Ein einzelnes Bild tauchte neben Igers Kopf auf und zeigte ein paar verschwommene Gestalten. »Diese Entdeckung ist purer Zufall«, erläuterte Iger. »Eine der Sonden ist auf einen Datenstrom von diesem Asteroiden gestoßen.« Ein weiteres Bild öffnete sich und präsentierte einen Asteroiden mit einem Durchmesser von rund vierzig Kilometern, der sich recht schnell um seine Achse drehte. »Die Überschneidung mit diesem Datenstrom dauerte nur einen Sekundenbruchteil, aber wir konnten dabei ein verschlüsseltes Video aufschnappen, aus dem wir genügend Details herausgeholt haben, um das hier zu sehen.«
Geary kniff die Augen zusammen, als er unscharfe Konturen sah. Das waren eindeutig keine Enigmas, und auch wenn keine Einzelheiten zu erkennen waren, handelte es sich dabei eindeutig um Menschen. »Die sind auf diesem Asteroiden?«
»In diesem Asteroiden, Admiral«, antwortete Iger. »Wir sind davon überzeugt, dass er ausgehöhlt wurde. Wir haben seine Rotation überprüft. Sie reicht aus, um drei Viertel der Standardschwerkraft zu erzeugen, wenn jemand auf der Innenseite der Asteroidenhülle steht.« Auf der Oberfläche des Objekts leuchteten verschiedene Symbole auf. »Wir konnten einige Anomalien feststellen, die vermutlich durch Kommunikations- und Sensorantennen der Enigmas verursacht werden. Es ist nicht ungewöhnlich, solche Artefakte auf Asteroiden in von Menschen besiedelten Sternensystemen zu entdecken, weil sie von den Minenarbeitern dort zurückgelassen werden, die dafür keine weitere Verwendung mehr haben. Aber diese Objekte wurden sorgfältig getarnt, und die Enigmas scheinen nicht zu der Art von Leuten zu gehören, die irgendetwas rumliegen lassen.«
In einem Asteroiden. Ohne eine Möglichkeit zu fliehen. Und völlig im Unklaren darüber, wo sich die Enigmas aufhielten. »Aus der Sicht der Aliens zweifellos das perfekte Gefängnis.«
»Ja, Sir.« Anstatt auf seine Entdeckung stolz zu sein, verzog Lieutenant Iger missmutig den Mund. »Ich … ich wüsste nicht, wie wir sie da rausholen sollen.«
Tartarus. Wie es schien, hatte dieses Sternensystem einen passenden Namen erhalten.
Die in die Hunderte gehenden Offiziere am Tisch im Flottenkonferenzraum hörten mit wachsender Begeisterung zu, als Lieutenant Iger ihnen von seiner Entdeckung berichtete. Nachdem er geendet hatte, schüttelte Tulev nachdenklich den Kopf. »Wenn wir uns diesem Asteroiden auch nur auf einen Kilometer nähern, werden sie ihn zerstören. Sie haben kein Problem damit, ihresgleichen zu ermorden, da werden sie bei diesen Menschen da erst recht nicht zögern.«
»Wie nahe können wir herankommen, bevor sie das machen?«, wollte Badaya wissen.
Auch Iger schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Sir. Nach unseren Erfahrungen bei Limbo werden die Aliens wohl warten, bis sie Gewissheit haben, welches Ziel wir ansteuern. Dann vernichten sie es. Dieses spezielle Ziel ist sehr gut getarnt. Hätten wir nicht diese Übertragung abgefangen, wären wir vermutlich gar nicht auf den Gedanken gekommen, uns diesen Asteroiden genauer anzusehen. Dann wäre uns die getarnte Ausrüstung auf der Oberfläche nicht aufgefallen, und wir hätten uns nicht weiter mit diesem Objekt beschäftigt. Solange sie nicht auf den Gedanken kommen, dass wir von den Menschen dort wissen, werden sie den Asteroiden vermutlich nicht zerstören, da sie glauben, wir fliegen nur zufällig in diese Richtung.«
»Vermutlich nicht«, wiederholte ein mürrischer Armus.
