VI

Fast eine Woche war Kim unterwegs, ehe er, bei Sonnenuntergang, die ersten Ausläufer der Schattenberge erreichte. Er war durch Täler und Sümpfe marschiert, hatte steinige Ebenen und hitzedurchglühte Wüsten durchquert, hatte sich durch Wälder voller fleischfressender Pflanzen gekämpft und einmal, auf der Flucht vor einem Wolfsrudel, eine ganze Nacht frierend und zitternd vor Angst auf einem Baum zugebracht. Die hungrigen Tiere waren erst in der Morgendämmerung abgezogen, und Kim hatte noch eine ganze Stunde abgewartet, ehe er sich hinunterwagte. Und immer wieder hatte er den Weg der schwarzen Reiter gekreuzt. Er war Städten und Ansiedlungen aus dem Weg gegangen, wie der Tümpelkönig es ihm geraten hatte; trotzdem war er oft auf die Spuren ihrer großen, häßlichen Pferde gestoßen, und ein paarmal hatte ihn nur sein Glück vor Entdeckung und Gefangenschaft bewahrt. Zu Anfang hatte er gehofft, daß die Gefahr geringer würde, je weiter er sich dem Schattengebirge näherte, aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Je näher er der gigantischen grauen Mauer im Westen kam, desto häufiger stieß er auf Anzeichen der schwarzen Reiter, und schließlich wurde es so schlimm, daß er sich tagsüber versteckte und nur noch nachts weiterwanderte. Boraas mußte sein ganzes Heer ausgeschickt haben, um einen kleinen, hilflosen Jungen zu fangen. Aber so gewaltig seine Streitmacht auch sein mochte, so verlor sie sich doch in der unendlichen Weite des Landes. Dennoch war Vorsicht geboten, und Kim fühlte sich alles andere als sicher, als er aus dem Wald heraustrat und den schmalen steinigen Pfad musterte, der sich vor ihm den Hang hinaufschlängelte.

Der Wald hörte wie abgeschnitten auf, und der moosbewachsene Boden ging unmittelbar in eine Geröllhalde über, die mit gigantischen Steintrümmern übersät war, als hätte ein Riese einen Berg zerschmettert und die Reste mit weitausholender Gebärde über das Land verstreut. Der Hang stieg vor Kims Augen sanft an, wurde steiler und immer steiler und verlor sich schließlich in den titanischen, schneegekrönten Berggipfeln, die scheinbar in die Unendlichkeit emporwuchsen. Selbst die nebelverhangenen Pässe und Schluchten, die noch mit freiem Auge zu erkennen waren, lagen Tausende Meter hoch. So hoch, daß die Luft dort oben vermutlich zu dünn zum Atmen war und jeder, der versuchte, das Gebirge auf diesem Wege zu überqueren, qualvoll ersticken mußte, wenn er nicht schon vorher vor Erschöpfung gestorben oder in der Eiswüste dort oben erfroren war. Und doch bildeten diese Gipfel nur die Vorhut, eine erste, vergleichsweise niedrig zu nennende Mauer, hinter der sich, durch die Entfernung nur als schemenhafte graue Umrisse zu erkennen, das eigentliche Schattengebirge erhob. Kims Mut sank, als ihn der Anblick mit voller Wucht traf.

Dennoch mußte es einen Weg hinüber geben! Seine Schwester hatte ihn gefunden, Rebekka, ein kleines, vierjähriges Kind, das diese Berge niemals aus eigener Kraft überquert haben konnte. Es mußte einen anderen Weg geben.

Kim schob den Gedanken von sich - was half's, da er des Rätsels Lösung doch nicht fand. Er marschierte los. Seine Schritte erzeugten zwischen den steil emporstrebenden Felswänden ein seltsames, hallendes Echo. Nach einigen hundert Metern blieb er stehen und drehte sich noch einmal um, um einen letzten Blick ins Tal hinunterzuwerfen. Der Wald dort unten, grau und feindselig, wie er war, von dornigen Büschen, giftigem Moos und heimtückischen Sumpflöchern durchsetzt, beherrscht von fleischfressenden Pflanzen, Spinnen und Gewürm, erschien ihm fast freundlich gegen das, was jetzt vor ihm lag. Das Gebirge vor ihm war kahl, bar jeden Grüns, ohne eine Spur von Leben.

Er schüttelte sich, rammte die Hände tiefer in die Taschen und ging weiter. Der Weg schlängelte sich zwischen Felsen und scharfkantigen Steintrümmern hindurch, führte in unberechenbaren Windungen manchmal ein Stück zurück in die Richtung, aus der er gekommen war, brachte ihn aber allmählich weiter nach Westen. Es wurde jetzt rasch dunkel, und das Grau des umliegenden Felsens wanderte langsam in Schwarz hinüber. Kim war ungefähr eine halbe Stunde gelaufen, als er ein Geräusch hörte.

Er brauchte nicht lange, um den Laut zu identifizieren. Er hatte ihn während der letzten Tage gründlich kennen und fürchten gelernt.

Hufschlag!

Er duckte sich instinktiv hinter einen Felsen und schaute mit zusammengekniffenen Augen ins Tal hinunter. Eine Abteilung schwarzer Reiter näherte sich aus südlicher Richtung. Es waren viele, dreißig, vielleicht vierzig, und nicht alle waren menschlich. Kim hatte die Schwarzen während seiner Wanderung bis an den Fuß des Schattengebirges mehrmals beobachten können und festgestellt, daß Boraas' Armee nicht nur aus den schwarzen Panzerreitern bestand. Offensichtlich hatte Baron Kart auf Morgon so etwas wie eine Elitetruppe der größten und stärksten Ritter um sich geschart. Auch bei dieser Gruppe hier befanden sich einige Riesen, aber sie waren in der Minderzahl, und ihre hünenhaften Gestalten ragten über die der anderen hinaus. Es gab Reiter, die nicht größer als normale Menschen waren, und auch einige, die kaum Kims Größe erreichten. Die meisten saßen lässig, ja fast elegant auf ihren großen schwarzen Pferden, aber manche hockten sehr seltsam in den Sätteln, so als wäre ihr Körper nicht für eine Fortbewegungsart wie das Reiten geeignet. Kim war sich ziemlich sicher, daß nicht alles, was sich unter den glänzenden schwarzen Rüstungen verbarg, menschlich war.

