Die Wahrheit

Ich sitze hier und schreibe, in einem verschlossenen Zimmer mit einer Tür ohne Klinke, auch das Fenster läßt sich nicht öffnen. Die Scheibe ist aus unzerbrechlichem Glas. Ich habe es ausprobiert. Nicht aus Lust, zu fliehen; auch nicht aus Wut; ich wollte mich nur überzeugen. Ich schreibe an einem Tisch aus Holz, aus Nußholz. Papier habe ich genug. Schreiben ist erlaubt. Nur liest das niemand. Aber ich schreibe doch. Ich will nicht allein sein, und zum Lesen bin ich nicht imstande. Was sie mir zu lesen geben, das ist alles nicht wahr, vor den Augen beginnen mir die Buchstaben zu hüpfen, und ich verliere die Geduld. Was sie enthalten, das kümmert mich überhaupt nicht, seit ich verstanden habe, wie es in Wahrheit ist. Hier sorgen sie sehr für mich. Morgens gibt es ein Bad, warm oder lau, mit feinem Duft. Ich habe entdeckt, worauf der Unterschied zwischen den Wochentagen beruht: dienstags und samstags riecht das Wasser nach Lavendel, an den anderen Tagen nach Nadelwald. Dann folgen das Frühstück und die ärztliche Visite. Einer der jüngeren Ärzte (an seinen Namen erinnere ich mich nicht; nicht daß mit meinem Gedächtnis etwas nicht in Ordnung wäre, aber ich bemühe mich jetzt, mir unwichtige Dinge nicht zu merken), der interessierte sich für meine Geschichte. Ich erzählte sie ihm zweimal, vollständig, und er nahm sie auf Tonband auf. Ich nehme an, er wollte sie wiederholt hören, um beide Erzählungen zu vergleichen und auf diese Weise herauszufinden, was darin unverändert blieb. Ich habe ihm gesagt, was ich denke, und auch, daß die Einzelheiten nicht wesentlich sind.

Ich fragte auch, ob er beabsichtige, meine Geschichte als sogenannten klinischen Fall zu bearbeiten, um die Aufmerksamkeit der Ärztewelt auf sich zu lenken. Er wurde ein wenig verlegen. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, jedenfalls hat er seit damals aufgehört, mir gefällig zu sein.

Aber das alles ist nicht von Bedeutung. Das, was ich teils durch Zufall, teils infolge sonstiger Umstände herausgefunden habe, ist in gewissem (trivialem) Sinne auch nicht von Bedeutung.

Es gibt zwei Arten von Tatsachen. Die einen können nutzbringend werden, solche zum Beispiel, wie die, daß Wasser bei hundert Grad siedet und in Dampf übergeht, der dem Boyle-Mariotteschen und den Gay-Lussacschen Gesetzen unterworfen ist; dank diesem Umstand konnte einst die Dampfmaschine gebaut werden. Andere Tatsachen haben solche Bedeutung nicht, denn sie betreffen alles, und vor ihnen gibt es keine Flucht. Sie kennen weder Ausnahmen noch Anwendungen, und so gesehen ergeben sie nichts. Manchmal können sie für jemanden unangenehme Konsequenzen haben.

Ich müßte lügen, zu behaupten, ich sei mit meiner derzeitigen Lage zufrieden, und die Angaben in meiner Krankengeschichte seien mir völlig gleichgültig. Da ich jedoch weiß, daß meine einzige Krankheit meine Existenz ist und daß ich dieser immer fatal endenden Erkrankung zufolge die Wahrheit herausgefunden habe, bin ich im Besitz einer kleinen Genugtuung, wie jeder, der einer Mehrheit gegenüber im Recht ist. In meinem Falle — der ganzen Welt gegenüber.

Dies kann ich deshalb sagen, weil Maartens und Ganimaldi tot sind. Die Wahrheit, die wir gemeinsam aufdeckten, hat sie getötet. In die Sprache der Mehrheit übersetzt, besagen diese Worte nicht mehr, als daß sich ein Unglücksfall ereignet habe. In der Tat hat sich einer ereignet, aber viel früher, vor etwa vier Milliarden Jahren, als von der Sonne abgerissene Feuerfetzen sich zur Kugel einzuringeln begannen. Das war die Agonie; alles übrige, mitsamt diesen dunklen kanadischen Fichten vor dem Fenster und dem Gezwitscher der Pflegerinnen und meinem Geschreibsel, das ist nur mehr Spuk nach dem Tode. Wessen? Wißt ihr es wirklich nicht?

Aber ihr schaut gern ins Feuer. Wenn nicht, dann nur aus Vernunft oder aus Trotz. Versucht nur, euch ans Feuer zu setzen und den Blick davon abzuwenden; gleich überzeugt ihr euch, wie es anzieht. All das, was in den Flammen vorgeht (und da geht sehr viel vor), das verstehen wir nicht einmal zu benennen. Wir haben dafür einige zehn nichtssagende Bezeichnungen. Im übrigen hatte ich davon keine Ahnung, wie jeder von euch. Und trotz meiner Entdeckung wurde ich nicht zum Feueranbeter, so wie die Materialisten nicht oder jedenfalls nicht notwendig zu Materieanbetern werden.

Im übrigen, das Feuer… Es ist bloß Anspielung. Andeutung. Deshalb kommt mich das Lachen an, wenn die biedere Frau Doktor Merriah manchmal zu einem Fremden sagt (selbstverständlich ist das irgendein Arzt, der unsere mustergültige Anstalt besichtigt), dieser Mensch dort, der Dürre, der sich dort sonne, das sei ein Pyroparanoiker. Spaßiges Wort, stimmt's? Pyroparanoiker. Was heißen soll, daß mein wirklichkeitswidriges System das Feuer zum Nenner habe. So, als glaubte ich „an das Leben des Feuers“ (eigene Worte der kreuzbraven Doktor Merriah). Versteht sich, daß daran kein Wort wahr ist. Das Feuer, das wir gern anschauen, ist ebenso lebendig wie die Fotografien unserer teuren Verstorbenen. Man kann es ein Leben lang studieren und nichts herausfinden. Die Wirklichkeit ist, wie immer, komplizierter, doch auch weniger boshaft.

Viel habe ich aufgeschrieben, und Inhalt ist wenig darin. Aber dies hauptsächlich deshalb, weil ich viel Zeit habe. Ich weiß ja, daß ich dann, wenn ich zu den wichtigen Sachen gelange, wenn ich sie bis zum Ende abschildere, wahrhaft in Verzweiflung versinken kann. Bis zu der Stunde, da diese Notizen vernichtet werden und da ich mich anschicken kann, neue zu schreiben. Ich schreibe nicht immer gleich. Ich bin keine Musikkonserve.

Ich wollte, die Sonne schiene ins Zimmer; aber um diese Jahreszeit stattet sie ihren Besuch nur vor vier Uhr ab, zudem auch noch kurz. Ich würde sie gern durch ein großes, gutes Gerät beobachten, zum Beispiel durch das auf dem Mount Wilson, das Humphrey Field vor vier Jahren errichtet hat, mit einer ganzen Garnitur von Absorptoren für das Übermaß an Energie, so daß der Mensch ruhig stundenlang das zerfurchte Gesicht unseres Vaters betrachten kann. Schlecht habe ich das gesagt, denn das ist kein Vater. Der Vater gibt Leben, die Sonne aber stirbt nach und nach, gleich vielen Milliarden anderer Sonnen.

Vielleicht wird es schon Zeit, an die Einweihung in jene Wahrheit zu schreiten, die ich durch Zufall und Forschensdrang gewann. Ich war damals Physiker. Fachmann für hohe Temperaturen. Das ist ein Spezialist, der sich so mit dem Feuer beschäftigt wie der Totengräber mit dem Menschen. Maartens, Ganimaldi und ich, wir arbeiteten zu dritt beim großen Plasmatron von Boulder. Früher hat sich die Wissenschaft im weit kleineren Maßstab der Eprouvetten, Retorten, Stative bedient, und die Resultate waren entsprechend kleiner. Wir — entnahmen der zwischenstaatlichen Sammelschiene Energie von einer Milliarde Watt und trieben sie in den Bauch eines Elektromagneten, von dem ein Abschnitt allein 70 Tonnen wog; in den Fokus des Magnetfeldes aber brachten wir eine große Quarzröhre.