»Etwas Besseres kann ich Ihnen nicht bieten, Sir.«
Bradamont hatte während dieser Unterhaltung die ganze Zeit über die Darstellung des Tartarus-Sternensystems betrachtet, die über dem Tisch schwebte. »Es muss eine Art Sperrgebiet sein. Hätten wir Aliens in einem Asteroiden untergebracht, würden wir keinem unbefugten Schiff erlauben, sich in die Nähe zu begeben. Wenn wir die gesperrte Zone um den Asteroiden erreichen, könnte das die Aliens ebenfalls zu dem Entschluss bringen, ihn zu zerstören.«
»Das klingt plausibel«, fand Armus. »Etwas, das automatisch durch einen Näherungsalarm ausgelöst wird. Oder durch ein überlichtschnelles Signal, das von einer anderen Stelle im System gesendet wird. Gibt es auf der äußeren Hülle des Asteroiden keinen Hinweis auf die Gegenwart irgendwelcher Aliens?«
»Nein, Sir«, erwiderte Iger. »Nur eine Reihe von gut getarnten Solarzellenflächen.«
Duellos nickte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie im Inneren Seite an Seite mit den Menschen leben, selbst wenn sie die von sich fern halten. Aber wir haben keine Ahnung, wo dieses Sperrgebiet beginnen könnte. Ich weiß nicht, wie uns diese Spekulation weiterhelfen soll.«
»Sie müssen ein Sperrgebiet räumlich bestimmen«, sagte Bradamont. »Wir und die Syndiks rechnen dabei in Lichtsekunden, weil es ein einfacher Standard ist. Das ist genügend Abstand, um für Sicherheit zu sorgen, aber es ist zugleich eng genug gefasst, damit der Alarm nicht jedes Mal ausgelöst wird, wenn jemand unwissentlich ganz in der Nähe unterwegs ist.«
»Wie viele Lichtsekunden nehmen die Syndiks für ein Sperrgebiet?«
»Eine.« Niemand fragte nach, woher sie das so gut wissen konnte.
»Das ist auch unser Standardmaß.«
Duellos verzog grübelnd das Gesicht. »Die Enigmas werden ganz sicher in einer anderen Maßeinheit rechnen, aber unsere Parameter beruhen auf praktischen Erwägungen. Die Physik ist für die Enigmas die gleiche wie für uns. Wenn wir mindestens eine Lichtsekunde auf Abstand bleiben und so tun, als würde uns der Asteroid gar nicht kümmern, dann könnte das eine sichere Distanz sein.«
»Nehmen wir lieber vierhunderttausend Kilometer, also deutlich mehr als nur eine Lichtsekunde«, hielt Tulev dagegen. »Aber damit sind wir immer noch zu weit weg. Den Verteidigungsanlagen oder irgendwelchen Selbstzerstörungsmechanismen bleibt damit immer noch zu viel Reaktionszeit. Wir müssen den Asteroiden erreichen, uns an seine Geschwindigkeit anpassen und in einen Orbit einschwenken. Dann sind die Vorrichtungen der Aliens auf der Oberfläche auszuschalten, wir müssen ins Innere gelangen und schließlich die dort befindlichen Menschen evakuieren. Wie lange benötigen wir für diese Aktion? Und das, wo der minimale Abstand, den wir wagen können, eine halbe Stunde Flug bis zum Asteroiden bedeutet?«
»Eher eine Stunde«, wandte Desjani ein. »Und das allein, wenn wir ausschließlich Schlachtkreuzer einsetzen.«
Wieder meldete sich Bradamont zu Wort, diesmal mit etwas mehr Nachdruck: »Die Hilfsschiffe können kleine unauffällige Schiffe bauen, die Platz bieten für kleinere Landeteams. Wenn wir …« Sie unterbrach sich, als sie Smythes Kopfschütteln bemerkte.
»Tut mir leid, Commander«, sagte er. »Bei so wenig Zeit und Material kann ich nicht versprechen, dass wir irgendetwas zusammenbauen können, das einerseits groß genug ist, um ein paar Leuten Platz zu bieten, und andererseits so klein ist, dass es wahrscheinlich nicht entdeckt wird.«
»Und wen würde man auf eine solche Mission schicken?«, erkundigte sich Badaya. Es war eine rhetorische Frage, die sich aber in Wahrheit an Bradamont richtete.
Sie bekam rote Wangen, antwortete aber mit fester Stimme: »Ich melde mich freiwillig für diese Mission.«
Geary beendete schließlich das lange Schweigen, das ihrer Bemerkung gefolgt war: »Solange es keine vernünftigen Erfolgsaussichten gibt, wird keine Mission stattfinden. Es bringt nichts, wenn wir unsere Freiwilligen und die Menschen in diesem Asteroiden opfern, nur weil ein Rettungsversuch trotz zu geringer Erfolgsaussichten unternommen wird.«
»Wir können diese Menschen nicht hier zurücklassen«, wandte Bradamont ein.
