XX

Eine kühle Hand lag auf seiner Stirn, als er erwachte. Er lag in einem weichen Bett, warmes Sonnenlicht kitzelte sein Gesicht, und von irgendwoher wehte leise Musik an sein Ohr.

Aber das ist unmöglich! dachte er. Ich bin doch tot! Er erinnerte sich genau an die schwarzen Pfeile, und er glaubte auch noch die schmetternden Schläge zu hören, mit denen sich die Geschosse durch seine Rüstung gebohrt hatten.

»Nun«, sagte eine vertraute Stimme. »Wie geht es dir?«

Kim riß die Augen auf und starrte ungläubig in das Gesicht, das sich besorgt über ihn beugte.

»Priwinn!«

Der Steppenprinz nickte. »Kein anderer, kleiner Held.«

»Aber wieso...« Kim setzte sich auf und schlug die Decke zurück. Er war nackt bis auf einen schmalen weißen Lendenschurz, und seine Haut war unverletzt, ohne den kleinsten Kratzer. »Priwinn«, sagte er noch einmal. »Du... du lebst!«

»Was heißt hier du?« sagte eine Stimme von der anderen Bettseite her. »Wir!«

Kim fuhr herum und konnte es kaum fassen. »Ado!« rief er. »Auch du? Ist vielleicht Kelhim...«

»Ja, auch er«, sagte Ado. »Und Gorg und Rangarig ebenso.«

»Dann... dann seid ihr also alle noch am Leben! Und ihr seid zurückgekommen! Habt ihr die Eisriesen überredet, euch zu helfen?«

Priwinn grinste. »Nein, Kim. Sie pflegten uns gesund. Und sie fanden auch Gorg und den Drachen, die beide schwer verwundet waren und fiebernd durch die Berge irrten. Aber sie geleiteten uns nur bis an die Grenze ihres Reiches. Den Rest des Weges legten wir auf Rangarigs Rücken zurück.« Kim verstand nun überhaupt nichts mehr. Er schüttelte verwirrt den Kopf, stand auf und trat mit zitternden Knien ans Fenster. Goldenes Sonnenlicht umgab die gläsernen Mauern Gorywynns wie mit einem flammenden Glorienschein, und auf dem Hof unten, winzig klein und wie bunte Ameisen wimmelnd, bewegten sich Menschen.

»Aber wie...« fragte Kim stockend. »Ich verstehe nicht...«

»Du kannst es auch nicht verstehen«, sagte Ado. »Niemand hat es gewußt. Boraas selbst hat den Untergang prophezeit. Aber nicht einmal er hat die Wahrheit erkannt.«

Kim machte ein ratloses Gesicht. »Ich begreife kein Wort«, gestand er. »Wieso seid ihr hier? Wieso ist Gorywynn nicht zerstört? Ich habe gesehen, wie seine Wälle fielen...«

Priwinn unterbrach ihn mit einer sanften Handbewegung. »Deine Verwirrung ist nur zu verständlich, Kim«, sagte er. »Aber ein anderer soll dir erklären, was geschehen ist. Zieh dich an, wenn du dich kräftig genug fühlst.«

Kräftig? Kim fühlte sich so wohl und ausgeruht wie seit langem nicht mehr. Er ging zum Bett zurück, warf einen Blick auf die schwarze Rüstung, verwarf den Gedanken und streifte ein einfaches graues Gewand über, das daneben auf einem Stuhl lag. Ohne es erklären zu können, wußte er einfach, daß er die Rüstung nicht mehr brauchte.

Priwinn und Ado warteten geduldig, bis er sich angekleidet hatte. Dann deutete Ado mit einer einladenden Handbewegung auf die Tür, und Kim verließ zwischen ihm und Priwinn das Zimmer. Sie gingen den bekannten Weg durch die gläsernen Korridore zum Thronsaal hinauf, und überall begegneten ihnen lachende Menschen, Männer, Frauen und Kinder, Feen und Elfen und andere Zauberwesen. Nichts erinnerte mehr an den fürchterlichen Kampf, der noch vor kurzem hier getobt hatte. Gorywynn und seine Bewohner schienen von einem Angriff des schwarzen Heeres überhaupt nichts zu wissen.

Kims Neugierde wuchs fast ins Unerträgliche, aber er beherrschte sich und stellte keine Fragen. Dann endlich standen sie vor der Tür des Thronsaales.

»Mach dich auf eine Überraschung gefaßt«, sagte Priwinn geheimnisvoll. Kim sah den Steppenprinz fragend an. Dann streckte er die Hand nach der Klinke aus und öffnete die Tür.

