Das Floß bestand aus roh miteinander verknüpften Schilfmatten, und es war so groß, daß die zehn weißen Reiter und die vier Steppenleute, die das Ruder bedienten, auf ihm wie verloren wirkten. Der Boden schaukelte und schwankte, und unter den Hufen der Tiere drang überall schäumendes Wasser durch das Geflecht. Die Ruderer dirigierten das Floß in die Flußmitte, banden sodann das Ruder fest und überließen das Floß der Strömung. Sie nahmen rasch Fahrt auf. Bald huschte das Ufer so schnell an ihnen vorüber, daß seine Konturen verschwammen. Und sie wurden immer noch schneller.
Kim stieg vom Pferd, legte Helm und Schwert auf seinen Schild und balancierte auf dem schwankenden Floß zu Themistokles hinüber, der im vorderen Teil des Floßes im Kreise seiner Begleiter am Boden saß und mit gedämpfter Stimme redete. Er lächelte Kim flüchtig zu und deutete mit einer einladenden Handbewegung neben sich. »Setz dich, Kim. Es ist noch lange bis Gorywynn, und wir können sowieso nichts tun.«
Kim setzte sich. Der Fluß rauschte unter ihnen dahin, und ab und zu überschüttete eine große Bugwelle das Floß mit Wasserzungen und weißem, flockigem Schaum, so daß Kim in Kürze bis auf die Haut durchnäßt war. Sein Blick fiel auf Gorg und Kelhim. Plötzlich fiel ihm ein, daß er die beiden nicht mehr gesehen hatte, seit sie Caivallon betreten hatten. Der Riese wirkte ernst und verschlossen.
Themistokles las Kim seine Frage von den Augen ab. »Gorg wollte unbedingt mitkommen«, sagte er. »Ich hätte es lieber gesehen, wenn er in Caivallon geblieben wäre. Aber er hat darauf bestanden, dich zu begleiten.«
»Mich?«
Gorg bemühte sich zu flüstern, dennoch dröhnte seine Stimme über das ganze Floß. »Natürlich. Glaubst du, ich habe all die Mühe auf mich genommen, um dann bei diesem verstockten Harkvan zu bleiben, während dir wer weiß was passiert?«
»Vielleicht«, meinte Themistokles mit einem wissenden Lächeln, »hat Gorg vergessen, es dir zu erzählen. Er begleitet dich schon, seit du die Taks verlassen hast.«
»Dann... hast du mich die ganze Zeit über beobachtet?«
»Beide«, verbesserte Themistokles. »Gorg und Kelhim trennen sich nie.«
Kim sagte eine Weile gar nichts. Dann stand er unvermittelt auf und trat erst dem Riesen und dann Kelhim, die am Boden saßen, so kräftig in den Hintern, daß ihm noch eine halbe Stunde später der Fuß weh tat.
Die ganze Nacht und noch bis in den frühen Morgen hinein schoß das Floß den Verschwundenen Fluß hinunter. Kim wollte Themistokles fragen, warum der Fluß so hieß, aber er war zu müde. Das ständige Schaukeln und Rauschen der Wellen schläferte ihn ein. Er erwachte erst bei Anbruch der Dämmerung, als ihn Themistokles sanft an der Schulter rüttelte. Kim schrak hoch und blinzelte verwirrt, ehe sich seine Gedanken klärten und er wieder wußte, wo er war.
»Sind wir da?« fragte er.
»Fast.« Themistokles richtete sich auf und zeigte mit der ausgestreckten Hand flußabwärts. »Sieh, Kim. Gorywynn.« Der Fluß beschrieb vor ihnen eine sanfte, langgezogene Windung und mündete dann in einen See. Und am anderen Ufer, etwas zwei bis drei Kilometer voraus, lag Gorywynn. Der Anblick verschlug Kim die Sprache.
Er hatte gewußt, daß Gorywynn schön war. Aber die Wirklichkeit übertraf all seine Erwartungen.
Gorywynn lag auf einer langgestreckten, sichelförmigen Landzunge, die sich wie ein gekrümmter Finger weit in den See hinaus erstreckte. Im ersten Moment mußte Kim an einen gigantischen, schimmernden Edelstein denken, als er das Märchenschloß betrachtete. Gorywynns Türme erhoben sich unendlich weit in den wolkenlosen Himmel, und seine Mauern ragten so hoch über den silbern schimmernden See hinaus, daß ihre Kronen und Gesimse kaum mehr zu erkennen waren. Das Sonnenlicht brach sich in unzähligen blitzenden Reflexen an den gläsernen Wällen der Burg, und wenn Kim den Kopf bewegte, schien ein wahres Feuerwerk aus Farben vor seinen Augen zu explodieren. Weiße Vögel kreisten, winzig klein dort oben, um die wolkenverhangenen Spitzen der Türme, und auf dem See manövrierte eine Flotte kleiner hölzerner Boote mit bunten Segeln.
Das Floß schoß auf der schäumenden Strömung in den See hinaus und nahm Kurs auf die Mauern der Burg.
Kim riß sich von dem phantastischen Anblick los und ging zu seinem Pferd zurück. Die übrigen waren schon aufgesessen und warteten nun mit offensichtlicher Ungeduld, daß das Floß das andere Ufer erreichte. Die Wucht des in den See schießenden Wassers trug sie rasch bis weit über seine Mitte hinaus, erst dann verlor die Strömung allmählich an Kraft. Eine große Zahl der Boote, die auf dem See kreuzten, hatte Kurs auf sie genommen, und als das Floß langsamer wurde, wurden ihnen Seile und Haken zugeworfen und diese an dem Floß befestigt. So legten sie das letzte Stück bis Gorywynn im Schlepp der kleinen, schnellen Boote zurück.
