Eine dichte Wolke aus Rauch und Flammen lag über Gorywynn, und die gläsernen Mauern der Burg hallten wider vom Kampflärm, dem Klirren von Stahl und den Schreien der Verwundeten. Die weite Fläche des silbernen Sees hatte sich in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem Hunderte von kleinen, wendigen Booten vergeblich versuchten, die riesigen schwarzen Kaperschiffe des Feindes zurückzudrängen. Das Wasser des Sees schien zu kochen, und wo es nicht von brennenden Trümmerstücken und sinkenden Schiffen aufgewühlt war, rötete es sich vom Blut der Erschlagenen. Gorywynn brannte an mehreren Stellen, und der erste der drei hintereinander gestaffelten Verteidigungswälle war bereits unter dem Ansturm des schwarzen Heeres gefallen, die Türme niedergestürzt, die schimmernden Glaswände geborsten oder zu häßlichen, rußgeschwärzten Ruinen zerfallen. Auch der zweite Wall war in Gefahr. Noch konnten sich seine Verteidiger gegen die heranwogende Flut der Angreifer halten, aber die Landzunge und die darunterliegende Ebene waren schwarz von Kriegern. Die Sonne verdunkelte sich hinter Schwärmen hin und her zischender Pfeile und Brandgeschosse. Das schwarze Heer hatte riesige Katapulte aufgefahren, mit denen sie Felsbrocken oder scharfkantige Glastrümmer - die Reste des ersten gefallenen Walles - gegen Mauern und Tore schleuderten, und wenn die Pfeile der tapferen Krieger Gorywynns auch fast immer ihr Ziel fanden, so schienen doch für jeden gefallenen Angreifer drei neue aufzustehen, und die Lücken in den feindlichen Reihen füllten sich beinah schneller, als sie entstanden.
Auf der Spitze der Mauer, hoch über dem großen, bronzenen Tor, das die Angreifer noch von dem letzten Schutzwall Gorywynns trennte, stand eine schmale, weißgekleidete Gestalt. Ein flammender Glorienschein schien ihre Schultern zu umgeben, und so viele Pfeile, so viele Speere und Brandgeschosse die Angreifer auch zu ihr hinaufschleuderten, erreichte doch keines sein Ziel, sondern flammte mitten in der Luft grell auf und zerfiel zu Asche.
Wieder prasselte ein Hagel von Steinen und Glastrümmern auf den Wall, und diesmal schienen die Wände unter den Einschlägen zu wanken. Ein dumpfer, knirschender Laut übertönte den Kampflärm, und direkt neben dem Tor zeigte sich ein gezackter Riß. Frenetischer Jubel brandete aus den Reihen der Angreifer. Hunderte schwarzer Reiter warfen sich wie auf ein Kommando der Bresche entgegen, um ins Innere der Burg einzudringen.
Aber noch gab sich Gorywynn nicht geschlagen. Themistokles hob in einer befehlenden Geste die Hand, und ein Hagel von Pfeilen regnete von den Zinnen der Burg hinab und riß mehr als die Hälfte der Angreifer aus den Sätteln. Die anderen stürmten unbeirrt weiter. Neue Reiter sprengten heran, setzten über die Körper ihrer gefallenen Kameraden hinweg und preschten mit Todesverachtung auf die Bresche zu. Wieder sirrten Gorywynns Bögen, und wieder zahlten die Angreifer einen hohen Blutzoll für ihren Wagemut. Aber so viele auch fielen, Boraas' Reserven schienen unerschöpflich. Der Boden war bald schwarz von gefallenen Kriegern, aber immer mehr und mehr stürmten unter gellendem Kriegsgeschrei heran. Und auch die Verteidiger mußten schwere Verluste hinnehmen. Wenn einer der Bogenschützen tödlich getroffen niederstürzte, blieb fast immer eine Lücke zurück, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte.
»Ausfall!« befahl Themistokles mit dröhnender Stimme. Ungeachtet des Schlachtlärms war seine Stimme überall im Schloß zu hören, so, wie seine Gestalt wunderbarerweise auch von jedem Punkt Gorywynns aus sichtbar war.
Die Flügel des riesigen Bronzetores schwangen auf, und unter einem neuerlichen Hagel von Pfeilen galoppierten Caivallons Steppenreiter den Angreifern entgegen.
Der Erdboden schien zu beben, als die beiden Heere aufeinandertrafen. Waffenlos und nur mit ihren dreieckigen hölzernen Schilden gegen die Pfeile der Morgoner geschützt, prallte der Angriffskeil der Steppenreiter gegen die Phalanx der Feinde. Stahl klirrte, Pferde und Menschen bäumten sich auf, und für einen Moment wurde die Sicht von hochgewirbeltem Staub verdunkelt, so daß man Freund und Feind nicht mehr unterscheiden konnte. Die Krieger Morgons waren weit in der Überzahl. Sie hatten offensichtlich geglaubt, mit ihren unbewaffneten Gegnern leichtes Spiel zu haben. Zu spät erkannten sie den verhängnisvollen Irrtum. Die Steppenreiter mochten wehrlos erscheinen, aber ihre Hände und Füße, Ellbogen und Knie verwandelten sich im Moment des Aufeinanderpralls in unwiderstehliche Waffen. Ein schwarzer Reiter nach dem anderen fiel erschlagen oder kampfunfähig aus dem Sattel. Der Kampf dauerte nur Minuten. Die Phalanx der schwarzen Reiter wankte, formierte sich neu und brach dann endgültig zusammen. Nur wenigen gelang es, sich in Sicherheit zu bringen. Als die Steppenreiter ihre Pferde herumzwangen, zeigte sich, daß auf zehn Reiter Morgons, die reglos auf der blutgetränkten Erde lagen, einer der ihren kam.