»Das sehe ich auch so«, sagte Badaya. »Aber …«
»Entschuldigen Sie.« General Carabali hatte sich kurz mit jemandem außerhalb ihrer Software unterhalten, nun übertönte ihre Stimme die anderen Anwesenden. »Die Marines können das erledigen.«
Badaya zog die Augenbrauen hoch. »Vierhunderttausend Kilometer sind nicht gerade ein Katzensprung, General. Ich glaube nicht, dass Ihre Marines so was zustande bringen, selbst wenn Sie ihnen sagen, dass es auf dem Asteroiden Bier gibt.«
»Das kommt drauf an. Wenn’s Freibier ist, könnte es klappen. Aber wir müssen sie gar nicht auf diese Weise motivieren.« Vor Carabali entstand ein Diagramm in der Luft. »Mit Blick auf unsere Mission, mehr über diese Aliens herauszufinden, gehören zu unserer Ausrüstung mehr Exemplare als üblich unserer auf maximale Tarnung ausgerichteten Körperpanzerung. Das reicht, um dreißig meiner Scouts damit einzukleiden. Ich habe von einigen meiner Untergebenen die Zahlen durchrechnen lassen, und wir können das erledigen. Wenn die Flotte im Vorbeiflug diese Scouts bei einer Entfernung von vierhunderttausend Kilometern starten lässt, sollten wir sehr wahrscheinlich einer Entdeckung entgehen können. Sobald die Scouts auf der Oberfläche gelandet sind, können sie Störsender platzieren und alle erkennbare Ausrüstung der Aliens außer Betrieb nehmen. Indem wir den Systemen die Möglichkeit nehmen, etwas zu entdecken, und indem wir alle ein- und ausgehenden Nachrichten stören, sollte es möglich sein, der Flotte genügend Zeit zu geben, damit sie den Asteroiden erreichen und Shuttles losschicken kann. Diese Shuttles holen die Leute da raus und nehmen gleichzeitig unsere Scouts mit.«
Tulev beugte sich vor. »Mit welcher Geschwindigkeit müssten diese Scouts unterwegs sein?«
»Es muss so langsam sein, dass sie sich nicht zu deutlich vor dem Hintergrund abheben, und es muss langsam genug für die Anzugsysteme sein, damit sie eine gebremste Landung hinlegen können, bei der die Scouts weder umkommen noch entdeckt werden.« Carabali zeigte auf das Diagramm. »Die Durchschnittsgeschwindigkeit sollte bei viertausend Stundenkilometern liegen, allerdings würden wir beim Start deutlich schneller sein wollen, weil wir auf dem letzten Abschnitt abbremsen müssen.«
Commander Neeson sah Carabali verdutzt an. »Sie können von viertausend Stundenkilometern so stark abbremsen, dass Sie sicher landen und dabei immer noch getarnt bleiben werden?«
»Richtig«, sagte sie. »Meine Scouts sagen, sie können das – und sie sind diejenigen, die ihr Leben riskieren.«
»Eine Durchschnittsgeschwindigkeit von viertausend Stundenkilometern macht immer noch eine Reisezeit von vier Tagen erforderlich«, wandte Geary ein. »Können diese Scoutanzüge einen Menschen so lange am Leben erhalten? Und vergessen Sie dabei nicht die Zeit, die sie benötigen werden, um sich auf dem Asteroiden umzusehen und die Störsender zu deponieren.«
Carabali nickte. »Wir können sie mit Lebenserhaltungseinheiten für einen langen Einsatz versehen, außerdem benutzen wir Medikamente, um ihren Metabolismus zu verlangsamen, solange sie sich im Anflug auf den Asteroiden befinden. Auf diese Weise schonen wir die Lebenserhaltung und verringern die Wärmeentwicklung und den Energieausstoß, also die Dinge, die von der Spezialausrüstung getarnt werden müssen.«
»Können die Störsender es mit allem aufnehmen, was die Aliens aufzubieten haben?«, fragte Badaya. »Ich meine, wir wissen ja nicht mal, wie ihr Überlichtkomm funktioniert.«
»Die Störsender sind um ein paar Dinge aufgerüstet worden, die wir uns bei dieser Syndik-Erfindung abgeguckt haben, mit der der Zusammenbruch der Hypernet-Portale verhindert wird«, erläuterte Carabali. »So wie unsere Systemsicherheit die auf Quantenwahrscheinlichkeit basierenden Würmer der Aliens eliminieren kann, ohne dass wir eigentlich wissen, wie sie funktionieren, so sind wir sehr davon überzeugt, dass die Störsender die Kommunikation der Aliens vollständig unterbinden können.«
Eine Weile herrschte Schweigen, da sich alle Carabalis Entwurf ansahen, bis Duellos auf einen Punkt in der Darstellung des Sternensystems zeigte und sagte: »Auf dem zweitgrößten Mond dieses Planeten dort findet sich eine Einrichtung der Aliens. Wenn wir im richtigen Moment darauf Kurs nehmen, können wir den Eindruck erwecken, dass diese Anlage da unser nächstes Ziel ist, so als würden wir wie bei Limbo versuchen, uns einem isolierten Punkt im System zu nähern. Dabei kann ein Teil der Flotte in einer Entfernung von vierhunderttausend Kilometern an dem Asteroiden vorbeifliegen, während es so aussieht, als wären wir zu diesem Mond unterwegs.«
»Das ist machbar«, stellte Badaya fest und hunderte Stimmen pflichteten ihm bei.
