XIV

Wieder flogen sie nach Westen. Alle hatten geruht und ihren Körpern den lange entbehrten Schlaf gegönnt. Die Brobings, die Haus und Hof aufgeben mußten und einer ungewissen Zukunft entgegensahen, hatten ihre Vorratskammer bis auf den letzten Krümel geräumt und ein Mahl zubereitet, das selbst den Appetit des Bären und des Riesen zufriedenstellte. Rangarig, der, wie er selbst sagte, nur alle paar Wochen einmal zu essen brauchte, hatte sich damit begnügt, den Bach und einen Teil des Weihers, der hinter dem Haus lag, auszusaufen. Dann ließ er sie alle auf seinen breiten Rücken steigen und schwang sich wieder in die Luft. Er flog nicht mehr so hoch und schnell wie in den ersten beiden Nächten, und Kim spürte, wie sehr das zusätzliche Gewicht von sechs Erwachsenen und einem Kind an seinen Kräften zehrte. Aber wie um diese Verzögerung auszugleichen, suchte er sich bei Tagesanbruch keinen Schlafplatz, sondern flog weiter in den Morgen, den Mittag und Nachmittag hinein. Die grasige Ebene unter ihnen ging nun in eine felsige, mit Lavabrocken und großen, trichterartigen Löchern übersäte Kraterlandschaft über.

Kim schauderte. Der Fels war schwarz, vollkommen schwarz. Selbst das Sonnenlicht wurde von den schwarzen Felsen nicht zurückgeworfen, sondern schien aufgesaugt zu werden, als wären die Steine mit einer geheimnisvollen, lichtschluckenden Substanz überzogen. Es hätte Gorgs Bemerkung, daß sie sich der Klamm der Seelen näherten, nicht bedurft.

Spät am Nachmittag begann Rangarig auf die nun schon bekannte Art zu kreisen und tiefer zu gehen, um ein letztes Mal nach einem Rastplatz auszuschauen.

Gorg drehte sich halb herum und packte Kims Arm so fest, daß es schmerzte. »Sieh nach Westen!«

Kim gehorchte. Das Land fiel vor ihnen sanft ab, ein kilometerlanger Hang, von drohenden Schatten und großen, lichtlosen Bereichen erfüllt, bar jeden Lebens und jeder Bewegung.

Und an seinem Ende klaffte ein gewaltiger, bodenloser Riß in der Erde. Kim rang nach Atem. Er hatte Gewaltiges erwartet, aber seine Phantasie hatte nicht ausgereicht, sich das wirkliche Ausmaß der Klamm vorzustellen. Sie begann als gerade, wie mit einer unvorstellbar großen Axt in den Boden gehauenen Kerbe, die in jenen gezackten Riß überging, der sich weiter und immer weiter nach Westen zog und dabei ständig an Breite zunahm. Unzählige schmale, hin und her springende Nebenschluchten gingen von der Klamm aus und überzogen das Land mit einem Gewirr von Rissen und Sprüngen. Der Anblick ließ Kim unwillkürlich an einen gewaltigen, schwarzen Blitz denken, der auf den Bogen geprallt und in Zeitlosigkeit erstarrt war. Sein Blick saugte sich mit fast hypnotischer Kraft an der lichtlosen Schwärze der Klamm fest und suchte vergeblich nach einem Halt. Angst stieg in ihm auf, eine Furcht, gegen die er sich nicht zu wehren vermochte. Kim war froh, als Rangarig die Richtung änderte und die Klamm seinen Blicken entschwand.

Sie landeten inmitten eines Gewirrs nadelspitzer Felsdolche und großer, rohgeformter Brocken aus schwarzem Glas. Steif und mit schmerzenden Muskeln stiegen sie von Rangarigs Rücken. Keiner sprach ein Wort, aber es war nicht allein die Müdigkeit, die sie schweigen ließ. Die sie umgebende Lebensfeindlichkeit legte sich wie ein drückendes Gewicht auf ihre Seelen.

Sie hatten Feuerholz und Reisig mitgebracht und bereiteten aus den mitgeführten Vorräten ein einfaches, aber schmackhaftes Mahl. Hinterher zog sich jeder für sich zum Schlafen zurück. Nicht einmal Gorg, der sonst keine Gelegenheit ausließ, um zu schwatzen, sagte etwas.