Für einen Moment geriet die Schlacht ins Stocken. Das schwarze Heer kroch zurück wie ein großes, schwerfälliges Tier, holte Atem und brandete dann erneut gegen die gläsernen Mauern.
Plötzlich riß die schwarze Wolkendecke über dem Schlachtfeld auf. Ein hoher, siegender Ton erfüllte die Luft. Und dann raste ein breiter, farbenschillernder Regenbogen über den Himmel heran und senkte sich mitten auf das Schlachtfeld herab.
Sekundenlang verharrten sowohl Angreifer wie Verteidiger in ungläubigem Staunen. Tausende Gesichter wandten sich der phantastischen Erscheinung zu; für die Dauer eines Herzschlags schien die Schlacht wie erstarrt. Ein vielstimmiger Entsetzensschrei aus den Kehlen der schwarzen Reiter zerschnitt die Stille. Über den Regenbogen, in kühnem Schwung direkt aus dem Himmel herabstoßend, kam eine Armee goldgepanzerter Reiter herangaloppiert, angeführt von einer kleinen, ganz in Schwarz gekleideten Gestalt. Die goldenen Reiter erreichten den Boden und stießen mitten ins Herz der schwarzen Armee. Kein Schild, kein Panzer, kein noch so hartnäckiger Widerstand konnte sie aufhalten. Mit ungebrochener Kraft schlugen sie eine Bresche in das schwarze Heer und galoppierten auf die Burg zu. Erst vereinzelt, dann von mehr und mehr Stimmen aufgenommen, erhob sich aus den Reihen der Heerscharen Märchenmonds ein donnernder Schlachtruf, unter dem die gläsernen Mauern der Burg zu vibrieren schienen.
»Rettet Gorywynn!«
Im gleichen Maße, in dem die Verteidiger neuen Mut gewannen, begann sich unter den schwarzen Reitern Panik auszubreiten. Zum ersten Mal, seit vor fünf Tagen die Schlacht begonnen hatte, wankten ihre Reihen, zögerten die schwarzen Krieger, sich dem Feind entgegenzuwerfen. Mehr und mehr wandten sich zur Flucht, und als die goldenen Reiter unter Kims Führung den ersten geborstenen Wall erreichten, trieben sie eine Schar versprengter schwarzer Reiter vor sich her und schlugen sie vollends in die Flucht. Die schweren Bronzetore des zweiten Walles schwangen auf, und der Reitertrupp galoppierte auf den glasgepflasterten Hof. Triumphierendes Jubelgeschrei empfing sie. Hunderte von Männern und Frauen strömten auf den Hof, halfen den Reitern aus den Sätteln und labten sie mit Speise und Trank. Für einen Moment hatte Gorywynn wieder Hoffnung.
Auch Kim wurde von der Welle des Jubels erfaßt. Trotz seiner heftigen Gegenwehr wurde er aus dem Sattel gehoben und im Triumphzug über den Hof getragen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis sich die Begeisterung gelegt hatte und er wieder auf den Boden gesetzt wurde.
»Wo ist Themistokles?«
Jemand deutete auf die Befestigung hinter ihm. Kim drehte sich um und sah die weißgekleidete Gestalt des Zauberers, der mit eiligen Schritten die Treppe von der Mauer herabstürmte und sich einen Weg durch die Menge bahnte.
»Kim!« rief er erfreut. »Den Göttern sei Dank. Du lebst!«
»Ja. Und wie du siehst, komme ich nicht allein!« Kim wies auf die Reihen goldener Reiter, die sich um ihn versammelt hatten. »Ich bringe Hilfe und Rettung für Gorywynn!«
»Du lebst!« wiederholte Themistokles, als hätte er Kims Worte gar nicht gehört. »Du ahnst ja nicht, welche Sorgen uns dein Verschwinden bereitet hat. Wo sind die anderen? Gorg, Kelhim, der Drache und Priwinn?«
Kims Triumphgefühl verschwand schlagartig und machte einem Gefühl dumpfer Trauer Platz. »Gorg und Rangarig sind tot«, sagte er leise. »Sie opferten sich freiwillig, um mich und die anderen zu retten. Meine Freunde sind bei den Weltenwächtern zurückgeblieben.«
»Die Weltenwächter!«, sagte Themistokles mehr zu sich selbst. »Du warst dort? Burg Weltende existiert also wirklich?«
»Ja. Ich war dort. Und ich war auch an einem Ort, der noch viel phantastischer ist als Weltende.«
»Du... du hast den König der Regenbogen gesehen?«
»Ja, Themistokles. Und mehr noch.« Kim zögerte einen Moment und begann dann in knappen Worten zu berichten, was er erlebt hatte. Als er geendet hatte, breitete sich im ganzen Hof staunendes Schweigen aus.
»So ist es also wahr«, murmelte der Zauberer endlich. »Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren. Vielleicht kann Gorywynn noch gerettet werden.«
»Es wird gerettet werden«, sagte Kim im Brustton der Überzeugung. »Die Krieger, die ich brachte, sind nur die Vorhut. Der König der Regenbogen versprach mir, selbst zu kommen. Ich weiß, daß er sein Wort halten wird.«
Themistokles lächelte. Es war ein trauriges, mutloses Lächeln, das Kim nicht begriff und das ihn schaudern ließ.
»Komm mit«, sagte Themistokles. Er nahm Kim beim Arm, führte ihn über den Hof zur Befestigung und deutete schweigend auf die schmale gläserne Treppe, die zu den Zinnen emporführte. Kim folgte dem Zauberer die Stufen hinauf. Die Krieger hinter den Zinnen traten respektvoll beiseite, um die beiden vorbeizulassen.
Der Zauberer führte Kim in die Mitte des Walles, genau über dem großen bronzenen Tor.
»Sieh«, sagte er.