Die gläsernen Mauern der Burg teilten sich vor ihnen, und sie liefen in einen kleinen, nach drei Seiten von flachen Kaianlagen umschlossenen Hafen ein. Kim hatte ein großes Begrüßungskomitee erwartet, aber es standen nur drei weißgekleidete Männer am Ufer, als das Schilffloß anlegte.
Themistokles ritt als erster auf seinem Einhorn an Land. Er wechselte ein paar Worte mit den drei Männern, winkte die anderen an sich vorbei und Kim zu sich heran, als dieser das Floß verließ. »Eigentlich«, sagte er, »hätte ich mir gewünscht, zu deinem Empfang ein großes Fest zu geben. Aber während meiner Abwesenheit sind Dinge geschehen, um die ich mich ohne Aufschub kümmern muß.«
Kim blickte in die Gesichter der drei Männer, mit denen Themistokles gesprochen hatte. Es waren keine guten Nachrichten, die sie ihm überbracht hatten; das war unschwer an ihren Mienen zu erkennen.
»Wir werden heute abend nachholen, wozu jetzt keine Zeit ist«, fügte Themistokles hinzu. »Aber nun muß ich dich für eine Weile allein lassen, Kim. Meine Leute werden sich um dein Roß kümmern.« Er winkte, und einer der Männer griff nach dem Zügel des Rappen und führte ihn weg, sobald Kim aus dem Sattel gestiegen war.
»Bis später«, sagte Themistokles zum Abschied. »Sieh dir in der Zwischenzeit alles an. Gorywynn wird dir gefallen.« Damit lenkte er sein Einhorn herum und sprengte davon.
Kim blickte ihm irritiert nach. Es war sonst nicht Themistokles' Art, sich so flüchtig zu verabschieden. Irgend etwas mußte geschehen sein.
Ein großer dunkler Schatten fiel auf den schimmernden Steinboden zu seinen Füßen. Kim sah auf und erkannte Gorg, den Riesen. Wie immer begleitet von Kelhim. Der Bär hatte sich auf alle viere niedergelassen. Sein Kopf befand sich etwa auf gleicher Höhe mit Kims Gesicht.
»Eigentlich«, brummte Kelhim, »ist er gar nicht so groß, wenn er nicht auf dem schwarzen Klepper sitzt.«
Gorg nickte mit todernstem Gesicht. »Man sollte kaum glauben, daß das Bürschchen es gewagt hat, mich zu treten.« Er legte die Hände auf sein Hinterteil und verzog die Lippen, als spüre er Kims Fußtritt noch immer. »Gestern abend«, fuhr er mit einem Seitenblick auf den Bären fort, »hatte er ja Mut. Aber da war ja auch Themistokles dabei. Jetzt ist er allein, nicht wahr?«
Kim sah sich schnell um. Gorg hatte recht. Mit Themistokles waren auch seine Männer verschwunden, und das letzte Boot glitt soeben durch die schmale Einfahrtsrinne auf den offenen See hinaus. Er war allein mit den beiden ungleichen Freunden.
»Eine gute Gelegenheit, ihm den Tritt heimzuzahlen, nicht?« knurrte Kelhim. Kim wich einen Schritt zurück.
Gorg stellte sich ihm in den Weg und beugte sich drohend herunter. »Nun?« dröhnte er. »Bist du noch immer so mutig wie gestern?«
Kim reckte kampflustig das Kinn. »Noch einmal falle ich nicht auf eure dummen Scherze herein«, sagte er. »Ihr habt mich lange genug an der Nase herumgeführt.«
»Vielleicht sollten wir sie ihm lieber langziehen, statt ihn daran herumzuführen«, brummte Kelhim. Er hob die rechte Tatze, als wollte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen.
Kim zeigte sich nicht im mindesten beeindruckt. »Hört mit dem Unsinn auf«, sagte er. »Verratet mir lieber, warum Themistokles es plötzlich so eilig hatte.«
»Das möchte ich selbst gerne wissen«, murmelte Gorg. »Wir wissen genausowenig wie du, Kim. Aber er wird uns schon alles sagen.« Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Nutzen wir die Zeit, Kelhim«, sagte er, »einen alten Freund aufzusuchen. Es ist Jahre her, daß ich Rangarig gesehen habe. Er wird sich über unseren Besuch freuen.«
Kelhim brummte zustimmend. »Kommst du mit?« fragte er Kim.
»Wer ist Rangarig?«
Gorg grinste breit. »Ein guter Freund von uns. Er wird dir gefallen, da bin ich sicher. Außerdem solltest du lieber in unserer Nähe bleiben. Es würde Themistokles gar nicht recht sein, wenn du dich verläufst.«
»Ich kann ganz gut auf mich aufpassen.«
»Das glaube ich dir. Aber Gorywynn ist groß. Man verirrt sich leicht hier, und dann kann es lange dauern, ehe man wieder auf dem rechten Weg ist.«
Kim legte den Kopf in den Nacken und blickte an den himmelstürmenden gläsernen Wänden der Burg empor. Gorg hatte recht - Gorywynn war gigantisch. Und er war so gut wie sicher, daß er sich innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos verirren würde, wenn er auf eigene Faust loszog. Aber er war es allmählich leid, von den beiden bemuttert zu werden. »Rangarig würde sich freuen, dich kennenzulernen«, betonte Gorg.