Durch die Röhre lief von einer Elektrode zur anderen die elektrische Entladung, und ihre Leistung war so groß, daß sie von den Atomen die Elektronenhüllen abriß, so daß bloßer Brei aus erglühten Kernen zurückblieb, entartetes Kerngas, auch Plasma genannt, das in einer hundertmilliardstel Sekunde explodiert wäre und uns, die Panzer, den Quarz und die Elektromagneten mitsamt ihrer Betonverankerung, mit den Mauern des Bauwerks und seinem von ferne glitzernden Kuppeldach in eine Pilzwolke verwandelt hätte, und dies alles weit rascher, als die bloße Möglichkeit eines solchen Ereignisses sich denken läßt — wenn jenes Magnetfeld nicht gewesen wäre.

Dieses Feld preßte die Entladung zusammen, die durchs Plasma lief, drehte daraus etwas wie eine glutpulsende Schnur, einen dünnen, harte Strahlung sprühenden Faden, der, von Elektrode zu Elektrode ausgespannt, innerhalb des im Quarz eingeschlossenen Vakuums schwang; das Magnetfeld ließ die nackten Kernteilchen mit Temperaturen von einer Million Grad den Wänden des Gefäßes nicht nahe kommen und bewahrte so uns und unser Experiment. Aber das alles findet ihr in der Sprache hochgemuter Populärfassungen im erstbesten Buch, und ich wiederhole das unbeholfen nur der Ordnung halber, weil mit irgend etwas begonnen werden muß und weil doch nicht wohl jene Doppeltür ohne Klinke als Anfang dieser Geschichte gelten kann, oder ein Leinensack mit sehr langen Ärmeln. Allerdings fange ich im Moment zu übertreiben an, denn solche Säcke, solche Zwangsjacken werden nicht mehr verwendet. Sie sind nicht nötig, da man eine gewisse Sorte drastisch beruhigender Arzneimittel entdeckt hat. Aber lassen wir das.

Das Plasma also untersuchten wir, mit Plasmafragen befaßten wir uns, wie es sich für Physiker ziemte: theoretisch, mathematisch, weihevoll, erhaben und geheimnisvoll — in dem Sinne zumindest, daß wir dem Drängen unserer ungeduldigen, nichts von Wissenschaft verstehenden finanziellen Schutzherren Verachtung entgegenbrachten; die forderten nämlich Ergebnisse, die konkrete Anwendungen zeitigen sollten. Sich über solche Ergebnisse oder zumindest über deren Wahrscheinlichkeit auszulassen, war damals große Mode. So sollte denn ein vorläufig bloß auf dem Papier projektiertes Plasmatriebwerk für Raketen entstehen, sehr vonnöten war auch ein Plasmazünder für Wasserstoffbomben, für diese „reinen“, ja, theoretisch auszuarbeiten war sogar ein Wasserstoffreaktor oder ein thermonukleares Element nach dem Plasmaschnur-Prinzip. Kurzum, die Zukunft wenn nicht der Welt, dann zumindest ihres Energie— und Transportwesens sah man im Plasma. Das Plasma war, wie gesagt, in Mode; sich mit seiner Erforschung zu befassen, gehörte zum guten Ton, wir aber waren jung, wir wollten das tun, was am wichtigsten war und was Glanz einbringen konnte, Ruhm, im übrigen, was weiß ich? Auf die ersten Beweggründe zurückgeführt, werden die menschlichen Handlungen zu einem Häufchen von Plattheiten; Vernunft und Mäßigung wie auch die Eleganz der Analyse beruhen darauf, Querschnitt und Fixierung an der Stelle maximaler Komplikation zu vollziehen, nicht an ihren Quellen, denn alle Leute wissen ja, daß selbst die Quellen des Mississippi nicht viel Imponierendes an sich haben und daß jeder mit Leichtigkeit darüberspringen kann. Daher kommt eine gewisse Verachtung für die Quellen. Aber ich bin, wie es meine Art ist, vom Thema abgekommen.

Die großen Pläne, die wir und Hunderte andere Plasmologen durch unsere Untersuchungen verwirklichen helfen sollten, stießen nach einiger Zeit auf eine Zone ebenso unverständlicher wie unangenehmer Phänomene. Bis zu einer gewissen Grenze, der Grenze mittlerer Temperaturen (mittlerer nach kosmischen Begriffen, solcher also, wie sie an der Oberfläche der Sterne herrschen), verhielt sich das Plasma fügsam und solid. Wurde es mit angemessenen Fesseln gebunden, etwa mittels jenes Magnetfeldes oder gewisser raffinierter Tricks, die auf dem Induktionsprinzip beruhen, so ließ es sich in die Tretmühle praktischer Anwendungen spannen, und zum Schein konnte seine Energie verwertet werden. Zum Schein, denn mehr Energie wurde für das Aufrechterhalten der Plasmaschnur aufgewendet, als man daraus gewann; die Differenz setzte sich in Verluste durch Strahlung um — und eben in Entropiezunahme. Die Bilanz war für den Augenblick nicht wichtig, denn aus der Theorie ging hervor, daß bei höheren Temperaturen die Kosten automatisch sinken sollten. Wirklich entstand also irgendein Prototyp eines Düsenstrahl-Motörchens, ferner sogar ein Generator sehr harter Gammastrahlen, doch zugleich erfüllte das Plasma viele der in es gesetzten Hoffnungen nicht. Das kleine Plasma-Triebwerkchen funktionierte, aber die für höhere Leistung entworfenen explodierten oder verweigerten den Gehorsam. Es erwies sich, daß das Plasma sich in einem gewissen Bereich thermischer und elektrodynamischer Erregungen nicht so verhielt, wie dies die Theorie vorsah; alle waren darüber entrüstet, denn die Theorie war in mathematischer Hinsicht außerordentlich elegant und ganz neu.

Derlei kommt vor, ja, was noch mehr ist, es muß vorkommen. Demnach ließen sich zahlreiche Theoretiker, unter ihnen auch unser Kleeblatt, durch diese Aufsässigkeit des Phänomens nicht beirren und schickten sich an, das Plasma dort zu studieren, wo es am widerborstigsten war.

Das Plasma sieht ziemlich imposant aus, dies ist von gewisser Bedeutung für diese Geschichte. Ganz einfach gesagt, erinnert es an ein Stückchen Sonne, und zwar an eines, das eher mittleren Zonen entnommen ist, nicht der kältlichen Chromosphäre. Es steht der Sonne an Glanz nicht nach, im Gegenteil, es übertrifft sie sogar. Nichts hat es gemein mit dem blaßgoldenen Tanz jener abermaligen, schon endgültig letzten Tode, die das Holz im Kamin uns zeigt, wenn es sich dem Sauerstoff verbindet, und auch nichts mit dem blaßlilafarbenen pfeifenden Kegel der Brennerdüse, wo Fluor eine Reaktion mit Sauerstoff eingeht, um die höchste der chemisch erzielbaren Temperaturen zu ergeben, endlich auch nichts mit dem Voltaschen Lichtbogen, einer gewölbten Flamme zwischen den Kratern zweier Kohlen, obgleich der Forscher dort bei gutem Willen und angemessener Geduld Stellen von über 3000 Grad Wärme auffinden könnte. Auch die Temperaturen, die erreicht werden, indem man eine runde Million Ampère in einen elektrischen Leiter von geringer Dicke hineinjagt, der dann zu einem bereits recht warmen Wölkchen wird, oder die thermischen Effekte der Stoßwellen bei kumulativer Explosion — sie alle läßt das Plasma weit hinter sich. Mit ihm verglichen, sind derlei Reaktionen als kalt, schlechtweg eisig zu betrachten, und nur infolge des Zufalls urteilen wir nicht so, der bewirkt hat, daß wir aus bereits vollständig erkalteten, abgestorbenen Körpern entstanden sind, in der Nähe des absoluten Nullpunkts. Unser kühnes Dasein trennen von dort kaum dreihundert Grad der Kelvinschen absoluten Skala, während sich nach oben zu die Säule dieser Skala über Milliarden von Graden erstreckt. So ist es denn wahrlich nicht übertrieben, jene heißesten unter den Möglichkeiten, die wir im Labor zu entfachen verstehen, als Phänomene ewigen Wärmeschweigens zu beschreiben.

Die ersten Plasmaflämmchen, die in den Laboratorien aufkeimten, waren auch nicht gar so warm: zweihunderttausend Grad hielt man damals für eine achtbare Temperatur, und die Million war bereits eine außerordentliche Errungenschaft. Die Mathematik jedoch, diese primitive und angenäherte Mathematik, die aus der Kenntnis von Phänomenen der Kältezone entstanden war, versprach die Erfüllung der ins Plasma gesetzten Hoffnungen noch wesentlich höher auf der Skala der Wärmemessung, forderte rechtschaffen hohe, fast sterngemäße Temperaturen; selbstverständlich denke ich an das Innere der Sterne. Das müssen ungemein interessante Örtlichkeiten sein, wenn auch die persönliche Anwesenheit des Menschen dort gewiß noch auf sich warten lassen wird.