Kelhim übernahm die erste Wache. Die übrigen Mitglieder der zusammengewürfelten Reisegesellschaft waren eingeschlafen, noch ehe die Sonne drei Viertel ihres Weges über den Himmel zurückgelegt hatte. Kim schlief unruhig, gequält von Alpträumen und Ängsten. Es war fast dankbar, als Priwinn ihn zu vorgeschrittener Nachtstunde weckte und ihm im Flüsterton mitteilte, daß er mit der Wache an der Reihe sei. Kim nahm sich ein Stück kalten Braten, kletterte auf eine Felszacke und hockte sich, eingehüllt in eine Wolldecke, darauf. Er aß ohne Appetit und eigentlich nur, weil er nicht wußte, wann es - wenn überhaupt - das nächste Mal etwas zu essen geben würde. Trotz der warmen Decke klapperten ihm vor Kälte die Zähne. Ein Blick in den Himmel sagte ihm, daß es noch lange bis Sonnenaufgang war. Sie hatten die Wachen nach keinem besonderen Gesichtspunkt eingeteilt. Nach Kim waren noch Gorg und einer der Knechte an der Reihe. Dann erst würde die Sonne aufgehen, und vielleicht - ja, dachte Kim, vielleicht würde es der letzte Sonnenaufgang sein, den er erlebte, den sie alle erlebten. Die Brobings sollten eine Woche hier auf sie warten und sich dann, falls sie bis dahin nicht zurückgekommen waren, auf gut Glück allein weiter auf den Weg machen.

Eine Woche... dachte Kim. Der Gedanke an die Zukunft oder vielmehr an das Voranschreiten der Zeit hatte auf seltsame Weise etwas Tröstliches. Trotz aller Schrecken, die der nächste Tag für sie bereithielt, würde er auch die Entscheidung bringen - so oder so. Kim begann zu begreifen, was die Erwachsenen meinten, wenn sie behaupteten, daß nichts so schrecklich sei wie die Ungewißheit. Ob sie den Tatzelwurm überwanden oder nicht, ob sie die Klamm der Seelen hinter sich brachten oder nicht - die Zeit ließ sich nicht aufhalten. Und selbst wenn sie versagten, würde irgendwann in nebelferner Zukunft aus dem Schutt des alten ein neues Märchenmond erstehen, vielleicht prächtiger als je zuvor.

Unter diesen Gedanken mußte er wohl eingenickt sein. Als er erwachte, sah er Gorgs breitflächiges, gütiges Gesicht über sich gebeugt und spürte die warme Last seiner Hand auf der Schulter. Verlegen richtete er sich auf. Er wollte etwas sagen, aber Gorg legte den Finger auf die Lippen und deutete auf die anderen, die eingerollt in ihre Decken schliefen. Kim stieg von seinem Aussichtsposten herunter und rollte sich ebenfalls am Boden zusammen. Er fror erbärmlich, aber schlimmer noch als die Kälte wühlte die Angst in seinen Eingeweiden. Eine Angst, die er sich nicht erklären konnte.

Trotzdem schlief er schnell wieder ein. Priwinn mußte ihn am Morgen mehrmals unsanft in die Seite knuffen, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Kim blinzelte, gähnte hinter vorgehaltener Hand und stand schwankend auf. Ein Feuer brannte. Der Geruch nach gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase. Außer ihm und Priwinn hatten sich schon alle um das Feuer versammelt und schmausten. Kim reckte sich. Sein Rücken schmerzte vom unbequemen Liegen auf dem felsigen Boden. Die Sonne war aufgegangen und versuchte der Landschaft mit ihrem goldenen Licht etwas von ihrer Härte und Kälte zu nehmen.

»Nun?« begrüßte ihn Gorg. »Gut geschlafen?« Der Riese zwinkerte, und Kim wußte, daß er nichts davon gesagt hatte, ihn während der Wache schlafend angetroffen zu haben. Kim nickte, setzte sich auf einen freien Platz am Feuer und griff mit solchem Appetit zu, daß es ihn selbst erstaunte. Sie brachen unmittelbar nach dem Frühstück auf. Der Abschied von den Brobings war kurz, aber herzlich. Kim mußte jedem einzelnen Familienmitglied hoch und heilig versprechen, ja gut auf sich aufzupassen und ganz bestimmt wiederzukommen.

Schweren Herzens schwang Kim sich auf Rangarigs Rücken. Der Drache ließ zum Abschied noch einmal sein Trompetengeschmetter ertönen, entfaltete die Flügel und sprang mit einem mächtigen Satz in die Luft. Kim winkte den Brobings zu, bis er sie nicht mehr erkennen konnte, und starrte noch lange in die Richtung, in der sie verschwunden waren. In den wenigen Stunden, die sie gemeinsam verbracht hatten, hatte er diese Leute herzlich liebgewonnen.

Die Klamm kam rasch näher. Rangarig flog eine Weile parallel zu der messerscharf gezogenen Kante der Schlucht, bis schließlich ein schmaler, gezackter Seitenarm vor ihnen auftauchte. Am Rande dieser Nebenschlucht ging der Drache nieder.

»Hier wäre eine geeignete Stelle, um hinunterzusteigen, scheint mir.«

Denn hinunter mußten sie. Kim hatte unterwegs einmal Gorg gefragt, warum Rangarig sie denn nicht einfach auf seinem Rücken über die Klamm der Seelen und bis zur Burg Weltende oder noch weiter tragen könne. Aber Gorg hatte den Kopf geschüttelt und ihm erklärt, daß das unmöglich sei. Um den Weg dorthin zu finden, mußten sie dem Lauf des Verschwundenen Flusses folgen. Niemand wußte, auch Rangarig nicht, wo der Verschwundene Fluß schließlich wieder zutage trat. Und hatte man sich in dem westlichen Niemandsland erst einmal verirrt, etwa weil man irrtümlich einem anderen Wasserlauf gefolgt war - und deren gab es viele -, war man rettungslos verloren. Nein, die Klamm der Seelen war und blieb der einzige Weg.

