Den ganzen Tag und noch weit bis in den Abend hinein ritten sie nach Süden. Themistokles schien mit jedem Schritt, den sie vorankamen, ungeduldiger zu werden. Alle waren müde und erschöpft, aber Themistokles gönnte weder den Männern noch ihren Tieren tagsüber eine Rast, und am nächsten Morgen drängte er lange vor Sonnenaufgang zum Weitermarsch.
Die Landschaft, durch die sie ritten, änderte allmählich ihren Charakter. Der Wald lichtete sich und wurde jetzt immer öfter von großen, sonnigen Lichtungen unterbrochen, um schließlich von einer flachen, von hüfthohem gelbem Gras bewachsenen Steppe abgelöst zu werden. Am frühen Vormittag stießen sie auf eine Straße, die sie weiter nach Süden, aber auch ein wenig in westliche Richtung und fort vom Gebirge führte. Ein Dorf zog in weiter Entfernung an ihnen vorbei, dann ritten sie stundenlang durch große, quadratisch angelegte Felder und schließlich wieder durch gelbe Steppe. Kim wich während der ganzen Zeit nicht von Themistokles' Seite, redete unermüdlich auf den Zauberer ein und bestürmte ihn mit Fragen. Themistokles antwortete geduldig, und Kim erfuhr viel über Märchenmond, seine Geschichte und seine Bewohner - mehr, als er in der kurzen Zeit begreifen und verdauen konnte. Und mit jeder Antwort schien sich die Zahl der ungelösten Rätsel zu erhöhen. Aber Kims Neugierde war unersättlich.
Die Sonne kletterte langsam am Himmel empor. Es wurde warm, dann heiß, und Kim verspürte wachsenden Durst, zu dem sich bald Hunger und dann auch Müdigkeit gesellten. Den anderen erging es nicht besser. Die Einhörner schritten bei weitem nicht mehr so kraftvoll und ruhig aus wie zu Anfang, und auch ihre Reiter hockten schlaff in den Sätteln. Aber wieder gönnte ihnen Themistokles keine Pause.
Endlich, die Mittagsstunde war schon vorüber, und Kim glaubte allmählich, vor Schwäche und Müdigkeit nicht länger im Sattel sitzen zu können, wirbelte weit vor ihnen eine gelbe Staubwolke über der Straße auf. Als sie näher kamen, erkannten sie eine Schar von etwa fünfzehn Reitern.
Themistokles ließ anhalten und erlaubte seinen Männern abzusitzen. Erschöpft taumelten sie aus den Sätteln und ließen sich abseits der Straße ins hohe Gras sinken. Auch Kim stieg ab, hockte sich ins Gras und blickte den fremden Reitern erwartungsvoll entgegen.
Es waren große, dunkelhaarige Männer, die sich auf eine schwer zu bestimmende Art alle zu gleichen schienen. Ihre Gesichter waren schmal und braungebrannt und ihre Körper, obwohl gertenschlank, ungemein kräftig und muskulös. Sie saßen mit solch natürlicher Anmut auf den Pferden, als ob sie mit den Tieren verwachsen wären. Sie trugen dunkle Kleider aus gegerbtem Leder, die Arme und Beine freiließen, und ritten, wie Kim mit einem Anflug von Neid feststellte, ohne Sättel und Zaumzeug.
Die Reiter galoppierten heran und verhielten dicht vor Themistokles, der als einziger auf dem Rücken seines Einhorns sitzen geblieben war, um das Begrüßungskomitee - denn um ein solches handelte es sich - seinerseits zu begrüßen. Zu Kims Verwunderung war der Sprecher der Reiter kaum älter als er selbst; dreizehn, vielleicht vierzehn Jahre alt, schlank und dunkelhäutig wie seine älteren Begleiter, aber mit etwas hellerem Haar und aufmerksamen blauen Augen. Seine Stimme klang selbstbewußt wie die eines Erwachsenen, als er das Wort an Themistokles richtete.
»Seid gegrüßt, Herr von Gorywynn«, begann er ein wenig steif. Er deutete ein Kopfnicken an, lenkte sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck neben das des Zauberers und ließ den Blick über das Häuflein ermatteter Reiter am Straßenrand schweifen. Ein Funken Mißtrauen glomm in seinen Augen auf, als er Kim sah.
»Euer Kommen wurde uns gemeldet«, fuhr er fort. »Mein Vater sendet Euch Grüße und läßt Euch sagen, daß Ihr und Eure Begleiter auf unserem Schloß willkommen seid.« Themistokles nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Man sagte uns auch«, fuhr der Junge mit einem neuerlichen Blick auf Kims schwarze Rüstung fort, »daß Ihr einen schwarzen Reiter in Eurer Begleitung habt. Ich sehe nun, daß der Bote die Wahrheit gesprochen hat. Ist er Euer Gefangener?«
»Nein. Er gehört zu uns.«
»Zu Euch? Aber er trägt die Kleidung des Feindes!«
Themistokles lächelte. »Ihr beurteilt einen Mann nach seinem Äußeren, Prinz Priwinn«, sagte er. »Aber ein vermeintlich schlechtes Äußeres kann ebenso täuschen wie ein vermeintlich gutes. Kim ist einer der Unseren und vielleicht der Beste.«
Priwinn dachte einen Moment über Themistokles' Worte nach, zuckte dann die Achseln und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Männer im Gras.