Die große Tafel in der Mitte des Saales war unversehrt. Stühle und Sessel, jeder anders als der andere, jeder in Größe und Form seinem Benutzer angepaßt, umstanden sie. »Themistokles!« entfuhr es Kim. »Tümpelkönig! Harkvan!«

Sie alle waren da. Themistokles, der Steppenkönig, Ados Vater, nun kein trauriger alter Mann mehr, sondern ein großer König in einem herrlichen Gewand und mit einer schimmernden Krone; Brobing und seine Familie, die Taks, Gorg und Kelhim - und viele, viele mehr. Alle, die an Kims Seite gewandert waren, mit ihm gefochten hatten und gefallen waren, waren an der langen Tafel versammelt, jeder gesund und unverletzt, und alle blickten ihm mit strahlendem Lächeln entgegen.

Priwinn stupste Kim aufmunternd in den Rücken, und Kim stolperte auf die Tafel zu.

»Setz dich, Kim«, sagte Themistokles freundlich. Er deutete auf den leeren Stuhl an der Stirnseite des Tisches, und Kim, der vor Neugierde fast platzte, gehorchte.

»Ihr lebt!« Die beiden Worte drückten alles aus, was Kim in diesem Moment empfand; die grenzenlose Erleichterung und unbezähmbare Freude, die totgeglaubten Kameraden wiederzusehen.

»Ja, Kim, wir leben. Gorywynn ist in alter Pracht wiedererstanden. Keinem Bewohner Märchenmonds wurde ein Leid zugefügt«, sagte Themistokles. »Und der König der Regenbogen existiert weiter in seiner Burg jenseits von Raum und Zeit.«

»Wir hielten es für besser, dich von Priwinn und Ado wecken zu lassen, um dir Zeit zu geben, den ersten Schreck zu überwinden«, sagte Gorg augenzwinkernd.

»Aber wie kann das sein?« fragte Kim schwach. »Ich habe gesehen, wie...«

Themistokles hob die Hand.

»Nichts von dem, was du erlebt hast, ist unwahr«, sagte er ruhig. »Alles ist so geschehen, wie es geschehen mußte, und doch ist es, als hätte es Boraas nie gegeben.«

»Aha«, machte Kim, in so verdutztem Ton, daß Themistokles sich das Lachen verbeißen mußte.

»Boraas selbst hat dir die Erklärung für das, was geschehen ist, gegeben«, fuhr der Zauberer lächelnd fort. »Erinnerst du dich, was er über das Miteinander von Gut und Böse im Menschen gesagt hat?«

Kim nickte. »Daß jeder Mensch sowohl das eine als auch das andere in sich trägt.«

»Ja. Aber noch etwas, was sogar noch wichtiger ist und dessen innerste Bedeutung Boraas offenbar selbst nicht erkannt hat. Auch mir blieb es im tiefsten Sinne verborgen; so lange, bis ich das Gesicht des Schwarzen Lords sah. Die Tatsache nämlich, daß das eine nicht ohne das andere existieren kann; daß kein Mensch entweder vollkommen gut oder vollkommen schlecht ist. Gut und Böse sind wie zwei untrennbar miteinander verbundene Teile eines Ganzen. Vernichte das eine, und du wirst unweigerlich das andere mit zerstören. Boraas hat in seiner Gier nach Macht und Gewalt vergessen, daß er letztlich nur ein Teil von mir ist, so, wie der Schwarze Lord ein Teil von dir ist. Hätte er sich damit begnügt, uns zu unterwerfen, hätte er den Sieg davontragen können. Aber er wollte uns zerstören, restlos und endgültig, und indem es ihm gelang, zerstörte er sich selbst.«

»Du meinst, er lebt nicht mehr?« fragte Kim vorsichtig.

Themistokles sah ihn durchdringend an. »Doch, Kim. Aber er und ich, wir wurden wieder eins, in dem Moment, als er mich vernichtete; so, wie der Schwarze Lord wieder zu einem Teil von dir wurde, als du unter den Pfeilen Boraas' starbst. Die beiden existieren weiter in uns, und begehe niemals den Fehler, sie zu vergessen.«

»Und Morgon?« fragte Kim. »Morgon und das Reich der Schatten?«

»Sie hörten auf zu existieren, als Gorywynn in Trümmer sank. Denn so, wie Morgons Heerscharen nichts als schwarze Spiegelbilder der Bewohner Märchenmonds waren, so war Burg Morgon nichts anderes als ein negatives Spiegelbild Gorywynns. Boraas' einziger Fehler. Er hat vergessen, daß ein Spiegelbild nur so lange Bestand haben kann, als das Original existiert. So vernichtete er sich schließlich selbst. Im Kampf mag das Gute dem Bösen unterlegen sein. Aber Boraas hat vergessen, daß Gewalt sich letztlich immer gegen sich selbst richtet.«

»Dann ist alles, wie es vorher war?« fragte Kim ungläubig.