Er beobachtete mit angehaltenem Atem, wie die Gruppe in gemäßigtem Tempo am Waldrand entlangritt und dann zum Stehen kam. Der Anführer, ein Riese, der auf einem noch riesigeren schwarzen Pferd saß und selbst die Größten noch um Kopfeslänge überragte, hob die Hand und rief ein paar Worte, die Kim über die Entfernung nicht verstehen konnte. Die Gruppe teilte sich in vier Abteilungen auf. Eine blieb dort unten an Ort und Stelle zurück und begann Feuerholz zusammenzutragen und ein Lager zu errichten, während die drei anderen in verschiedenen Richtungen weiterritten.

Kims Herz hörte einen Moment auf zu schlagen, als eine Gruppe sich genau in seine Richtung in Bewegung setzte.

Er sah sich vergeblich nach einem geeigneten Versteck um, überlegte nicht lange und rannte los. Er konnte sicher sein, daß seine Verfolger gründlich zu Werke gingen. Sie würden jeden Stein umdrehen und in jede Felsspalte sehen, die groß genug war, einen Jungen von seiner Größe aufzunehmen.

Er lief ein Stück weiter hangaufwärts, sah sich hastig um und erschrak. Er selbst hatte eine halbe Stunde gebraucht, um hier heraufzugelangen, aber die Schwarzen trieben ihre Pferde unbarmherzig an und hatten schon fast die Hälfte des Weges zurückgelegt. In wenigen Augenblicken würden sie ihn sehen. Er mußte ein Versteck finden!

Ein Stück vor ihm gabelte sich der Weg. Kim rannte ohne zu überlegen nach rechts. Eine schmale Schlucht mit glatten, senkrecht aufstrebenden Wänden nahm ihn auf. Der Weg machte einen Knick - und Kim stand vor einer senkrechten, glatten Wand!

Für einen Augenblick lähmte ihn der Schreck. Ungläubig und nahe daran, vor Verzweiflung laut aufzuschreien, blickte er an der Wand empor und ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Der Weg war eine perfekte Falle. Und er war aus eigener Kraft hineingelaufen!

Die schwarzen Reiter hatten mittlerweile die Weggabelung erreicht. Die meisten ritten geradeaus weiter, ohne der schmalen Schlucht mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken. Kim begann bereits zaghaft wieder Hoffnung zu schöpfen, als eine kleine, schwarzgepanzerte Gestalt ihr Pferd verhielt, eine Weile unschlüssig in seine Richtung starrte und dann an den Zügeln zog. Das Pferd wieherte zornig, drehte sich halb herum und trabte langsam in die Schlucht hinein.

Kims Blick tastete verzweifelt an der Wand entlang. Nirgendwo gab es einen Ausweg oder eine Stelle, wo er hätte hinaufklettern können. Die Wand war spiegelglatt. Nur neben ihm, knapp hinter der Biegung, befand sich eine niedrige, flache Nische, in die er sich vielleicht hineinquetschen konnte. Aber spätestens wenn er sein Pferd wendete, um zum Ausgang zurückzureiten, würde ihn der schwarze Reiter entdecken. Dennoch war es die einzige Möglichkeit.

Kim zwängte sich in die enge Nische und wartete mit angehaltenem Atem, bis der Schwarze an ihm vorüber war.

Der Reiter ritt bis zum Ende der Schlucht, zog sein Schwert aus der Scheide und stieß mit der Spitze ein paarmal prüfend gegen den Fels.

Als er das Pferd wendete, sprang Kim ihn mit weit ausgebreiteten Armen an und riß ihn aus dem Sattel.

Der Schwarze stieß einen Laut der Überraschung aus, schlug mit dem Schwert in die leere Luft und versetzte Kim einen Ellbogenstoß, der ihm die Luft aus den Lungen trieb und ihn halb betäubt zurücktaumeln ließ. Das Pferd schrie erschrocken, tänzelte rückwärts und stieg dann auf die Hinterbeine hoch. Seine Hufe wirbelten wie kleine, tödliche Hämmer durch die Luft. Kim duckte sich, als er die Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ein Huf schrammte über seine Schulter und schmetterte ihn zu Boden.

Sein Gegner hatte weniger Glück. Er hatte sich halb aufgerichtet und das Schwert zu einem tödlichen Streich erhoben, als ihn der Vorderhuf des Tieres traf. Es dröhnte, als schlüge ein riesiger Vorschlaghammer auf einen noch riesigeren Amboß. Der Schwarze riß die Arme hoch und fiel wie vom Blitz gefällt hintenüber.

Kim blieb noch eine Weile reglos liegen, ehe er es wagte, sich vorsichtig auf Hände und Knie zu erheben. Das Pferd tänzelte noch immer auf der Stelle. Seine großen, dunklen Augen schienen Kim durchdringend anzustarren, und die Vorderhufe scharrten drohend über den harten Fels.

»Nur ruhig, mein Junge«, murmelte Kim. »Nur ruhig. Niemand tut dir etwas.« Zu seiner Überraschung schien das Roß tatsächlich auf seine Worte oder wenigstens auf den Klang seiner Stimme zu reagieren. Es hörte auf zu schnauben. Seine Ohren zuckten.