Die Ebene, die sich hinter der Burg erstreckte, so weit das Auge reichte, war schwarz von Kriegern. Noch hatte sich das schwarze Heer nicht von dem Schlag erholt, aber über den Horizont im Osten kroch unablässig Verstärkung heran. Zug um Zug. Reiter um Reiter. Kleine Gruppen von zehn, fünfzehn Mann, ein anderes Mal Hunderte; und einmal schien der Horizont selbst in Bewegung zu geraten, als ein riesiger, wohl an die Tausend zählender Heereszug herankam und sich mit der wartenden Armee vereinigte.
»So geht es seit Tagen«, sagte Themistokles ruhig. »Was du hier siehst, ist nur ein Teil von Boraas' Armee. Die Zahl seiner Krieger ist unerschöpflich. Die Männer, die du mitgebracht hast, mögen Helden sein, vielleicht die größten, die Märchenmond jemals hervorgebracht hat. Aber auch wenn einer von ihnen tausend schwarze Reiter aufwöge, hätten wir keine Chance.«
Kim starrte den Zauberer fassungslos an. »Ja, hast du mich denn nicht verstanden?« rief er. »Nicht sie allein sind die versprochene Hilfe. Der Regenbogenkönig selbst wird kommen und Boraas' Heer zerschlagen!«
»Glaubst du das wirklich?« fragte Themistokles.
»Selbstverständlich!«
»Ich wollte, du behieltest recht.«
»Aber er wird kommen!« bekräftigte Kim.
Themistokles schüttelte den Kopf. »Es ist sinnlos, Kim, sich an einen Traum zu klammern. Sinnlos und gefährlich. Auch ich habe es einen Moment lang getan. Nein, Kim. Wir haben verloren. Keine Macht der Welt kann Boraas daran hindern, Gorywynn zu nehmen. Du hast getan, was in deinen Kräften stand, ja vielleicht mehr. Aber es ist aus.«
»Aber du darfst jetzt nicht aufgeben!« rief Kim. »Jetzt erst recht nicht!«
»Dieser Meinung bin ich auch«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
Themistokles fuhr überrascht herum. Ein schlanker, in ein einfaches braunes Gewand gekleideter Mann stand hinter ihm.
»Unser kleiner Held hat recht, Themistokles. Du gibst zu rasch auf. Noch ist der Kampf nicht verloren.«
Themistokles sah den Fremden verblüfft an. »Wer seid Ihr? Und woher kommt Ihr?«
»Wer ich bin? Nun, wenn du Kim nicht geglaubt hast, wirst du mir wohl auch nicht glauben, oder?«
»So seid Ihr...« Themistokles beendete den Satz nicht.
»Wer ich bin, spielt keine Rolle, Herr von Gorywynn. Manche nennen mich den König der Regenbogen, andere anders. Aber ich bin der, auf den ihr gewartet habt.«
»Und... Ihr seid gekommen, um uns zu helfen?«
»Nicht euch«, widersprach der Regenbogenkönig. Er wies mit einer Handbewegung auf Kim. »Ihm. Aber das läuft wohl aufs gleiche hinaus.« Er blickte auf das schwarze Heer und den geborstenen Wall zu seinen Füßen und seufzte. »Ich sehe, ihr seid wirklich in großen Schwierigkeiten«, murmelte er.
Themistokles nickte. »Wenn der zweite Wall fällt, haben wir keine Männer mehr, den dritten zu besetzen.«
Der Regenbogenkönig schien zu überlegen. Plötzlich straffte er sich, deutete mit einer Kopfbewegung auf den Hof hinunter und sagte: »Gehen wir.«
Sie verließen die Mauer. Die Menge im Hof teilte sich, um ihnen den Weg zum Tor freizugeben.
»Öffnet das Tor!« befahl der Regenbogenkönig.
Themistokles hob gebieterisch die Hand, und zwei Männer setzten einen verborgenen Mechanismus in Gang, der die tonnenschweren Bronzeflügel lautlos nach außen schwingen ließ.
Der Platz zwischen dem Tor und dem geborstenen ersten Wall war leer. Die Krieger, die dem Ansturm der goldenen Reiter und dem Pfeilhagel von den Zinnen entronnen waren, hatten sich weit hinter seine Linie zurückgezogen. Die drei überquerten den mit Gefallenen und Glastrümmern übersäten Platz und erklommen die gezackten Ruinen des ersten Walles. Von hier aus wirkte das schwarze Heer noch bedrohlicher. Es war, als wogte die Steppe selbst schwarz und gefährlich heran.
Kim ballte die Fäuste, damit man nicht merkte, wie seine Hände zitterten. Er war kein Feigling, das hatte er hinlänglich bewiesen. Aber dieser Anblick war beinah mehr, als er ertragen konnte. Die vorderste Reihe der Krieger war höchstens zehn Meter von ihnen entfernt, nahe genug, daß Kim ihre haßerfüllten Blicke spüren und ihren Schweiß riechen konnte.
»Männer Morgons!« rief der Regenbogenkönig. Seine Stimme hallte so mächtig über die Steppe, daß auch der letzte Krieger jedes Wort deutlich verstehen konnte, so als stünde der Sprecher direkt vor ihm. »Hört mich an! Euer Kampf ist aussichtslos. Euer Anführer hat euch belogen, als er sagte, Gorywynn könne erobert werden. Ihr kämpft für die falsche Sache, und wenn ihr weiterkämpft, werdet ihr einen sinnlosen Tod sterben.«
Er wartete einen Moment, um seine Worte einwirken zu lassen. Dann fuhr er fort. »Zieht ab, und keinem von euch wird etwas geschehen! Legt eure Waffen ab, und ich garantiere für eure Sicherheit!«
Ein einzelner schwarzer Pfeil zischte heran und bohrte sich dicht vor seinen Füßen in das Glas.