»Wenn Sie die Schlachtkreuzer einsetzen«, ergänzte Desjani und warf Geary dabei einen energischen Blick zu. »Alle Schlachtkreuzer. Wir müssen so schnell wie möglich agieren.«
Geary betrachtete sekundenlang das Display und dachte daran, wie viele Menschenleben auf dem Spiel standen. Er wollte eine solche Entscheidung nicht treffen. Aber Carabali hatte ihre Befähigung unter Beweis gestellt, und seine Flottenoffiziere waren davon überzeugt, dass sie ihren Teil dazu beitragen konnten. Außerdem mussten diese Menschen gerettet werden, wenn es sich irgendwie einrichten ließ. Ironischerweise wurde diese Mission unter anderem erst durch die Syndik-Schutzvorrichtung ermöglicht, die ihm Iceni im Rahmen ihrer Abmachung überlassen hatte. »Also gut, wir machen es so.«
Diesmal brachen alle in lauten Jubel aus.
Es fühlte sich so eigenartig an, als würde man an einer Gruppe Polizisten vorbeigehen, obwohl man gar nichts angestellt hatte. Man gab sich alle Mühe, ruhig und unschuldig auszusehen und ja nichts Bedrohliches auszustrahlen. Das war allerdings umso schwieriger zu bewerkstelligen, wenn man dabei von einer Flotte begleitet wurde, deren Feuerkraft ausreichte, um ganze Welten in Schutt und Asche zu legen. Und das alles, während man sich in einem Sternensystem aufhielt, in dem man eindeutig nicht erwünscht war, und während es sich bei den Polizisten um Aliens handelte, die einen am liebsten umbringen wollten und die bereit waren, ihre Privatsphäre notfalls auch durch Selbstmord zu beschützen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass man etwas im Schilde führte, was den »Polizisten« überhaupt nicht gefallen würde.
Geary wartete bis zum richtigen Moment ab, dann ließ er die Flotte Kurs auf den Mond nehmen, der ihr angebliches nächstes Ziel war. Es war nichts ungewöhnlich daran, dass Shuttles zwischen den Kriegsschiffen hin- und herpendelten, waren doch schließlich Ersatzteile oder Fachpersonal zu transportieren. In den letzten Stunden waren jedoch viele dieser routinemäßigen Shuttleflüge dazu benutzt worden, Marine Scouts mitsamt ihrer Ausrüstung auf die Schlachtschiffe der Vierten Schlachtschiffdivision zu bringen. Die Warspite, die Vengeance, die Revenge und die Guardian waren die Kriegsschiffe, die sich in unmittelbarer Nähe des Asteroiden befinden würden, wenn die Flotte ihn passierte. Sie würden jeweils sieben oder acht Marines ausspucken, die vier Tage später an der Stelle eintreffen sollten, wo sich dann der Asteroid befinden würde. Durch eine neue Verteilung der Kreuzer und Zerstörer rings um die Schlachtschiffe sowie durch eine verstärkte Pendelaktivität der Shuttles wurde der Start der Marines zusätzlich getarnt.