Kim stand vorsichtig auf und schob sich, den Rücken gegen den kalten Stein gepreßt, näher an den am Boden liegenden schwarzen Reiter heran. Er bückte sich, tastete über die glatte schwarze Rüstung und überlegte fieberhaft. Für einen Moment war er in Sicherheit, aber es war eine höchst zweifelhafte Sicherheit. Die schwarzen Reiter würden schnell bemerken, daß einer der Ihren fehlte, und wenn sie entdeckten, was geschehen war, war er verloren. Selbst wenn er inzwischen aus dieser Falle heraus war, würden sie nicht ruhen, bevor sie den Hang Zentimeter für Zentimeter abgesucht und ihn aufgespürt hatten. Nein - es gab nur eine einzige Möglichkeit. Alles in ihm sträubte sich dagegen, aber er sah ein, daß er keine andere Wahl hatte.

Mit einem entschlossenen Ruck drehte Kim den Schwarzen auf den Bauch und begann ihm die Rüstung auszuziehen. Er hatte Glück im Unglück gehabt - der Reiter war kaum größer als er selbst, und in der Dunkelheit würde der geringe Unterschied nicht auffallen. Kim löste den Brustpanzer, hob den Helm ab und schälte das Wesen ächzend aus den stählernen Beinkleidern. Der Körper darunter war nicht menschlich. Schwarzes, drahtiges Haar bedeckte einen muskulösen, affenartigen Körper. Kim schauderte, als er die gebogenen Klauen an den Händen sah. Das Gesicht war flach und ausdruckslos, und als Kim ein Augenlid anhob, sah er, daß der Unmensch schwarze, pupillenlose Augen hatte.

Kim riß sein Untergewand in Streifen, fesselte den Schwarzen sorgfältig und verpaßte ihm noch einen Knebel. Wahrscheinlich würde er sich trotzdem befreien können, aber Kim hoffte, daß er selbst bis dahin weit genug entfernt war.

Er warf einen Blick zum Ausgang der Schlucht zurück und begann dann rasch, die Rüstung überzustreifen. Zu seiner Verwunderung paßte sie, als wäre sie eigens für ihn angefertigt worden. Er hob das Schwert vom Boden auf, steckte es in die Scheide und ging dann auf das Pferd zu. Das Tier scheute, warf den Kopf zurück und versuchte zu beißen.

»Ruhig, Junge«, murmelte Kim wieder. »Nur ruhig. Niemand tut dir etwas.« Er streckte die Hand aus, machte einen Schritt und redete unaufhörlich weiter. »Ich will dir nichts tun. Bleib ruhig, ganz ruhig. Ich weiß, daß ich nicht wie dein Herr rieche, aber ich will dir nichts Böses.« So redete er, bis er nahe genug herangekommen war, um dem Pferd beruhigend die Hand auf den Hals zu legen. Es zuckte unter der Berührung, ließ es aber geschehen. Kim redete weiter und griff zögernd nach dem Zügel. Er war noch nie geritten, aber er mußte es einfach versuchen. Er legte dem Tier die Hand zwischen die Ohren, kraulte seine Mähne und zog sich dann mit einer ungeschickten Bewegung in den Sattel. Das Pferd scheute wieder und hätte ihn um ein Haar abgeworfen, aber Kim klammerte sich in der dichten Mähne fest und hielt sich mit aller Kraft oben.

Sekundenlang saß er bewegungslos im Sattel und wunderte sich, daß er tatsächlich oben war. Dann tätschelte er dem Tier noch einmal beruhigend den Hals und zog am Zügel. »Komm schon, Junge«, murmelte er. »Dreh dich rum.«

Das Wunder geschah. Das Pferd wieherte leise, bewegte den Kopf und drehte sich gehorsam herum. Dann setzte es sich ohne Kims Zutun in Richtung Ausgang in Bewegung. Kim ritt bis zur Weggabelung und hielt an. Hallender Hufschlag drang an sein Ohr und bildete einen Gegentakt zum wilden Hämmern seines Herzens. Er drehte den Kopf und gewahrte ein halbes Dutzend schwarzer Reiter, die den Hang heruntergaloppierten. Sein Pferd setzte sich von selbst in Bewegung, als die Reiter an ihm vorüberpreschten, und noch bevor Kim richtig wußte, wie ihm geschah, fand er sich inmitten der wilden Jagd. Seine Hände krampften sich um die Zügel, aber nicht, um das Pferd zu lenken, sondern nur, um sich daran festzuhalten. Hätte das Tier nicht von allein seinen Platz in der Gruppe gefunden, wäre er rettungslos verloren gewesen.

Sie ritten in halsbrecherischem Tempo ins Tal zurück, und Kim mußte sich mit aller Kraft in der Mähne des Pferdes festklammern, um nicht abgeworfen zu werden. Sie galoppierten den Weg hinab, stießen auf eine andere Gruppe schwarzer Reiter und schlugen dann zu Kims Entsetzen den Weg zum Lager ein.

Unter der schwarzen Rüstung brach ihm der Schweiß aus. Sein Streich war gewagt genug gewesen - aber mitten ins Lager der Schwarzen zu reiten wäre der reine Selbstmord! Er mußte weg, egal wie!

Verzweifelt hielt er nach einem Fluchtweg Ausschau. Das Lager der Schwarzen befand sich unmittelbar am Waldrand, aber Kim ritt an der entgegengesetzten Flanke der Kolonne. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, das Pferd herumzureißen und in wildem Galopp in den Wald zu sprengen, verwarf die Idee aber sofort wieder. Er konnte sich mit Müh und Not im Sattel halten, und selbst wenn das Pferd seinen Befehlen gehorchte, hätten ihn die anderen eingeholt, ehe er bis zehn zählen konnte.

Sie ritten in das Lager ein. Es bestand aus zwei halbkreisförmigen, weit auseinandergezogenen Zeltreihen, die sich um ein großes Lagerfeuer gruppierten. Ihr Anführer rief einen scharfen Befehl, worauf sich die geordnete Formation der Gruppe auflöste und jeder für sich seinem Platz zustrebte. Kim war in diesem Moment vollkommen hilflos. Er ließ einfach die Zügel fahren, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und hoffte darauf, daß sein Pferd besser als er wußte, was zu tun war.