»Unsere Boten berichteten uns, daß Eure Leute in einem schlechten Zustand sind«, sagte er. »Wir haben Wein und Brot mitgebracht, und unser Heilkundiger wird sich später um Eure Verwundeten kümmern. Ihr wurdet angegriffen?« Themistokles nickte betrübt. »Gestern. Wir stießen mit einem Trupp schwarzer Reiter zusammen. Wäre unser Freund hier«, er deutete auf Kim, »nicht hinzugekommen, wäre es noch schlechter um uns bestellt gewesen.«
Priwinn musterte Kim mit einem Blick, der deutlich seine widerstreitenden Gefühle widerspiegelte - Bewunderung, gepaart mit Mißtrauen und, wie Kim fand, einer Spur von Überheblichkeit und Verachtung.
Kim wurde es unter dem Blick des jungen Prinzen unbehaglich. Priwinn wandte sich schließlich achselzuckend ab und kehrte sich seinen Leuten zu. Auf einen Wink stiegen drei seiner Männer von den Pferden und begannen aus langhalsigen Krügen Wein auszuschenken.
»Stärkt euch«, sagte Priwinn, »und teilt das Brot mit uns. Dann laßt uns weiterziehen. Die Zeit drängt.«
Auch Kim wurde ein Becher des schweren, süßen Weins gereicht. Er nahm ihn entgegen und trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken. Sein erster Eindruck schien Themistokles' Worte vom Vortag zu bestätigen - die Steppenreiter waren ein stolzes, unnahbares Volk. Und sie schienen großen Wert auf Förmlichkeit und Zeremonien zu legen.
Kim leerte den Becher, gab ihn zurück und stand auf. Auch die anderen erhoben sich nach und nach, um sich noch einmal auf die Rücken ihrer Tiere zu schwingen, so hart es ihnen auch ankam.
Priwinns Pferd tänzelte nervös auf der Stelle. Priwinn riß es herum und sprengte den Weg hinunter, kaum daß der letzte Mann wieder im Sattel saß.
Sie folgten den Steppenreitern in geringem Abstand. Nach einer Weile verließen sie die Straße und ritten quer durch die Steppe weiter, nun direkt nach Westen, fort vom Schattengebirge und seinen Schrecken. Kim glaubte am Horizont einen dunklen, verschwommenen Schatten auszumachen. Themistokles bestätigte seine Vermutung, daß es sich dabei um das Schloß der Steppenreiter handelte - Caivallon. Aber sie ritten nicht direkt darauf zu, sondern schlugen einen Bogen in südlicher Richtung. Auch Themistokles konnte sich das nicht erklären, nachdem Priwinn vorhin so rasch zum Aufbruch gedrängt hatte.
Wenige Minuten später sahen sie den Grund.
Priwinn deutete stumm auf eine rauchgeschwärzte Ruine, die vor ihnen aufgetaucht war. Es war ein kleines, eingeschossiges Haus, das sich natürlich in seine Umgebung einpaßte - oder eingepaßt hatte, ehe es dem Feuer zum Opfer fiel. Das Haus hatte keine Wände, sondern nur ein flaches, direkt aus dem Boden aufstrebendes Dach, das an einer Seite mit Erde und Gras bedeckt war. Vorder- und Rückseite wurden von schweren, moosbewachsenen Balken gebildet. Jetzt war ein Teil des Daches eingestürzt, und ein Wirrwarr verkohlter und geborstener Balken bedeckte in weitem Umkreis den Boden, als hätte eine fürchterliche Explosion das Haus zerfetzt. Aber das allein war es nicht, was Kims Blick und den der anderen gefangenhielt. Auf der grasbewachsenen Seite des Daches lag eine Reihe in weiße Laken gehüllter Körper aufgebahrt.
Sie starrten eine Weile wortlos auf das Schreckensbild. Endlich sagte Themistokles:
»Schwarze Reiter?«
Priwinn nickte. Kim sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. »Ja. Ein Trupp von etwa dreißig Reitern. Vor zwei Tagen, mitten in der Nacht«, sagte der Steppenprinz und fügte mit grimmiger Genugtuung hinzu: »Keiner der Schwarzen ist entkommen. Sie haben einen hohen Preis für diesen Überfall bezahlt.«
Themistokles schüttelte sanft den Kopf. »Gewalt gegen Gewalt ist keine Lösung, Prinz.«
Priwinn verzog trotzig das Gesicht. »Gewalt gegen Gewalt ist keine Lösung? Und warum seid Ihr gekommen, Herr von Gorywynn? Kommt Ihr nicht, um meinen Vater und mein Volk um Unterstützung gegen den Feind zu bitten?«
»Das stimmt«, gab Themistokles zu. »Aber ich komme auch, um zu warnen. Diese Menschen hier sind nicht die ersten Opfer dieses grausamen und überflüssigen Krieges. Sie werden auch nicht die letzten sein. Ihr müßt die Steppenfestung verlassen.«
»Verlassen?« empörte sich Priwinn. »Ihr wißt nicht, was Ihr redet, Themistokles.«
Statt einer Antwort wies der Magier auf die Ruinen, deren verkohlte Balken wie die Finger einer mahnend erhobenen Hand in den wolkenlosen Himmel zeigten. »Ihr habt uns hierhergeführt, um uns das zu zeigen«, sagte er. »Aber Ihr habt selbst noch nicht begriffen, was das, was hier geschehen ist, bedeutet.«
»Ich weiß es«, entgegnete Priwinn. Aus seiner Stimme sprach Haß. »Dreißig schwarze Reiter starben für fünf der Unseren, und dreihundert werden folgen.«
Themistokles schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Er zügelte sein Tier und ritt an dem jungen Prinzen vorbei. Priwinn trieb seinem Pferd die Fersen in die Flanken und sprengte an die Spitze der Gruppe.
Kim war froh, daß sie weiterzogen. Die Spannung zwischen Themistokles und Priwinn erfüllte ihn mit Unbehagen. Wer weiß, wohin das noch führen würde.