Der Moment war gekommen, dachte Kim.

Sie stiegen von Rangarigs Rücken. Kim trat vorsichtig an den Rand der Schlucht und blickte hinunter. Sie war nicht so tief, wie er insgeheim befürchtet hatte. Der Hang fiel zwar steil ab, schien aber durchaus begehbar zu sein. Schutt und ausgewaschenes Gestein bildeten eine Rampe, die wenigstens die ersten paar hundert Schritte verhältnismäßig bequem in die Tiefe führte. Kim wollte mit gutem Beispiel vorangehen und über den Rand klettern, aber Gorg hielt ihn mit eiserner Hand zurück.

»Nichts da«, sagte der Riese entschieden. »Zuerst Rangarig, dann ich und dieser Tolpatsch von Bär. Es tut mir leid, dich an den Schluß verbannen zu müssen, kleiner Held, aber diesmal geht es nicht anders.«

Kim wollte protestieren, aber Gorg schob ihn einfach beiseite und machte dann selbst Platz, um den goldenen Drachen vorbeizulassen. Rangarig tastete den Rand ab, überzeugte sich, daß der Fels sein immenses Gewicht zu tragen vermochte, und verschwand dann watschelnd in der Tiefe. Kelhim und Gorg folgten ihm dicht. Kim und Priwinn bildeten den Schluß.

Kim begriff schon bald, warum Gorg auf dieser Marschordnung bestanden hatte. Rangarig verlor auf dem Geröll mehr als nur einmal den Halt und rutschte zwanzig, dreißig Meter weit ab, und auch unter Gorgs Schritten lösten sich immer wieder kleine Geröllawinen, die polternd in der Tiefe verschwanden. Wären Kim und Priwinn vorangegangen, wären sie binnen kurzem einem Steinschlag zum Opfer gefallen.

Der Abstieg zog sich endlos in die Länge. Sie rasteten auf einem schmalen, gezackten Felsband, das kaum groß genug war, sie alle aufzunehmen, und unter Rangarigs Gewicht ächzte. Dann ging es weiter. Meter um Meter. Schritt reihte sich an Schritt, Minute an Minute, schließlich Stunde an Stunde. Nach Kims Schätzung mußte es später Nachmittag sein, als sie endlich den Grund der Schlucht erreichten. Und doch lag die eigentliche Klamm noch weit vor ihnen und noch Hunderte und Aberhunderte von Metern tiefer.

Beklemmung erfaßte ihn. Obwohl auf dem Grund des Canyons reichlich Platz war und zwischen den beiden Seitenwänden gut fünfzig Meter Raum sein mochte, hatte Kim plötzlich das Gefühl, eingesperrt zu sein. Das Licht war, je tiefer sie kamen, immer schwächer geworden. Hier unten herrschte nur noch ein diffuser grauer Schimmer, der an Nebel erinnerte und in dem das Geräusch ihrer Schritte sonderbar laut und hart wirkte. Hastig sah Kim sich nach Priwinn um, der hinter ihm ging. Es erleichterte ihn ein wenig, auch in Priwinns Gesicht Spuren der Angst zu entdecken. Es tat gut, damit nicht allein zu sein.

Sie erreichten eine Biegung, und Rangarig hielt so abrupt an, daß Gorg und Kelhim, die dicht hinter ihm gingen, um ein Haar über seinen Schwanz gestolpert wären und lauthals zu fluchen begannen. Rangarig wandte mit einem ärgerlichen Ruck den Kopf. »Still!« zischte er. »Ich höre etwas!«

Alle hielten den Atem an. Wieder einmal zeigte sich, daß Rangarigs Sinne weitaus schärfer ausgeprägt waren als die ihren. Zuerst hörten sie nichts als das Hämmern des eigenen Herzens und das Rauschen des Blutes in den Ohren. Nach einer Weile glaubte Kim noch ein anderes Geräusch wahrzunehmen - dumpfe, murmelnde Laute wie von einer großen Menschenmenge.

Rangarig kroch ein paar Meter zurück und machte dem Bären ein Zeichen. »Geh vor«, flüsterte er. »Fürs Anschleichen bin ich nicht so gut geeignet.«

Kelhim verschwand lautlos um die Biegung. Die anderen warteten mit klopfendem Herzen. Sie mußten nicht lange warten. Kelhim kehrte bald wieder zurück. Sein Ohr zuckte nervös, und in seinem Auge glomm unterdrückte Wut.

»Schwarze Reiter«, brummte er. »Die Klamm ist voll von ihnen!«

Kims Herzschlag schien einen Moment auszusetzen.