»Gebt auf!« rief der Regenbogenkönig beschwörend. »Ihr steht auf der falschen Seite. Die Mächte des Bösen dürfen nicht siegen!«
Ein ganzer Schwarm schlanker schwarzer Pfeile hagelte gegen den Wall. Doch nicht einer von ihnen erreichte sein Ziel. Auf halbem Weg glühten sie auf, entluden sich in grellen Explosionen in allen Farben des Regenbogens und verschwanden.
Ein dröhnender, vielstimmiger Kampfschrei erhob sich aus den Reihen der schwarzen Krieger. Das Heer setzte sich in Bewegung und brandete wie eine gigantische schwarze Welle heran. Kim wollte erschrocken zurückweichen, aber Themistokles hielt ihn mit eisernem Griff am Arm fest.
Der Regenbogenkönig hatte sich hoch aufgerichtet und die Hände zum Himmel erhoben. Dünne, farbige Lichtstrahlen zuckten aus seinen Fingerspitzen nach oben, und der Himmel erstrahlte plötzlich in grellem, ungeheuer intensivem Licht. Ein Regenbogen, größer und prächtiger als alle, die Kim bisher gesehen hatte, spannte sich über das Firmament, und aus seiner Mitte zuckten Blitz auf Blitz in das schwarze Heer hinab, tauchte die Krieger in eine Flut aus Farben und Licht und ließ sie zu Hunderten aus den Sätteln stürzen.
Der Ansturm des Heeres kam ins Stocken. Ein Vorhang aus Licht fiel vom Himmel, legte sich vor das Heer und ließ auf eine Tiefe von etwa vierzig Metern Männer und Tiere hilflos zusammenbrechen. Aber Kim sah auch, daß die Männer nicht tot waren. Ihre Rüstungen glühten auf, wenn sie von den Blitzen getroffen wurden, verloren ihre tiefschwarze Farbe und verwandelten sich in normales Metall. Als einer der Reiter dicht vor Kim niederstürzte und seinen Helm verlor, sah Kim auf seinem Gesicht einen Ausdruck maßloser Verblüffung, als hätte er von einem Moment auf den nächsten jegliche Erinnerung an sich und den Grund seines Hierseins verloren. Und Kim begriff, daß die Blitze des Regenbogenkönigs nicht töteten, sondern nur Boraas' Zauber brachen.
Ohne Unterlaß peitschten die Blitze in die schwarze Armee, und am Himmel loderte ein bengalisches Feuer. Das Kriegsgeschrei hatte sich längst in einen Chor verzweifelter Hilferufe verwandelt, und der Vormarsch des Heeres war endgültig zum Stillstand gekommen.
Aber Kim sah noch etwas, was weder Themistokles noch der Regenbogenkönig zu bemerken schienen. Der Himmel flammte weiter in einem grellen Durcheinander von Farben, aber dazwischen waren plötzlich kleine schwarze Punkte entstanden, gleich dunklen Löchern in dem Schirm aus Licht, der die Wolken verdeckte. Und mit jedem Blitz, der herniederfuhr, mit jedem Reiter, der aus dem Sattel fiel, wurden es mehr, als verlöre der Regenbogen mit jedem schwarzen Krieger ein klein wenig an Kraft. Bald schon wirkte der Regenbogen pockennarbig und durchlöchert, und die schwarzen Punkte begannen zu großen, häßlichen Flecken zu verschmelzen, zwischen denen die Farben mehr und mehr verblaßten. Nach einer Weile begann der Regenbogen zu zerfasern, fing an, sich in einzelne, zerfressen wirkende Lichtstränge aufzulösen. Die niederzuckenden Blitze waren längst nicht mehr so grell wie zu Anfang, und während zuerst Hunderte von Reitern unter ihren Einschlägen gefallen waren, waren es jetzt nur noch einige wenige.
Und auch der Lichtschirm selbst verlor sichtlich an Kraft. Zwar glühten die Pfeile, die auf den Wall zielten, nach wie vor in der Luft auf und vergingen, ehe sie ihr Ziel erreichen konnten, aber sie kamen jetzt schon merklich näher.
»Themistokles!« rief Kim entsetzt. »Sieh doch!«
Themistokles nickte. Auch er schien die Gefahr endlich erkannt zu haben. »Zurück«, schrie er. »Schnell!«
Kim zögerte noch. Das schwarze Heer rückte langsam, doch unerbittlich näher. Kim fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich in Sicherheit zu bringen, und dem, dem Regenbogenkönig zu helfen.
Noch immer fuhren grelle Blitze vom Himmel nieder. Aber der unheimliche Zersetzungsprozeß des Regenbogens schien jetzt immer schneller voranzuschreiten.
Plötzlich geschah etwas Furchterregendes. Die Dunkelheit schien sich über dem Heer zusammenzuballen, eine wogende, lichtverschlingende Nebelbank aus beinah greifbarer Finsternis. Und mitten darin erschien ein riesiges, hageres Gesicht.
»Boraas!« rief Themistokles entsetzt.
Ein schauerliches Lachen ließ die Mauern Gorywynns erbeben.
»Ja, Themistokles, ich bin es!« verkündete die Erscheinung. »Eure Zeit ist endgültig abgelaufen! Meine Pläne sind aufgegangen, schneller und besser, als ich zu hoffen gewagt habe! Ich danke euch für eure Hilfe. Besonders dir, Kim. Ohne dich wäre ich niemals ans Ziel gelangt.«
Kim unterdrückte einen verzweiflungsvollen Aufschrei. Er begann zu ahnen, daß er einen fürchterlichen Fehler begangen hatte.
Wieder zuckte ein greller Blitz vom Himmel, bohrte sich mitten in das riesige Antlitz Boraas' und fuhr harmlos in den Boden, ohne der Erscheinung irgend etwas anhaben zu können. Kim wandte rasch den Kopf und schaute zum Regenbogenkönig hinüber. Er sah, wie dessen schlanke Gestalt wankte. Sein Gesicht verzerrte sich wie unter einer ungeheuren Anstrengung. Die Pfeile, die auf ihn abgeschossen wurden, kamen jetzt schon fast bis an seinen Körper heran.