Er schrak auf, als ihn jemand sanft an der Schulter berührte. Es war Themistokles.
»Ich möchte, daß du an meiner Seite bleibst«, sagte er. »Wir werden uns nicht lange in Caivallon aufhalten. Aber solange wir dort sind, möchte ich, daß du bei mir bleibst.«
»Du fürchtest um meine Sicherheit?«
»Ja. Und mit Recht, glaube mir.« Themistokles sah dem weit vorausreitenden Prinzen besorgt nach. »Du hast Priwinn erlebt, Kim. Und er ist nicht der einzige, der so denkt. Ich habe Caivallon nicht ohne Grund zum letzten Ziel meiner Reise bestimmt.«
»Sind sie alle so... so hitzköpfig?« fragte Kim.
Themistokles nickte. »Leider. Oder jedenfalls fast alle. Aber man muß sie verstehen. Caivallon liegt an der äußersten Grenze Märchenmonds, die letzte Bastion vor dem Schattengebirge. Nirgends ist der Einfluß Morgons stärker zu spüren als hier, und kein Volk hat mehr gelitten als das ihre.«
Kim drehte sich im Sattel um und blickte zu der Ruine zurück. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. »Es ist so sinnlos«, murmelte er.
»Das ist es leider nicht«, widersprach Themistokles. »Nicht von Boraas' Standpunkt aus. Was dir sinnlos erscheint, gehört aus taktischen Gründen mit zu seinem teuflischen Plan.«
»Aus taktischen Gründen?«
»Du verstehst es nicht?« Themistokles sah Kim ganz eigenartig an. »Ich dachte, du würdest es am ehesten verstehen. Terror, Kim, die schlimmste Waffe, die der menschliche Geist ersonnen hat. Die schwarzen Reiter ziehen in kleinen Gruppen mordend und brennend umher, unberechenbar, scheinbar planlos bei der Wahl ihrer Opfer. Es gibt kein System darin, nur ein Ziel. Sie säen Angst. Damit bereiten sie den Boden für die eigentliche Invasion vor. Wenn Boraas mit seinem Heer kommt, wird er ein verängstigtes, demoralisiertes Volk vorfinden.«
»Aber das ist ja... entsetzlich. Unmenschlich!« stieß Kim hervor.
»Entsetzlich? Ja. Unmenschlich? Je nachdem, wie man das Wort auslegt. Auf der Welt, aus der du stammst, Kim, wird diese Taktik tagtäglich angewandt. Von euch hat Boraas dieses Vorgehen gelernt. Ihr...« Er unterbrach sich, als ihm auffiel, wie laut seine Stimme geworden war. »Verzeih«, sagte er, nun wieder beherrscht. »Ich habe mich hinreißen lassen.« Unvermittelt wandte er sich ab, trieb sein Einhorn an und setzte sich an die Spitze seiner Reiter. Kim wollte ihm folgen, unterließ es dann aber. Ein Gefühl sagte ihm, daß es besser war, den Zauberer jetzt allein zu lassen. Themistokles war verbittert, und Kim konnte ihn im Innersten verstehen.
Er drehte sich um und blickte zum Schattengebirge zurück. Es war, als ob ein gigantischer schwarzer Schatten an der Sonne vorbeiziehe und den Tag verdunkle.
Aus der Ferne hatte Caivallon wie ein riesiger, künstlicher Berg ausgesehen, aber je näher sie dem Steppenschloß kamen, desto mehr drängte sich Kim der Vergleich mit einer mittelalterlichen, aus gedrungenen Holzhäusern errichteten Stadt auf, die ein übermütiger Riese so lange in den Fäusten geknetet hatte, bis sich die einzelnen Gebäude auf-, über- und ineinandergeschoben hatten. Caivallon war wirklich ein künstlicher, von Menschen geschaffener Berg, dachte Kim verblüfft, einem gigantischen Ameisenhaufen mit Tausenden von unsichtbaren Ein- und Ausgängen vergleichbar. Ein mächtiger, zehn Meter hoher Ringwall umgab das Steppenschloß. Zwischen den wuchtigen niedrigen Türmen auf seiner Krone patrouillierten braungekleidete Gestalten, und die wenigen Tore in der Befestigung waren niedrig und eng und sahen ganz danach aus, einem massiven Angriff standhalten zu können. Im Gegensatz zum monotonen Gelb der Steppe herrschte hier Grün vor. Jedes Fleckchen Caivallons war mit Gras und Büschen bepflanzt, und auf den langsam ansteigenden Terrassen der Steppenfestung entdeckte Kim sogar ein paar Bäume.
Aber alle Bemühungen seiner Bewohner, das gigantische Bauwerk freundlicher und lebendiger zu gestalten, konnten nicht verbergen, was Caivallon wirklich war: eine Festung, eine gewaltige, das Land in weitem Umkreis beherrschende Trutzburg, die der schwarzen Feste Morgon in Größe und Macht kaum nachstand, ja sie vielleicht sogar noch übertraf. »Bleib immer dicht bei mir, Kim«, wiederholte Themistokles, als sie durch eines der niedrigen Tore in der Befestigung ritten. Kim nickte. Jetzt begriff er, warum Themistokles ihn bei sich haben wollte. Priwinns Verhalten hatte ihm gezeigt, wie verbittert und mißtrauisch die Bewohner Caivallons waren. Seine schwarze Rüstung mochte in dieser Festung nicht gerade eine Lebensversicherung sein.
Sie ritten einen schmalen, gewundenen Weg hinauf, der sie zu einem der zahlreichen Eingänge Caivallons führte. Themistokles ließ absitzen. Männer in braunen Kleidern führten ihre Reittiere weg, und Priwinn forderte die Gäste auf, ihm zu folgen.