»Aber das gibt's doch nicht«, murmelte er.

»Leider doch. Ich konnte nicht viel erkennen - es ist finster dort unten wie in einem Bärena... ich meine wie in einer Bärenhöhle«, verbesserte sich Kelhim hastig. »Aber es sind viele. Und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich sogar Baron Kart unter ihnen gesehen.«

»Baron Kart!« Kim hätte es fast geschrien. »Aber wie...?« Kelhim zuckte die Achseln, eine Geste, die ihn auf seltsame Art menschlich erscheinen ließ.

»Sie müssen irgendwie von unserem Aufbruch erfahren haben«, brummte er.

»Aber das ist unmöglich!« widersprach Kim. »Vollkommen unmöglich. Niemand wußte davon, nicht einmal wir selbst, bevor wir loszogen. Und so schnell wie Rangarig sind auch die schwarzen Reiter nicht.«

Der Drache wiegte den Kopf. »Vielleicht nicht«, zischte er. »Aber vielleicht sind sie schon lange vor uns aufgebrochen.«

»Und warum?«

»Bedenke, daß Boraas ein Zauberer ist. Auf seine Art ist er sogar mächtiger als Themistokles. Auch ich vermag manchmal Dinge vorauszusehen, vergiß das nicht.«

»Wenn du so klug bist«, brummte Kelhim, »dann sag uns doch, was wir jetzt tun sollen.«

»Das einzige, was uns zu tun bleibt«, antwortete Rangarig. »Mittendurch, was sonst?«

Sogar Gorg schien für einen Moment erschrocken.

»Wir haben den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite«, erklärte Rangarig. »Außerdem rechnen sie sicher nicht mit meiner Anwesenheit.«

Gorg überlegte. Schließlich zuckte er die Achseln, spuckte sich kräftig in die Hände und schwang seine Keule. »Zurück können wir sowieso nicht mehr«, erklärte er. »Außerdem habe ich schon lange keine anständige Rauferei mehr erlebt. Also los.« Und zu Kim und Priwinn gewandt, fügte er hinzu: »Und ihr beide bleibt schön zwischen uns, klar?«

Er wandte sich um, schlug dem Bären mit der flachen Hand auf den Rücken und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten um die Biegung. Kelhim folgte ihm wie ein lautloser Schatten. Hinter ihnen schob sich der Drache, nicht so lautlos, dafür um so eindrucksvoller um die Ecke.

Was dann kam, glich einem Alptraum.

Kelhim hatte nicht übertrieben. Die Klamm wimmelte von großen, schwarzgepanzerten Gestalten. Und wenn dieser plötzliche Überfall sie auch momentan überraschte, formierten sie sich doch schnell zu zähem Widerstand.

Kim schwang sein Schwert und warf sich, Gorgs Warnung mißachtend, in den Kampf. Ein schwarzer Ritter fiel unter seinem Streich, ein zweiter stürzte, von der Kante seines Schildes getroffen, rückwärts und verschwand mit einem gellenden Schrei in einer jäh aufklaffenden Spalte. Neben ihm kämpfte Priwinn waffenlos, mit bloßen Händen und Füßen. Er schien dabei übernatürliche Kräfte zu entwickeln, denn wie wäre es ihm sonst möglich gewesen, auch nur einem der Angreifer standzuhalten.

Dennoch, ohne den Drachen wären sie rettungslos verloren gewesen. Rangarig kämpfte mit verbissener Wut. Mit jedem Schwanzschlag schleuderte er ein Dutzend Gegner beiseite, brachte Felsen zum Bersten und riß in Sekunden eine Bresche in die Phalanx der Feinde. Gegen seinen Willen mußte Kim beinah den Mut der schwarzen Reiter bewundern, die sich dem riesigen Drachen mit Todesverachtung entgegenwarfen und mit ihren schwarzen Schwertern auf seine goldenen Schuppen einhieben, ohne ihn ernsthaft verletzen zu können.

»Paß auf!« brüllte Gorg. »Über dir!«

Kim riß instinktiv den Schild hoch und taumelte zurück, als sich ein halbes Dutzend armlanger Pfeile in das Holz bohrte. Eine Abteilung schwarzer Ritter war auf ein schmales seitliches Felsband hinaufgestiegen und nahm sie nun von dort aus unter Beschuß. Kelhim brüllte zornig auf, als sich ein Pfeil in seine Schulter bohrte. Gorg entging mit einem verzweifelten Satz knapp einem Hagel der tödlichen Geschosse, der plötzlich auf ihn herunterprasselte.

Kim schloß geblendet die Augen, als Rangarig den Kopf hob und eine grelle Feuergarbe gegen die Wand schleuderte. Eine Hitzewelle fegte durch die Klamm, daß Kim und Priwinn entsetzt aufschrien und in einer Felsspalte Schutz suchten. Als sich die Glut verzogen hatte, war von den Bogenschützen nichts mehr zu sehen.