Einer der Gepanzerten ritt an Kim heran, knuffte ihn mit der Faust in die Seite und sagte ein paar Worte in seiner dunklen, schnellen Sprache. Kim antwortete nicht, worauf der andere seine Worte wiederholte. Kim hüllte sich weiter in Schweigen, während sein Herz so rasend schnell zu jagen begann, daß er meinte, das Geräusch müsse wie dumpfer Trommelwirbel im ganzen Lager zu hören sein. Der Schwarze sah ihn einen Moment abwartend an, murmelte etwas und wandte sich achselzuckend ab.

Kim atmete auf. Der Zwischenfall hatte ihm bewiesen, wie gefährlich seine Lage war.

Er trabte in einer Gruppe von sieben oder acht schwarzen Reitern zum Ende des Lagers. Die Pferde blieben von selbst stehen, und Kim schwang sich, dem Beispiel der anderen folgend, aus dem Sattel. Er stellte sich dabei so ungeschickt an, daß er um ein Haar gestürzt wäre, aber keiner der andern schien Notiz davon zu nehmen.

Die Pferde trotteten zu einem Pferch, der am Waldrand errichtet worden war. Alle Pferde - bis auf seines. Es blieb einfach stehen, scharrte mit den Vorderhufen im Sand und begann dann den Kopf an seiner Rüstung zu reiben. Kim merkte entsetzt, wie einer der umstehenden Krieger den Kopf hob und verwundert zu ihm herübersah.

Er tupfte dem Pferd sanft auf die Nüstern. »Geh, Junge«, flüsterte er. »Bitte, bitte, geh. Geh zu deinen Kameraden. Du bringst mich um, wenn du hierbleibst.«

Das Pferd schnaubte leise und setzte sich widerwillig in Bewegung, jedoch nicht ohne immer wieder stehenzubleiben und den Kopf zu wenden, fast als wollte es sich überzeugen, daß er nicht weglief.

Das Lagerfeuer brannte hell und mit prasselnder Flamme. Der zuckende, orangerote Schein vertrieb die Kälte und die Dunkelheit. Die Schwarzen hatten ihre Proviantbündel hervorgeholt und begannen zu essen. Kim streifte hungrig und durstig durch das Lager - zum einen, um weniger aufzufallen, zum andern, um etwas über dessen Organisation herauszufinden. Jedoch ohne viel Erfolg. Nur ein Teil der schwarzen Krieger schlief in Zelten; die anderen legten sich zum Schlafen nieder, wo sie gerade standen oder saßen. Nachdem sie fertiggegessen hatten, wickelten sie sich in ihre Decken ein oder rollten sich einfach auf dem nackten Boden zusammen.

Nach beendetem Rundgang kehrte Kim noch einmal zu den Pferden zurück. Der Pferch, in dem sie untergebracht waren, befand sich dicht am Waldrand. Hier in der Nähe würde er sich hinlegen und schlafend stellen. Später des Nachts, wenn alles schlief, ergab sich vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht. Aber noch war es nicht soweit. Kim fand keine Ruhe und schlenderte scheinbar ziellos zwischen den Zelten umher. Er nickte einem Schwarzen, der ihn ansprach, stumm zu und hockte sich schließlich im Schatten eines Zeltes nieder. Zwischen den Zelten glommen jetzt etliche kleinere Feuer auf. Stimmengemurmel, das Klirren von Metall und das typische Knarren von altem Leder erfüllten die Luft. In Kims unmittelbarer Nachbarschaft begannen drei hünenhafte Schwarze eine Decke auszubreiten und zu würfeln.

Kim legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte zu den Sternen empor. Plötzlich fühlte er sich, trotz seiner Nervosität und Angst, unsäglich müde und erschöpft und mußte mit aller Macht gegen den Schlaf ankämpfen.

Lärm ließ ihn auffahren. Die drei Krieger waren über ihrem Würfelspiel in Streit geraten. Einer von ihnen war aufgesprungen und hatte sein Schwert gezogen, und die beiden anderen redeten aufgeregt auf ihn ein.

Kim richtete sich auf die Ellbogen auf und verfolgte neugierig, was weiter geschah.

Es ging alles ganz schnell. Der Krieger stieß einen wütenden Schrei aus, schwang seine Waffe und sprang auf den einen der beiden Gefährten zu. Das Schwert sauste herab, schrammte dem Gegner über den Brustpanzer und glitt ab. Der andere prallte zurück, zog ebenfalls seine Waffe, und schon war ein wilder Kampf im Gange.

Kim erwartete, daß sich die anderen einmischen und den Streit schlichten würden, aber nichts dergleichen geschah. Es fanden sich zwar immer mehr Zuschauer ein, die aus der Dunkelheit auftauchten und sich um die beiden Kämpfenden scharten, aber keiner rührte einen Finger, um einzugreifen.

Der Kampf dauerte nicht lange. Das Schwert des Angreifers zuckte plötzlich vor und bohrte sich in die Lücke zwischen Helm und Brustpanzer des anderen. Der Getroffene taumelte zurück, ließ seine Waffe fallen und kippte dann wie ein gefällter Baum hintenüber.

Die Zuschauer begannen sich zu zerstreuen. Der Krieger, der den Streit begonnen hatte, schob seine Waffe in die Scheide zurück, ging zu seiner Decke und fuhr fort, mit seinem Kameraden zu würfeln, als wäre nichts geschehen.

Kim schauderte. In diesem Land schien ein Menschenleben wirklich nicht viel zu zählen.

Er ließ sich zurücksinken, rollte sich auf die Seite und zog die Beine an den Körper. Die schwarze Rüstung hielt erstaunlich warm, und nach einer Weile begann sich wieder wohlige Müdigkeit in ihm auszubreiten. Er schloß die Augen, döste einen Moment vor sich hin und schrak auf, als er spürte, daß er im Begriff war, tatsächlich einzuschlafen.