Mehr noch als sein Äußeres erinnerte Kim das Innere Caivallons an Morgon. Caivallon war ganz aus Holz erbaut, aus uraltem und im Laufe der Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende steinhart gewordenem Holz. Kim fragte sich, woher seine Erbauer hier, inmitten dieser baumlosen Steppe, diese ungeheuren Holzmassen genommen hatten. Doch dies war eines der Rätsel Märchenmonds, die er niemals lösen sollte.
Priwinn führte sie durch ein scheinbar endloses Labyrinth aus Gängen und Treppenfluren in einen Raum, der an der Westseite der Festung lag. Durch ein großes, glasloses Fenster fiel der Blick ungehindert über die endlose Steppe nach Westen. Der Anblick erinnerte Kim an ein Meer; ein gewaltiges, mitten in der Bewegung erstarrtes Meer, dessen gelbe Wellen irgendwo in weiter Ferne mit dem Himmel verschmolzen. Ein breiter, schnellströmender Fluß zerschnitt das Panorama in zwei unregelmäßige Hälften. An manchen Stellen wirbelte und schäumte das Wasser, wo es von Felsen und Riffen durchbrochen wurde, und einmal schoß ein Stück Treibgut so rasch vorbei, daß Kim ihm mit dem Blick kaum folgen konnte. Die Strömung mußte gewaltig sein.
Priwinn deutete auf eine lange Tafel, die mit Schüsseln voller Speisen und Krügen voll Wein und Wasser so reich beladen war, daß sie unter dem Gewicht fast zusammenbrach. »Stärkt euch«, sagte er, »und dann ruht. Der Rat der Weisen tritt zusammen, wenn die Sonne untergegangen ist. Bis dahin ruht euch aus.«
Themistokles neigte dankbar den Kopf. Er trat an die Tafel, um sich dann jedoch mit einem Seufzer der Erschöpfung auf die Kante eines der niedrigen Betten sinken zu lassen, die man in aller Eile an den Wänden aufgestellt hatte. Seine Begleiter taten es ihm gleich. Kaum einer rührte die dargebotenen Speisen an; ihre Müdigkeit war größer als der Hunger. Auch Kim ließ sich in die weichen Kissen eines Bettes sinken. Sein Magen knurrte, und seine Kehle war schon wieder so ausgedörrt, daß es beinah wehtat. Mit größter Willensanstrengung zwang er sich, die Augen offenzuhalten.
Ein grauhaariger, in ein knöchellanges graues Gewand gekleideter Mann betrat den Raum, verneigte sich flüchtig vor Prinz Priwinn und begann dann, die Wunden der Männer zu versorgen. Er wechselte Verbände, trug Salben und Tinkturen auf und murmelte dabei ununterbrochen vor sich hin.
Als die Reihe an Kim kam, hob dieser abwehrend die Hand. »Ich bin nicht verletzt«, sagte er.
»Aber Ihr seht müde aus, junger Herr. Und erschöpft. Legt die Rüstung ab, und laßt mich sehen.«
Kim gehorchte widerwillig. Er schälte sich aus dem schwarzen, verbeulten Panzer und legte auch die zerschlissenen Unterkleider ab, bis er halb nackt und nur mit einem kurzen Lendentuch bekleidet vor dem Heilkundigen saß. Nur den Umhang aus gewobenem Sternenlicht behielt er um die Schultern.
Der Heilkundige streifte das sonderbare Kleidungsstück mit einem schwer zu deutenden Blick - halb ehrfurchtsvoll, halb zweifelnd - und beugte sich dann über Kim, um ihn gründlich zu untersuchen. Wie Kim gesagt hatte, war er nicht verletzt, nicht ernstlich jedenfalls. Aber es gab unzählige kleine Kratzer und Schürfwunden, von den blauen Flecken und Prellungen ganz zu schweigen. Als die Finger des Alten sachkundig über seinen Körper glitten und einen winzigen Schmerz nach dem anderen abtasteten, wurde ihm erst bewußt, wie elend er sich die ganze Zeit gefühlt hatte.
»Trinkt dies«, murmelte der Alte, während er Kim eine flache Schale mit einer farblosen, scharfriechenden Flüssigkeit reichte. Kim hatte schon einige Kostproben der magischen Kräfte Märchenmonds und ihrer verblüffenden Heilwirkungen erhalten; er griff zu, ohne zu zögern.
»Ihr werdet jetzt schlafen«, sagte der Alte. »Und wenn Ihr erwacht, werden die Schmerzen verschwunden sein, und Ihr werdet Euch besser fühlen.«
Kim leerte die Schale und reichte sie zurück. Der Trank wirkte fast augenblicklich. Kims Glieder wurden schwer, und die vielen stechenden und pochenden Schmerzen in seinem Körper wichen einer wohltuenden Müdigkeit.
Der Heilkundige erhob sich. Kim wollte noch etwas sagen, aber seine Zunge war zu schwer. Er rollte sich auf die Seite, schloß die Augen und spürte noch, wie jemand lautlos an sein Bett trat und eine Decke über ihn breitete. Dann glitt er hinüber in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Die Sonne war untergegangen, als ihn Themistokles weckte. Kim stemmte sich hoch, blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und schwang die Beine vom Bett. Er war der letzte, alle anderen waren längst aufgestanden und hatten ihre Kleider wieder angelegt. Einige saßen an der Tafel und aßen schweigend.