»Los jetzt!« rief Priwinn. Er sprang vor, riß Kim mit sich und rannte auf den Drachen zu. Kelhim und Gorg kamen von der anderen Seite, und gemeinsam stürmten sie weiter. Rangarigs Feuerstrahl schien den Kampfesmut der Schwarzen gebrochen zu haben. Trotzdem schnellten immer wieder massige Schatten zwischen den Felsen hoch und griffen mit zäher Wut an.

Dann waren sie durch. Die Krieger verschwanden wie ein böser Spuk, und nur das Knacken des glühenden Felsens und Kelhims unterdrückte Schmerzenslaute verrieten, daß dies kein Alptraum gewesen war, sondern der Kampf wirklich stattgefunden hatte.

»Weiter!« drängte Rangarig. »Sie werden nicht lange brauchen, um sich von ihrem Schrecken zu erholen. Noch einmal können wir sie nicht überrumpeln.«

Sie liefen weiter. Kelhim humpelte. Er stöhnte hin und wieder leise auf, hielt aber tapfer durch, bis sie eine weitere Biegung erreichten und endlich eine Pause einlegten.

Erschöpft ließen sie sich zu Boden sinken. Sogar Rangarigs Atem ging rasselnd und merklich schneller. Als Kim sich den Drachen näher besah, stellte er fest, daß viele seiner goldschimmernden Schuppen losgerissen oder zerbrochen waren. Blut sickerte aus unzähligen winzigen Wunden, und sein rechtes Auge blinzelte ununterbrochen.

»Du bist verletzt!« sagte Kim erschrocken.

Rangarig schnaubte. »Ein paar Kratzer, mehr nicht. Kein Grund zur Besorgnis. Kümmert euch lieber um Kelhim. Ich gebe derweil acht, daß uns keiner folgt.« Er machte kehrt, watschelte ein paar Meter die Klamm zurück und ließ sich dicht hinter der Biegung nieder.

Kim kroch auf Händen und Knien zu Gorg und Priwinn hinüber, die sich bereits um den verwundeten Bären bemühten. Priwinn machte sich mit geschickten Fingern an seiner Schulter zu schaffen. Gorg mußte seine ganze Kraft aufwenden, um den Bären, der vor Schmerzen blind um sich zu schlagen begann, niederzuhalten.

»Hilf mir!« keuchte Priwinn. Kim griff zu, und mit vereinten Kräften gelang es ihnen schließlich, den Pfeil aus Kelhims Schulter zu ziehen. Kim stöhnte, als er das Geschoß sah. Es war tief in Kelhims Schulter eingedrungen, und die Spitze war breit und voller Widerhaken.

»Dankenswerterweise haben die Schwarzen nicht die Angewohnheit, ihre Pfeile zu vergiften«, brummte Gorg, der vorsichtig Kelhims Tatzen losließ und sich aufrichtete. »Der Bursche hat Glück gehabt. Und wir auch. Fast mehr, als uns zukommt.«

»Das war kein Glück«, warf Rangarig ein. »So viele von der Sorte können gar nicht kommen, daß ich nicht mit ihnen fertig werde.«

Gorg lächelte, verzichtete aber ausnahmsweise auf eine spitze Antwort. Er hockte sich neben dem Bären auf den Boden und legte die Hand auf dessen gesunde Schulter. »Glaubst du, daß du gehen kannst?« fragte er.

Kelhim brummte. »Natürlich«, sagte er mit rauher Stimme. »So ein Zahnstocher wirft mich nicht um. Laß mich eine Stunde ruhen, dann...«

»Das geht nicht«, unterbrach ihn Gorg sanft. »Wir müssen sofort weiter. Wir brauchen einen größeren Vorsprung.« Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hinauf, der nur noch als schmaler blauer Streifen zwischen den Wänden der Klamm sichtbar war. »Die Schlucht ist hier nicht breit genug«, sagte er besorgt. »Wenn sie auf die Idee kommen, uns von oben mit Felsen zu bewerfen, ist es aus.«

»Aber er braucht Ruhe«, warf Kim ein.

»Ich weiß, Junge, ich weiß«, antwortete Gorg gepreßt. »Aber es geht nicht. Sie werden uns töten, wenn wir noch lange hierbleiben. Baron Kart ist nicht dumm. Ganz und gar nicht.«

Baron Kart... Ein Schauer lief über Kims Rücken. »Hast du ihn... gesehen?« fragte er.

»Ja. Ich hätte ihm gerne den schwarzen Hals umgedreht, aber er war zu weit weg.«

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, brummte Kelhim. Er wälzte sich herum, stemmte sich mühsam hoch und stand, wenn auch schwankend, auf allen vieren.

Rangarig kam geräuschvoll angefaucht. »Nichts zu sehen«, verkündete er. »Ich glaube, die haben erst einmal genug.«

»Ist es noch weit bis zum Verschwundenen Fluß?« fragte Kim.

Rangarig schüttelte den Kopf. »Vier Stunden... fünf«, verbesserte er sich mit einem raschen Seitenblick auf Kelhim.