So wurden denn Millionentemperaturen benötigt. Man begann sie zu realisieren, wir arbeiteten auch daran — und was sich herausstellte, war dies:

Die Geschwindigkeit der Umwandlungen, gleichviel, was für welcher, vergrößert sich dem Temperaturanstieg entsprechend; angesichts der bescheidenen Möglichkeiten eines so flüssigen Tröpfchens, wie unser Auge es ist, in Verbindung mit einem zweiten, größeren Tropfen, worin das Gehirn besteht, ist selbst die Flamme einer gewöhnlichen Kerze schon das Reich um ihres Tempos willen unbemerkbarer Phänomene, geschweige denn das zitternde Feuer des Plasmas! So mußte zu anderen Methoden gegriffen werden, Plasmaentladungen wurden fotografiert, und wir taten dies auch. Endlich bastelte Maartens, unterstützt von ein paar Bekannten, Optikern und Mechanik-Ingenieuren, eine Filmkamera, ein wahres Wunder, zumindest gemessen an unseren Möglichkeiten, eine Kamera, die Millionen von Aufnahmen in der Sekunde machte. Ihre Konstruktion will ich hier beiseite lassen, sie war ungemein pfiffig und zeugte rühmlich von unserem Eifer. Jedenfalls ruinierten wir Kilometer von Filmstreifen, aber im Ergebnis erzielten wir ein paar hundert Meter, die Beachtung verdienten, und ließen das in verlangsamtem Tempo tausendmal und dann auch zehntausendmal ablaufen. Wir bemerkten nichts Besonderes, außer, daß sich gewisse Auffackelungen, die man zunächst für ein elementares Phänomen gehalten hatte, als Gemengsel erwiesen, die durch das Übereinanderlagern von tausenderlei sehr schnellen Umwandlungen entstehen; doch auch diese ließen sich zuletzt mit unserer primitiven Mathematik bewältigen.

Das Staunen befiel uns erst, als einmal durch ein bis jetzt nicht erklärtes Versehen oder aus irgendeiner unverschuldeten Ursache eine Explosion erfolgte. Eigentlich war das keine wirkliche Explosion, denn die hätten wir nicht überlebt; das Plasma überwand einfach in einem apokalyptisch kleinen Sekundenbruchteil das Magnetfeld, das es von allen Seiten zusammenpreßte, und zerschlug uns die dickwandige Quarzröhre, worin es eingekerkert war.

Dank einem glücklichen Zusammentreffen von Umständen blieb unsere das Experiment aufnehmende Kamera heil, mitsamt dem eingelegten Film. Die ganze Explosion dauerte genau Millionstelsekunden, das übrige war nur noch die Brandstätte nach allen Seiten wegschießender Tröpfchen aus geschmolzenem Quarz und Metall. Diese Nanosekunden wurden auf unserem Film als ein Phänomen aufgezeichnet, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde.

Unmittelbar vor der Explosion schnürte sich die bisher fast gleichförmige Schnur der Plasmaflamme in gleichen Abständen ab wie eine gezupfte Saite, dann zerfiel sie in eine Reihe runder Körner und hörte so auf, als Ganzes zu existieren. Jedes der Körner wuchs und bildete sich um, die Grenzen dieser Tröpfchen aus Atomglut wurden fließend, Keimlinge trieben daraus hervor, und aus ihnen entstand die nächste Generation von Tröpfchen, dann liefen alle diese Tröpfchen zur Mitte hin zusammen und bildeten eine abgeplattete Kugel, die, schrumpfend und sich blähend, gleichsam atmete und zugleich etwas wie feurige und mit den Enden zuckende Tentakel auf Kundschaft in die Umgebung aussandte; dann erfolgte, diesmal auch schon auf unserem Film, sofortiger Zerfall, Schwund jedweder Organisation, und nur ein Regen feuriger Spritzer war zu sehen, die das Gesichtsfeld peitschten, bis es in völligem Chaos ertrank.

Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß wir uns diesen Film gut hundertmal anschauten. Dann — ich gebe zu, das war mein Einfall — luden wir zu uns, nicht ins Laboratorium, sondern in Ganimaldis Wohnung, einen gewissen bekannten Biologen ein, eine ehrwürdige Berühmtheit. Ohne ihm vorher etwas zu sagen oder ihn auf irgend etwas vorzubereiten, schnitten wir nur das Mittelstück aus dem berühmten Film heraus und projizierten es vor den Augen des hochlöblichen Gastes mit einem normalen Apparat, nur daß wir auf das Objektiv einen dunklen Filter aufsetzten, so daß alles, was auf der Aufnahme aus Flammen war, nunmehr erblaßte und aussah wie ein ziemlich stark durch auffallendes Licht beleuchteter Gegenstand.

Der Professor sah unseren Film an, und als die Lampen aufleuchteten, äußerte er höfliche Verwunderung darüber, daß wir als Physiker uns mit für uns so entlegenen Dingen wie dem Leben der Aufgußtierchen im Aquarium befaßten. Ich fragte, ob er sicher sei, daß das, was er gesehen habe, wirklich eine Kolonie von Aufgußtierchen sei.

Ich erinnere mich an sein Lächeln, als wäre das heute gewesen. „Die Aufnahmen waren nicht scharf genug“ — bekundete er während dieses Lächelns — „und, mit Verlaub, man erkennt, daß sie von Laien gemacht worden sind, aber ich kann Ihnen versichern, das ist kein Artefakt…“

„Was verstehen Sie unter einem Artefakt?“ — fragte ich.

„Arte factum, also etwas künstlich Geschaffenes. Noch zu Schwanns Zeiten vergnügte man sich mit der Imitation lebender Formen, und zwar indem man Chloroformtröpfchen in Öl brachte; solche Tropfen führen amöbenhafte Bewegungen aus, kriechen über den Boden des Gefäßes und teilen sich sogar bei Änderung des osmotischen Drucks an den Polen, aber das sind rein äußerliche, primitive Ähnlichkeiten, die soviel mit dem Leben gemein haben wie eine Schaufensterpuppe mit einem Menschen. Entscheidend ist ja der innere Bau, die Mikrostruktur. Auf eurer Aufnahme sieht man, wenn auch undeutlich, wie die Teilung dieser Einzeller verläuft; die Gattung kann ich nicht bestimmen, und ich könnte nicht einmal Gift darauf nehmen, daß es nicht ganz einfach Zellen tierischen Gewebes sind, die lange Zeit hindurch auf künstlichen Nährböden gezüchtet und mit Hialuronidase behandelt wurden, um sie zu trennen, voneinander abzulösen; jedenfalls sind es Zellen, denn sie haben den Chromosomensatz, wenn er auch defekt ist. Wurde die Umwelt dem Einwirken irgendeines krebsbildenden Mittels ausgesetzt?…“

Nicht einmal Blicke warfen wir einander zu. Wir bemühten uns, seine immer zahlreicheren Fragen nicht zu beantworten. Ganimaldi bat den Gast, den Film nochmals anzuschauen, aber dazu kam es dann nicht, ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen, vielleicht war der Professor in Eile, oder vielleicht dachte er, hinter unserer Einsilbigkeit verberge sich irgendeine Fopperei. Ich erinnere mich wirklich nicht. Jedenfalls blieben wir allein zurück, und erst als sich hinter jener Autorität die Tür geschlossen hatte, schauten wir einander an, wahrhaft entgeistert.

„Hört zu“ — sagte ich, bevor einer zum Reden kam — „ich finde, wir sollten einen anderen Spezialisten einladen und ihm den ungeschnittenen Film zeigen. Jetzt, wo wir wissen, worum gespielt wird, muß das schon ein Fachmann reinsten Wassers sein — auf dem Gebiet der Einzeller.“

Maartens schlug einen seiner Universitätsbekannten vor, der in der Nähe wohnte. Er war aber nicht daheim, erst nach einer Woche kehrte er zurück, und nun kam er zu der sorgsam vorbereiteten Vorführung. Ganimaldi hatte sich nicht dafür entschieden, ihm die Wahrheit zu sagen, sondern zeigte ihm einfach den ganzen Film, mit Ausnahme des Anfangs; denn das Bild der Verwandlung, dort, wo sich die Plasmaschnur zu einzelnen, fiebrig zuckenden Tropfen einschnürte, hätte allzuviel zu denken geben können. Dafür projizierten wir diesmal das Ende, diese letzte Existenzphase der Plasma-Amöbe, die auseinanderflog wie eine Sprengladung.