»Es wird Zeit«, sagte Themistokles. »Der Rat der Weisen tritt zusammen. Wir sollten ihn nicht unnötig lange warten lassen.«
Kim stand auf und begann sich anzukleiden. Seine Rüstung war in der Zwischenzeit gereinigt worden. Das schwarze Metall schimmerte wieder wie neu, und auch die unzähligen Beulen und Kratzer waren entfernt. Neben der Rüstung lehnte ein großer, hölzerner Schild an der Wand. Kim griff danach und drehte ihn bewundernd in den Händen. Er war fast so groß wie er selbst, aus zweifingerdickem Holz gearbeitet und mit kunstvoller Einlegearbeit verziert; sie zeigte eine Taube und einen Raben, die nebeneinander auf einem Ast hockten. Trotz seiner Größe schien der Schild nahezu gewichtslos.
»Ein Geschenk von Prinz Priwinn«, sagte Themistokles, als er Kims bewundernden Blick sah.
Kim runzelte die Stirn. »Ein Geschenk?« sagte er. »Für mich?« Eigentlich hatte er den Eindruck gehabt, daß Priwinn ihn nicht besonders mochte.
»Wir sprachen über dich, während du schliefst«, erklärte Themistokles. »Priwinn mag ein stolzer und eigenwilliger Junge sein, aber er achtet Mut und Tapferkeit. Als er gehört hat, wie du hierhergekommen bist, änderte er seine Meinung über dich. Ich soll dich von ihm grüßen. Aber nun komm. Du mußt hungrig wie ein Löwe sein. Iß, und dann gehen wir.«
Kim stellte den Schild bedauernd in die Ecke zurück und setzte sich an die Tafel. Erst als er den ersten Bissen im Mund hatte, merkte er, wie hungrig er war.
Themistokles wartete geduldig, bis Kim fertiggegessen hatte. Dann erhob er sich rasch und bedeutete Kim, ihm zu folgen. Kim stellte verwundert fest, daß alle anderen am Tisch sitzen blieben.
»Kommen deine Männer nicht mit?« fragte er.
»Nein. Der Rat der Weisen empfängt nur mich. Und dich«, fügte der Zauberer hastig hinzu. »Und nun komm.«
Zwei braungekleidete Steppenreiter nahmen sie draußen in Empfang. Ihre Führer geleiteten sie durch einen langen, nur trübe erleuchteten Gang bis zu einer Treppe, die an der Außenseite der Festung hinunterführte und zur Steppe hin offen war, so daß ihnen der kühle Wind und der Geruch des Grases entgegenwehten. Sie stiegen fast bis zum Erdboden hinab, kehrten durch eine niedrige Tür ins Innere Caivallons zurück und gingen einen weiteren niedrigen Gang entlang. Wieder fühlte sich Kim an Morgon erinnert. Er fragte Themistokles danach, der sichtlich mit der Antwort zögerte.
»Es stimmt, Kim«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang bedrückt. »Morgon wurde nach dem Vorbild Caivallons erbaut. Du mußt wissen, daß Boraas lange Zeit beim Steppenvolk gelebt hat, ehe er sich vollends von uns abwandte und die Schattenberge sich hinter ihm schlossen - wie wir glaubten, für immer. Das erklärt wohl auch, warum dieses stolze Volk so verbittert ist.«
»Du meinst, sie geben sich die Schuld an dem Unglück, so wie du?«
Themistokles schüttelte den Kopf. »Nein, Kim. Sie wurden enttäuscht. Boraas war ihr Herrscher. Sie verehrten und liebten ihn, und sie schenkten ihm ihr Vertrauen. Aber er enttäuschte sie. Er betrog und belog sie. Ich glaube, kein Volk hätte es ohne Haß und Bitterkeit verwunden, so hintergangen zu werden.«
Kim hätte gerne noch mehr erfahren, aber sie waren mittlerweile bei einer hohen, geschlossenen Tür angelangt. Ihre beiden Führer traten beiseite. Die Tür schwang lautlos nach innen.
Der Rat der Weisen... Kim hatte sich keine klare Vorstellung gemacht, was darunter zu verstehen sei. Und doch gab es in seinem Unterbewußtsein ein halbfertiges, skizzenhaftes Bild, das mit diesem Begriff zusammenhing. Nun stellte er überrascht fest, daß es sich fast haarscharf mit der Wirklichkeit deckte. Der Raum war groß und leer bis auf einen schweren, runden Tisch in der Mitte, um den sich ein gutes Dutzend Männer versammelt hatte. Die meisten von ihnen waren alt und weißhaarig - Greise, wie man sich weise Männer eben vorzustellen pflegt; aber es gab auch ein paar jüngere darunter, Männer in den besten Jahren ihres Lebens. Zu Kims Erstaunen saß auch Prinz Priwinn in einem der hochlehnigen Stühle.
Verwundert wandte Kim sich zu Themistokles. Der Magier winkte ab, aber durch die Reihe der um den Tisch Versammelten ging ein Murren. Als Kim dem zornigen Blick Priwinns begegnete, stellte er erschrocken fest, daß er anscheinend laut gedacht hatte.
Kim schaute verlegen zu Boden. Themistokles legte ihm die Hand auf die Schulter und schob ihn vor sich her zum Tisch. Zwei der Stühle waren leer. Sie setzten sich und warteten.