Sie gingen weiter. Schon bald war der Rastplatz hinter ihnen verschwunden. Mit Ausnahme eines gelegentlichen leisen Seufzens von Kelhim ließ keiner von ihnen einen Laut vernehmen. Die sonderbare Beklemmung, die Kim schon vorhin im Canyon erfaßt hatte, stellte sich wieder ein, nur viel, viel stärker. Sein Blick irrte angstvoll an den senkrechten, wie poliert aussehenden Felswänden empor, und er spürte, wie die Beklemmung allmählich in ein Gefühl würgender Angst überging. Er war nicht der einzige, dem mulmig zumute war. Auch Gorg sah sich in immer kürzeren Abständen um, nervöse Spannung im Blick, und einen Moment lang glaubte Kim sogar auf den starren Zügen des Drachen Angst zu erkennen. Er begriff, warum man diese Schlucht Klamm der Seelen nannte. Sie war die Heimat der Angst, vielleicht die Angst selbst, die hier auf geheimnisvolle Weise Gestalt angenommen hatte. Eine Angst, der sich keiner entziehen konnte, ob groß oder klein, und die ohne Unterschied über jeden herfiel, der die Klamm betrat. Kims Herz begann zu klopfen, dann zu rasen, und bald mußte er sich zu jedem Schritt zwingen und all seine Willenskraft aufbieten, um nicht herumzufahren und laut schreiend wegzulaufen. Die Zeit schleppte sich quälend dahin, und nach einer Weile hatte Kim einen Zustand erreicht, in dem er fast keines klaren Gedankens mehr fähig, nur noch von abgrundtiefer Angst erfüllt war, beinah selbst zur Angst wurde. Sein Atem ging keuchend, und mehr als einmal taumelte er blind gegen die Wand und fiel der Länge nach hin.

»Es...« keuchte der Drache, »ist... bald... geschafft...« Nach jedem Wort holte er rasselnd Atem, als koste ihn das Sprechen ungeheure Anstrengung.

Kim konnte sich nur damit trösten, daß es ihren Verfolgern wahrscheinlich genauso erging. Aber als er versuchte, sich das schwarze Metallgesicht Baron Karts vorzustellen, kamen ihm Zweifel an dieser Vermutung. Der Baron und seinesgleichen waren Geschöpfe der Nacht, Diener des Bösen. Konnten solche Wesen überhaupt Angst empfinden? War es nicht gerade das, was sie so stark und furchtbar machte - daß die keine Angst kannten?

Irgendwann, nach einer Ewigkeit, wie ihm schien, tauchte ein heller Lichtschimmer vor ihnen auf. Ihre Schritte wurden schneller, und nach wenigen, scheinbar endlosen Minuten standen sie am Eingang einer gewaltigen, trichterförmigen Senke, die Kim unwillkürlich an einen riesigen Explosionskrater denken ließ. Auf der gegenüberliegenden Seite setzte die Klamm sich fort. Aber zwischen dem diesseitigen Eingang und dem jenseitigen Ausgang dehnte sich die bleigraue, von kochenden Schlieren und hochspritzenden, schaumgekrönten Wellen überzogene Oberfläche eines Sees. Dumpfes Rauschen ließ den Boden vibrieren, und die Luft war mit Feuchtigkeit und Modergeruch gesättigt.

Etwas Seltsames geschah. Als sie aus der Klamm in den Krater hinaustraten, wich schlagartig die Angst von ihnen, und es blieb nichts als ein dumpfer Druck wie nach einem überstandenen Alptraum.

Kim ließ sich erschöpft gegen die Felswand sinken. Seine Glieder fühlten sich bleischwer an. »Ist er das?« fragte er. »Der Verschwundene Fluß?«

Gorg nickte mit ernstem Gesicht. »Ein kleines Stück davon, ja. Er tritt hier an die Oberfläche, aber nur, um dort drüben wieder im Berg zu verschwinden. Siehst du?«

Kims Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Riesen und gewahrte ein niedriges, gezacktes Loch im Felsen, das fast vollkommen hinter einem Vorhang aus sprühendem Wasser verborgen war. Ein breiter felsiger Pfad führte um den See herum auf die Höhle zu, eben und bequem und scheinbar ohne Hindernisse.

»Und...« fragte Kim zögernd, »der Tatzelwurm?«

Diesmal war es Rangarig, der antwortete. »Er weiß, daß wir hier sind«, sagte er. »Er weiß es schon lange. Nichts, was in der Klamm der Seelen vorgeht, bleibt ihm verborgen.«

»Und wo ist er?«

Rangarig lachte dröhnend. »Vielleicht fürchtet er sich. Einen Besucher wie mich hat er sicher noch nicht gehabt.« Aber das Lachen klang nicht ganz echt.