Dieser zweite Spezialist, auch ein Biologe, war weit jünger als der andere und daher weniger überheblich, es scheint auch, daß er Maartens freundlicher gesinnt war.

„Das sind irgendwelche Tiefwasseramöben“ — sagte er. „Der Innendruck hat sie in dem Augenblick gesprengt, als der Außendruck zu sinken begann. So, wie es bei den Tiefseefischen ist. Sie lassen sich nicht lebend vom Meeresgrund heraufholen, sie gehen immer zugrunde, von innen her gesprengt. Aber wie kommt ihr zu solchen Aufnahmen? Habt ihr die Kamera in die Tiefsee versenkt, oder was sonst?“

Er betrachtete uns mit zunehmendem Argwohn.

„Die Aufnahmen sind unscharf, nicht wahr?“ — bemerkte Maartens bescheiden.

„Unscharf, und wenn schon, interessant sind sie doch. Außerdem verläuft der Teilungsprozeß irgendwie abnormal. Ich habe die Reihenfolge der Phasen nicht gut bemerkt. Laßt doch den Film noch einmal laufen, aber langsamer…“

Wir ließen ihn so langsam laufen, wie es nur möglich war, aber das half nicht viel, der junge Biologe war nicht recht zufrieden. „Noch langsamer geht es nicht?“

„Nein.“

„Warum habt ihr keine Zeitdehneraufnahmen gemacht?“

Ich hatte gewaltige Lust, ihn zu fragen, ob er fünf Millionen Aufnahmen pro Sekunde nicht für eine gewisse Zeitdehnung halte, aber ich biß mir auf die Zunge. Letzten Endes ging es da nicht um Witze.

„Ja, die Teilung verläuft abnorm“ — sagte er, als er den Film zum drittenmal angesehen hatte. „Außerdem hat man den Eindruck, das alles geschehe in einem dichteren Mittel als Wasser… und überdies weist ein Großteil der Filialzellen der zweiten Generation zunehmende Entwicklungsdefekte auf, die Mitose ist durcheinandergebracht, und warum fließen sie ineinander? Das ist sehr merkwürdig… Ist das am Material von Urtieren in radioaktiver Umwelt gemacht worden?“ — fragte er plötzlich.

Ich verstand, woran er dachte. Damals wurde viel darüber gesprochen, daß die Methoden, radioaktive Asche aus den Atommeilern unschädlich zu machen, indem man sie in hermetischen Behältern auf den Grund der Ozeane versenkte, überaus riskant seien und zur Verseuchung des Meerwassers führen könnten.

Wir versicherten dem Biologen, er irre sich, das habe nichts mit Radioaktivität zu tun, und wurden ihn nicht ohne Mühe los, wie er da die Stirn runzelte, uns der Reihe nach betrachtete und immer mehr und mehr Fragen stellte, die niemand beantworten wollte, weil wir dies vorher so vereinbart hatten. Die Sache war zu unheimlich und zu groß, als daß wir sie einem Fremden hätten anvertrauen können, selbst wenn es ein Freund von Maartens war.

„Und jetzt, meine Lieben, müssen wir ordentlich nachdenken, was wir mit dieser Gottesgabe anfangen sollen“ — sagte Maartens, als wir nach dieser Konsultation, der zweiten bereits, allein zurückblieben.

„Das, was dein Biologe für das Absinken des Drucks gehalten hat, das die 'Amöben' zum Platzen gebracht hätte, das war in Wirklichkeit das plötzliche Absinken der magnetischen Feldstärke“ — sagte ich zu Maartens.

Ganimaldi, der bisher geschwiegen hatte, äußerte sich vernünftig, wie gewöhnlich.

„Ich finde“ — sagte er — „wir sollten weitere Versuche durchführen.“

Wir waren uns klar über das Risiko, das wir auf uns nahmen. Es war schon bekannt, daß das Plasma, das bei Temperaturen unterhalb einer Million verhältnismäßig „ruhig“ war und sich im Zaum halten ließ, irgendwo oberhalb dieser Grenze in unbeständigen Zustand überging und sein kurzfristiges Dasein durch eine Explosion beendete, eine ähnliche wie die damals am Morgen in unserem Laboratorium. Die Verstärkung des Magnetfeldes führte nur einen Faktor fast unberechenbarer Verzögerung der Explosion in den Prozeß ein. Die Mehrheit der Physiker nahm an, der Wert gewisser Parameter ändere sich sprunghaft, und eine ganz neue Theorie „heißen Nukleargases“ werde nötig sein. Im übrigen gab es bereits etliche Hypothesen, die dieses Phänomen erklären sollten.

Jedenfalls war an die Verwertung heißen Plasmas für den Antrieb von Raketen oder Reaktoren nicht einmal zu denken. Dieser Weg wurde für falsch erachtet, für den Eingang in eine Sackgasse. Die Forscher, besonders wer sich für konkrete Resultate interessierte, kehrten zu niedrigeren Temperaturen zurück. Ungefähr so bot sich die Situation dar, als wir an die nächsten Versuche schritten.

Oberhalb einer Million Grad wird das Plasma zu einem Material, wogegen ein Waggon Nitroglyzerin eine Kinderklapper ist. Aber auch diese Gefahr konnte uns nicht abhalten. Wir waren schon allzu gespannt durch die außergewöhnliche Sensation der Entdeckung und zu allem bereit. Etwas anderes ist es, daß wir eine Unmenge monströser Hindernisse gewahrten. Die letzte Spur von Übersichtlichkeit, wie die Mathematik sie ins Innere der klaffenden Plasmagluten hineingetragen hatte, verschwand irgendwo in der Nähe der Million oder — nach anderen, weniger sicheren Methoden — bei anderthalb Millionen. Darüber hinaus versagte die Berechnung vollkommen, denn daraus ergaben sich nur noch Unsinnigkeiten.

So verblieb denn die alte Methode von Versuch und Irrtum, die des Experimentierens also, und dies zumindest in den ersten Phasen blindlings. Aber wie sollten wir uns vor den jederzeit drohenden Explosionen bewahren? Eisenbetonblöcke, dickste Stahlpanzer, Sperren — das alles wird angesichts einer Prise auf eine Million Grad erhitzter Materie zu einer Abschirmung, die gerade soviel wert ist wie ein Bogen Seidenpapier.

„Stellt euch einmal vor“ — sagte ich zu den anderen — „daß sich irgendwo im leeren Weltraum, in der Nähe des absoluten Nullpunkts, Wesen befinden, die uns unähnlich sind, sagen wir, eine Art von Metallorganismen, und die führen nun allerlei Experimente durch. Unter anderem gelingt es ihnen — es ist für den Augenblick nicht wichtig, wie —, jedenfalls gelingt es ihnen, eine lebende Eiweißzelle zu synthetisieren. Eine einzelne Amöbe. Was passiert mit ihr? Versteht sich, kaum geschaffen, zerfällt sie sofort, explodiert, denn im leeren Raum siedet das in ihr enthaltene Wasser und geht augenblicklich in Dampf über, während die Wärme des Eiweißstoffwechsels augenblicklich wegstrahlt. Wenn unsere Experimentatoren ihre Zelle mit einem Apparat wie dem unseren filmen, werden sie sie einen Sekundenbruchteil lang sehen können… Um sie jedoch am Leben zu erhalten, müßten sie ihr die entsprechende Umwelt schaffen…“

„Meinst du wirklich, daß unser Plasma 'eine lebende Amöbe' hervorgebracht hat?“ — fragte Ganimaldi. „Daß das aus Feuer aufgebautes Leben ist?“

„Was ist Leben?“ — antwortete ich, fast wie Pontius Pilatus, der gefragt hat: „Was ist Wahrheit?“ — „Ich behaupte gar nichts. Eines ist jedenfalls sicher: das kosmische Vakuum und der kosmische Frost sind weit günstigere Bedingungen für die Existenz einer Amöbe, als es die irdischen Bedingungen für die Existenz des Plasmas sind. Es gibt nur eine Umwelt, wo es oberhalb einer Million Grad nicht dem Untergang verfallen müßte…“

„Ich verstehe. Ein Stern. Das Innere eines Sterns“ — sagte Ganimaldi. „Willst du dieses Innere im Laboratorium herstellen, rund um eine Röhre mit Plasma? In der Tat, nichts ist einfacher als das… Aber vorher müßten wir allen Wasserstoff der Weltmeere anzünden…“

„Das ist nicht unbedingt notwendig. Versuchen wir, etwas anderes zu tun.“

„Das ließe sich anders machen“ — bemerkte Maartens. „Eine Tritiumladung explodieren und das Plasma in die Explosionsblase bringen…“

