luden mich ein, sie zu begleiten. Sie seien dabei, die Stadt zu verlassen, sagten sie, mit Dakons Pferden - und eins sei noch frei für mich. Dakon besaß vier prächtige Droschkenpferde, die wollte er retten, und General Folsom hatte ihm rechtzeitig den Tip gegeben, daß alle noch in der Stadt befindlichen Pferde als Nahrungsmittel am nächsten Morgen beschlagnahmt werden sollten. Viele Pferde gab es nicht mehr, denn Zehntausende hatte man freigelassen, als während der ersten Tage Heu und Korn knapp geworden waren. Ich denke an Birdall, den großen Fuhrunternehmer, der dreihundert Lastpferde laufenließ. Bei einem durchschnittlichen Wert von fünfhundert Dollar je Pferd belief sich das auf eine Summe von hundertfünfzigtausend Dollar. Anfangs hatte er gehofft, nach dem Ende des Streiks die meisten Pferde wieder einfangen zu können, doch zu guter Letzt bekam er nicht eins. Sie waren alle von den Flüchtlingen aus San Francisco aufgegessen worden.

Schließlich hatte man auch damit begonnen, die Maultiere und Pferde der Armee zu töten, um etwas zu essen zu haben.

Glücklicherweise hatte Dakon ausreichende Mengen Heu und Korn in seinem Stall eingelagert. Es gelang uns, vier Sättel aufzutreiben; wir fanden die Tiere in gutem Zustand und obendrein feurig, obwohl sie nicht daran gewöhnt waren, geritten zu werden. Ich erinnere mich an San Francisco nach dem großen Erdbeben, als wir auch durch die Straßen ritten, aber das jetzige San Francisco war in einem weit bedauernswerteren Zustand. Und das hatte keine Naturkatastrophe verursacht, sondern eher die Tyrannei der Gewerkschaften. Wir ritten zum Union Square hinunter und durch die Theater-, Hotel- und Geschäftsviertel. Die Straßen waren verlassen. Hier und da standen Autos, dort zurückgelassen, wo sie zusammengebrochen waren oder das Benzin ausgegangen war. Kein Lebenszeichen war zu finden, außer daß gelegentlich Polizisten und Soldaten auftauchten, die die Banken und öffentlichen Gebäude bewachten. Einmal stießen wir auf einen I. L. W.Mann, der die neuesten Proklamationen anklebte. Wir hielten an, um zu lesen. „Wir haben einen disziplinierten Streik geführt“, hieß es, „und wir werden die Ordnung bis zum Ende aufrechterhalten. Das Ende wird die Erfüllung unserer Forderungen sein, wenn wir unsere Arbeitgeber bis zur Unterwerfung ausgehungert haben, so wie sie uns in der Vergangenheit oft bis zur Unterwerfung ausgehungert haben.“

„Genau Messeners Worte“, sagte Collins. „Und was mich betrifft., so bin ich bereit, mich zu unterwerfen, aber leider gibt man mir keine Chance dazu. Eine Ewigkeit habe ich keine ordentliche Mahlzeit gehabt. Ich möcht wissen, wie Pferdefleisch schmeckt.“

Wir hielten abermals an, um eine weitere Proklamation zu lesen. „Wenn wir der Meinung sind, daß unsere Arbeitgeber bereit sind, sich zu unterwerfen, werden wir die Telegrafenverbindungen wiederherstellen, damit sich die Unternehmerverbände der Vereinigten Staaten verständigen können. Es werden aber nur Botschaften über eine friedliche Einigung zugelassen.“



Wir ritten weiter, überquerten die Market Street, und kurz darauf passierten wir das Viertel der Arbeiterklasse. Hier waren die Straßen nicht verwaist. Die I. L. W.-Männer lehnten an den Haustüren oder standen in Gruppen herum. Fröhliche, wohlgenährte Kinder spielten auf der Straße, und beleibte Hausfrauen saßen schwatzend auf den Haustreppen. Der eine oder andere warf uns einen belustigten Blick zu. Kleine Kinder rannten schreiend hinter uns her: „He, Mister, haben Sie keinen Hunger?“ Und eine Frau - ein Kind an der Brust - rief Dakon zu: „Wie wär’s, Dickerchen, ich geb dir ‘ne Mahlzeit für dein Schaukelpferd - Kartoffeln und Schinken, Johannisbeergelee, Weißbrot, eingeweckte Butter und zwei’ Tassen Kaffee?“