Kim überlegte noch einen Moment und zuckte dann die Achseln. »Von mir aus. Aber nur, wenn ihr mir versprecht, mir hinterher mehr von Gorywynn zu zeigen.«
»Du wirst unterwegs schon genug zu sehen kriegen«, brummte der Bär. »Rangarig wohnt auf der anderen Seite des Schlosses. Und nun komm.«
Er drehte sich um und trottete vor Gorg und Kim eine breite, gläserne Treppe hinauf. Dahinter lag ein hoher, heller, sonnendurchfluteter Gang, der auf eine geschwungene Freitreppe hinausführte. Kelhim hatte nicht übertrieben. Kim bekam wirklich gleich eine Menge von Gorywynn zu sehen und war von der Herrlichkeit dessen, was er sah, überwältigt. Gorywynn war wie ein phantastischer, in tausend Facetten schimmernder Edelstein. Man konnte sich kaum vorstellen, daß dieses Wunder von Menschenhand erschaffen worden war. Alles war hier strahlend und hell, und wo das goldene Sonnenlicht nicht hingelangte, sorgten Fackeln und ein Meer brennender Kerzen für ein Farben- und Lichterspiel ohnegleichen. Überhaupt schienen sämtliche Räume, die sie durchquerten, alle Flure und Treppen und Gänge nur aus Farben und Licht zu bestehen.
Und Gorywynn war voller Leben. Überall waren Menschen. Ihrer Kleidung und ihrem Aussehen nach, aber auch aus den Gesprächsfetzen zu schließen, die Kim von Zeit zu Zeit auffing, mußte es sich um Angehörige der verschiedensten Völker handeln. Gorg erklärte ihm, daß all diese Menschen bereits Themistokles' Aufruf gefolgt und aus ihren Heimatländern herbeigeeilt waren, um Gorywynn gegen den erwarteten Ansturm des schwarzen Heeres zu verteidigen. Kims Laune verdüsterte sich, als er dies hörte. Gorywynn war ein Märchenschloß, ein funkelndes Juwel der Freude und des Friedens. Aber der Krieg hatte schon seine Klauen nach ihm ausgestreckt.
Nachdem sie das Schloß in seiner ganzen Länge durchquert hatten, erreichten sie einen großen, von steinernen Mauern umsäumten Hof. Kelhim hieß Gorg und Kim warten und verschwand mit langen Sprüngen in einem hohen, bogenförmigen Durchgang auf der anderen Seite des Hofes. Sekundenlang blieb es still. Dann erscholl hinter dem Tor ein so markerschütterndes Brüllen und Fauchen, daß Kim entsetzt nach einem Fluchtweg ausschaute.
Das Gebrüll wiederholte sich, und Kelhim tauchte - in wilder Flucht, wie es schien - wieder im Eingang auf. Dicht gefolgt von einem riesigen goldenen Drachen.
Kim schrie erschrocken auf, als er sah, wie der schuppige Kopf des Ungeheuers auf Kelhim herunterstieß. Sein Rachen klappte auf und gewährte Kim einen furchterregenden Blick auf eine Doppelreihe armlanger spitzer Zähne. Kelhim wich einem Prankenhieb aus, versuchte hakenschlagend aus der Reichweite des Drachen zu gelangen und purzelte dann in einer mächtigen Staubwolke davon, als der Drache herumfuhr und ihn mit einem Zucken seines gewaltigen Schwanzes von den Füßen fegte.
»Rangarig!« brüllte Gorg hinter ihm so laut, daß Kim schmerzhaft das Gesicht verzog und sich die Ohren zuhielt. Der Drache erstarrte, drehte den mächtigen Schädel und sah erst den Riesen, dann Kim mit seinen schrecklichen roten Augen an. Dumpfes Grollen drang aus seiner Brust, als er sich quer über den Hof heranschob.
»Gorg!« Er schob sich näher, hielt unmittelbar vor Kim an und stupste den Riesen spielerisch vor die Brust. Gorg taumelte zurück, krachte zu Boden und lachte schallend. »Es ist lange her, daß wir einander gesehen haben. Um so mehr freut es mich, euch gleich beide zu treffen. Noch dazu«, fügte er hinzu, während das Maul wie ein Scheunentor vor Kim aufklappte, »wo ihr mir einen so knackigen Leckerbissen mitgebracht habt!«
Kim sprang kreischend zurück und stolperte über Rangarigs Schwanzspitze, die wie eine Schlange vorgezuckt war und sich um seine Beine wand.
»Na, na«, grollte der Drache. »Wer wird denn gleich weglaufen. Ich will dir ja schließlich nicht weh tun. Ein kleiner Haps, und du bist weg...«
Kim schlug entsetzt die Hände vors Gesicht. Der Drachenschwanz löste sich von seinen Beinen. Aber Kim war starr vor Schreck, so daß er keinen Muskel rühren konnte.
Gorg hielt sich den Bauch vor Lachen.
»Laß gut sein, Rangarig«, grölte er. »Den gleichen Scherz hat Kelhim schon mit ihm getrieben.«
Rangarig fauchte enttäuscht, hob den Kopf und kroch ein paar Meter zurück. Seine Flanken blitzten unter den schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf, als wären sie mit flüssigem Gold überschüttet.
»Du bist also Kim«, knurrte er, nachdem Kim sich einigermaßen erfangen und in eine sitzende Position hochgearbeitet hatte. »Der große, prächtige, tapfere, starke, kluge Kim. Tztztz. Themistokles hat viel von dir erzählt. Aber ich muß gestehen, ich habe mir dich größer vorgestellt.«
»Ich... äh... nun...« stotterte Kim. Er schüttelte den Kopf und stand erst einmal ganz auf. »Ich weiß zwar nicht, was Themistokles über mich erzählt hat«, fügte er ärgerlich hinzu, »aber in letzter Zeit glaubt hier wohl jeder, mich zur Zielscheibe seiner albernen Witze machen zu können.«
Rangarig kroch noch ein Stück zurück, schlug mit dem Schwanz auf den Boden und legte das Kinn auf die Vorderfüße. Seine Augen befanden sich nun auf gleicher Höhe mit Kims Gesicht.