»Du hast es mir ermöglicht, auch meinen größten Feind zu schlagen, Kim«, fuhr Boraas mit hohntriefender Stimme fort. »Dort, wo er wohnt, in seiner verdammten Burg aus Licht und Farben, wäre er auf ewig unerreichbar gewesen, denn nicht einmal meine Macht reicht aus, den Weg über die Unendlichkeit zu erzwingen. Aber du hast ihn verleitet, seine Heimat zu verlassen und hierherzukommen, wo er schwach und verwundbar ist. Ich danke dir, Kim. Du warst mein treuester Verbündeter!«
Wieder erscholl dieses hohle, grausame Lachen. Dann fuhr ein schwarzer, gezackter Blitz über den Himmel, löschte den Regenbogen endgültig aus und hüllte die Gestalt des Regenbogenkönigs in eine schwarze Wolke ein. Sekundenlang rangen Licht und Dunkelheit miteinander. Eine grelle Farbexplosion entlud sich über dem Schlachtfeld.
Dann brach der Schutz des Regenbogenkönigs zusammen. Er schrie auf, taumelte zurück und sank leblos zu Boden.
Das schwarze Heer brach in ungeheuren Jubel aus. Die zerschlagenen Reihen formierten sich neu, und wie auf einen stummen Befehl hin setzte sich der ganze gewaltige Heereszug in Richtung Gorywynn in Bewegung.
»Zurück!« schrie Themistokles. »Wir müssen fliehen!«
Sie fuhren herum, schlitterten an den Ruinen des Walls hinunter und rannten auf das sich öffnende Bronzetor zu. Der Boden unter ihren Füßen begann zu zittern, als Hunderte und Aberhunderte schwarzer Reiter zur Verfolgung ansetzten.
»Schnell!« rief Themistokles.
Von den Mauern Gorywynns nagelten Pfeile und Wurfgeschosse auf die Verfolger herab. Die großen Tore begannen sich zu schließen, kaum daß die Flüchtenden den Hof erreicht hatten. Aber zu spät. Die Bronzeflügel erbebten unter dem Ansturm des schwarzen Heeres. Mehr und immer mehr schwarze Reiter drangen brüllend und waffenschwingend in den Hof ein. Innerhalb weniger Augenblicke breitete sich ein fürchterliches Handgemenge aus. Die Männer Gorywynns wehrten sich mit dem Mut der Verzweiflung. Doch durch das gewaltsam geöffnete Tor strömten immer noch mehr Feinde herein.
Kim ließ sich vor einem zum Angriff ansetzenden schwarzen Reiter blitzschnell zur Seite fallen. Sein Schwert glitt aus der Scheide, klirrte gegen die Klinge des anderen und hob den Mann mit einem gezielten Hieb aus dem Sattel. Aber schon tauchte ein zweiter Feind auf, ein dritter, vierter, und Kim mußte sich weiter zurückziehen. Er hielt nach seinem Pferd Ausschau, schlug und hackte sich einen Weg durch das Getümmel. Er fand es tatsächlich, schwang sich in den Sattel, stieß einen schwarzen Reiter, der sich an sein Bein zu klammern suchte, von sich und riß sein Pferd herum.
»Helden! Steppenreiter!« schrie er über den Kampflärm hinweg. »Zu mir! Sammelt euch!« Er deutete mit dem Schwert auf das geschlossene Tor des dritten Walles und sprengte los. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er fliehen. Dann hatten seine Reiter das Tor erreicht und einen weiten Halbkreis darum gebildet.
»Das Tor auf!«
Die Torflügel schwangen auf, und Kim gab seinen Reitern mit einer Handbewegung Befehl, sich neu zu formieren. Der Halbkreis verwandelte sich in einen Keil, der krachend und berstend in die Reihen der schwarzen Reiter fuhr, formierte sich abermals neu, und zwar in einen schmalen, schnurgeraden Korridor, gebildet aus einer Doppelreihe von Reitern, der quer über den Hof bis zum dritten Wall führte. Die schwarzen Reiter verstärkten die Wucht ihres Angriffs, als sie bemerkten, welchen Plan Kim verfolgte. Aber die Doppelreihe hielt, und zwischen ihnen hindurch rettete sich Mann auf Mann hinter den Schutz des dritten, noch unbeschädigten Walles.
Kim focht in vorderster Reihe. Seine Rüstung war bald verbeult und zerrissen von den Hieben, die auf ihn herunterprasselten. Aber er kämpfte wie in einem Rausch, focht, Schmerzen und Angst vergessend und nur von dem Wunsch beseelt, so viele Männer Märchenmonds wie nur möglich in Sicherheit zu wissen. Und seine Begleiter kämpften, jeder für sich, mit dem gleichen Mut, die goldgepanzerten Helden neben den braunen, waffenlosen Gestalten der Steppenreiter und den grünen Lanzenträgern des Nordens. Die Übermacht war gewaltig, aber die Männer kämpften mit einer Tapferkeit, die ihresgleichen noch nicht gesehen hatte. Wo einer fiel, focht sein Nebenmann mit doppeltem Mut weiter und trieb die schwarzen Angreifer zurück. Endlich nahm der Strom der Flüchtenden ab, und Kim gab den Befehl zum Rückzug. Die Doppelreihe schloß sich, schrumpfte zusammen zu einem Kreis aus Schwertern und Lanzen und begann langsam auf den Wall zurückzuweichen.
Nur wenige erreichten den Schutz der Mauern. Als die Tore hinter ihnen zuschlugen und Kim sich erschöpft aus dem Sattel fallen ließ, mußte er erkennen, daß die meisten seiner Krieger das Rettungsunternehmen mit dem Leben bezahlt hatten. Am Ende seiner Kräfte, ließ er sich gegen die Flanke seines Pferdes sinken und schloß die Augen. Verzweiflung übermannte ihn. Als ihn eine sanfte Hand an der Schulter berührte und er in Themistokles' Gesicht sah, war er den Tränen nahe.