„Ist dir aufgefallen“, bemerkte Hanover zu mir, „daß in den letzten Tagen nicht ein einziger streunender Hund mehr auf der Straße herumlief?“

Das war mir aufgefallen, aber bis jetzt hatte ich nicht darüber nachgedacht. Es war höchste Zeit, die unglückselige Stadt zu verlassen. Schließlich erreichten wir die Verbindungsstraße nach San Bruno, auf der wir in Richtung Süden entlang ritten. In der Nähe von Menlo besaß ich ein Landgut, und das war unser Ziel. Aber bald fiel uns auf, daß es auf dem Lande schlimmer und weit gefährlicher als in der Stadt war. Dort sorgten die Soldaten und die I. L. W.-Männer für Ordnung, aber das Land war von Anarchie überrollt worden. Zweihunderttausend Menschen waren aus San Francisco geflohen, und wir fanden zahllose Beweise dafür, daß diese Flucht wie der Flug eines Heuschreckenschwarms gewesen sein mußte. Alles war ratzekahl weggefressen. Raub und Kampf hatte es gegeben. Hin und wieder kamen wir an Leichnamen vorbei, die am Straßenrand lagen, oder sahen ausgebrannte Ruinen von Bauernhöfen. Die Zäune waren niedergewalzt, die Ernte war von den Menschenmassen zertrampelt. Sämtliche Gemüsebeete hatten die ausgehungerten Horden verwüstet. Alle Hühner und Tiere geschlachtet. Und so sah es überall an allen Hauptstraßen aus, die aus San Francisco hinausführten. Hier und da - abseits der Straßen - hatten die Bauern ihren Besitz mit Flinten und Pistolen schützen können und verteidigten ihn noch immer. Sie jagten uns drohend fort und weigerten sich, mit uns zu sprechen. Und all die Zerstörung und Gewalt war von den Slumbewohnern und der Oberschicht verübt worden. Die I. L. W-Männer, ausreichend mit Nahrung versorgt, verhielten sich ruhig in ihren Stadthäusern.

Zu Beginn der Flucht erhielten wir ein anschauliches Beispiel, wie verzweifelt die Lage war. Rechts von uns hörten wir Schreie und Gewehrschüsse. Kugeln pfiffen gefährlich nah vorbei. Im Gebüsch knackte es, dann stürzte ein mächtiges schwarzes Wagenpferd vor uns quer über die Straße und verschwand wieder. Wir hatten kaum Zeit gehabt, zu bemerken, daß es blutete und lahmte. Drei Soldaten stürzten hinterher. Die Jagd ging links zwischen den Bäumen weiter. Wir konnten die Soldaten hören, die sich durch Rufe verständigten. Ein vierter Soldat humpelte von rechts auf die Straße, setzte sich auf einen Feldstein und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

„Bürgerwehr“, flüsterte Dakon. „Deserteure.“

Der Mann grinste uns an und bat um ein Streichholz. Als Antwort auf Dakons Frage „Wie lautet die Parole?“ teilte er uns mit, daß die Männer der Bürgerwehr desertierten. „Nichts zu beißen“, erklärte er. „Alles kriegen die regulären Truppen zu futtern.“ Wir erfuhren auch, daß man die Gefängnisinsassen von der Insel Alcatraz freigelassen hatte, weil man sie nicht länger ernähren konnte.

Nie werde ich den nächstfolgenden Anblick vergessen, der sich uns plötzlich bot. Ganz unerwartet stießen wir darauf, hinter der Straßenkurve. Über uns ein Blätterdach. Durch die Zweige flimmerte Sonnenschein. Schmetterlinge flatterten vorbei, und aus den Feldern stieg Lerchengesang auf. Und da stand er - ein starker Tourenwagen. Um ihn herum und innendrin lagen zahlreiche Leichen. Sie erzählten eine eigene Geschichte. Die Insassen, auf der Flucht aus der Stadt, waren von einer Bande Slumbewohner - Rowdys - angegriffen und herausgezerrt worden. Das Ganze war innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden geschehen. Frisch geöffnete Fleisch- und Obstkonserven belegten den Grund des Angriffs. Dakon untersuchte die Toten.

„Das hab ich mir gedacht“, stellte er fest. „Ich bin schon mit diesem Auto gefahren. Es ist Perriton - seine ganze Familie. Wir müssen von jetzt an besser auf uns aufpassen.“

„Aber wir haben nichts zu essen; womit könnten wir einen Angriff heraufbeschwören?“ widersprach ich.

Dakon wies auf das Pferd, das ich ritt - und ich begriff.