»Du bist also Kim«, wiederholte er. »Ich muß sagen, du hast dir einen ungünstigen Augenblick für deinen Besuch ausgesucht. Und ihr auch«, fügte er, zu Gorg und Kelhim gewandt, hinzu. »Ahhhrg, die Zeiten sind schlecht, sehr schlecht. Seit Wochen herrscht große Aufregung, und all die vielen Leute...« Er schüttelte den Kopf, daß seine Schuppen klirrten. »Nirgends hat man mehr seine Ruhe. Überall Menschen und Leute...«
Kim überlegte, welcher Unterschied wohl zwischen Menschen und Leuten bestehen mochte, aber Rangarig redete schon weiter.
»Für heute abend ist eine Versammlung anberaumt. Viele einflußreiche Männer sollen daran teilnehmen, aber ich fürchte, es wird nichts Gutes dabei herauskommen.« Er starrte Kim an, kniff ein Auge zu und murrte: »Hast du damit zu tun, kleiner Held?«
»Ich fürchte ja«, sagte Kim kleinlaut. »Zumindest indirekt. Ich wäre gern mit besseren Nachrichten zu euch gekommen...«
Rangarig seufzte. Es hörte sich an, als plumpsten schwere Steine aus großer Höhe ins Wasser. »Du trägst die Kleidung des Feindes, kleiner Held«, sagte er, »und doch gehörst du zu uns. Wie kommt das?«
»Es war die einzige Möglichkeit, Boraas zu entkommen«, antwortete Kim, dem die dauernden Anspielungen auf seine Kleidung allmählich auf die Nerven gingen.
»Du warst auf der anderen Seite des Schattengebirges?«
»Allerdings. Ich habe Boraas getroffen, und ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, seine Burg zu besichtigen. Einschließlich des Kerkers.«
»Seine Burg?« Rangarig brachte das Kunststück fertig, einen erstaunten Ausdruck auf sein furchterregendes Drachengesicht zu zaubern. »Du warst in Morgon?«
Kim nickte. »Und ich bin daraus entkommen. Aber das ist nicht allein mein Verdienst. Ich hatte Glück.«
»Du bist zu bescheiden. Es gehört mehr als nur Glück dazu, aus Morgon zu entwischen. Niemandem ist das bisher gelungen. Aber ich lese in dir, daß du die Wahrheit sprichst. Erstaunlich. Sehr erstaunlich, in der Tat.«
Kim erschrak. »Du liest meine Gedanken?«
»Nicht direkt«, mischte sich Kelhim ein, der sich inzwischen neben dem Drachen niedergelassen hatte. »Rangarig kann Gedanken ebensowenig lesen wie irgendein anderer. Aber er erkennt, ob jemand die Wahrheit sagt oder ob er lügt.«
»Eine nützliche Gabe«, nickte der Drache. »Hätte ich sie nicht, würde ich dich jetzt glatt für einen Lügner halten. Aber so...« Er machte noch ein paarmal »tztztz«, schüttelte den Kopf und gähnte. »Themistokles scheint nicht übertrieben zu haben, als er von dir erzählte. Er machte sich schwere Vorwürfe, dich in Gefahr gebracht zu haben, nachdem er dich gerufen hatte.«
»Ich weiß«, sagte Kim. »Aber er kann nichts dafür. Boraas hat mich in eine Falle gelockt.«
»Das glaubst du«, knurrte Rangarig. »Und Themistokles glaubt es wohl auch. Aber es stimmt nicht. Alles kam so, wie es kommen mußte.«
Kim blickte den Drachen scharf an. »Wie meinst du das?«
»Es gibt viele Wege, nach Märchenmond zu gelangen«, antwortete Rangarig ausweichend. »Aber kein Bewohner Märchenmonds - und auch kein Bewohner des Schattenreiches - vermag die Wege zu beeinflussen, die ein Mensch gehen muß, will er zu uns kommen. Es war ein Zufall, daß deine Flugmaschine über der anderen Seite des Schattengebirges abstürzte; ein Zufall, der Boraas sicher zupaß kam. Aber er hatte nichts damit zu tun.«
»Aber dann...«
»Erinnere dich an das, was Themistokles dir zu Anfang sagte«, unterbrach ihn der Drache sanft. »Jeder Mensch muß seinen eigenen Weg nach Märchenmond gehen. Nun, der Weg, den du gegangen bist, war der deine. Du hättest keinen anderen gehen können.«
Kim begriff nicht ganz.
»Du glaubst, das alles... Morgon, meine Flucht, die Begegnung mit dem Schwarzen Lord...«
»Gehörte zu deinem Weg. Ja. Es gibt tausend Wege, zu uns zu gelangen, und alle sind schwer, Kim. Dein Weg mag der schwerste gewesen sein, den je ein Mensch gegangen ist, aber er war nötig. Nur so konntest du begreifen, gegen welche Mächte wir alle zu kämpfen haben, und nur so konnten wir früh genug gewarnt werden.« Er seufzte wieder aus tiefster Drachenbrust. »Aber der Weg, der vor dir liegt, ist noch schwieriger«, prophezeite er. »Du wirst gewaltige Kraft benötigen, Kim. Mehr vielleicht, als ein einzelner aufbringen kann. Doch du kannst ihn meistern, wenn du es wirklich willst.« Damit wandte er sich um und watschelte schnell zu seiner künstlichen Drachenhöhle zurück.
Kim blickte ihm nach, bis er unter dem steinernen Torbogen verschwunden war.
»Wie hat er das gemeint?« fragte er leise.
Kelhim deutete ein Achselzucken an und wiegte den Schädel. »Rangarig ist ein seltsamer Bursche«, sagte er nachdenklich. »Manchmal ahnt er Dinge voraus, die sich hinterher bewahrheiten. Aber jedenfalls liebt er es, in Rätseln zu sprechen. Irgendwer muß ihm gesagt haben, daß Drachen immer in Rätseln sprechen. Fest steht, daß man oft nicht aus ihm klug wird.« Er lachte sein brummiges Bärenlachen. »Aber man muß zugeben, daß immer irgend etwas dran ist an dem, was er sagt. Manchmal entwickeln sich die Dinge andersrum; mitunter wendet sich das Böse zum Guten und umgekehrt. Aber meistens behält er recht.«
Kim runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Kelhims Worte erschienen ihm kaum weniger rätselhaft als die des Drachen. Aber das sagte er nicht.
»Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen«, schlug Gorg vor. Er warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne stand im Zenit, es war Mittagszeit. »Ich habe Hunger.« Sie verließen den Hof und gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Menschen, denen sie begegneten, traten respektvoll beiseite oder blieben stehen, wenn sie den Riesen und seinen zottigen Begleiter sahen. Kim blieben auch die Blicke nicht verborgen, die ihm selbst folgten. Er wußte nicht, ob es an seiner auffälligen Kleidung lag oder an dem, was Themistokles über ihn erzählt hatte; auf jeden Fall spürte er deutlich, daß ihm die Bewohner Gorywynns mit Hochachtung begegneten. Seltsamerweise fühlte er sich dabei nicht besonders wohl. Er begann zu begreifen, daß Menschen, denen großer Respekt gezollt wurde, oft sehr einsam waren.
Themistokles war nicht da, als sie zurückkamen. Sie hofften ihn im Thronsaal zu finden, aber auch dort war er nicht. Die Auskunft, die sie erhielten, war unbefriedigend. Themistokles hatte in großer Aufregung den Saal verlassen und war nun schon seit Stunden abwesend. Mehr wußte man nicht. Kelhim brummte etwas Unverständliches und rollte sich auf den sonnenüberfluteten Fliesen vor einem der großen Südfenster zusammen, um, wie er übellaunig erklärte, statt des Mittagessens wenigstens einen Mittagsschlaf zu halten. »Der Bursche hat es gut«, knurrte Gorg. »Und was mache ich?«
Kim dachte sich lächelnd seinen Teil. Er trat ans Fenster und lehnte sich neugierig hinaus. Unter ihm lag ein weiter, sonnenbeschienener Hof. Hellgekleidete Menschen, winzig klein aus dieser Höhe, liefen scheinbar planlos durcheinander. Vor einer der schimmernden gläsernen Mauern war eine Reihe bunter Buden errichtet worden, in denen Händler ihre Waren feilboten und Gaukler ihre Kunststücke vorführten. Auf der Mauerkrone flatterten bunte Wimpel, und von irgendwoher klang leise, lustige Musik, zu der eine helle Kinderstimme sang. Es war ein Bild, wie es friedlicher nicht sein konnte. - Wie lange noch? dachte Kim bedrückt. Wie lange würden diese Menschen noch so unbeschwert lachen und singen können? In nicht mehr allzuferner Zukunft würden die fruchtbaren grünen Hügel jenseits der Mauern schwarz von Boraas' Kriegern sein, im Hof würde Kriegsgeschrei und Waffengeklirr das fröhliche Treiben ablösen, und die gläsernen Mauern würden unter dem Ansturm des schwarzen Heeres bersten.
Seufzend wandte Kim sich ab und begann sich im Thronsaal umzusehen. Der Raum war hoch und hell, mit hohen spitzen Fenstern, die an zwei Seiten die Wand durchbrachen. Der Boden bestand aus schimmernden Mosaikfliesen, und an den Wänden hingen Bilder und Teppiche in scheinbar wahllosem Durcheinander, ohne jedoch unordentlich zu wirken. Eine langgestreckte Tafel, um die sich eine Anzahl hochlehniger Stühle mit geschnitzten Beinen und reichverzierten Armlehnen gruppierte, nahm den größten Teil des Raumes ein. An der Stirnseite, flankiert von zwei steinernen Säulen, auf denen jeweils ein steinerner Rabe hockte, stand ein mächtiger, schmuckloser Sessel, einem Thron nicht unähnlich.
»Was ist das?« fragte Kim.
»Der Thron von Märchenmond«, antwortete Gorg.
Kim trat näher an den Thron heran, um ihn neugierig zu betrachten. Für den Thron eines so riesigen und mächtigen Reiches wie Märchenmond erschien er ihm seltsam schmucklos und schlicht, wenn Kim auch zugeben mußte, daß der Thron in seiner Einfachheit beeindruckend wirkte. »Das also ist Themistokles' Thron«, murmelte er halblaut.
»Nein«, sagte Gorg. »Du hast mich falsch verstanden. Es ist der Thron von Märchenmond.«
»Aber... ich dachte, Themistokles wäre...«
»Unser Herrscher?« Gorg grinste, als hätte Kim soeben etwas ungemein Dummes gesagt. »Das ist er nicht. Er ist der Herr von Gorywynn, aber nicht der König.«
»Aber...« fragte Kim zögernd, »wer sitzt dann auf diesem Thron?«
»Niemand«, antwortete Gorg. »Oder jeder, wie du willst. Es ist ein Stuhl wie jeder andere und nicht einmal besonders bequem. Wer immer sich darauf setzt, ist unser König. Jeder, dem der Sinn danach steht, kann es werden.«
»Ich versteh kein Wort«, sagte Kim verwirrt. »Du meinst, der Herrscherthron von Märchenmond ist nichts als ein leerer Stuhl, und wer will, kann einfach hereinspazieren und ihn in Beschlag nehmen?«
Gorg nickte. »Er kann es und kann es doch nicht«, sagte er. »Märchenmond hat keinen König - oder unzählige, ganz wie du willst. Jeder ist hier König, wenn er es sein will. Und doch sind alle gleich. Denn niemand, auch der Mächtigste nicht, kann über einen anderen befehlen.«
»Du meinst«, sagte Kim ungläubig, »daß hier niemand Befehle erteilt, Gesetze erläßt, Strafen ausspricht...«
»Jeder Befehl wird sinnlos, wenn niemand da ist, dem man befehlen kann«, erklärte Gorg geduldig. »Und wir haben keine Gesetze, Kim. Jedenfalls keine geschriebenen. Hier ist vieles anders als dort, wo du herkommst. Aber vielleicht ist dies der größte Unterschied. Es gibt keine Gesetze und also auch keine Strafen.«
»Aber was ist, wenn jemand ein Verbrechen begeht?« fragte Kim.