Plötzlich riß der Drache den Kopf hoch und schrie: »He, Tatzelwurm! Komm raus! Ich weiß, daß du hier bist!« Die Worte brachen sich an den glatten Wänden und hallten als verzerrtes Echo über den See. Rangarigs Schwanz peitschte nervös und schlug Funken und Steintrümmer aus dem Fels. »Was ist los?« fragte er. »Hast du Angst?«

Sekundenlang geschah nichts. Dann erscholl ein ungeheures Brüllen als Antwort. In der Mitte des Sees begann das Wasser zu kochen und zu brodeln, und vor Kims entsetzt aufgerissenen Augen tauchte ein riesiger, schwarzglänzender Schädel aus dem Wasser auf. Ein langer, schlangenartiger Hals folgte, und endlich, als Kim schon glaubte, das Monster bestehe nur aus Kopf und Hals, tauchte auch der Leib des Tatzelwurms aus den Fluten empor, ein gigantisches schwarzes Etwas aus Panzerplatten, hornigen Stacheln und Krallen.

»Da bist du ja«, dröhnte Rangarig. »Ich dachte schon, du wärst nicht zu Hause.«

»Was willst du?« brüllte der Tatzelwurm zurück. »Du hast hier nichts verloren! Niemand betritt mein Revier, hast du das vergessen?«

Rangarig schüttelte den Kopf. »Nicht eine Sekunde lang, Vetter. Ich bin gekommen, um dir einen Handel vorzuschlagen.«

»Einen Handel?« brüllte der Tatzelwurm. »Ich schließe keinen Handel ab, das weißt du. Wer hierherkommt, bezahlt dafür mit dem Leben. Auch du. Und was sind das für lächerliche Figuren, die du da bei dir hast?«

»Das sind meine Freunde«, antwortete Rangarig, nun schon weniger überheblich. »Und sie wollen über den See. Damit hängt auch der Handel zusammen, den ich dir vorschlagen wollte.«

»So? Laß hören. Es spielt keine Rolle, ob ich euch fünf Minuten früher oder später fresse. Gefressen werdet ihr sowieso. Aber laß hören - was schlägst du vor?«

»Ganz einfach«, entgegnete Rangarig so ruhig wie möglich. »Du läßt meine Freunde unbehelligt über den See, und ich verzichte darauf, dich mit deinem eigenen Schwanz zu füttern, du mißratener Sproß meiner Familie.«

Der Tatzelwurm war einen Moment sprachlos. Wahrscheinlich hatte es noch niemand gewagt, ihn derart zu beleidigen. Dann begann er zu brüllen, daß die Felswände wackelten.

»Du wagst es, mir so etwas zu sagen? Warte, Bursche, ich werde dir zeigen, wer hier wen womit füttert!« Er bäumte sich auf, tauchte in einer gewaltigen Schaumfontäne unter und schoß wie ein Torpedo unter Wasser auf Rangarig zu. »Schnell jetzt!« rief der Drache. »Ich werde versuchen, ihn lange genug aufzuhalten, daß ihr die Höhle erreichen könnt. Aber beeilt euch!«

Sie hetzten los. Aber sie waren noch keine zehn Schritte weit gekommen, als die Wasseroberfläche am Ufer explodierte und das Monster wie die Verkörperung eines bösen Traumes daraus hervorschoß. Kim blickte sich im Laufen um und schrie vor Schreck auf, als er sah, wie groß der Tatzelwurm war. Vorhin, draußen im See, hatte er gewaltig ausgesehen. Aber erst jetzt, als Kim ihn neben Rangarig sah, erkannte er, wie gigantisch das Ungeheuer wirklich war. Sein Maul klaffte so weit auf, daß selbst Gorg bequem hätte darin stehen können, und stieß mit einem wütenden Zischen auf Rangarig herab. Der goldene Drache wich im letzten Moment aus und versetzte dem Tatzelwurm einen Schwanzhieb in den Nacken, der dem geöffneten Rachen noch mehr Schwung verlieh und ihn wuchtig gegen die Felsen krachen ließ. Einer der langen, nach innen gebogenen Zähne brach ab, und der Tatzelwurm hob ein gräßliches Geheul an und begann wild um sich zu schlagen. Sein Schwanz peitschte durch das Wasser, fegte Rangarig von den Füßen und wickelte sich wie eine Schlange um seinen Hals. Rangarig stemmte sich hoch, schnappte nach der Flanke des Tatzelwurms und grub seine Zähne tief in den empfindlichen Bauch des Ungeheuers. Wieder erschütterte ein urgewaltiges Brüllen den Talkessel. Der Tatzelwurm bäumte sich auf, zerrte den Drachen mit sich in die Höhle und begrub ihn im Herabstürzen unter sich.

Kim riß sich gewaltsam von dem schrecklichen Anblick los und rannte, was das Zeug hielt. Die anderen waren schon weit voraus, aber auch Kim hatte schon fast die Hälfte des Weges geschafft. Wenn es Rangarig gelang, das Ungeheuer noch einen Moment aufzuhalten, waren sie in Sicherheit.