»Hier spricht Admiral Geary. Bei Zeit eins fünf drehen sich alle Einheiten um null vier eins Grad nach Backbord und um null sechs Grad nach oben. Behalten Sie Ihre Geschwindigkeit von 0,1 Licht bei.« Es hatte etwas Eigenartiges an sich, menschliche Maßstäbe für Flugmanöver in einem Sternensystem anzulegen, in dem vermutlich noch nie ein von Menschen gesteuertes Raumschiff unterwegs gewesen war. Aber es waren alte Konventionen, die sich im Lauf der Zeit herausgebildet hatten und die sicherstellten, dass jedes Schiff wusste, was alle anderen Schiffe im nächsten Moment vorhatten, ganz ohne Rücksicht darauf nehmen zu müssen, wohin sie unterwegs waren oder in welcher Position sie sich relativ zueinander befanden. Backbord bedeutete ›weg vom Stern‹, während bei Steuerbord Kurs auf den Stern genommen wurde. ›Oben‹ und ›unten‹ orientierten sich nach der Ebene des Sternensystems. Das Ganze war völlig willkürlich, aber es funktionierte so gut, dass seit Jahrhunderten niemand auf die Idee gekommen war, daran etwas zu ändern.
Er fragte sich, wie die Aliens dieses Problem handhabten. Stellte es für sie überhaupt ein Problem dar? Warum zum Teufel wollen die nicht mit uns reden? Was könnten wir alles lernen, wenn wir allein schon etwas darüber wüssten, wie eine andere intelligente Spezies das Universum sieht. So eine Vergeudung.
»Wieder nachdenklich, Admiral?«, fragte Desjani, während sie irgendeinen administrativen Vorgang erledigte. »Haben Sie schon von Jane Geary gehört?«
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Sie hat ihr Schlachtschiff freiwillig vorgeschlagen, um die Marines zum Asteroiden zu schießen, richtig?«
»Auch das stimmt. Ich habe ihr gesagt, die Entscheidung beruht ausschließlich darauf, welche Schlachtschiffe mit dem geringsten Manövrieraufwand an den Rand der Formation gebracht werden konnten. Wir wollen den Aliens möglichst keinen Hinweis auf das geben, was wir vorhaben.« Geary sah Desjani fragend an. »Sind Sie dahintergekommen, was Jane zu diesem Tatendrang motiviert?«
»Nein. Ich glaube nicht, dass es das Gleiche ist, was Kattnig zu schaffen gemacht hat«, sie hielt inne und beschrieb eine religiöse Geste, die Gnade bedeutete, »aber es könnte etwas Ähnliches sein.«
»Sie meinen, dass sie sich beweisen will?«
»Sie ist nun mal eine Geary, Admiral. Sie wissen, wie Gearys sind.«
»Ich wünschte, ich wüsste es.« Er lehnte sich zurück und betrachtete das Display, während die Flotte das Flugmanöver vollzog und dann Kurs auf den Mond nahm. »Das Schlimmste wird sein, tagelang zu warten, dann kehrtzumachen und den Asteroiden erneut anzusteuern, ohne eine Ahnung zu haben, ob die Scouts überhaupt ihr Ziel erreicht haben und ob es ihnen gelungen ist, ihre Mission zu erfüllen. Sie können weder Statusberichte noch sonst etwas senden. Sie aktivieren die Störsender und setzen die Anlagen außer Betrieb, und während sie damit beschäftigt sind, müssen wir schon wieder Kurs auf den Asteroiden nehmen. Und dann werden diese fünfunddreißig Kriegsschiffe der Aliens ganz sicher auf uns losgehen.«
Desjani grinste ihn an. »Dann bekommen wir ja endlich mal ein bisschen Abwechslung.«
»Die Warspite meldet, dass ein Crewmitglied beim Kurswechsel verletzt worden ist«, gab der Komm-Wachhabende bekannt.
»Sehr gut.« Geary sah zu Desjani, die den Daumen nach oben gerichtet hielt. Nachdem die Systeme der Allianz-Schiffe von den Quantenwahrscheinlichkeitswürmern der Aliens befreit worden waren, sollten die Enigmas nicht mehr in der Lage sein, auf das Datennetz oder das Komm-System der Flotte zuzugreifen. Aber nur weil sie nicht dazu in der Lage sein sollten, hieß das noch lange nicht, dass es ihnen tatsächlich unmöglich war. Deshalb hatte man sich auf einen Codespruch geeinigt, der Geary wissen ließ, dass alle Scouts problemlos gestartet waren.