„Das ist nicht zu machen, das weißt du selbst. Erstens wird dir niemand gestatten, eine Wasserstoffexplosion durchzuführen, aber selbst wenn dem nicht so wäre, gibt es doch keine Möglichkeit, das Plasma in den Explosionsherd zu bringen. Im übrigen existiert die Blase nur so lang, wie wir von außen frisches Tritium zuführen.“

Nach diesem Gespräch trennten wir uns in eher finsterer Stimmung, denn die Angelegenheit sah hoffnungslos aus. Aber dann begannen wir wieder endlos zu diskutieren, und endlich erfanden wir etwas, was nach einer Chance aussah, zumindest nach einem blassen Schatten davon. Wir brauchten ein Magnetfeld von unheimlicher Stärke und sternmäßige Temperatur. Das sollte der „Nährboden“ des Plasmas werden. Seine „natürliche“ Umwelt. Wir beschlossen, das Experiment in einem Feld von gewöhnlicher Stärke durchzuführen und dann mit einem plötzlichen Sprung seine Leistung auf das Zehnfache zu erhöhen. Aus den Berechnungen ging hervor, daß die Apparatur, unser achthunderttonniges Magnetungeheuer, auseinanderfliegen mußte, oder zumindest mußten die Wicklungen schmelzen; vorher aber sollten wir im Augenblick des Kurzschlusses zwei oder vielleicht sogar drei hunderttausendstel Sekunden lang das erforderliche Feld haben. Im Verhältnis zum Tempo der im Plasma ablaufenden Prozesse war das eine ziemlich lange Zeit. Das ganze Projekt hatte offensichtlich kriminellen Charakter, und natürlich hätte uns niemand erlaubt, es zu realisieren. Aber das kümmerte uns wenig. Uns war es nur um die Aufzeichnung der Phänomene zu tun, die im Moment des Kurzschlusses und der gleich darauf erfolgenden Detonation auftreten sollten.

Sollten wir die Apparatur ruinieren und keinen Meter Film dabei gewinnen, keine einzige Aufnahme, so würde alles, was wir vollbracht hätten, einen Zerstörungsakt bedeuten. Das Gebäude, worin sich das Laboratorium befand, lag zum Glück ein gutes Dutzend Meilen von der Stadt entfernt, inmitten sanfter grasbewachsener Hügel. Auf dem Gipfel eines der Hügel richteten wir uns einen Beobachtungspunkt ein, mit der Filmkamera, den Teleobjektiven und allem elektronischem Plunder; alles stellten wir hinter eine Panzerglas-Platte von hochgradiger Durchsichtigkeit. Wir führten eine Serie von Probeaufnahmen durch und verwendeten dabei immer stärkere Teleobjektive, endlich entschieden wir uns für eines, das achtzigfache Näherung ergab. Es hatte sehr geringe Lichtstärke, aber da das Plasma heller als die Sonne ist, war das unwichtig. Zu jener Zeit arbeiteten wir schon eher wie Verschwörer, und nicht wie Forscher. Wir nützten es aus, daß Ferien waren, und außer uns niemand ins Laboratorium kam; dieser Zustand sollte noch etwa zwei Wochen lang andauern. In dieser Zeit mußten wir das Unsere getan haben. Wir wußten, daß es ohne Lärm und sogar ohne größere Unannehmlichkeiten nicht abgehen konnte, denn wir hatten uns dann irgendwie für die Katastrophe zu verantworten; wir erdachten sogar mehrere Varianten einer ziemlich glaubhaften Rechtfertigung, die den Schein unserer Unschuld herstellen sollte. Wir wußten nicht, ob dieses irre Projekt überhaupt Ergebnisse eintragen sollte; fest stand nur, daß das ganze Laboratorium nach der Explosion aufgehört haben sollte, zu existieren. Zählen konnten wir nur auf die Explosion. Wir nahmen die Fenster samt den Rahmen aus der dem Hügel zugekehrten Wand des Gebäudes; dann mußten noch die Schutzwände aus der Halle des Elektromagneten abmontiert und hinausgetragen werden, sodaß die Plasmaquelle von unserem Stützpunkt aus gut sichtbar war.

Wir machten das am sechsten August um sieben Uhr zwanzig am Morgen, unter wolkenlosem Himmel, in sonnenerfüllter Hitze. In den Hang war dicht unter dem Gipfel des Hügels eine tiefe Rinne eingegraben; von hier aus lenkte Maartens die Vorgänge im Laboratoriumsinneren; dazu dienten ein kleines tragbares Pult und Kabel, die vom Gebäude her den Hügel heraufliefen. Ganimaldi kümmerte sich um die Kamera, und neben ihm schaute ich, den Kopf über die Brustwehr vorgeschoben, durch die Panzerscheibe und durch ein starkes, auf einem Dreifuß aufgestelltes Fernglas auf das dunkle Quadrat des ausgebrochenen Fensters und wartete auf das, was dort drinnen geschehen sollte.

„Minus 21… minus 20… minus 19…“ wiederholte Maartens mit eintöniger Stimme ohne eine Spur von Emotion, er saß dicht hinter mir, über das Gewirr von Kabeln und Schaltern gebeugt. Im Blickfeld hatte ich absolute Schwärze, worin die Quecksilberader des erhitzten Plasmas träge schwang und sich wand. Ich sah weder die sonnigen Dünen noch das Gras voll weißer und gelber Blumen, und nicht einmal den Augusthimmel über der Kuppel des Gebäudes; die Gläser waren tüchtig geschwärzt. Als drinnen das Plasma anzuschwellen begann, erschrak ich — es könnte die Röhre sprengen, noch ehe Maartens durch sprunghafte Kurzschließung das Feld verstärkte. Ich öffnete den Mund, um zu rufen, doch im selben Augenblick sagte Maartens: „Null!!“

Nein. Die Erde schwankte nicht, wir hörten auch keinen Krach, nur die Schwärze, in die ich starrte, diese anscheinend tiefste Nacht, die erblaßte. Das Loch in der Laboratoriumswand füllte orangeroter Nebel aus, es wurde zur quadratischen Sonne, ganz im Zentrum blitzte etwas blendend auf, dann verschlang alles ein Feuerwirbel; das Loch in der Mauer vergrößerte sich, schoß verästelte Linien von Rissen, die Rauch und Flammen sprühten, und mit langgezogenem Donnern, das die ganze Gegend erfüllte, sank die Kuppel zwischen die stürzenden Mauern. Zugleich hörte ich auf, durch die Gläser irgend etwas zu sehen, ich nahm das Fernglas von den Augen und erblickte eine zum Himmel schlagende Rauchsäule. Ganimaldi bewegte heftig die Lippen, er rief etwas, aber das Donnern dauerte noch an, rollte über uns hinweg, und ich hörte nichts, die Ohren waren mir wie mit Watte verstopft. Maartens sprang von den Knien auf und drängte sich zwischen uns, um hinabzuschauen, bisher war er ja mit dem Pult beschäftigt gewesen; das Gepolter verstummte. Da schrien wir — ich glaube, alle.

Durch die Kraft der Explosion weggeschleudert, erhob sich die Wolke schon hoch über die Trümmer, die in einem Wölkchen Kalkstaub immer langsamer zerfielen. Aus seinen Schwaden tauchte eine blendend helle, langgestreckte Flamme hervor, von einer strahlenförmigen Aureole umgeben — man hätte glauben können, eine zweite, wurmförmig plattgezogene Sonne. Vielleicht eine Sekunde lang hing sie fast unbeweglich über dem rauchenden Trümmerhaufen, zog sich immerfort zusammen und dehnte sich aus, und dann glitt sie zur Erde. Mir schwammen schon schwarze und rote Kreise vor den Augen, denn diese Kreatur oder Flamme spie Glanz aus, der dem Sonnenglanz gleichkam, aber ich sah noch, als sie sich senkte, wie augenblicklich das hohe Gras verschwand und auf ihrem Weg rauchte; sie aber schob sich auf uns zu, halb kriechend, halb fliegend, und die Aureole, die sie umgab, erweiterte sich, so daß sie selbst schon der Kern einer Feuerblase war. Durch die Panzerscheiben schlug die Gluthitze der Strahlung; der Feuerwurm entschwand unseren Blicken, aber an dem Zittern der Luft über dem Abhang, an den Dampfschwaden und knisternden Funkengarben, in die sich die Sträucher verwandelten, erkannten wir, daß der Wurm sich dem Gipfel des Hügels entgegenschob. In einem plötzlichen Anfall von Panik stoben wir auseinander und stürzten blindlings davon. Ich weiß, daß ich draufloslief, Nacken und Rücken verrußt von der ungesehenen Flamme, die mich zu jagen schien. Ich sah weder Maartens noch Ganimaldi; ich war wie blind, ich raste drauflos, bis ich über irgendeinen Maulwurfshügel stolperte und auf den Grund der nächsten Mulde ins noch taufeuchte Gras fiel. Ich keuchte schwer und preßte aus aller Kraft die Lider zusammen, und obwohl ich das Gesicht im Gras hatte, erfüllte mir plötzlich die Augäpfel ein rötlicher Widerschein, wie wenn die Sonne auf die geschlossenen Augen scheint. Aber, um die Wahrheit zu sagen, dessen bin ich schon nicht so ganz sicher.