»Deine Verwunderung ist uns nicht entgangen, Kim«, sagte eine tiefe Stimme. Kim sah auf und blickte ins Gesicht eines großen, dunkelhaarigen Mannes, der auf der anderen Seite der Tafel zwischen Priwinn und einem weißhaarigen Alten saß und ihn ernst, doch nachsichtig ansah. »Ich verstehe dein Befremden, ein Kind im Rat der Weisen zu entdecken.« Er lächelte, als Priwinn bei dem Wort »Kind« zusammenzuckte. »Du erwartest eine Runde greiser Männer«, sagte er, »aber du bedenkst nicht, daß es nicht nur die Weisheit des Alters ist, die unsere Geschicke leitet. Die Alten mögen Erfahrung und Abgeklärtheit besitzen, doch damit allein ist es nicht getan. Die Welt braucht das Ungestüm der Jugend, das uns fehlt, genauso wie die Weisheit, die erst im Alter erworben wird. Nur beide zusammen ergeben das rechte Maß, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Der eine mag Dinge erkennen, die der andere nicht mehr - oder noch nicht - versteht.« Er lächelte wieder, lehnte sich zurück und sah Themistokles an. »Aber nun zum Grund Eures Kommens, Herr von Gorywynn«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Mein Sohn berichtete mir, daß Ihr bei einem Zusammenstoß mit schwarzen Reitern schwere Verluste erlitten habt!«
Themistokles antwortete nicht sofort. Er schien jedes Wort genau zu überlegen, ehe er es aussprach.
»Das stimmt, Harkvan. Doch wir sind nicht deswegen hier. Verzeiht meine Direktheit, aber uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Vielleicht gar keine mehr. Ich kam, um Eure und die Hilfe Eures Volkes zu erbitten.«
Er machte eine abwartende Pause, doch Harkvan forderte ihn auf weiterzusprechen.
»Märchenmond droht große Gefahr«, fuhr Themistokles fort, »eine größere, als wir noch vor wenigen Tagen angenommen haben. Nur mit vereinten Kräften können wir ihr vielleicht begegnen.«
»Ihr sprecht von den schwarzen Reiterhorden?«
»Es handelt sich nicht um vereinzelte Horden, die da und dort das Land unsicher machen, Harkvan. Es ist etwas geschehen, womit niemand gerechnet hat. Das heißt - eigentlich sind zwei Dinge geschehen. Boraas hat mit seinem gesamten Heer das Gebirge überschritten; das ist die eine Sache. Der große Angriff wird bald erfolgen.«
»Wir wissen das«, mischte sich der weißhaarige Mann neben Harkvan ein. »Auch unser Volk hat das Schwert der schwarzen Reiter bereits zu spüren bekommen. Aber sei unbesorgt, Themistokles. Der Preis, den sie für ihren Überfall bezahlten, war hoch. Boraas wird es sich gut überlegen, noch einmal so etwas zu wagen. Das nächste Mal sind wir gewarnt.«
»Das mag sein. Aber das nächste Mal wird nicht eine Handvoll Reiter, sondern ein ganzes Heer angreifen. Es wird Krieg geben.«
»Ihr vergeßt, Herr von Gorywynn, daß Boraas wie kein zweiter weiß, wie stark Caivallon ist. Wir fürchten uns nicht, und mag er auch mit tausend Reitern angreifen...«
»Er wird nicht mit tausend Reitern angreifen«, fiel ihm Kim ins Wort. Er konnte sich einfach nicht länger zurückhalten, auch wenn es sicher eine ungeheure Frechheit war, den alten Mann zu unterbrechen. »Es werden nicht tausend Reiter kommen«, wiederholte er mit Nachdruck, »sondern zehntausend, vielleicht hunderttausend.«
Zwischen Harkvans Brauen erschien eine steile Falte. »Es wäre besser, wenn du schweigst, solange...«
»Aber ich weiß, wovon ich rede«, ereiferte sich Kim. Themistokles warf ihm einen warnenden Blick zu. Doch Kim sprach unbeirrt weiter. »Verzeiht meine Unverschämtheit, hohe Herren. Aber Ihr scheint keine Ahnung von der Größe der Gefahr zu haben. Ich war drüben, im Reich der Schatten, und ich habe mit Boraas das Gebirge überwunden. Caivallon mag mächtig sein, aber Boraas' Reiter werden es überrennen wie eine Flutwelle, die eine Insel überspült.«
Er hielt inne und wartete auf das Donnerwetter, das nun wahrscheinlich losbrechen würde. Aber zu seiner Verwunderung sagte niemand in der Runde etwas.
Themistokles legte Kim die Hand auf die Schulter. »Die Worte meines jungen Freundes sind leider nur zu wahr, Harkvan«, sagte er.
»Und was erwartet Ihr von uns?« fragte Harkvan nach kurzem Schweigen.
»Eure Hilfe«, wiederholte Themistokles kurz und bündig.
Harkvan schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich will ehrlich zu Euch sein, Themistokles. Die Kunde von Eurem Kommen ist Euch vorausgeeilt. Ihr habt viele Länder und Städte bereist.«
»Ich bat um Hilfe«, nickte Themistokles.
»Ihr meint Krieger«, warf Priwinn ein.
Themistokles seufzte. »Die meine ich, Prinz. Wir allein sind schwach, aber ich habe Verbündete gefunden. Gemeinsam könnten wir stark sein. Ich setzte große Hoffnung auf Euch und Euer Volk. Jedermann weiß, wie stark die Steppenreiter sind...«
»Eure Rede«, unterbrach ihn Harkvan, »klingt seltsam, Themistokles, angesichts dessen, was Euer Begleiter berichtet hat. Wie können wir Euch Krieger geben, wenn wir selbst bedroht sind? Wie kann ich tausend meiner besten Reiter entbehren, wenn Boraas mit seinem so mächtigen Heer Caivallon angreifen wird? Ihr verlangt von mir, daß ich meine Männer mit Euch sende und Caivallon ungeschützt zurücklasse?« Er unterbrach sich mit einer beredten Geste. »Denkt an die Frauen und Kinder, Themistokles.«
»Eben an sie denke ich. Und ich weiß auch, daß Ihr nicht einen Mann entbehren könnt.«
»Ich verstehe Euch nicht...«
»Ihr müßt«, Themistokles sah Harkvan fest an, »Ihr müßt Caivallon verlassen.«
Wäre er aufgesprungen und hätte Harkvan ein Messer in die Brust gestoßen, der Schock hätte nicht größer sein können. Sekundenlang sagte keiner ein Wort. Dann stand Harkvan auf.