Langatmige zwei Tage später, und dabei immer noch eine Lichtstunde vom Mond entfernt, ließ Geary die Flotte wenden, als würde sie Kurs auf den Sprungpunkt nehmen. Ein Frachter hatte bereits die Einrichtung auf dem Mond verlassen, womit sich das wiederholte, was sie bei Limbo zu sehen bekommen hatten. »Wenn sie unseren Kurswechsel bemerken, sollten sie zu dem Schluss kommen, dass wir diesmal aufgeben, weil wir keine Lust mehr haben, Dingen nachzujagen, die dann dicht vor unserer Nase in die Luft gejagt werden.«
Desjani nickte gedankenverloren, ihr Blick war auf ihr eigenes Display gerichtet. »Wissen Sie, Admiral, selbst wenn diese Störsender funktionieren und wenn alle Sensor- und Komm-Anlagen auf dem Asteroiden ausgeschaltet worden sind, werden die Kriegsschiffe der Aliens immer noch Kurs auf ihn nehmen, sobald ihnen klar wird, wohin wir unterwegs sind. Wir haben keine Ahnung, wie viele Leute wir aus diesem Asteroiden herausholen müssen und wie schwierig es überhaupt sein wird, ins Innere zu gelangen, ohne dass wir irgendwelche Sprengfallen auslösen. Das wird alles verdammt knapp werden.«
»Ich weiß«, erwiderte Geary. »Deshalb werden Sie auch die erforderlichen Flugmanöver befehlen, sobald wir abbremsen um in einen Orbit einzuschwenken.« Sie sah ihn verdutzt an und begann allmählich zu grinsen, als er weiterredete: »Ich bin in so was ziemlich gut, aber Sie sind besser als ich, wenn es darum geht, Steuerbefehle für Schlachtkreuzer zu erteilen. Genau genommen sind Sie besser als jeder in der Flotte.«
»Ja«, stimmte sie ihm zu. »Das bin ich tatsächlich.«
»Und für einen Captain eines Schlachtkreuzers sind Sie auch noch außergewöhnlich bescheiden.«
»Ja, das auch.« Desjani schaute wieder auf ihr Display, auf dem sie Simulationen für die Annäherung an den Asteroiden durchrechnete. »Oh, das wird gut werden.«
Die Marine Scouts sollten vor mehr als acht Stunden gelandet sein. Ihre Befehle lauteten, bei Zeit null vier vierzig die Störsender zu aktivieren und die auf der Oberfläche befindlichen Anlagen außer Betrieb zu setzen, wenn die Flotte auf dem Weg in Richtung Sprungpunkt erneut den Asteroiden passierte.
Von dem Asteroiden abgesehen waren die sie verfolgenden Kriegsschiffe die einzige feststellbare Präsenz der Aliens in ihrer Nähe, und die hatten mit einem kontinuierlichen Abstand von einer Lichtstunde hinter ihnen an Steuerbord gelauert. Doch im Verlauf des letzten Tages musste ihnen aufgefallen sein, dass die Allianz-Flotte sich dem Orbit des Asteroiden näherte. Nach und nach hatten sie die Distanz verkürzt, und mittlerweile war die Entfernung auf eine halbe Lichtstunde geschrumpft.
Es war inzwischen null vier achtunddreißig. Der Asteroid war fünfundvierzig Lichtsekunden oder 13,5 Millionen Kilometer entfernt. Bei 0,1 Licht konnte die Flotte diese Strecke in rund siebeneinhalb Minuten zurücklegen, doch das half ihnen nichts, da sie mit einer solchen Geschwindigkeit an ihrem Ziel vorbeischießen würden, anstatt sich an die Geschwindigkeit des Asteroiden anzupassen. Der Anflug musste auf eine Weise verlangsamt werden, die möglichst wenig Zeit kostete, dabei aber die Schiffe ausreichend abbremste, damit sie beim Eintreffen am Asteroiden exakt so schnell waren wie er. Lediglich die Schlachtkreuzer verfügten über die notwendigen Antriebseigenschaften, um so schnell zu verzögern, und selbst die mussten jetzt mit dem Bremsvorgang beginnen, sonst würden sogar sie zu schnell am Ziel vorbeijagen. Allerdings durften sie auch nicht zu stark abbremsen, weil sie sonst länger benötigen würden, um den Asteroiden zu erreichen, wo es doch auf jede Sekunde ankam.
Und genau dafür benötigten sie Tanya Desjani.