Hier tut sich in meinem Gedächtnis eine Lücke auf. Ich weiß nicht, wie lang ich lag. Ich erwachte wie aus dem Schlaf, das Gesicht im hohen Gras. Als ich mich regte, spürte ich in der Gegend von Nacken und Hals einen brennenden, gräßlichen Schmerz; längere Zeit hindurch wagte ich nicht einmal, den Kopf zu heben. Endlich tat ich das. Ich befand mich auf dem Grund einer Mulde zwischen niedrigen Hügeln; ringsum wogte sanft im Luftzug das Gras, noch mit letzten leuchtenden Tautropfen, die sich unter den Strahlen der Sonne schnell verflüchtigten. Ihre Wärme setzte mir tüchtig zu; das verstand ich erst, als ich bei vorsichtigem Betasten des Nackens dicke Brandblasen unter den Fingern spürte. Ich stand nun auf und suchte mit den Augen den Hügel auf, wo sich zuvor unser Beobachtungspunkt befunden hatte. Längere Zeit konnte ich mich nicht entscheiden, ich fürchtete mich hinzugehen. Ich fühlte in den Augen noch das gräßliche Kriechen dieses Sonnenwurms.

„Maartens!“ — rief ich. „Ganimaldi!!“

Automatisch sah ich auf die Uhr: es war fünf nach acht. Ich hielt sie ans Ohr: sie ging. Die Explosion war um sieben Uhr zwanzig erfolgt; alles Weitere hatte vielleicht eine halbe Minute gedauert. Fast drei Viertelstunden lang war ich bewußtlos gewesen?

Ich ging den Hang hinauf. Etwa dreißig Meter weit vom Gipfel der Anhöhe stieß ich auf die ersten Kahlstellen ausgebrannter Erde. Sie waren mit bläulicher, fast schon erkalteter Asche bedeckt, wie die Spur, daß hier jemand ein Lagerfeuer entzündet hätte. Aber das mußte ein sehr merkwürdiges Lagerfeuer gewesen sein, denn es war nicht auf der Stelle verharrt.

Von der verkohlten Stelle ging ein Streifen versengter Erde aus, etwa anderthalb Meter breit, gewellt, mit verkohltem Gras an beiden Rändern und lediglich vergilbtem und welkem Gras in etwas weiterer Entfernung. Dieser Streifen endete nach dem nächsten Kreis verbrannter Erde. Dicht daneben lag mit dem Gesicht nach unten, ein Knie fast bis zur Brust hochgezogen, ein Mensch. Ehe ich ihn noch anrührte, wußte ich, daß er tot war. Der scheinbar unversehrte Anzug hatte sich ins Silbergraue verfärbt, die gleiche unmögliche Farbe hatte der Nacken des Menschen, und als ich mich über ihn beugte, begann das alles unter meinem Atem zu zerstieben.

Ich sprang mit einem Schreckensruf zurück, aber da hatte ich bereits eine gekrümmte, schwärzliche Form vor mir, die nur dem allgemeinen Umriß nach an einen menschlichen Körper erinnerte. Ich wußte nicht, ob das Maartens oder Ganimaldi war, und ich hatte nicht den Mut, ihn anzufassen, denn ich ahnte, daß er schon ohne Gesicht war. Ich rannte in großen Sätzen auf den Gipfel des Hügels, aber ich rief nicht mehr. Wieder traf ich auf die Spur des feurigen Durchzugs, einen gewundenen, zu Kohle ausgebrannten schwarzen Pfad durchs Gras, der sich stellenweise zu den Ausmaßen eines Kreises von mehreren Metern erweiterte.

Ich erwartete den Anblick des zweiten Körpers, aber ich fand ihn nicht. Ich lief vom Gipfel bergab, dorthin, wo vorher unsere Grube gewesen war; von der Schutzwand aus Panzerglas war nur ein am Hang zerronnener platter Überzug geblieben, etwas wie eine gefrorene Pfütze. Alles andere — Apparate, Filmkameras, das Pult, die Ferngläser — hatte zu existieren aufgehört, und der Graben selbst war eingesunken, wie unter von oben einwirkendem Druck; nur ein paar Scherben geschmolzenen Metalls waren zwischen den Steinen zu sehen. Ich blickte zum Laboratorium hinüber. Es sah aus wie nach der Detonation einer starken Fliegerbombe. Zwischen den Brocken beim Sturz verkeilter Mauern flatterten, in der Sonne kaum sichtbar, die Flämmchen des erlöschenden Brandes. Ich sah das kaum, ich suchte mich darauf zu besinnen, in welche Richtung meine Gefährten nach unserem gleichzeitigen Sprung aus dem Erdloch gelaufen waren. Maartens hatte ich damals zur Linken gehabt, also war es wohl sein Körper, den ich entdeckt hatte — und Ganimaldi…?

Ich fing an, seine Spuren zu suchen, vergeblich, denn außerhalb des ausgebrannten Kreises hatte sich das Gras schon wieder aufgerichtet. So lief ich, bis ich einen anderen ausgebrannten Streifen fand; ich begann auf ihm bergab zu gehen, wie auf einem unter den Sohlen knarrenden Feldweg.. da erstarrte ich. Die Aschenspur erweiterte sich; Halme von totem Gras umringten einen Raum, der nicht mehr als zwei Meter lang war, und unregelmäßig geformt. An einem Ende war er schmäler, am anderen hatte er Abzweigungen… das alles zusammen erinnerte an ein deformiertes plattgewalztes Kreuz, es war mit einer ziemlich dicken Schicht von schwärzlichem Staub bedeckt, als wäre die waagrecht hingeworfene Holzfigur mit den ausgespannten Armen hier sehr lang verglommen… Aber vielleicht war das nur Einbildung? Ich weiß es nicht.

Schon seit langem schien es mir, als hörte ich fernes, durchdringendes Heulen, aber ich achtete nicht darauf. Auch menschliche Stimmen drangen zu mir, auch sie kümmerten mich nicht. Plötzlich sah ich die kleinen Menschenfiguren auf mich zulaufen; im ersten Moment warf ich mich zu Boden, als wollte ich mich verstecken, ich kroch sogar von der Aschenspur weg und sprang zur Seite; als ich den anderen Abhang entlanglief, tauchten sie plötzlich auf, sie umstellten mich von zwei Seiten. Ich fühlte, daß mir die Beine den Dienst versagten, im übrigen war mir alles eins.

Ich weiß eigentlich nicht, warum ich flüchtete — sofern das ein Fluchtversuch war. Ich setzte mich ins Gras, und die Leute umringten mich, einer beugte sich über mich, sagte etwas, ich sagte, er solle aufhören, sie sollten lieber Ganimaldi suchen, denn mir fehle nichts. Als sie mich hochheben wollten, wehrte ich mich, da packte mich jemand am Oberarm. Ich schrie vor Schmerz. Dann spürte ich einen Nadelstich und verlor das Bewußtsein. Ich erwachte im Spital.

Mein Gedächtnis war bestens erhalten. Nur wußte ich nicht, wieviel Zeit seit der Katastrophe verstrichen war. Ich hatte den Kopf in Verbänden stecken, die Verbrennungen machten sich bemerkbar, durch starken Schmerz, der sich bei jeder Bewegung steigerte; ich suchte mich also so ruhig wie möglich zu verhalten. Im übrigen sind meine Spitalerlebnisse, alle diese Hauttransplantationen, die man mir monatelang machte, gar nicht von Bedeutung, ebensowenig wie das, was später geschah. Im übrigen konnte ja nichts anderes geschehen. Erst viele Wochen später las ich in den Zeitungen die offizielle Lesart über den Unfall. Man hatte eine einfache Erklärung gefunden, die sich im übrigen aufdrängte. Das Laboratorium war durch eine Plasmaexplosion zerstört worden; von Flammen erfaßt, hatten die drei Männer zu flüchten versucht; von ihnen war Ganimaldi im Gebäude umgekommen, unter den Trümmern, Maartens war in brennender Kleidung gestorben, als er den Gipfel des Hügels erreicht hatte, und ich hatte die Katastrophe mit Verbrennungen und in schwerem Schockzustand überstanden. Die eingeäscherten Spuren im Gras hatte man überhaupt nicht beachtet, da vor allem die Laboratoriumsruine selbst untersucht worden war. Irgend jemand behauptete übrigens, das Gras habe durch den brennenden Maartens Feuer gefangen, der sich dort gewälzt hätte, weil er die Flammen habe ersticken wollen. Und so weiter.