»Ihr verlangt von uns...«
»Daß ihr Caivallon verlaßt«, bestätigte Themistokles. »Ja. Ihr seid stark, Harkvan, aber gegen Boraas' Heer könnt selbst ihr euch nicht halten. Nehmt eure Frauen und Kinder und kommt mit mir. Gorywynn hat Platz für euch alle.«
»Du redest wirr, alter Mann«, fuhr Priwinn auf. Seine Augen flammten vor Zorn. »Seit ungezählten Generationen sichert Caivallon als Bollwerk im Osten das Reich nach Westen, und noch nie sind wir vor einem Gegner geflohen. Noch nie.«
»Es ist auch noch nie ein Gegner aufgetaucht, der so stark war wie Boraas.«
Priwinn winkte verächtlich ab. »Boraas ist nichts als ein alter, böser Zauberer«, sagte er. »Wir haben keine Angst vor ihm.«
»Auch nicht...« sagte Themistokles mit bewußtem Zögern, »vor dem Schwarzen Lord?«
Priwinn erstarrte. »Was... sagt Ihr da?«
»Ich sprach von zwei Dingen, die geschehen sind«, sagte Themistokles und betonte jedes Wort. »Dies ist das zweite: Boraas ist nicht allein gekommen. In seiner Begleitung befindet sich der Schwarze Lord. Ihr alle wißt, was sein Erscheinen bedeutet.«
»Ein Märchen«, sagte Priwinn unsicher. »Eine alte Sage, wie man sie kleinen Kindern erzählt...«
»Und doch ist sie wahr«, sagte Themistokles hart. »Ihr kennt diese Sage, und Ihr kennt auch die Prophezeiung, die sie beinhaltet.«
»Aberglaube. Niemand hat diesen Schwarzen Lord jemals gesehen.«
»Doch«, sagte Kim leise. »Ich.«
Priwinns Augen wurden rund vor Erstaunen. »Du hast ihn gesehen?«
Kim nickte. »Zweimal. Ich wußte damals noch nicht, wer er war, und ich kannte auch die Prophezeiung nicht, die sich um sein Erscheinen rankt. Aber ich habe ihn gesehen.«
»Du mußt dich getäuscht haben«, warf Harkvan ein. »Vielleicht hast du einen anderen Krieger gesehen. Baron Kart...«
»Ich kenne Baron Kart. Der, den ich gesehen habe, war der Schwarze Lord und kein anderer. Es mag mir nicht zustehen, zu sagen, was Ihr zu tun habt, aber Ihr solltet Themistokles' Rat befolgen und uns nach Gorywynn begleiten.«
»Unsinn«, zischte Priwinn. »Caivallon...«
»Wird fallen!« unterbrach ihn Kim. »Ich war drüben, Priwinn, ich habe das feindliche Heer gesehen, mit eigenen Augen.«
»Das mag sein«, sagte Harkvan ruhig. »Doch du kannst nicht verstehen, was allein der Gedanke, Caivallon zu verlassen, für unser Volk bedeutet. Caivallon ist nicht irgendein Ort. Es ist unser Zuhause, unser Leben. Wir könnten es niemals aufgeben.«
»Ich glaube, ich verstehe sehr gut, was Ihr meint«, sagte Kim geduldig. »Aber vielleicht ist die einzige Chance, Caivallon zu retten, es aufzugeben; vielleicht nur für kurze Zeit. Boraas' Heer wird Caivallon stürmen, und...«
»Er wird es versuchen«, sagte Priwinn. Aus seiner Stimme sprach mehr Trotz als wirkliche Überzeugung. »Caivallon wurde noch nie erobert, und es wird niemals erobert werden. Wir fürchten uns nicht, Kim. Vor niemandem. Auch nicht vor Boraas und dem Schwarzen Lord.«
Kim seufzte. »Manchmal«, sagte er, »gehört mehr Mut zum Fliehen als zum Ausharren, Priwinn. Ich selbst bin geflohen und weiß, wovon ich spreche. Ihr würdet ein sinnloses Opfer bringen, wenn ihr bleibt.«
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun?« fragte Priwinn mit zitternder Stimme. »Davonlaufen und uns wie die Hasen jagen lassen?«
»Nein«, antwortete Themistokles an Kims Stelle. »Ihr seid noch jung, Prinz Priwinn. Aber irgendwann werdet Ihr begreifen, daß es kein Zeichen von Feigheit ist, vor einer Gefahr zu fliehen, der man nicht widerstehen kann. Ihr und alle Eure Männer würdet sterben, ohne Boraas' Heer entscheidend aufzuhalten. Nur in Gorywynn seid ihr sicher. Nur gemeinsam haben wir eine Chance.«
»Ihr widersprecht Euch mit jedem Wort«, sagte Harkvan. »Wenn wir Euren und den Worten Eures Begleiters Glauben schenken, so rettet uns auch Gorywynn nicht mehr vor dem Schwarzen Lord. Ihr kennt die Prophezeiung so gut wie ich, Themistokles. Märchenmond wird untergehen, wenn der Schwarze Lord erscheint.« Er sah die Mitglieder des Rates der Weisen der Reihe nach an. »Ich bin euer Herrscher, aber hier, im Rat, zählt meine Stimme nicht mehr als die jedes anderen. Ihr kennt meine Meinung, aber es steht jedem frei, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Deshalb werden wir abstimmen. - Möchte noch jemand etwas sagen?«
Kims Herz begann vor Aufregung zu klopfen. Er blickte in die Gesichter der Männer, und er wußte, welche Entscheidung sie treffen würden. Er gab sich einen Ruck und stand auf.