Geary atmete einmal tief durch, dann schickte er die Befehle an die Flotte. »Eingreiftruppe Lima, Formation verlassen und die Befehle von Captain Desjani von der Dauntless befolgen. Alle anderen Einheiten: Drehen Sie null vier fünf Grad nach Steuerbord und null zwei Grad nach unten und beginnen Sie bei Zeit vier null auf 0,02 Licht abzubremsen.«
Desjani ließ ihre eigenen Befehle an ihr Kommando folgen, kaum dass Geary ausgesprochen hatte: »An alle Einheiten der Eingreiftruppe Lima: Drehen Sie sofort vier sechs Grad nach Steuerbord und null zwei Grad nach unten, bremsen Sie mit maximaler Verzögerung ab.«
Üblicherweise saß Desjani schweigend da, während Geary sich darauf konzentrierte den richtigen Moment abzupassen, um die Vektoren der Flotte zu ändern. Diesmal jedoch war es Desjani, der diese Aufgabe zufiel. Geary saß daneben und beobachtete, wie sich die Schlachtkreuzer von der Flotte lösten und mit einer Heftigkeit abbremsten, dass er unter Schmerzen in seinen Sessel gepresst wurde und die gesamte Struktur der Dauntless aus Protest über diese Belastung ächzte und stöhnte. Auch wenn er sich versucht fühlte, Desjani bei der Arbeit zu beobachten und sich davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich ihr Bestes gab, hielt er sich davon ab. Er musste sie den Job machen lassen, den er ihr übertragen hatte, während er selbst den Rest der Flotte im Auge behielt. Diese Schiffe bremsten alle viel langsamer ab und flogen eine etwas weitere Kurve, die sie zu einem späteren Zeitpunkt an den Asteroiden heranführen sollte. Zudem achtete Geary auf die Aliens, auch wenn die erst eine halbe Stunde später das Licht von den Manövern der Flotte zu sehen bekommen würden und sie bis dahin keine Ahnung hatten, was die Allianz-Schiffe vorhatten.
Er verzog angestrengt den Mund, als er sich unter der Einwirkung jener Kräfte bewegte, die die Leistung der Trägheitsdämpfer überstiegen, um General Carabali zu rufen. »Geben Sie mir augenblicklich Bescheid, wenn Sie von Ihren Scouts irgendetwas sehen oder hören.«
»Das sollte jeden Moment der Fall sein, Admiral«, gab sie zurück und hielt kurz inne. »Statusbericht geht ein, ich leite ihn an Sie weiter, Sir.«
Ein sekundäres Display entstand gleich neben dem Hauptdisplay vor Geary. Darauf war der Asteroid zu sehen, der sich mit schwerfälliger Würde um seine eigene Achse drehte und dessen Oberfläche jetzt mit weitaus mehr Symbolen überzogen war, die nicht nur die Positionen der Scouts angab, sondern auch alle Relais, Antennen, Sensoren und die übrigen Geräte der Aliens, die von den Marines entdeckt worden waren. Einige dieser Symbole blinkten rot auf, womit angezeigt wurde, dass die Scouts die entsprechenden Anlagen mit einer Sprengladung unschädlich gemacht hatten. Gelbe Symbole gaben dagegen an, welche Teile der Ausrüstung gestört wurden.
Ebenfalls gekennzeichnet war eine große, geschickt getarnte Luftschleuse, die ins Innere führte. »Bitte um Erlaubnis, in den Asteroiden vordringen zu dürfen«, sagte Carabali.