»Was für ein Verbrechen?« entgegnete Gorg verwundert. »Warum sollte hier jemand ein Verbrechen begehen? Jedermann hat zu essen und zu trinken. Das Land ist groß, unendlich groß. Wenn einem seine Nachbarn nicht gefallen, so kann er fortziehen und sich irgendwo niederlassen, wo er allein und ungestört ist. Und wenn einer hungert, so kann er seinen Nächsten um ein Stück Brot und etwas Wein bitten, und er wird es bekommen. Ich weiß, daß dort, wo du herkommst, viele Verbrechen geschehen. Und warum werden sie begangen? Aus Haß, Neid oder Habgier. - Haß ist bei uns nicht bekannt, Kim, und es gibt keinen Neid, weil alle gleich sind, keiner mehr besitzt als der andere und niemand weniger, als er braucht. Und deshalb brauchen wir auch keinen Herrscher.«
Kim starrte nachdenklich den leeren Thron an. Ein leerer Thron - gab es ein besseres Symbol für dieses Land, in dem jedermann König war und in dem es trotzdem keinen gab, der einen anderen beherrschte?
»Darf ich... darf ich mich einmal darauf setzen?« fragte er. Gorg lächelte. »Warum nicht?«
Kim setzte langsam Schritt vor Schritt, ging die wenigen Stufen bis zum Thron hinauf und nahm zögernd darauf Platz. Das Holz fühlte sich kühl und hart an. Er lehnte sich zurück, rutschte in eine bequemere Lage und legte die Hände auf die glatten, schmucklosen Armstützen. Ein seltsames, schwer zu beschreibendes Gefühl überkam ihn, ein Schauer, doch kein sehr wohliger. Ein Thron... Märchenmonds Thron... ja, Gorg hatte recht, es war ein Stuhl wie jeder andere, aber gerade das war es, was ihn zu etwas Besonderem machte. Kim schloß die Augen. Er dachte an den schwarzen Thron in der schwarzen Feste Morgon, und der Gedanke ließ ihn schaudern. Vielleicht würde in nicht allzuferner Zeit statt dieses einfachen Stuhles auch hier ein schwarzer, böser Tyrannenthron stehen.
Das Geräusch vieler Schritte drang an sein Ohr. Als er die Augen öffnete, sah er Themistokles, der in Begleitung eines guten Dutzends verschiedenartig gekleideter Männer den Saal betreten hatte und in der Tür stehengeblieben war. Ein väterliches Lächeln flog über sein Gesicht, als er Kim auf dem Thron erblickte.
»Ich sehe«, sagte er, »daß Gorg dir bereits alles gezeigt hat.« Kim nickte verlegen und wollte aufstehen, aber Themistokles hielt ihn mit einer knappen Geste zurück. »Nein, bleib ruhig, wo du bist.«
Kim schüttelte den Kopf, sprang auf und lief die Stufen vom Thron hinunter.
Kelhim erwachte mit unwilligem Brummen, stemmte sich gähnend hoch und schüttelte das mächtige Haupt. »Schon Essenszeit?« knurrte er.
»Noch nicht, alter Freund«, sagte Themistokles bedauernd. »Aber es ist gut, daß ihr schon hier seid - alle drei«, fügte er mit einem Seitenblick auf Kim und den Riesen hinzu. Er wies mit einer einladenden Geste auf die Tafel. »Nehmt Platz. Es gibt ernste Dinge zu bereden.«
Kim setzte sich auf einen freien Stuhl. Themistokles nahm am Ehrenplatz an der Stirnseite Platz, während sich seine Begleiter auf die übrigen Stühle verteilten.
»Ich muß mich noch einmal für die hastige Einberufung dieser Beratung entschuldigen«, begann Themistokles. »Aber es sind... Dinge geschehen, die keinen Aufschub dulden.« Er brach ab und wandte den Kopf, als von der westlichen Fensterfront ein polterndes, scharrendes Geräusch hereindrang. Auch Kim drehte sich um und schaute neugierig zu den Fenstern hinüber. Ein riesiges, rotglühendes Auge lugte herein. Ein Wasserfall aus flüssigem Gold schien vor den Fenstern herabzustürzen, als Rangarig, der goldene Drache, sich auf dem viel zu kleinen Balkon draußen niederließ. Der Stein knarrte verdächtig, aber er hielt. Rangarig seufzte aus tiefer Brust, streckte den Kopf durch das mittlere der drei großen spitzen Fenster herein, während er sich mit den Vorderfüßen auf den Brüstungen der beiden anderen aufstützte. »Rangarig«, begrüßte Themistokles den Drachen. »Ich danke dir, daß du gekommen bist. Verzeih die Unbequemlichkeiten, die wir dir bereiten müssen.«
Rangarig lachte ein gedämpftes, grollendes Drachenlachen, das die ganze Tafel erbeben ließ. Ein kleiner Stein löste sich aus der Decke und zerbarst auf dem Boden zu unzähligen winzigen Splittern.
Themistokles runzelte in sanftem Tadel die Stirn. »Gemach, Rangarig, gemach«, sagte er. »Bedenke, daß dies ein Haus für Menschen ist, nicht für Drachen.«
Rangarig lachte wieder, diesmal ein bißchen lauter. Durch die Erschütterung fiel ein Bild von der Wand und zerbrach krachend in Stücke.
Themistokles seufzte. »Du bist wahrscheinlich das einzige Wesen auf der Welt, das imstande ist, seine Feinde im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode zu lachen«, murmelte er, wohlweislich so leise, daß der Drache es nicht hören konnte. Er schaute zur Decke hinauf, in der sich ein schmaler, gezackter Riß gebildet hatte, und seufzte wieder.