»Verloren«, sagte Kim. »Wir haben verloren, Themistokles. Es ist aus.«
Der Zauberer neigte das Haupt. »Es war nicht deine Schuld, Kim«, sagte er leise. Seine Stimme klang, als wollte er gleichzeitig um Verzeihung bitten. »Niemand konnte ahnen, wie abgrundtief böse Boraas wirklich ist und wie weit seine Macht reicht. Wenn jemanden eine Schuld trifft, so mich. Ich war es, der dich rief. Und vorher war ich es, der nicht genügend auf deine Schwester achtgab.«
»Und jetzt?« fragte Kim. »Werden wir uns halten können?«
Themistokles schüttelte traurig den Kopf. »Nein«, sagte er. »Wir sind zu wenige.«
Kim schaute zu den Zinnen hinauf. Nur eine Handvoll Krieger hatte sich auf der Mauer verschanzt und wartete mit gespannten Bögen auf den letzten, vernichtenden Angriff, und es war keiner unter ihnen, der nicht verwundet und am Rande der Erschöpfung war.
»Wir müssen aufgeben«, murmelte Kim. »Vielleicht schont Boraas ihr Leben, wenn wir uns freiwillig ergeben.«
»Ich habe es versucht, Kim«, antwortete Themistokles. »Lange bevor du kamst, habe ich Boten zu Boraas geschickt und ihm angeboten, über eine kampflose Übergabe Gorywynns zu verhandeln.«
»Und?«
»Boraas ließ mir ausrichten, er nähme nicht geschenkt, was ihm bereits gehöre. Er wollte diesen Kampf, Kim. Erwarte von Boraas keine Gnade.«
Von den Zinnen gellte ein vielstimmiger, entsetzter Aufschrei.
»Sie kommen! Der Schwarze Lord kommt!«
Themistokles wurde totenblaß. Die bloße Erwähnung des Schwarzen Lords schien ihn mehr zu erschrecken als der Anblick des ganzen schwarzen Heeres.
Ein dumpfer Schlag traf das Tor, und eine Wolke von Pfeilen sirrte über die Mauerkrone und fiel auf den Hof hinunter.
»Zurück!« befahl Themistokles. »Gebt die Mauern auf und versucht zu fliehen!«
Es hätte des Befehls nicht bedurft. Das Nahen des Schwarzen Lords schien den Mut der Verteidiger endgültig gebrochen zu haben. In wilder Panik verließen sie ihre Stellungen, rannten in den Hof hinunter oder begannen sich in den Türmen zu verschanzen. Auch Kim und Themistokles zogen sich, begleitet von der Handvoll am Leben gebliebener Reiter, zum Hauptgebäude des Märchenschlosses zurück. Wieder erzitterte das Tor unter fürchterlichen Rammstößen, und auf den Mauerzinnen erschienen die ersten schwarzen Rüstungen. Da und dort entspann sich ein kurzes, heftiges Handgemenge, aber der Widerstand Gorywynns war endgültig gebrochen, und die wenigen, die sich noch hielten, wurden von den Angreifern überrannt.
Das Tor brach, als Themistokles mit Kim und seiner Schar das obere Ende der Freitreppe erreicht hatte. Die großen Bronzeflügel neigten sich nach innen, kippten mit täuschend langsamer Bewegung und schlugen dann mit verheerender Wucht auf dem Innenhof auf. Die gesamte Festung schien zu erzittern, und in den gläsernen Fliesen des Bodens entstand ein Spinnennetz aus Sprüngen und Rissen. Eine Flut schwarzer Reiter wälzte sich in den Hof, angeführt von einer langen, gebeugten, in ein wallendes schwarzes Gewand gehüllten Gestalt und einem zweiten, viel kleineren schwarzen Krieger.
Boraas und der Schwarze Lord!
Kim stand wie gelähmt. Er starrte die beiden Erzfeinde an, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Der Schwarze Lord! Zum dritten Mal stand er dem geheimnisvollen Heerführer Morgons gegenüber. Aber es war das erste Mal, daß er ihn im Kampf erlebte, das erste Mal, daß er spürte und sah, wie unvergleichlich böse dieser kleingewachsene Mann war.
Ein Pfeilschuß streckte den Steppenreiter neben Themistokles zu Boden.
»Zurück!« befahl Themistokles abermals. Sie zogen sich ins Innere des Gebäudes zurück und verriegelten das Tor. Für einen Moment waren der Kampflärm und das Gebrüll der Angreifer ausgesperrt.
»Wohin jetzt?« fragte Kim.
»In den Thronsaal«, antwortete Themistokles und begann bereits mit langen Schritten den Gang hinunterzueilen. Als sie am Fuße der Treppe angelangt waren, die zum Thronsaal hinaufführte, erbebte das Eingangstor hinter ihnen unter einer Anzahl wuchtiger Schläge. Kim riß das Schwert aus der Scheide und versammelte mit einem kurzen Befehl seine Männer um sich. Er war entschlossen, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen.
»Nein, Kim«, sagte Themistokles ruhig, aber bestimmt. »Der Kampf ist vorbei.« Dann wandte er sich an das Dutzend tapferer Helden, die bis jetzt ausgehalten hatten. »Flieht«, sagte er, »solange noch Zeit ist. Gorywynn ist groß, und vielleicht gelingt es euch, ein Versteck zu finden oder die Burg zu verlassen. Ich werde Boraas allein empfangen.«
Die Männer zögerten noch.
»Ja«, murmelte Kim. »Themistokles hat recht.«
Einer nach dem anderen steckten die Krieger ihre Waffen weg und wandten sich zur Flucht. Kim und der Magier blieben allein zurück.