»Ja. Das Reich der Schatten ist wieder ein Land, in dem die Menschen glücklich sein können. Morgon existiert nicht mehr, und das schwarze Heer ist wie ein böser Spuk verschwunden. Aber all dies war nötig. Nur durch die vollkommene Niederlage konnten wir am Ende siegen.«

Kim dachte lange über die Worte des Magiers nach. Das Böse kann nicht ohne das Gute existieren, dachte er. Aber das Gute auch nicht ohne das Böse. Es war ständig in ihnen, in Themistokles, Ado, in ihm - in allen. Der Schwarze Lord würde immerfort auf der Lauer liegen, bereit, beim kleinsten Anzeichen von Schwäche hervorzuspringen und die Herrschaft an sich zu reißen. Sie hatten gesiegt, ja, aber sie mußten wachsam bleiben, weil ein vollkommener Sieg der einen über die andere Seite ausgeschlossen war. Und wenn dies die Lehre war, die sie aus allem gezogen hatten, dann hatte sich die Anstrengung gelohnt.

»Und Rebekka?« fragte er.

Themistokles erhob sich und ging zur Tür. Als er sie öffnete, stand draußen ein kleines, blondzöpfiges Mädchen. Sein Gesicht wirkte nicht mehr blaß und eingefallen, sondern rosig und gesund, und in seinen Augen blitzte der Schalk.

»Rebekka!« rief Kim erfreut. Er sprang so heftig auf, daß der Stuhl polternd umfiel, lief auf seine Schwester zu und umarmte sie stürmisch. »Du bist frei!« sagte er. »Du bist gesund und frei!«

Themistokles stand lächelnd neben ihnen und wartete geduldig, bis sie ihre erste Wiedersehensfreude ausgetobt hatten. Dann räusperte er sich.

Kim besann sich. »Jetzt ist wirklich alles gut«, sagte er.

»Nur eines bleibt uns noch zu tun«, sagte Themistokles ernst.

»Was?«

Themistokles ergriff Kims und Rebekkas Hand. Die versammelten Helden an der Tafel erhoben sich, und der Zauberer schritt an ihnen vorbei auf den Thron Gorywynns zu.

»Er gehört euch«, sagte er einfach. »Ihr zwei habt Gorywynn gerettet, und so gebührt euch auch der Ehrenplatz an der Spitze Märchenmonds.«

Kim schüttelte erschrocken den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Ich will ihn nicht.«

Themistokles lächelte. »Aber er gebührt euch. Ohne euch hätte das Böse gesiegt, und Jahrhunderte der Tyrannei wären über Märchenmond hereingebrochen.«

Aber Kim blieb standhaft. »Wir haben nur getan, was jeder andere auch getan hätte. Er gebührt uns nicht.«

»Wie du willst, Kim. Aber der Thron steht bereit und wartet. Wann immer du willst, kannst du ihn besteigen, und ganz Märchenmond wird dir zu Diensten sein.«

Die Zeit verging. Die Tage wurden kürzer, die Nächte kälter, und eines Morgens lag der erste Schnee auf den gläsernen Zinnen der Märchenburg. Kim und Rebekka waren glücklich und zufrieden, und wenn sie auch niemals Anspruch auf den Thron erhoben hatten, so wurden sie doch von jedem Bewohner Märchenmonds ehrfurchtsvoll und wie Könige behandelt, und es gab keinen unter ihnen, der nicht ihr Freund gewesen wäre. Sie bereisten das ganze Land, besuchten die Taks und den Hof der Brobings, verbrachten Wochen im Reich des Tümpelkönigs und waren oft und gern gesehene Gäste in der Steppenfestung Caivallon, die ebenfalls in alter Schönheit wiedererstanden war. Und nach und nach vergaßen sie das Schreckliche, das sie erlebt hatten, und als im Frühjahr der Schnee schmolz, schmolzen mit ihm auch die Erinnerungen an Boraas und Morgon dahin. Als das Frühjahr kam, brachen sie zu einer großen Reise durch Märchenmond auf. Rangarigs goldene Flügel trugen sie überallhin. Sie sahen Wunder über Wunder, Dinge, die keines Menschen Auge je erblickt hatte oder je wieder erblicken würde.