Früh am Morgen hatte Dakons Pferd ein Hufeisen verloren. Der empfindliche Huf war gesplittert, und mittags hinkte das Tier. Dakon weigerte sich, weiterzureiten, wollte das Tier aber auch nicht verlassen. Deshalb ritten wir, auf seine Bitte hin, allein weiter. Er würde zu Fuß mit dem Pferd nachkommen und uns auf meinem Gut wiedertreffen. Das war das letzte, was wir von ihm sahen - wir haben niemals etwas über sein Ende erfahren.

Gegen ein Uhr erreichten wir die Stadt Menlo, oder besser gesagt, den Ort, wo Menlo gestanden hatte, denn alles lag in Trümmern. Überall verstreut - Leichen. Das Geschäftsviertel der Stadt wie auch die Wohnviertel waren ausgebrannt. Hin und wieder ein vereinzeltes Wohnhaus, aber näher kommen konnte man nicht. Wenn wir zu dicht herangingen, wurde auf uns geschossen. Wir trafen eine Frau, die in den rauchenden Trümmern ihrer Hütte stocherte. Sie erzählte uns, der erste Angriff galt den Geschäften, und während sie erzählte, konnten wir uns das Bild ausmalen, wie der rasende, tobende, hungrige Mob über die Handvoll Stadtbewohner hergefallen war. Millionäre und Arme hatten Seite an Seite um die Lebensmittel gekämpft; und dann, nachdem sie die Beute hatten, gegeneinander. Auf gleiche Weise waren die Stadt Palo Alto und die Stanford-Universität ausgeplündert worden, erfuhren wir. Vor uns lag ein trostloses, verwüstetes Land, und wir hielten es für klug, auf mein Gut auszuweichen. Es lag drei Meilen westlich, versteckt zwischen den Hügeln der ersten Ausläufer des Vorgebirges.

Aber als wir weiterritten, sahen wir, daß die Verwüstung nicht allein auf die Hauptstraßen beschränkt war. Die Vorhut der Fliehenden hatte sich an die Straßen gehalten und die kleinen Städte im Vorbeiziehen geplündert; die Nachfolgenden aber waren ausgeschwärmt und hatten das ganze Land wie mit einem großen Besen leer gefegt. Mein Landhaus war aus Zement, Mauerwerk und festen Ziegeln er- baut und dadurch dem Feuer entgangen, aber es war völlig ausgeraubt. Den Leichnam des Gärtners fanden wir in der Windmühle, um ihn herum leere Patronenhülsen. Er hatte sich tapfer verteidigt. Aber weder von den beiden italienischen Arbeitern noch von der Haushälterin und ihrem Mann fanden wir eine Spur. Kein Lebewesen war mehr da. Die Kälber, die Fohlen, alles Zuchtgeflügel und das reinrassige Zuchtvieh - alles war verschwunden. Die Küche und die Herdstätten, wo der Mob gekocht hatte, waren in einem grauenvollen Zustand, und draußen vor dem Haus bezeugten viele Lagerfeuer, wie viele sich hier durchgeschlagen und genächtigt hatten. Was sie nicht hatten essen können, war fortgeschleppt worden. Nicht ein Happen war für uns übriggeblieben.

Den Rest der Nacht warteten wir vergeblich auf Dakon, und am Morgen schlugen wir ein Dutzend Plünderer mit unseren Revolvern in die Flucht. Dann töteten wir eins von Dakons Pferden und versteckten für später das Fleisch, das wir nicht sofort verzehren konnten. Am Nachmittag ging Collins auf einen Spaziergang hinaus und kam nicht wieder zurück. Das brachte für Hanover das Faß zum Überlaufen. Er bestand auf sofortiger Flucht, und ich hatte große Schwierigkeiten, ihn zu überreden, bis zum Tagesanbruch zu warten. Was mich betraf, so war ich überzeugt, daß das Ende des Generalstreiks nahe war, und ich entschied, nach San Francisco zurückzukehren. Also lösten wir unsere Gemeinschaft auf; Hanover machte sich nach Süden auf den Weg - fünfzig Pfund Pferdefleisch am Sattel festgeschnallt - während ich mich, ähnlich beladen, nach Norden aufmachte. Der kleine Hanover kämpfte sich wacker durch, und ich weiß, bis ans Ende seiner Tage wird er jeden mit den Geschichten seiner Abenteuer langweilen.