»Beginnen wir«, sagte er, um endlich zur Sache zu kommen. »Das, worum es geht, ist ernst genug.« Er sah die Anwesenden der Reihe nach an. Sein Blick fiel auf Kim und verweilte etwas länger auf ihm. »Der Feind war während unserer Abwesenheit nicht müßig«, fuhr er fort. »Unsere Boten berichten, daß ein großer Heereszug das Gebirge verlassen hat und sich auf dem Weg nach Süden befindet.«
Kim erschrak. Er hatte - wie sie alle - nicht damit gerechnet, daß Boraas noch lange untätig in seinem Versteck in den Bergen ausharren würde. Aber er hatte gehofft, daß ihnen wenigstens noch ein paar Wochen Gnadenfrist vergönnt seien. Diese Hoffnung war nun zunichte.
»Die Männer, die sich hier versammelt haben«, fuhr Themistokles, zu Kim gewandt, fort, »sind die Abgesandten der verschiedenen Länder und Völker Märchenmonds. Wir müssen beraten und einen Ausweg finden.«
»Wie viele Reiter hat Boraas ausgeschickt?« fragte Kim.
Themistokles zögerte mit der Antwort. »Viele«, sagte er dann. »Zu viele, um sie aufhalten zu können. Weit über fünftausend, wenn die Berichte unserer Kundschafter stimmen.«
Fünftausend Reiter! Und diese waren nur ein Bruchteil von Boraas' Streitkraft...
»Was das bedeutet, brauche ich wohl nicht zu erklären«, fügte Themistokles hinzu. »Der Hauptangriff steht unmittelbar bevor. Das Reiterheer hat bereits den Verschwundenen Fluß überschritten und rückt unaufhaltsam weiter nach Süden vor.«
»Und was heißt das?« fragte Kim.
»Das Reiterheer wird Gorywynn weitläufig umgehen und uns den Fluchtweg nach Süden abschneiden«, mischte sich ein schlanker, bärtiger Mann in der grünen Kleidung der Waldbewohner ein. »Und sowie es Stellung bezogen hat, wird der Rest der Armee aus den Bergen hervorbrechen und uns direkt angreifen.«
»Aber man muß sie zurückschlagen!«
»Das können wir nicht«, sagte Themistokles betrübt. »Du selbst, Kim, hast uns berichtet, wie mächtig Boraas' Armee ist. Schon diese fünftausend Reiter stellen eine größere Streitmacht dar, als Märchenmond aufbringen könnte.«
»Und wenn wir die Steppenreiter...«
Themistokles schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Caivallon liegt unmittelbar auf der feindlichen Einfallslinie«, sagte er. »Vielleicht ist ein Angriff geplant, vielleicht verschonen die Schwarzen das Steppenschloß auch. Auf jeden Fall können wir nicht mehr mit Hilfe von dort rechnen.«
»Aber was können wir denn überhaupt tun?«
Themistokles senkte den Blick. »Nichts«, sagte er so leise, daß es kaum zu verstehen war. »Jedenfalls nicht viel mehr, als abzuwarten und uns auf den Angriff vorzubereiten.«
»Aber ihr könnt doch nicht die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie sich das Unheil über euch zusammenbraut!« rief Kim fassungslos. »Ihr müßt irgend etwas tun! Trommelt eure Verbündeten zusammen und stellt eine Armee auf. Schlagt dieses Reiterheer zurück. Ich habe ein Heer von Männern gesehen, als ich durch Gorywynn gestreift bin!«
»Das stimmt. Aber Boraas wartet nur drauf, daß wir die Truppen von Gorywynn abziehen.«
»Noch mehr aber baut er darauf, daß ihr untätig zuseht, wie die Falle zuschnappt!« sagte Kim mit vor Erregung zitternder Stimme. »Seht ihr denn nicht, was Boraas im Sinn hat? Er schließt euch ein! Er zieht einen Belagerungsring um das ganze Schloß! Er braucht nicht einmal anzugreifen, wenn ihr nichts unternehmt. Er muß seine Armee einfach nur aufmarschieren lassen und warten, bis Hunger und Durst euch zwingen, kampflos aufzugeben!«
»Gorywynn ist groß«, widersprach Themistokles. »Und wir sind auf eine Belagerung gut vorbereitet. Wir können Jahre aushalten.«
»Und Boraas kann Jahre warten. Du weißt, daß er in der stärkeren Position ist.«
Themistokles seufzte. »Ich weiß es«, murmelte er. »Aber wir sind kein Volk von Kämpfern, ich habe es dir schon einmal gesagt, Kim. Märchenmond ist ein Land des Friedens, nicht des Krieges. Würden wir deinem Vorschlag folgen und dem schwarzen Heer auf offenem Feld begegnen, wir würden jämmerlich verlieren, selbst bei einer zahlenmäßigen Überlegenheit. Nein, Kim. Wir haben diesen Krieg nicht gewollt, und wir können ihn nicht gewinnen.«
»Wir haben noch Zeit«, beharrte Kim. »Es wird noch eine Weile dauern, ehe Boraas' Heer vor unseren Toren steht. Gorywynns Mauern sind mächtig, und es wird ihm schwerfallen, sie zu stürmen. Vielleicht läßt er sich wirklich auf eine Belagerung ein. Aber selbst dann haben wir eine Chance. Wir können eine wirksame Verteidigung aufstellen...«
Themistokles hob abwehrend beide Hände.
»Es hat keinen Zweck, Kim«, sagte er. »Vielleicht hätte ich es dir gleich sagen sollen, aber ich dachte, du wüßtest es bereits. Wir sind hier nicht zusammengekommen, um Kriegsrat zu halten. Der Sinn unserer Beratung ist, einen Vorschlag auszuarbeiten, den Boraas akzeptieren kann. Wir wissen, daß wir keine Chance haben, aber wir wollen das Volk schonen.«
»Ihr wollt... kapitulieren?« fragte Kim ungläubig.