Eines Tages aber, lange nachdem sie von ihrer Reise zurückgekehrt waren, ergab es sich, daß Kim und Rebekka allein im Thronsaal waren. Und plötzlich, ohne ein Wort der Vereinbarung, schritten beide auf den hölzernen Thron Märchenmonds zu. Die steinernen Säulen zu beiden Seiten des Sessels begannen zu glühen, und als die Geschwister nebeneinander auf der breiten, harten Sitzfläche Platz nahmen, überstrahlte ein grelles Licht den Sonnenschein vor den Fenstern. Eine große, warme Müdigkeit umfing sie, und Arm in Arm schliefen sie ein.

»Kim! Wach auf!«

Jemand rüttelte ihn an der Schulter, sanft, aber ausdauernd. Und wieder sagte eine vertraute Stimme! »Kim, wach auf! Wir müssen weg! Schnell!«

Kim blinzelte, öffnete dann vollends die Augen und schaute verwundert ins Gesicht seiner Mutter. Das Zimmer war dunkel, nur vom Flur her fiel ein schmaler Streifen gelben Lichts herein. Die Zeiger des Weckers neben seinem Bett standen auf halb fünf. Kim fuhr sich müde mit den Händen über das Gesicht, setzte sich auf und murmelte! »Was ist los? Wo ist Themistokles, und wie komme ich hierher?«

»Du hast geträumt, Junge«, sagte Mutter beruhigend. »Komm jetzt. Zieh dich an. Wir müssen in die Klinik!«

»Klinik?« fragte Kim verwirrt. Er schlug die Decke zurück und schwang schwerfällig die Beine aus dem Bett. Er hörte Vater unten in der Diele telefonieren. Als er aufstand und zögernd nach seinen Kleidern griff, verließ Mutter mit schnellen Schritten das Zimmer. »Beeil dich«, wiederholte sie. »Wir müssen gleich weg. Ich erkläre dir alles unterwegs.«

Kim zog sich schlaftrunken, mit umständlichen Bewegungen an. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken wie die vielen Teile eines Puzzlespiels durcheinander, und es fiel ihm schwer, sich auf eine so einfache Tätigkeit wie das Zuknöpfen seines Hemdes zu konzentrieren.

Was war geschehen? Soeben noch hatte er auf dem Thron Märchenmonds gesessen. Und jetzt fand er sich hier, in seinem dunklen, kühlen Zimmer, und seine Eltern waren in heller Aufregung und drängten mitten in der Nacht zum Aufbruch.

Er nahm seine Strickjacke vom Stuhl, ging zur Tür und knipste das Licht an. Sein Zimmer war unverändert. Die angefangenen Hausaufgaben lagen da, als wäre wirklich nur eine einzige Nacht vergangen, und auch das Buch, in dem er gelesen hatte, lag aufgeschlagen am Boden.

Kim löschte kopfschüttelnd das Licht und ging die Treppe ins Erdgeschoß hinunter. Vater telefonierte noch immer, aber er hatte bereits seinen Parka übergestreift. Seine Haare standen wirr nach allen Seiten ab. Auch zum Rasieren hatte es offenbar nicht mehr gereicht, so daß er ein wenig wie ein stoppelbärtiger Bruder des alten Tak aussah.

Vater hängte ein, als er Kim auf der Treppe sah. Mutter kam aus der Küche, strich sich noch einmal glättend über das Haar und ging zur Tür. »Die Klinik hat angerufen«, sagte sie. »Wir müssen zu deiner Schwester. Schnell.«

»Wieso in die Klinik? Rebekka ist doch gesund!«

Vater sah Kim verständnislos an. Aber Mutters müdes Gesicht strahlte mit einem Mal auf. »Ja, Kim«, sagte sie glücklich. »Deine Schwester ist gesund. Es ist wie ein Wunder.«

»Ein Wunder?« empörte sich Kim. »Es war schwer genug.«

Aber weder Vater noch Mutter schenkten seinen Worten Beachtung. Sie verließen das Haus, und Kim und Mutter warteten frierend an der Bordsteinkante, bis Vater den Wagen aus der Garage gefahren hatte.

Die Straßen wirkten wie leergefegt, als sie durch die schlafende Stadt in Richtung Autobahn fuhren. Ein einziger Wagen kam ihnen entgegen, und als sie wenige Minuten später über die Südbrücke brausten, schien selbst der Fluß schlafend unter ihnen zu liegen. Kim überlegte, ob er seinen Eltern von seinen und Rebekkas Abenteuern in Märchenmond erzählen sollte, aber dann sagte er sich, daß sie ihm jetzt bestimmt nicht zuhören würden. Außerdem, so vermutete er, würden sie ihm ohnehin nicht glauben. Wenigstens im Moment nicht.