Ich kam auf der Hauptstraße zurück bis Belmont, als mir mein Pferdefleisch von drei Bürgerwehrleuten geraubt wurde. Die Lage sei unverändert, sagten sie, es würde sogar noch schlimmer werden. Die I. L. W. hatte genügend Vorräte versteckt und konnte noch Monate aushalten. Es gelang mir, bis nach Baden zu kommen, dann nahmen mir ein Dutzend Männer mein Pferd. Zwei davon waren Polizisten aus San Francisco und der Rest reguläre Soldaten. Das war unheilvoll. Ganz gewiß war die Lage äußerst bedrohlich, wenn ordentliche Soldaten anfingen zu desertieren. Als ich meinen Weg zu Fuß fortsetzte, hatten sie bereits ein Feuer angefacht, und die Reste von Dakons Pferd lagen zerteilt am Boden.

Wie das Glück so spielt, verrenkte ich mir den Knöchel, und ich konnte nicht weiter als bis in den südlichen Teil San Fran-ciscos kommen. Zitternd vor Kälte und gleichzeitig fieberglühend lag ich in jener Nacht in einem Schuppen. Zwei Tage lag ich so; zu krank, als daß ich mich hätte fortbewegen können.

Und am dritten Tag - taumelnd, schwindlig und auf eine selbstgebastelte Krücke gestützt - torkelte ich weiter nach San Francisco hinein. Geschwächt war ich auch, denn es war drei Tage her, daß mir etwas Eßbares zwischen die Lippen geraten war. Der Tag war ein Alptraum und eine Qual. Wie im Traum lief ich an Hunderten von Soldaten vorbei, die in entgegengesetzter Richtung dahinzogen, und viele Polizisten mit ihren Familien bildeten große Gruppen, um sich gegenseitig zu schützen.

Als ich in die Stadt kam, erinnerte ich mich an das Haus des Arbeiters, bei dem ich meinen Silberkrug versetzt hatte - in diese Richtung trieb mich mein Hunger. Die Dämmerung brach herein, als ich dort ankam. Ich ging hinten herum durch einen Durchgang und kroch die Hintertreppe hoch, auf der ich schweißnaß zusammenbrach. Es gelang mir noch, mit der Krücke an die Tür zu klopfen. Dann muß ich bewußtlos geworden sein, denn in der Küche kam ich wieder zu mir. Das Gesicht naß von Wasser und Whisky, den man mir in den Hals geschüttet hatte. Ich hustete und spuckte und versuchte zu reden. Ich fing an, etwas zu sagen wie - ich hätte keine Silberkrüge mehr, würde es ihnen aber später vergelten, wenn man mir nur etwas zu essen gäbe. Aber die Hausfrau unterbrach mich.

„Ach, Sie armer Mann!“ meinte sie. „Haben Sie nicht gehört? Der Streik wurde heute nachmittag beendet. Natürlich geben wir Ihnen etwas zu essen.“

Sie fuhrwerkte geschäftig umher, öffnete eine Dose Frühstücksschinken und wollte ihn braten.

„Geben Sie mir jetzt gleich etwas - bitte“, bettelte ich; und dann aß ich den rohen Schinken auf einer Scheibe Brot, während ihr Mann mir erklärte, daß die Forderungen der I. L. W. erfüllt worden waren. Am frühen Nachmittag hatte man die Telegrafenverbindungen wiederhergestellt, und überall hatten die Unternehmerverbände ihre Niederlage erklärt. In San Francisco gab es keine Unternehmer mehr, aber General Folsom sprach an ihrer Stelle. Züge und Dampfschiffe würden am nächsten Morgen wieder die Fahrt aufnehmen und alles andere auch, sobald das System wiederhergestellt war.

Und das war das Ende des Generalstreiks. Ich will nie wieder einen erleben. Er war schlimmer als Krieg. Ein Generalstreik ist eine grausame und unmoralische Sache, und der Verstand des Menschen sollte imstande sein, die Industrie in vernünftiger Weise zu leiten. Harrison ist immer noch mein Chauffeur. Es gehörte zu den Bedingungen der I. L. W. daß alle ihre Mitglieder in die früheren Positionen wieder eingesetzt würden. Brown kehrte nie zurück, doch die restlichen Diener sind bei mir. Ich hatte nicht das Herz, sie fortzuschicken - die Ärmsten hatten ein ziemlich schlechtes Gewissen, als sie sich mit den Lebensmitteln und dem Silber davonmachten. Und jetzt kann ich sie nicht entlassen. Alle sind sie Mitglieder der I. L. W. geworden. Die Tyrannei der organisierten Arbeiter übersteigt die menschliche Geduld. Etwas muß getan werden.



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