»Ich möchte noch etwas sagen«, sagte er.
Harkvan nickte. »So sprich.«
Kim holte tief Luft. Er fühlte alle Augen auf sich gerichtet und konnte nicht verhindern, daß ihm die Knie ein wenig zitterten.
»Hohe Herren«, begann er unsicher. »Ich weiß, wie schwer die Entscheidung ist, die Themistokles von Euch verlangt. Ich habe Euer Schloß gesehen und verstehe sehr gut, was es für Euch bedeuten muß, Eure Heimat, Euer Zuhause aufzugeben. Aber ich weiß auch, wie unvergleichbar groß die Gefahr ist, die Euch und allen Bewohnern dieses Landes droht. Prinz Priwinn wird Euch berichtet haben, was ich erlebt habe, so daß ich es nicht wiederholen muß. Als einziger von Euch war ich drüben, auf der anderen Seite der Berge. Ich habe Morgon gesehen, das Reich der Schatten und die Wesen, die dort wohnen. Ich kann Euch nicht sagen, wie groß Boraas' Heer ist. Ich bin kein großer Kriegsherr, und ich verstehe nichts von Taktik. Vielleicht gelingt es Euch wirklich, den Feind zurückzuschlagen. Vielleicht halten Caivallons Mauern sogar dem Ansturm der schwarzen Horden stand - dies mögen andere beurteilen. Aber ich habe das Land dort drüben gesehen, und ich habe mit Menschen gesprochen, die unter Boraas' Herrschaft stehen. Ich habe gesehen, was er aus dem blühenden Land gemacht hat, was aus seinen Wäldern, den Flüssen und Seen geworden ist. Vielleicht könnt Ihr Caivallon halten, aber Ihr werdet Boraas nicht daran hindern können, dieses Land ebenso zu zerstören und mit ihm ganz Märchenmond. Ihr werdet zusehen müssen, wie Boraas Eure Steppen verbrennt, wie seine Reiter Eure Wiesen zertrampeln, wie sich Märchenmonds Wälder in finstere Dschungel und seine Seen in stinkende Tümpel verwandeln. Vor Euren Augen werden sich Tod und Verwesung über das Land breiten. Hunger und Not und Angst werden herrschen, wo jetzt von Glück und Zufriedenheit in den Häusern der Menschen wohnt. Ihr selbst aber werdet Gefangene in Eurem eigenen Schloß sein.« Er schwieg und sah in die Runde. Die Mienen der Männer waren bewegungslos. Nur in Priwinns Augen blitzte es spöttisch.
Mit einem zornigen Ruck drehte Kim sich um, verließ den Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Noch ehe er sich selbst über sein unbeherrschtes Handeln klar war, öffnete sich die Tür wieder. Themistokles war ihm gefolgt. Die beiden Wachen geleiteten sie zurück auf ihr Zimmer.
»Ich fürchte, ich habe alles verdorben«, sagte Kim niedergeschlagen. »Aber ich konnte einfach nicht anders. Ich...«
»Deine Rede hat den Rat tief beeindruckt«, ermutigte ihn Themistokles. »Jedes Wort, das du gesagt hast, war richtig.«
»Und was geschieht jetzt?«
»Sie beraten«, antwortete Themistokles. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Sicher jedoch länger, als wir warten können«, fügte er hinzu. »Wir brechen noch heute nach Gorywynn auf. Harkvan wird uns die Entscheidung des Rates durch einen Boten übermitteln.«
»Und was glaubst du, wie sie ausfallen wird?«
Themistokles zuckte die Achseln. »Das ist schwer zu sagen. Nicht alle im Rat denken wie Priwinn. Und ich hoffe, daß die Vernunft am Ende siegen wird. Im Grunde hast du nur ausgesprochen, was sie alle bereits gewußt haben.«
Kim trat ans Fenster und blickte auf die friedlich daliegende Steppe hinaus. Ein strahlender Vollmond stand am Himmel und übergoß die Landschaft mit silbernem Licht.
»Wann werden wir Gorywynn erreichen?« fragte er.
»Schon morgen.« Themistokles stellte sich neben ihn. Er deutete auf den Fluß. Wenn man genau hinhörte, konnte man das Rauschen der Wellen bis hier herauf hören. »Harkvan hat mir angeboten, uns ein Floß zur Verfügung zu stellen. Der Weg nach Gorywynn ist weit, aber der Verschwundene Fluß strömt sehr schnell.«
Kim spürte leises Bedauern in sich aufsteigen. Er hätte gern mehr von Caivallon gesehen. Aber er sah ein, daß die Eile begründet war.
Es dauerte nicht lange, und eine Abordnung Steppenreiter erschien, um sie abzuholen.
Sie verließen Caivallon, ohne noch einmal zurückzublicken. Die Reiter schwangen sich in die Sättel ihrer Einhörner. Kim hielt nach Junge Ausschau und entdeckte ihn allein, an einen Pfahl dicht neben dem Tor angebunden. Kim verdrängte seinen aufsteigenden Ärger. Es war nur zu verständlich, daß die Bewohner Caivallons allem, was die Farbe des Feindes trug, Mißtrauen entgegenbrachten.
Schweigend ritten sie durch das Tor, wandten sich nach Süden und näherten sich langsam, aber stetig dem Fluß.