Im Lager breitete sich allmählich Ruhe aus. Die Feuer erloschen eins nach dem andern, und die Stimmen verstummten. Schließlich - es ging schon gegen Mitternacht - war außer dem Heulen des Windes und einem gelegentlichen Scharren aus dem Pferdepferch kein Laut mehr zu hören. Kim schlief nicht. Zu Anfang hatte er sich mit Gewalt wachhalten müssen, aber seine Müdigkeit schlug jetzt ins Gegenteil um. Plötzlich war er von einer Unrast erfüllt, daß er Mühe hatte, still liegenzubleiben.

Die ganze Nacht lag er wach und wartete auf eine Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen.

Aber es ergab sich keine. Das Lager schlief, jedoch ein halbes Dutzend Wächter patrouillierten ständig um den Platz und machten jeden Fluchtversuch unmöglich. Dabei gewann Kim mehr und mehr den Eindruck, daß die Wächter weniger nach Feinden von außen ausschauten, als vielmehr ihre schlafenden Kameraden scharf im Auge behielten. Er begann zu begreifen, daß es wesentlich einfacher gewesen war, in das Lager hinein-, als wieder herauszugelangen.

Kim war froh, als sie am Morgen durch einen kurzen, mißtönenden Trompetenstoß geweckt wurden. Er war als einer der ersten auf den Beinen und begann sich nützlich zu machen. Nicht, daß er wirklich wußte, was zu tun war; er eilte einfach hin und her, trug Holz und Ausrüstungsgegenstände zusammen, packte da und dort mit zu und tat alles, um in Bewegung zu bleiben. Und sein Verhalten schien sich als richtig zu erweisen. Niemand nahm Notiz von ihm. Schon nach wenigen Minuten war das Lager abgebaut und alle Spuren ihres nächtlichen Aufenthalts beseitigt.

Ein zweiter Trompetenstoß ertönte, und einer der Krieger öffnete den Pferch. Die Pferde quollen wie eine schwarze Woge lebendiger Leiber hervor, trabten umher und suchten nach ihren Herren.

Auch Kims Pferd kam angaloppiert, blieb vor ihm stehen und stieß ihn spielerisch mit der Nase vor die Brust. Der Stoß war jedoch so heftig, daß Kim zurücktaumelte und gegen einen der schwarzen Krieger stieß. Dieser fuhr herum, knurrte ärgerlich und schubste Kim unsanft gegen sein Pferd. Kim griff automatisch nach dem Sattel und verhinderte so im letzten Augenblick, daß er das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.

Eine riesige Hand legte sich auf seine Schulter und zerrte ihn brutal herum. Kim sah auf und blickte in die schwarze Gesichtsmaske eines Kriegers, der ihn um fast einen halben Meter überragte.

Der Riese fauchte ihn an, stieß ihn vor die Brust und sagte etwas, was Kim nicht verstand. Aber es war klar, daß er auf Antwort wartete.

Kim überlegte blitzschnell. Der Vorfall vom vergangenen Abend hatte ihm gezeigt, wie rasch hier ein harmloser Streit zu einer tödlichen Auseinandersetzung werden konnte. Er hielt dem Blick des Riesen einen Moment lang stand, wandte sich dann schulterzuckend ab und zog sich ungeschickt in den Sattel. Der Krieger griff nach seinem Gürtel und versuchte ihn herabzuzerren. Kim schüttelte die Hand ab und trat dem Riesen mit aller Kraft vor den Brustpanzer. Der Riese wankte zurück, setzte sich wuchtig auf den Hosenboden und kam mit einem wütenden Kreischen wieder hoch.

Kims Hand zuckte zum Schwert, doch sein Pferd kam ihm zuvor. Es wieherte ärgerlich, wirbelte auf der Stelle herum und trat mit den Hinterläufen aus. Der Schwarze wurde von den Füßen gerissen, überschlug sich in der Luft und landete krachend ein zweites Mal im Sand.

Diesmal dauerte es länger, bis er sich wieder erhob. Die pupillenlosen Augen unter dem Visier blitzten haßerfüllt auf. Langsam erhob er sich auf ein Knie, zog seine Waffe aus dem Gürtel und stand dann ganz auf.

In diesem Augenblick tauchte eine Gruppe hünenhafter schwarzer Ritter hinter ihm auf. Der Krieger zuckte zusammen und senkte unterwürfig den Kopf.

Einer der Ritter sagte etwas zu ihm, worauf er regelrecht zusammenzuschrumpfen schien. Er schob seine Waffe in den Gürtel zurück, bedachte Kim mit einem letzten, haßerfüllten Blick und stelzte unter dem schadenfrohen Gelächter der anderen zu seinem Pferd.

Sie brachen auf. Das schwarze Heer formierte sich zu einer vierfach gestaffelten Kette und zog in östlicher Richtung weiter. Eine Stunde oder länger entfernten sie sich vom Gebirge, dann ritten sie durch einen kleinen Wald, rasteten wenige Minuten und tränkten ihre Tiere an einem schlammigen Bach. Danach zogen sie weiter, jetzt wieder westwärts, dem Gebirge zu. Kim lauerte die ganze Zeit auf eine Gelegenheit, sich unauffällig abzusetzen, doch wieder vergeblich. Ständig patrouillierten Wachen rechts und links der gemächlich dahinziehenden Kolonne. Und selbst wenn es ihm gelungen wäre - sein Fehlen wäre in der mathematischen Präzision der Marschordnung rasch aufgefallen, und sie hätten ihn in kürzester Zeit wieder eingefangen.