Vater bog mit kreischenden Reifen in die Mohrenstraße ein. Die Klinik lag groß und dunkel vor ihnen. Hinter einigen Fenstern brannte trotz der frühen Stunde noch - oder schon wieder - Licht. Vater fuhr direkt in die Einfahrt, stieg aus und verhandelte eine Zeitlang mit dem griesgrämig dreinblickenden Nachtwächter hinter der Glasscheibe. Schließlich nickte der Mann, und Vater kam zum Wagen zurück und ließ den Motor an. Die rotweißlackierte Schranke hob sich mit leisem Summen, und sie fuhren den Weg zur chirurgischen Klinik entlang, den sie am vergangenen Tag gelaufen waren. Sie mußten eine Weile vor der verschlossenen Tür warten, ehe endlich das Licht anging und eine Nachtschwester öffnete.

»Herr und Frau Larssen?« fragte sie.

Vater nickte. »Ja. Wir... ich...«

Die Schwester lächelte. »Doktor Schreiber hat mir gesagt, daß Sie kommen«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. »Folgen Sie mir bitte. Aber leise. Unsere anderen Patienten schlafen noch.«

Sie folgten der Schwester über den breiten, nur notdürftig erleuchteten Flur. Die Bänke, auf denen gestern noch Leute gesessen hatten, wirkten jetzt verwaist und seltsam hart und unbequem. Als sie auf die geschlossene Glastür der Kinderabteilung zugingen, hatte Kim für einen winzigen Moment das Gefühl, nicht ihre eigenen Spiegelbilder, sondern die dreier hochgewachsener, schlanker Gorywynner zu sehen.

Die Schwester öffnete die Tür. Sie legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihnen weiterzugehen.

Dr. Schreiber erwartete sie am Ende des langen, hellgelb gestrichenen Ganges. Er lächelte erfreut, und obwohl er übernächtigt und müde aussah und unter seinen Augen dunkle Ringe lagen, war die Erleichterung auf seinem Gesicht nicht zu übersehen. Er schüttelte erst Vater, dann Mutter wortlos die Hand, streichelte Kim flüchtig über den Kopf und öffnete dann die Tür zu Rebekkas Zimmer.

Mutter stieß einen halblauten Schrei aus, stürzte zum Bett und riß Rebekka in stürmischer Umarmung an sich. Plötzlich begann sie zu weinen, laut und hemmungslos. Doch diesmal waren es Tränen der Freude, denn ihre Tochter saß gerade aufgerichtet im Bett, wach, wohl noch ein wenig blaß und verstört, aber bei vollem Bewußtsein.

»Das ist...« Vater schluckte und setzte nochmals an. Aber die Stimme versagte ihm wieder. Auch in seinen Augen glänzten Tränen.

»Es ist wie ein Wunder«, sagte Dr. Schreiber. »Ich als Mediziner dürfte das Wort eigentlich nicht in den Mund nehmen, aber ich tue es trotzdem. Als ich vor einer Stunde von der Nachtschwester gerufen wurde, da...« Plötzlich versagte auch ihm, von innerer Bewegung überwältigt, die Stimme.

Vater reichte ihm stumm die Hand, drückte sie und umarmte dann den kleingewachsenen Arzt wie einen lieben Verwandten.

Auch Kim trat langsam an das große, weiße Bett. Er blickte zuerst auf die chromblitzenden Apparate an der Wand, die jetzt aufgehört hatten zu blinken und zu summen, und dann ins Gesicht seiner Schwester.

Weder Kim noch Rebekka sagten ein Wort über das gemeinsam Erlebte - weder jetzt noch später. Aber als Kim zögernd die Hand ausstreckte und den zerrupften, einäugigen, einohrigen Stoffteddy von der Bettdecke nahm und als er dann dem Blick seiner Schwester begegnete, da wußte er, daß er nicht geträumt hatte. Märchenmond und Gorywynn existierten, irgendwo.

Mochten die Erwachsenen ruhig an ein medizinisches Wunder glauben. Rebekka und er wußten es besser. Aber das würde ihr Geheimnis bleiben. Vielleicht, dachte Kim, vielleicht würden sie irgendwann noch einmal nach Märchenmond reisen.

Er drückte Kelhim an sich, setzte ihn dann behutsam auf die Bettdecke zurück und trat ans Fenster, um auf die erwachende Stadt hinunterzublicken.


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