»Und du?« sagte Themistokles. »Willst du nicht auch fliehen?«
»Wohin?« fragte Kim leise. »Boraas würde nicht eher ruhen, als bis er mich gefunden hat. Er würde Gorywynn dem Erdboden gleichmachen, und wenn es mir gelänge zu entkommen, würde er nicht zögern, ganz Märchenmond in Schutt und Asche zu legen. Er würde nicht aufgeben, ehe er mich aufgestöbert hätte. Ich werde bei dir bleiben.«
Themistokles nickte, als habe er nichts anderes erwartet. »So komm«, sagte er.
Langsam, fast gelassen, als gäbe es kein schwarzes Heer und keine Gefahr, gingen sie die Treppe hinauf und betraten den Thronsaal.
Der sonnendurchflutete Saal war leer. Die Tafel war abgeräumt, und für einen winzigen Moment gab sich Kim der Illusion von Ruhe und Geborgenheit hin. Dann hallte von unten ein berstender Schlag, gefolgt vom Getrappel stählerner Stiefel auf der Treppe. Eine Horde schwarzer Krieger drängte in den Saal. Themistokles trat ihnen mit erhobenen Armen entgegen.
»Halt! Niemand darf es wagen, Gorywynns heilige Halle zu besudeln!«
Die Worte schienen die Krieger zu beeindrucken. Sie zogen sich zwar nicht zurück, blieben aber zu beiden Seiten des Einganges stehen, abwartend, die Waffen drohend erhoben.
Und dann erschien Boraas in der Tür. An seiner Seite, klein und von täuschend harmloser Gestalt, der Schwarze Lord. Sein Anblick ließ Kim aufstöhnen.
Boraas trat einen Schritt in den Saal hinein. Er musterte nacheinander Themistokles und Kim und lachte leise.
»Bruder«, sagte er höhnisch. »Endlich sehen wir uns wieder. Wie lange habe ich auf diesen Augenblick warten müssen.« Themistokles schwieg. Boraas schien auch keine Antwort zu erwarten.
»Es war ein weiter Weg, um endlich ans Ziel meiner Wünsche zu gelangen.«
»Was willst du?« fragte Themistokles ruhig. »Du hast mich besiegt. Mußt du mich auch noch verhöhnen?«
»Aber Bruder«, Boraas schüttelte den Kopf, »nichts liegt mir ferner, als dich zu verhöhnen. Doch du wirst mir erlauben, mich über meinen Sieg zu freuen. Um so mehr, als du selbst es warst, der ihn ermöglichte. Noch ist er nicht vollkommen. Aber die Würfel sind bereits gefallen.«
»Wenn es mein Tod ist, der dir noch fehlt«, sagte Themistokles, »so töte mich. Aber tu es schnell.«
»Dein Tod? Warum sollte ich deinen Tod wollen, Bruder? Wir sind vom gleichen Blut, vergiß das nicht.«
»Was willst du dann?«
»Dich«, antwortete Boraas hart. »Deine Treue. Du wirst mir schwören, an meiner Seite zu stehen, meinen Befehlen zu gehorchen und das Land nach meinen Wünschen zu verwalten. Es ist lange her, daß ich in Morgons Mauern weilte, und das Land ist fast zu groß, um von einem einzigen Mann beherrscht zu werden. Werde mein Statthalter, und ich schenke dir und ihm«, damit deutete er auf Kim, »das Leben.«
Themistokles lachte bitter. »Du mußt verrückt sein, wenn du annimmst, ich würde mich auf einen solchen Handel einlassen«, sagte er.
»Ich verlange die Entscheidung nicht sofort«, entgegnete Boraas. »Du wirst mich begleiten. Sei mein Gast, solange es dir beliebt. Du kannst dich später entscheiden.«
»Dein Gast?« höhnte Themistokles. »In deinen Kerkern, nicht wahr?«
Boraas nickte ungerührt. »Sie werden dir die Entscheidung ein wenig erleichtern. Aber bedenke, daß es wahrscheinlich besser ist, in meinem Verlies zu leben, als hier zu sterben.«
»Darüber kann man geteilter Auffassung sein«, gab Themistokles zurück. »Ich habe für übertriebenen Heldenmut nichts übrig. Aber ich ziehe einen ehrenhaften Tod dem Leben in deiner Gefangenschaft vor.«
In den gleichmütigen Ausdruck auf Boraas' Gesicht mischte sich unterdrückte Wut. »Ist das dein letztes Wort?«
Statt einer direkten Antwort legte Themistokles seinen Stab aus der Hand, ging mit gemessenen Schritten durch den Saal und nahm ein silbernes Schwert von der Wand.
»Wie du willst«, murmelte Boraas. Er scheuchte die Krieger, die hinter ihm Aufstellung genommen hatten, auseinander und nickte dem Schwarzen Lord zu.
»Du kämpfst nicht selbst?«
»Warum sollte ich? Ich weiß, daß du mir überlegen bist, Themistokles. Verlangst du Ritterlichkeit von mir?«
Themistokles schüttelte in hilfloser Wut den Kopf. »Nein, Bruder. Von dir gewiß nicht.«
Der Schwarze Lord begann Themistokles langsam zu umkreisen. Der Magier blickte dem Feind ruhig entgegen. Kim spürte deutlich die Anspannung, die von den beiden Gegnern Besitz ergriffen hatte; nicht Angst, wohl aber gegenseitiger Respekt und das Wissen um die Stärke des anderen.