Gegen Mittag erreichten sie einen flachen, von Hügeln umgebenen See, an dem sie ihre Pferde abermals tränkten und selbst für eine halbe Stunde rasteten. Dann ging der Marsch weiter, nun stetig nach Süden, parallel zur himmelstürmenden Mauer des Schattengebirges. Manchmal - einem System folgend, das Kim nicht verstand, vielleicht aber auch vollkommen willkürlich - ließ der Anführer anhalten und kleine Gruppen der schwarzen Reiter in die Berge ausschwärmen. Doch Kim gelang es jedesmal, sich zu drücken. Schließlich, am späten Nachmittag, als die Sonne bereits wieder in die unendlichen Gipfel des Gebirges eintauchte und die Schatten lang und immer länger wurden, erreichte die Kolonne eine Hügelkuppe und hielt an.

Der Anblick verschlug Kim den Atem.

Vor ihnen fiel das Land zu einem weiten, schüsselförmigen Tal ab, das sich nach Westen, zum Gebirge hin, merklich verengte und in einer schmalen Schlucht mit senkrecht aufstrebenden Felswänden auslief.

Das Tal war schwarz von Kriegern. Wie Ameisen wimmelten sie zu Tausenden tief unter ihnen, ballten sich zu Gruppen zusammen, formierten sich zu Zügen und wogten in einer langsamen, majestätischen Bewegung der Schlucht entgegen. Unzählige Zelte und Feuerstellen bedeckten den Talboden. Kim versuchte die Zahl der Soldaten zu schätzen, aber es war unmöglich. Es mußten Tausende, Zigtausende sein, ein gewaltiges Heer, das sich in diesem Tal versammelt hatte und wie ein schwarzer, aufgestauter See, der sich in einen schmalen Abfluß ergießt, westwärts durch die Schlucht zog.

Sie begannen langsam den Hügel hinunterzureiten. Ein häßliches, schrilles Krächzen durchschnitt die Luft. Kim hob den Kopf und sah einen Schwarm riesiger schwarzer Vögel, die mit trägen Flügelschlägen über dem Tal kreisten. Sie ritten weiter und passierten die ersten Zelte, aber ihr Anführer machte keine Anstalten anzuhalten, sondern führte seine Reiter zwischen Zelten und Lagerfeuern hindurch bis fast in die Mitte des Tales, wo eine flache, mit mächtigen Balken abgestützte Hügelschanze errichtet worden war. Eine Reihe schwarzer Wächter umstand den künstlichen Hügel in weitem Kreis, und hinter dem Kordon erstreckte sich ein mit einer öligen Flüssigkeit gefüllter Graben, wohl eine Art provisorischer Verteidigungsanlage, bei deren Anblick sich Kim unwillkürlich fragte, wovor sich die Herren dieser schwarzen Armee inmitten ihres Heeres wohl fürchteten.

Kim zwang sich, wenigstens für einen Augenblick seine Angst zu vergessen und aufmerksam auf jede noch so winzige Kleinigkeit zu achten. Er ahnte, daß sich eine Gelegenheit wie diese wohl nicht so bald wieder bieten würde.

Sie zogen dicht am Kordon der Wächter vorbei. Ihr Anführer tauschte ein paar Worte mit einem der Wachtposten und ritt dann in gemächlichem Tempo weiter, während Kim sich auf die kleine Zeltstadt auf dem Hügel konzentrierte. Auch dort waren schwarze Ritter zu sehen, aber sie schienen größer und - wie Kim fand - irgendwie furchteinflößender als die, unter denen er sich bewegte.

Plötzlich zuckte Kim zusammen. Zwischen den riesigen Gestalten ragte eine noch riesigere hervor. Die Rüstung dieses Ritters unterschied sich in nichts von denen der anderen, aber Kim erkannte ihn trotzdem.

Baron Kart!

Kim stockte vor Schreck der Atem. Der Baron schritt unruhig zwischen den Zelten auf und ab, fuhr einen seiner Leute an und scheuchte einige andere mit einer unwilligen Bewegung zur Seite. Eines der Zelte wurde geöffnet, und unter dem Eingang erschien eine hagere, in einen wallenden schwarzen Mantel gehüllte Gestalt.

Boraas.

Kim mußte all seine Willenskraft aufbieten, um ruhig im Sattel sitzen zu bleiben. Der Magier trat aus dem Zelt und ließ den Blick über die unabsehbare Masse seiner Krieger gleiten. Für einen schrecklichen Moment schien es Kim, als ob der Blick dieser grauen, harten Augen forschend auf ihm ruhte. Dann drehte sich Boraas mit einer ruckartigen Bewegung um und sagte etwas zu jemandem hinter sich im Zelt. Ein schwarzer Ritter trat daraus hervor und stellte sich dem Magier an die Seite.

Kim schauderte. Der Ritter war kleiner als Boraas, kaum größer als er selbst, und trug genau wie die anderen eine schmucklose schwarze Rüstung. Aber er hatte etwas an sich, was ihn von den übrigen Kriegern unterschied. Trotz seiner geringen Körpergröße und der schmalen Schultern wirkte er gefährlicher und böser als alle anderen. Es war, als sei er von einer unsichtbaren schwarzen Aura umgeben, einem Fluidum des Bösen, das wie ein ins Negative verkehrter Heiligenschein von seiner schwarzen Rüstung ausstrahlte.

Dann waren sie vorbeigezogen, und der schwarze Ritter entschwand Kims Blicken. Aber der Eindruck wirkte noch lange in ihm nach. Kim hatte plötzlich das Gefühl, nur noch mit Mühe atmen zu können. In seinem Inneren schien etwas zu Eis erstarrt zu sein, als hätte der bloße Anblick dieser düsteren schwarzen Gestalt ausgereicht, ein Stück seiner Seele absterben zu lassen.

Sie ritten bis ins vordere Drittel des Tales und hielten dann endgültig an. Der Anführer rief einige Kommandos, alle saßen ab, und zwei der Krieger machten die Runde und sammelten die Pferde ein, um sie in eine große Koppel nahe dem Talschluß zu treiben.