Ich hielt es für meine Pflicht, nun schon allein Ganimaldi und Maartens gegenüber, ungeachtet aller Konsequenzen die Wahrheit zu sagen. Sehr behutsam gab man mir zu verstehen, meine Version der Vorfälle sei die Auswirkung des Schocks, eine sogenannte posttraumatische Erinnerungsfälschung. Ich hatte mein Gleichgewicht noch nicht wiedergewonnen, ich begann heftig zu protestieren — meine Erregung wurde als Symptom aufgefaßt, das die Diagnose bestätige. Etwa eine Woche später fand das nächste Gespräch statt.

Diesmal suchte ich bereits kühler zu argumentieren, ich erzählte von dem ersten Film, den wir gedreht hatten und der sich in der Wohnung von Maartens befand; die Durchsuchung blieb aber ergebnislos. Ich vermute, daß Maartens ausgeführt hatte, was er einmal nebenher erwähnt hatte: gewiß hatte er den Film in ein Bankfach gelegt. Da alles, was Maartens bei sich gehabt hatte, völliger Zerstörung anheimgefallen war, blieb von dem Schlüssel und dem Depotschein nichts übrig. Dieser Film muß bis auf den heutigen Tag in irgendeinem Safe liegen. So verspielte ich denn auch hier; ich gab jedoch nicht alles verloren, und auf meine wiederholte Forderung hin kam es zum Lokalaugenschein. Ich sagte, an Ort und Stelle könne ich alles beweisen, die Ärzte wiederum meinten, wenn ich mich erst dort befände, könnte mir vielleicht die Erinnerung an das „wirkliche“ Geschehen zurückkehren. Ich wollte ihnen die Kabel zeigen, die wir zum Gipfel des Hügels gezogen hatten, zum Erdloch. Aber auch diese Kabel waren nicht da. Ich behauptete, wenn keine da seien, dann seien sie später entfernt worden, vielleicht von den Mannschaften, die den Brand bekämpft hatten. Mir wurde gesagt, ich irre mich, niemand habe Kabel entfernt, da sie nicht existierten, außer in meiner Einbildung.

Nun erst, dort zwischen den Hügeln, unter dem blauen Himmel, in der Nähe der schon geschwärzten und gleichsam kleiner gewordenen Ruine des Laboratoriums, begriff ich, warum es so gekommen war. Der Feuerwurm hat uns nicht getötet. Hat uns nicht töten wollen. Er hat nichts von uns gewußt, wir kümmerten ihn nichts. Von der Explosion geschaffen, aus ihr hervorgekrochen, fing er aus der Umgebung den Rhythmus der Signale auf, die immer noch in den Kabeln pulsierten, weil Maartens die Steueranlage nicht ausgeschaltet hatte. Zur Quelle des Rhythmus, zur Quelle der elektrischen Impulse kroch die feurige Kreatur, überhaupt kein bewußtes Wesen, nein, ein Regenwurm der Sonne, eine walzenförmige Ballung organisierten Glühens… die kaum ein paarmal zehn Sekunden an Dasein vor sich hatte. Davon zeugte die wachsende Aureole des Wurms; die Temperatur, die ihm das Dasein ermöglichte, sank reißend schnell, in jedem einzelnen Augenblick mußte er Unmengen von Energie verlieren, er strahlte sie ab, und er hatte nichts, woraus er welche schöpfen konnte, deshalb wand er sich krampfhaft die stromführenden Kabel entlang und verwandelte sie gleichzeitig in Dampf, in Gas. Maartens und Ganimaldi hatten sich zufällig auf seinem Weg befunden, im übrigen war er ihnen gewiß nicht nahe gekommen. Der thermische Stoß von dem feurigen Durchzug hatte Maartens einige Dutzend Schritt weit vom Gipfel getroffen, und Ganimaldi hatte vielleicht, völlig geblendet, das Gefühl für die Richtung verloren und war geradewegs hineingerannt in den Abgrund der blitzenden Agonie.

Ja, die Feuerkreatur ist dort verendet, auf dem Gipfel des Hügels, in unsinnigen Zickzackwindungen durchs Gras, in heftigem und vergeblichem Suchen nach Quellen für die Energie, die aus ihr ausströmte, wie Blut aus den Adern. Sie hat beide getötet, ohne auch nur darum zu wissen. Im übrigen wuchs Gras über die veräscherten Spuren.

Wir konnten sie nicht mehr finden, als wir dort vorfuhren, zwei Ärzte, ein fremder Mensch — von der Polizei, wie es scheint —, Professor Guilsh und ich. Dabei waren seit der Katastrophe kaum drei Monate verstrichen. Gras hatte alles überwachsen, auch jene Stelle, die wie der Schatten einer gekreuzigten Gestalt war. Das Gras war an dieser Stelle besonders üppig. Alles hatte sich gleichsam wider mich verschworen, denn das Erdloch war zwar da, aber jemand hatte daraus eine Müllablage gemacht; auf dem Grund lagen nur verrostetes Alteisen und leere Konservendosen. Ich behauptete, darunter müßten die Überbleibsel von dem Panzerglas sein, das geschmolzen war. Wir wühlten in diesem Müll, aber Glas fanden wir nicht. Das heißt, nur ein paar Splitter, sogar angeschmolzene. Die Leute, die mit mir dort waren, entschieden, daß die Scherben von gewöhnlichen Flaschen stammten, die jemand im Zentralheizungsofen geschmolzen habe, nachdem er sie vor dem Einwerfen in den Abfallbehälter zerbrochen habe, um das Volumen zu verringern. Ich wollte, man solle eine Analyse des Glases durchführen, aber das wurde nicht gemacht. Mir verblieb nur ein einziger Trumpf: jener junge Biologe und der Professor, denn beide hatten unseren Film gesehen. Der Professor war in Japan und sollte erst im Frühjahr zurückkommen, und der Freund von Maartens gab zu, daß wir ihm wirklich einen solchen Film gezeigt hätten; das seien Aufnahmen von Tiefwasseramöben gewesen, nicht von Kernplasma. Der Biologe versicherte, Maartens habe in seinem Beisein kategorisch abgestritten, daß die Aufnahmen irgend etwas anderes darstellen könnten.

Und das war auch wahr. Maartens hatte so gesprochen, weil wir das vereinbart hatten, um alles geheimzuhalten. So schloß sich die Angelegenheit ab.

Und was ist aus dem Sonnenwurm geworden? Vielleicht ist er explodiert, während ich bewußtlos lag, oder vielleicht hat er sein flüchtiges Dasein still beendet; eines ist ebenso wahrscheinlich wie das andere.

Bei alledem hätten sie mich vielleicht als harmlos entlassen, aber ich erwies mich als hartnäckig. Die Katastrophe, die Maartens und Ganimaldi weggerafft hatte, verpflichtete mich. Während der Genesung verlangte ich allerlei Bücher. Man gab mir alles, was ich wollte. Ich studierte die ganze Solarliteratur durch, ich erfuhr alles, was über Sonnenprotuberanzen und Kugelblitze bekannt war. Auf den Gedanken, der Feuerwurm könnte irgend etwas mit diesem Blitz Verwandtes an sich gehabt haben, brachte mich eine gewisse Ähnlichkeit in ihrem Verhalten. Die Kugelblitze, eigentlich bis heute unerklärte und für die Physiker rätselhafte Phänomene, entstehen in einer Umwelt gewaltiger elektrischer Entladungen, während eines Gewitters. Diese Gebilde, die an erglühte Kugeln oder Perlen erinnern, steigen frei in der Luft auf, überlassen sich manchmal ihren Strömungen, Durchzügen und Winden, segeln manchmal gegen ihren Strom, werden von Metallgegenständen und von elektromagnetischen Wellen, besonders von den sehr kurzen, angezogen — es zieht diese Blitze dorthin, wo die Luft ionisiert ist. Am liebsten kreisen sie in der Nähe von Leitungen, die elektrischen Strom führen, und suchen ihn gleichsam daraus zu trinken. Das gelingt ihnen aber nicht. Hingegen ist es wahrscheinlich — so behaupten zumindest manche Fachleute —, daß sich die Kugelblitze von Dezimeterwellen „ernähren“, durch den Kanal ionisierter Luft, den der linienförmige Mutterblitz erzeugt hat, der die Kugelblitze gebar.