Der Schwarze Lord eröffnete den Zweikampf. Er sprang mit einem wütenden Schrei vor. Seine Klinge zuckte hoch, sauste in einer phantastisch schnellen Bewegung auf das Haupt des Magiers nieder und klirrte im letzten Moment gegen dessen Waffe. Die Wucht des Aufpralls warf beide zurück, aber der Kampf setzte sich sogleich mit ungeminderter Härte fort. Kim wurde rasch in den Bann des unglaublichen Schauspiels gezogen. Noch nie hatte er zwei Gegner wie diese gesehen. Ihre Hiebe und Konterschläge wechselten so schnell, daß das Auge dem Hin und Her nicht mehr folgen konnte und nur noch verschwommene Körperumrisse und blitzende Halbkreise wahrnahm. Themistokles wich zurück, schlug nach den Beinen des Schwarzen Lords und ließ sich mit einer Gewandtheit, die seinem scheinbaren Alter Hohn sprach, über die Tafel abrollen. Ein Hieb des Schwarzen Lords spaltete den Tisch, aber da war Themistokles schon wieder auf den Beinen. Wieder trafen ihre Schwerter funkensprühend aufeinander, und diesmal war Themistokles um eine Winzigkeit schneller als sein Gegner. Seine Klinge drehte sich in einer unnachahmlichen Kreiselbewegung um die des Schwarzen Lords, prellte diesem das Schwert aus der Hand und schlug mit unbarmherziger Wucht gegen dessen Helm. Der Schwarze Lord verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Sein Helm löste sich und rollte scheppernd davon.
Kim schrie entsetzt auf, als er das Gesicht des Schwarzen Lords sah.
Es war sein eigenes!
Der Schwarze Lord war niemand anders als er selbst!
Von einer Sekunde auf die andere begriff er alles. In einer blitzartigen Vision rollte seine Flucht aus Morgon noch einmal vor seinen Augen ab, der Kerker, der Kampf auf der Burgmauer, den er niemals hätte gewinnen dürfen, seine Flucht durch den Spiegelsaal. Wieder hörte er die Worte, die Kart ihm noch im Sterben zugeflüstert hatte, und jetzt, endlich, begriff er ihren Sinn. Er sah sich wieder durch den großen, leeren Saal in Morgon rennen, sah den gigantischen schwarzen Spiegel und spürte das Gefühl der Schwäche, das ihn überkommen hatte.
Der Schwarze Lord war sein Spiegelbild! Sein negatives Spiegelbild, die Essenz all seiner schlechten Eigenschaften, aller bösen Gedanken, die er je in seinem Leben gedacht hatte.
Auch Themistokles schien in diesem Moment die Wahrheit zu erkennen. Sein zum Schlag erhobenes Schwert verharrte reglos in der Luft, und seine Augen weiteten sich.
Das kurze Zögern kostete ihn das Leben. Der Schwarze Lord sprang auf, packte sein Schwert und stieß Themistokles die Klinge bis zum Heft in die Brust.
Minutenlang hockte Kim wie betäubt neben Themistokles und starrte auf den reglosen Körper. Mit dem Tod des Magiers schien auch in ihm etwas abgestorben zu sein. Kim begann erst jetzt wirklich zu ahnen, wieviel ihm dieser gute, sanftmütige alte Mann bedeutet hatte.
»Nun, Kim«, sagte Boraas nach einer Weile. »Erkennst du jetzt, wie sinnlos jeder Widerstand gegen uns ist? Du kannst nicht gegen dich selbst kämpfen. Niemand kann das.«
Kim setzte zu einer Antwort an, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er brachte kein Wort heraus. Er blickte ins Gesicht des Schwarzen Lords - sein eigenes Gesicht - und alles, was er darin sah, waren Haß, Kaltherzigkeit, Eigennutz und Bosheit. Das sollte er, Kim Larssen, sein?
»Du bist es«, antwortete Boraas, der Kims Gedanken las. »Gut und Böse wohnen in jedem Menschen. Es gibt keinen, der nur gut oder nur schlecht wäre. Das eine kann ohne das andere nicht existieren. In den meisten Menschen gewinnt das, was ihr das Gute nennt und was ich Schwäche nenne. Nur bei wenigen überwiegt die wahrhaft starke Seite, für die wir uns entschieden haben. Themistokles hätte erkennen müssen, wer der Schwarze Lord ist, denn ihm widerfuhr - wenn auch vor langer Zeit - das gleiche Schicksal.«
»Dann bist du...«
»Ich erzählte dir, daß Themistokles und ich Brüder seien. Aber das stimmte nur zum Teil. Vor langer Zeit waren wir eins, so, wie du eins mit dem Schwarzen Lord warst. Und so, wie ein Blick in meinen magischen Spiegel aus einer Persönlichkeit zwei, dich und den Schwarzen Lord, schuf, so entstand aus dem einen Geschöpf, das wir beide einst waren, ein Doppelwesen, Themistokles und Boraas, Gut und Böse.«
Kim stöhnte. Gefühlsmäßig erfaßte er die Worte des Magiers genau; aber sein Verstand weigerte sich, sie als wahr anzuerkennen.
»Der Handel, den ich Themistokles vorschlug, gilt auch für dich«, fuhr Boraas fort. »Tritt zu mir über, und ich schenke dir das Leben. Mehr noch - ich verspreche dir, deine Schwester freizulassen.« Er deutete mit einer herrischen Geste auf den Thronsessel im Hintergrund des Saales. »Du hast schon einmal darauf gesessen, Kim. Er mag dir gehören. Ich biete dir die Herrschaft über Märchenmond.«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Kim schwach. »Ich würde die erste Gelegenheit nutzen, dich zu vertreiben.«
Boraas lächelte. »O nein, Kim. Sobald du mir dein Wort verpfändest, gehörst du mir, auf ewig. Ich habe Mittel und Wege, jedem Verrat vorzubeugen.«
Kim schwieg lange.
Dann zog er entschlossen sein Schwert aus der Scheide und sah den Schwarzen Lord herausfordernd an.
Boraas hob die Hand. Ein Hagel schwarzer Pfeile zischte heran und löschte ein für allemal Kims Bewußtsein aus.