Der Tag endete wie der vorige. Die Männer verteilten sich, spielten, tranken und hockten einfach beisammen und trieben ihre rauhen Scherze. Kim fand bald heraus, daß er sich ungehindert im Lager bewegen konnte, aber er wagte es nicht, sich viel weiter als hundert Meter von seiner Gruppe zu entfernen. Für ihn sahen die Krieger alle gleich aus, und wenn er sich verirrte, würde er nie wieder zu seinem Haufen zurückfinden. Er schien bei der Wahl seines Opfers wirklich Glück gehabt zu haben - der Reiter, dessen Platz er einnahm, hatte offensichtlich keine Freunde, und sein schweigsames, zurückgezogenes Verhalten erregte keine Aufmerksamkeit.

Ungeduldig erwartete Kim den Einbruch der Nacht. Auf den das Tal umgebenden Hügeln glommen unzählige Feuer auf, und Kims Fluchtpläne zerrannen in nichts. Es war unmöglich, aus diesem Lager zu entkommen. Er würde sich auf Gedeih und Verderb weiter seinem Glück anvertrauen und darauf warten müssen, daß das Heer weiterzog und sich eine bessere Gelegenheit bot.

Eine schreckliche Vision stieg vor seinen Augen auf. Er sah sich selbst, gekleidet in diese schwarze, finstere Rüstung, eingekeilt in eine unendliche Reihe galoppierender Reiter, Themistokles und seine Verbündeten angreifend. Womöglich, dachte er, geschah es tatsächlich, daß er mit diesem gigantischen Heer weiter und weiter nach Westen zog und sich unversehens in einer Schlacht gegen jene wiederfand, die ihn gerufen hatten.

Er ging ein paar Schritte, bis er durch eine Lücke zwischen den Zelten die Schlucht im Westen erkennen konnte. Auch jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, zogen die schwarzen Reiter in einer nie abreißenden Kette weiter durch die Bresche. Fackeln und große flackernde Scheiterhaufen, die rechts und links des Weges errichtet worden waren, tauchten die Felswände in tanzendes rotes Licht. Tief aus dem Innern der Schlucht drang ein geheimnisvolles grünes Leuchten, in dem die Gestalten der Reiter seltsam flach und körperlos wirkten, so daß es beinah so aussah, als bewegte sich dort keine Armee, sondern ein endloser Zug von Schatten. Kim wandte sich ab. Er sah sich unschlüssig um und kehrte schließlich zu seinem Lagerplatz zurück. Er war noch müder als am Abend zuvor, und er hatte jetzt seit zwei Tagen nichts gegessen, so daß ihm vor Hunger und Schwäche schon übel wurde. Aber er wagte es nicht, das schwarze Visier auch nur für einen Augenblick zu lüften.

Schließlich legte er sich nieder, griff sich eine Decke und schlief fast augenblicklich ein.

Sie blieben zwei Tage und drei Nächte in diesem Tal. Ein paarmal mußten sie ihre Plätze räumen, um einer nachrückenden Gruppe Platz zu machen, und jeder Wechsel brachte sie näher an die Schlucht am Talausgang heran. Die Zahl der nachdrängenden Reiter war so gewaltig, daß das Tal schließlich kaum noch in der Lage schien, die gigantische Armee aufzunehmen. Kim sah Boraas noch einmal wieder, am zweiten Tag, als der Magier auf einem riesigen schwarzen Pferd das Tal inspizierte, Baron Kart an der einen und jenen seltsamen, finsteren Begleiter an der anderen Seite.

Die Tage im Lager verliefen gleichförmig. Es gab nichts zu tun, und Kim brachte fast seine ganze Zeit damit zu, ruhelos umherzuwandern. Er wußte, daß sein Verhalten früher oder später Aufsehen erregen mußte, und eigentlich grenzte es bereits an ein Wunder, daß er bis jetzt unentdeckt geblieben war.

Dann, am Morgen des dritten Tages, wurden sie durch einen rüden Befehl geweckt. Sie formierten sich zu einer langen, wie mit dem Lineal gezogenen Doppelreihe und standen fast eine Stunde lang reglos in der glühenden Sonne. Dann wurden die Pferde gebracht.

Kim freute sich, als das schwarze Pferd, das er erbeutet hatte, zielstrebig aus der Herde ausscherte, auf ihn zutrabte und den Kopf an seiner Schulter rieb. Obwohl Kim sich darüber im klaren war, daß sein Benehmen ungewöhnlich erscheinen mußte, hob er die Hand und streichelte dem Tier zärtlich die Nüstern. Das Tier wieherte, scharrte mit den Vorderhufen und bewegte ein paarmal ungeduldig den Kopf, als wollte es ihn auffordern, in den Sattel zu steigen. Und Kim folgte der Aufforderung.

Nach und nach fanden alle Tiere zu ihren Herren zurück, und der versprengte Haufen schmutziger Gestalten verwandelte sich wieder in eine stolze Schar schwarzer Reiter.

Kim verspürte ein seltsames, warmes Glücksgefühl, als er im Sattel seines Pferdes saß. Umgeben von einem finsteren Haufen von Feinden und dem Tod näher als dem Leben, war dieses Tier sein einziger Freund und Vertrauter, das einzige Lebewesen, das sein Geheimnis kannte und mit ihm teilte. Und irgendwie glaubte Kim zu wissen, daß dieses Gefühl nicht nur einseitig war.

Auf einen Befehl ihres Anführers hin setzten sie sich in Bewegung. Kim fand sich inmitten einer unübersehbaren Kolonne ruhig und diszipliniert dahintrabender Reiter, ein Glied in der nicht abreißenden Kette, die sich westwärts durch die Schlucht zog.