Die entweichende Energie übertrifft jedoch die Menge, die von der Kugel absorbiert wird, und deshalb leben sie alle kaum ein paarmal zehn Sekunden. Haben sie die Umgebung mit bläulich-gelbem Glanz erhellt und in schwankem und blauem Flug durchkreist, so enden sie durch plötzliche Explosion oder zerfließen und erlöschen fast lautlos. Selbstverständlich sind das keine lebenden Gebilde; mit dem Leben haben sie gerade soviel gemein wie diese in Öl gebrachten Chloroformtropfen, von denen uns der Professor erzählt hat.

War der Feuerwurm, den wir geschaffen haben, lebendig? Wer mir diese Frage stellen wird — selbstverständlich nicht zu dem Zweck, den Irren zu reizen, der ich nicht bin —, dem werde ich ehrlich antworten: ich weiß es nicht. Doch allein die Ungewißheit, allein diese Unwissenheit birgt in sich die Möglichkeit eines solchen Umsturzes in unserem Wissen, wie ihn sich selbst im Fieber niemand hat träumen lassen.

Es gibt — sagen mir die Leute — nur eine Art von Leben: die Eiweißvegetation, die wir kennen, zweigeteilt in Pflanzen— und Tierreich. In Temperaturen, die vom absoluten Nullpunkt kaum dreihundert kleine Schritte entfernt sind, entsteht die Evolution mit ihrer Krönung — dem Menschen. Nur er, und wer ihm ähnlich ist, können sich der im ganzen Weltall herrschenden Zunahmetendenz des Chaos entgegenstellen. Ja, im Sinne dieser Behauptung ist alles Chaos und Unordnung: die furchtbare Glut des Sterneninneren, die Feuerwände der durch wechselweise Durchdringung entbrennenden galaktischen Nebel, die Gaskugeln der Sonne. — Schließlich — so sagen diese nüchternen, vernünftigen und demzufolge zweifellos im Recht befindlichen Leute — kann keine Installation, keine Art, und nicht einmal eine Spur von Organisation in Ozeanen aus siedendem Feuer aufkommen; die Sonnen sind blinde Vulkane, die Planeten auswerfen; diese wiederum schaffen ausnahmsweise und selten manchmal den Menschen; alles andere ist totes Wüten entarteter Atomgase, ein Ameisenhaufen aus von Protuberanzen erschütterten apokalyptischen Feuern.

Ich lächle, wenn ich diese selbstrechtfertigende Darlegung höre, die das Ergebnis benebelnden Größenwahns ist. Es gibt — sage ich — zwei Stufen von Leben. Die eine, gewaltig und riesig, hat sich des ganzen sichtbaren Kosmos bemächtigt. Was für uns Untergangsdrohung und Bedrohlichkeit ist, die Sternglut, die gigantischen Felder magnetischer Potentiale, die ungeheuerlichen Flammeneruptionen, das ist für diese Form von Leben die Vereinigung freundlicher und günstiger, mehr noch, notwendiger Bedingungen.

Chaos, sagt ihr? Das Branden toter Glut? Warum äußert dann die Sonnenoberfläche, von Astronomen beobachtet, solche schlechthin ungezählte Vielheit regelmäßiger, obgleich unbegreiflicher Phänomene? Warum sind solche Magnetwirbel erstaunlich gesetzmäßig? Warum gibt es rhythmische Zyklen der Sternaktivität, ganz wie es die Stoffwechselzyklen jedes lebenden Organismus gibt? Der Mensch kennt den Tag— und Nachtrhythmus und den Monatsrhythmus, überdies kämpfen in ihm, über den Zeitraum eines Lebens ausgedehnt, die entgegengesetzten Kräfte von Wachstum und Absterben; die Sonne hat einen Elfjahreszyklus, nach jeder Viertelmilliarde von Jahren macht sie eine „Depression“ durch, ihr Klimakterium, das die irdischen Eiszeiten herbeiführt. Der Mensch entsteht, altert und stirbt — wie ein Stern.

Ihr hört, aber ihr glaubt nicht. Und das Lachen kommt euch an. Ihr möchtet mich fragen, schon nur mehr zum Spott, ob ich vielleicht an das Bewußtsein des Sterns glaube? Ob ich meine, daß die Sterne denken? Auch das weiß ich nicht. Aber statt sorglos meinen Irrsinn zu verdammen, guckt euch die Protuberanzen an! Versucht ein einziges Mal einen während einer Sonnenfinsternis gedrehten Film anzuschauen — wie dieses flammende Gewürm hervortaucht und sich Hunderttausende und Millionen Kilometer weit vom Muttergrund entfernt, um in wunderlichen und unbegreiflichen Evolutionen, sich zu immer neuen Formen ausdehnend und zusammenziehend, endlich zu verwehen und im Raum zu schwinden, oder in den Ozean aus Weißglut zurückzukehren, der sie alle hervorgebracht hat. Ich behaupte nicht, sie seien die Finger der Sonne. Ebensogut könnten sie ihre Schmarotzer sein.

Gut, soll es so sein — sagt ihr. — Der Diskussion zuliebe, damit dieses originelle, wenn auch durch die Überdosis von Absurdität riskante Gespräch nicht vorzeitig abreißt, wollen wir noch etwas wissen. Warum versuchen wir uns denn nicht mit der Sonne zu verständigen? Wir bombardieren sie mit Radiowellen. Vielleicht wird sie antworten…? Wenn nicht, dann ist deine These umgestürzt…

Ich möchte wissen, worüber wir uns mit der Sonne unterhalten könnten. Was sie und wir für gemeinsame Lebensfragen, Begriffe, Probleme haben. Erinnert euch daran, was unser erster Film aufgezeigt hat. Im Millionenbruchteil einer Sekunde bildete sich die Feueramöbe zu zwei Filialgenerationen um. Der Tempounterschied hat auch gewisse (gewisse…) Bedeutung. Verständigt euch zuerst mit den Bakterien eurer Körper, mit den Sträuchern eurer Gärten, mit den Bienen und ihren Blumen, und dann werden wir über die Methodik einer Nachrichtenverbindung mit der Sonne nachdenken können.

Ja dann — sagt der Gutmütigste unter den Skeptikern — erweist sich alles bloß als… einigermaßen origineller Gesichtspunkt. Deine Ansichten ändern in nichts die bestehende Welt, weder jetzt noch in Zukunft. Die Frage, ob der Stern ein Wesen ist, ob er „lebt“, wird zu einer Sache der Übereinkunft, der Einwilligung, einen solchen Ausdruck zugebrauchen, weiter nichts. Kurzum, du hast uns ein Märchen erzählt.

Nein — antworte ich. Ihr irrt euch. Denn ihr meint, daß die Erde ein Krümelchen Leben im Ozean des Nichts sei. Daß der Mensch einsam sei und Sterne, Nebelflecken, Galaxien zu Gegnern, zu Feinden habe. Daß das einzig mögliche erreichbare Wissen dieses sei, das er errungen hat und noch erringen wird, er, der einzige Schöpfer der Ordnung, die unausgesetzt bedroht sei von Überflutung durch die Unendlichkeit, die entfernte Lichtpunkte strahlt. Aber so ist es nicht. Die Stufenordnung aktiven Dauerns ist allgegenwärtig. Wer will, kann sie Leben nennen. Auf ihren Gipfeln, auf den Höhen energetischer Erregung, verweilen die feurigen Organismen. Knapp vor dem Ende, dicht beim absoluten Nullpunkt, in der Gegend der Finsternis und des letzten erstarrenden Atems, erscheint einmal noch das Leben, als schwacher Abglanz jenes anderen, als seine blasse, verglimmende Andeutung — das sind wir. Seht es so, und ihr werdet Demut lernen und zugleich Hoffnung, denn einmal wird die Sonne zur Nova werden und uns mit dem gnädigen Atem des Brandes umfangen, und wenn wir so in den ewigen Kreislauf des Lebens zurückkehren, zu Teilchen ihrer Größe werden, gewinnen wir tieferes Wissen als das, welches den Bewohnern der Vereisungszone zuteil werden kann. Ihr glaubt mir nicht. Jetzt sammle ich diese beschriebenen Blätter, um sie zu vernichten, aber morgen oder übermorgen setze ich mich wieder an den leeren Tisch und schreibe von Anfang an wieder die Wahrheit.

Загрузка...