Themistokles nickte. »So nennt ihr es wohl bei euch.«
»Aber... ihr... ihr könnt doch nicht kampflos aufgeben«, rief Kim. »Ihr habt das Reich der Schatten nicht gesehen! Aber ich! Du hast gehört, Themistokles, was ich vor dem Rat der Weisen gesagt habe. Ihr wißt nicht, was Boraas aus eurem schönen Land und seinen glücklichen Bewohnern machen wird! Nichts wird mehr so sein, wie es jetzt ist! Ihr...«
Wieder unterbrach ihn Themistokles mit einer begütigenden Geste. »Doch, Kim«, sagte er. »Wir wissen es. Aber auch wenn wir uns widersetzen, wird Märchenmond zerstört. Der Unterschied liegt nur in ein paar Wochen. Und in der Anzahl der Toten, die ein sinnloser Kampf kostet.«
»Aber er ist nicht sinnlos!« begehrte Kim auf. »Ich kann euch helfen! Ich kann Waffen konstruieren! Dort, wo ich herkomme, gibt es schreckliche Waffen...«
»Ja, Kim, du sagst es selbst. Schreckliche Waffen. Aber auch wenn wir sie einsetzen wollten - eure Waffen würden hier nicht funktionieren. Vielleicht würden sie sich sogar gegen uns selbst wenden. Und angenommen, wir würden diesen Krieg auf solche Weise gewinnen - Märchenmond wäre hinterher nicht mehr, was es war. Es würde zu einem Ebenbild deiner Welt, Kim. Und irgendwann würde ein neuer Boraas aufstehen, und er würde uns mit den gleichen Waffen angreifen, die du uns gebracht hast. Vielleicht würden wir ihn wieder schlagen, aber wir müßten neue Waffen entwickeln, stärkere und immer stärkere, und so würde es weitergehen, bis diese Welt völlig zerstört ist. Du weißt, daß ich die Wahrheit spreche. Du stammst aus einer Welt, die diesen Weg beschritten hat, schon vor langer Zeit. - Boraas mag uns besiegen, und er wird vielleicht auch Märchenmond zu einem Reich des Schreckens machen, so, wie er das Schattenreich verwandelte. Aber warst nicht du es, der mir von Ado und seinem Vater, dem Tümpelkönig, erzählte? Hast du nicht selbst erlebt, daß sogar dort drüben, inmitten all des Schreckens, noch Wesen leben, die hoffen? Irgendwann, Kim, vielleicht in hundert, vielleicht in tausend oder zehntausend Jahren wird Boraas' Herrschaft enden, und aus den Trümmern seines Reiches wird ein neues Märchenmond erstehen. Es ist nicht das erste Mal in diesem ewigen Ringen, daß das Böse die Macht an sich reißt. Aber es wäre auch nicht das erste Mal, daß wir am Ende siegen. Gingen wir deinen Weg, könnten wir Boraas vielleicht sogar vernichten, aber wir würden uns selbst unsere Zukunft stehlen. Nie wieder würde Märchenmond zu dem werden, was es ist und war.«
Er hielt erschöpft inne. Lange Zeit sprach niemand, und auch Kim sagte all die Dinge, die ihm während Themistokles' Rede durch den Kopf gegangen waren, nicht. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf, daß Themistokles jetzt resignierte. Es ging hier doch um einen Kampf ums Überleben! Dieses Zaudern, die vermeintliche Schwäche und Unsicherheit paßten nicht zu dem Bild, das Kim sich von dem alten Zauberer gemacht hatte. Fast, so dachte er erschrocken, fast konnte er da ja Boraas noch besser verstehen...
Rangarig brach schließlich das Schweigen.
»Wohl gesprochen, Herr von Gorywynn«, sagte der goldene Drache. »Doch bedenke, daß es Zeiten gibt, in denen man mit alten Traditionen brechen muß.«
Themistokles sah den Drachen nachdenklich an. »Wie meinst du das, Rangarig?«
Rangarig wiegte den Schädel, daß die Säulen rechts und links des Fensters knirschten und Staub von der Decke rieselte. »Unser junger Freund hat nicht in allem unrecht, was er sagt, Themistokles. Es wäre unklug, vorschnell aufzugeben.«
»Wenn du einen Ausweg weißt«, sagte Themistokles, »dann rede.«
»Wüßte ich einen, hätte ich ihn dir bereits genannt«, antwortete der Drache. »Aber es gibt ein Wissen, das über dem deinen und dem meinen steht. Befrage das Orakel.«
»Das Orakel?« fragte Kim, der seine Neugierde nicht bezähmen konnte. »Was ist das?«
Themistokles antwortete nicht sofort. Er drehte den Kopf und blickte nachdenklich den leeren Thron an.
»Ein Märchen«, murmelte er schließlich. »Eine alte Sage, mehr nicht. Es heißt, daß die beiden steinernen Raben sprechen werden, wenn das Land in großer Not ist...«
»Eine Sage? So wie der Schwarze Lord?«
Kim wollte noch mehr fragen, aber in diesem Moment geschah etwas Seltsames.
Ein heller, schwingender Ton, als würde irgendwo ein gigantisches Glas angeschlagen, erfüllte den Raum, und eine eigenartige, außerirdische Kälte begann in Kim emporzukriechen. Er wollte die Hand heben, aber es ging nicht. Irgend etwas, eine unsichtbare und unwiderstehliche Gewalt schien nach seinem Körper zu greifen und seinen Willen auszuschalten. Wie eine Marionette, an deren Fäden ein unsichtbarer Spieler zog, erhob er sich von seinem Stuhl und ging an der staunenden Tafelrunde vorbei auf den leeren Thron zu.