Die Feuer zu beiden Seiten des Weges verblaßten unter dem intensiven grünen Glühen, das vom Ende der Schlucht hereindrang. Zuerst schien es Kim, als brenne dort ein grünes, rauchloses Feuer, aber je näher sie kamen, desto deutlicher konnte er erkennen, daß es sich um etwas völlig anderes handelte. Es gab keine Flammen und keine Hitze, nur diese grüne, alles durchdringende Helligkeit, die aus den Felswänden, aus dem Boden, ja sogar aus der Luft zu kommen schien. Ein hoher, sirrender Ton ließ Kims Nerven vibrieren. Und plötzlich bekam er Angst, fürchterliche Angst. Er ahnte, daß etwas Schreckliches mit ihm geschehen würde, wenn er in den Bereich des grünen Leuchtern vordrang. Aber es gab keinen Fluchtweg. Sie ritten jetzt so dicht nebeneinander, daß zwischen den einzelnen Tieren kaum noch eine Handbreit Platz blieb, und die Reiter in den äußersten Kolonnen streiften mit ihren Rüstungen bereits am Felsen entlang. Selbst wenn Kim so verwegen gewesen wäre, die Flucht zu wagen, hätte er sein Pferd gar nicht wenden können.

Er versuchte, die Angst zurückzudrängen und sich auf den Anblick vor sich zu konzentrieren. Die Reiter strebten ohne zu zögern dem grünen Licht zu. Ihre Körper schienen zu verschwimmen, und Kim glaubte fast, durch sie hindurch die Umrisse der vor ihnen Reitenden zu erkennen.

Das Licht kam näher und näher. Kims Pferd scheute ein wenig, aber Kim brachte es mit einigen besänftigenden Worten zur Ruhe. Ein seltsames Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus, als das Licht ihn erfaßte. Kim schloß geblendet die Augen, senkte den Kopf und beschattete das Gesicht mit der Hand. Aber es nutzte nichts. Das grelle grüne Licht drang durch seine Hand und durch das Metall der Rüstung und ließ ihn aufstöhnen.

Dann, so abrupt, als hätte jemand einen gigantischen Schalter umgelegt, verschwand das Licht, und Kim fand sich in einer gewaltigen, von grauen Schatten erfüllten Höhle wieder. Die Decke war so hoch, daß er sie nicht mehr erkennen konnte, und vor ihm gähnte ein bodenloser Abgrund. Die Reiter versammelten sich am Rande der Schlucht und lenkten ihre Tiere nacheinander auf eine schmale, kühngeschwungene Steinbrücke hinaus, die über den Abgrund führte und sich irgendwo in Weite und Dunkelheit verlor. Es gab kein Geländer, keinen Schutz, nur dieses schmale Steinband, das kaum breit genug war, den Pferden sicheren Tritt zu gewähren. Die schwarzen Reiter zwangen ihre Tiere hinauf, Glied um Glied einer endlosen Kette. Ab und zu löste sich ein Stein unter dem harten Hufschlag der Tiere, und einmal kam ein Pferd ins Stolpern, kreischte auf und stürzte mitsamt seinem Reiter ab, ohne daß dies den Vormarsch der übrigen auch nur für eine Sekunde ins Stocken brachte.

Kims Hände krallten sich in die Mähne seines Tieres, als sie auf die Brücke hinausritten. Er blickte in die Tiefe, schloß entsetzt die Augen und stöhnte leise. Ihm schwindelte, und für einen Moment schien sich die gigantische Höhle um ihn herum zu drehen. Der Hufschlag der Pferde dröhnte plötzlich wie Donnergrollen in seinen Ohren.

Stunden schienen zu vergehen, ehe sie endlich das andere Ende der Brücke erreichten. Die Decke der Höhle senkte sich herab und verband sich mit den Seitenwänden zu einem niedrigen Stollen, von dem zahlreiche Seitengänge abzweigten. Die Luft roch abgestanden und bitter, und jeder Atemzug brannte wie Feuer in Kims Lungen. Die Reiter entzündeten Fackeln, um den Weg zu erhellen.

Der Ritt nahm kein Ende. Einmal rasteten sie, und Kim lehnte sich gegen die feuchtkalte Wand und schlief fast augenblicklich ein. Als er geweckt wurde, hatte er das Gefühl, nur wenige Minuten geschlafen zu haben und müder als vorher zu sein.

Die Umgebung wechselte ständig. Sie ritten durch Hallen und hohe, schattenerfüllte Steindome, durchquerten enge Schluchten und balancierten am Rande bodenloser Abgründe entlang, und einmal führte sie eine Art rohbehauene Steintreppe Hunderte Meter in die Tiefe.

Eine neuerliche Rast folgte, dann wieder endlose Stunden im Sattel. Und endlich, als Kim schon glaubte, sich nicht mehr auf dem Rücken des Pferdes halten zu können, leuchtete vor ihnen ein winziges grünes Licht. Die Fackeln erloschen, und das Heer drang in eine weitläufige, hohe Höhle ein, von deren Decke bizarre Kristallgebilde herunterhingen. Schwärme riesiger Fledermäuse kreisten über ihren Köpfen, und am entgegengesetzten Ende der Höhle glühte wieder jenes wohlbekannte grüne Feuer.

Der Marsch ging ohne Pause weiter. Kims Pferd wieherte erschöpft, als sie einen geröllübersäten Hang hinaufritten. Neben ihm kam ein Tier ins Straucheln, scheute und warf seinen Reiter ab. Der gepanzerte Reiter schlug unglücklich mit dem Kopf auf und blieb reglos liegen. Kim schloß entsetzt die Augen, als er sah, wie er unter den Hufen der Nachdrängenden verschwand.

Das grüne Leuchten erfaßte sie. Wieder stöhnte Kim qualvoll unter dem unerträglich gleißenden Licht. Als er die Augen wieder öffnete, befand er sich in einem weiten, von hohen Felswänden umschlossenen Tal, ähnlich dem, aus dem sie aufgebrochen waren.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammerschlag. Das Gebirge lag jetzt hinter ihm, im Osten. Sie hatten die Schattenberge überwunden!

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