Aber als hätte der Tatzelwurm seine Gedanken gelesen, riß er sich in diesem Moment von seinem Gegner los und starrte aus kleinen, boshaften Augen über das Wasser.

»Verrat!« brüllte er. Er schleuderte Rangarig mit einer wütenden Bewegung von sich und machte Anstalten, sich kopfüber ins Wasser zu stürzen, um die Verfolgung aufzunehmen. Rangarig schnappte nach seinem Schwanz, biß fünf oder sechs Meter davon ab und warf sich mit einem Satz auf den breiten Rücken des Monsters. Der Tatzelwurm heulte auf, schüttelte sich und schnellte ins Wasser. Das Letzte, was Kim von den beiden kämpfenden Giganten sah, waren Rangarigs weit ausgebreitete Flügel und der gierig aufgerissene Schlund der Bestie. Dann verschwanden ihre Körper hinter einem Vorhang aus kochendem Wasser und wirbelndem Schaum.

Keuchend erreichte Kim die Höhle. Er wollte sich umdrehen und nach Rangarig sehen, aber Gorg riß ihn unbarmherzig zurück, hob ihn hoch und trug ihn auf den Armen weiter, bis sie den Höhleneingang weit hinter sich gelassen hatten.

Kim strampelte wild mit den Beinen und schlug um sich. »Laß mich runter!« kreischte er. »Wir müssen Rangarig helfen! Er ist unser Freund! Wir können ihn nicht im Stich lassen!«

»Du kannst ihm nicht helfen, Kim«, sagte Gorg. »Keiner von uns kann es.«

»Aber er stirbt!« schrie Kim, den Tränen nahe. »Der Tatzelwurm wird ihn töten.«

»Vielleicht«, sagte Gorg. »Aber hoffen wir, daß er noch fliehen kann. Er hat gesehen, daß wir in Sicherheit sind. Vielleicht kann er dieser häßlichen Schlange davonfliegen.«

Kim dachte an das letzte, kurze Aufblitzen von Gold hinter einem Vorhang kochenden Wassers, und er wußte, daß Gorg selbst nicht an seine Worte glaubte. Kims Verzweiflung wich langsam einer dumpfen Betäubung.

»Ich weiß, was in dir vorgeht, Kim«, fuhr Gorg in sanftem Ton fort. »Und glaube mir - jeder von uns ist ganz genauso betroffen wie du. Aber Rangarig hat gewußt, worauf er sich einläßt. Und er wußte auch, daß er dem Tatzelwurm nicht gewachsen war.«

»Aber warum...« schluchzte Kim, »warum hat er...«

»Er mußte es tun«, sagte Gorg. »Es gab keinen anderen Weg für uns. Und er hat es gern getan. Ich würde das gleiche tun, wenn es sein müßte, und Kelhim und Priwinn ebenso. Jeder von uns würde sein Leben geben, um Märchenmond zu retten. Auch du, vergiß das nicht.«

»Aber Rangarig...«

»War dein Freund, ich weiß.«

Der Boden unter ihren Füßen erzitterte. Ein ungeheures Brüllen drang vom Höhleneingang herein. Dann plötzlich war Ruhe.

»Es ist vorbei«, murmelte Gorg. »Egal, wie es ausgegangen ist, keiner von uns kann jetzt noch etwas tun. Und vielleicht«, fügte er leise hinzu, »ist er ja entkommen. Bestimmt sogar.« Er schlug Kim aufmunternd auf die Schulter. »Komm jetzt weiter. Wir sind noch lange nicht am Ziel. Die anderen warten.«

Langsam, mit schleppenden Schritten ging Kim vor dem Riesen her. Es war ein schmaler Weg, der direkt neben dem kochenden Wasser an der Felswand entlangführte. Gorgs Hand lag die ganze Zeit auf Kims Schulter, um sofort zupacken zu können, wenn er auf dem glitschigen Boden ausglitt. Einen Sturz in das reißende Wasser des Flusses hätte er nicht überlebt.

Kelhim und der Steppenprinz warteten auf einem Felsvorsprung, der wie ein Balkon in das schäumende Wasser hineinragte und ihnen allen Platz bot.

Der Bär brummte leise und stieß Kim mit seiner feuchten Schnauze in die Seite, um ihn aufzumuntern.

»Laß mich«, sagte Kim grob. Er wußte, daß er Kelhim unrecht tat, aber er konnte plötzlich nicht anders; er mußte einem anderen weh tun, um seines eigenen Schmerzes willen. Kim erschrak über seine Reaktion und lächelte dem Bären um Entschuldigung bittend zu.

Priwinn berührte ihn zaghaft an der Schulter.

»Du darfst nicht verzweifeln«, sagte er leise. »Rangarig lebt, ich bin ganz sicher. Er lebt, solange du an ihn denkst.«

Kim hob den Kopf. Er lächelte matt und schloß die Augen. Ja, dachte er. Solange irgend jemand an den Drachen dachte, lebt er. Und er nahm sich vor, ihn nie, nie sterben zu lassen.

Загрузка...