»Erlaubnis erteilt. Aber wieso komme ich nur auf neunundzwanzig Marines?«
»Ich bin gerade vom Führer der Scouteinheit davon in Kenntnis gesetzt worden, dass einer der Anzüge nicht schnell genug gebremst hat und am Ziel vorbeigeschossen ist.«
Vorfahren, steht uns bei. Geary aktivierte einen anderen Komm-Kreis. »Elftes Leichte Kreuzergeschwader, Dreiundzwanzigstes und Zweiunddreißigstes Zerstörergeschwader, verlassen Sie sofort die Flottenformation, suchen Sie nach einem Marine Scout, der mutmaßlich am Asteroiden vorbeigeflogen ist. Gehen Sie auf Abfangkurs und nehmen Sie den Marine an Bord.«
Carabali atmete erleichtert auf. »Vielen Dank, Admiral. Meine Scouts werden jeden Augenblick die Luftschleuse sprengen.«
Nachdem Geary selbst einmal tief Luft geholt hatte, um zur Ruhe zu kommen, da er an den einsamen Marine hatte denken müssen, der durch das All raste und dessen Lebenserhaltungssysteme allmählich den Geist aufgaben, sagte er: »Ob wir ihn zurückholen können, hängt davon ab, wie weit der Marine seine Geschwindigkeit drosseln konnte, General. Wenn er mit viertausend Stundenkilometern weitergeflogen ist, dann werden wir ihn womöglich nicht mehr rechtzeitig finden.«
»Wenn die Enigma-Schiffe den Schiffen folgen, die Sie soeben losgeschickt haben …«
»Das bezweifle ich, General. Sie werden es spätestens dann bleiben lassen, wenn sie sehen, dass wir den Käfig aufbrechen, in dem sie ihre gefangenen Menschen festhalten.«
Desjani gab den nächsten Befehl: »An alle Einheiten der Eingreiftruppe Lima, sofort ausführen: Bremsgeschwindigkeit reduzieren auf 0,9 Maximum.«
Die auf Geary einwirkenden Kräfte ließen ein wenig nach, und er hätte schwören können, dass die Dauntless vor Erleichterung seufzte. Er konzentrierte sich wieder auf sein Display, wo die Flugbahn der Schlachtkreuzer sich dem Asteroiden zu nähern begann. Die Zeit bis zum Zusammentreffen wurde dabei ständig nach oben korrigiert, da die Schiffe ihre Fahrt nach wie vor verlangsamten.
»Marines sind eingedrungen«, meldete Carabali. »Mögliche Auslöser für Sprengfallen identifiziert. Sie müssen sie erst unschädlich machen, ehe sie weiter vorrücken können.«
Verdammt. »Wir haben nicht viel Spielraum, General.«
»Verstanden, Admiral.«
»An alle Einheiten der Eingreiftruppe Lima, sofort ausführen: Bremsgeschwindigkeit reduzieren auf 0,8 Maximum«, ordnete derweil Desjani an.
Sechzehn Minuten nach Desjanis erstem Befehl und nach zahlreichen kleineren Korrekturen der Bremsgeschwindigkeit kamen die Schlachtkreuzer in einer relativen Position zum Stillstand und kreisten um den Asteroiden. »Alle Shuttles starten«, befahl Desjani.
Von jedem Schlachtkreuzer starteten etliche Shuttles und jagten auf den Asteroiden zu. An Bord befanden sich jeweils ein paar Ingenieure der Marines, die mit allem nötigen Gerät ausgestattet waren, um in das Innere dieses Gefängnisses vorzudringen, außerdem medizinisches Personal sowie ein Flotteningenieur, der sämtliche Ausrüstung der Aliens daraufhin überprüfen sollte, ob sie es wert war, ausgebaut und mitgenommen zu werden. Darüber hinaus boten die Shuttles vor allem Platz für die Menschen, die dort gefangen gehalten wurden und die hoffentlich befreit werden konnten. »Fünf Minuten, bis das erste Shuttle an der Schleuse andockt«, sagte Desjani zu Geary.
»General Carabali«, setzte Geary an, kam aber nicht weiter.
»Sie haben die Fallen überwunden«, meldete Carabali in diesem Moment. »Sie passieren leere Abteile. Ausrüstungsgegenstände. Noch eine Luftschleuse. Fallen auf dieser Seite erkennbar. Geschätzte Zeit, bis die unschädlich sind, zwei Minuten.«
Desjani hatte ihren Blick auf die Kriegsschiffe der Aliens gerichtet: »Wir sind langsamer geworden, sie aber nicht. In zehn Minuten dürften sie das Licht von unseren Manövern zu sehen bekommen.«
Geary nickte. »Spätestens dann werden wir herausfinden, ob sie jetzt auch noch in der Lage sind, diesen Asteroiden in die Luft zu jagen.« Er musterte seinen Teil der Flotte, der immer noch abbremste, während der Abstand zur Eingreiftruppe mit jeder Sekunde ein Stück wuchs. Er benötigte keine Manöverberechnungen, um zu wissen, dass er diese Schiffe nicht dazu bringen konnte kehrtzumachen, um noch rechtzeitig bei ihnen zu sein und etwas bewirken zu können. »Sieht ganz so aus, als müssten unsere sechzehn Schlachtkreuzer sich diese fünfunddreißig Alien-Schiffe vorknöpfen.«
»Kleinigkeit«, meinte Desjani nur.
Die Hauptformation wirkte seltsam gestreckt, und als Geary einen bestimmten Bereich markierte, stellte er fest, dass die Dreadnaught stärker abbremste als befohlen und dass die Dependable und die Conqueror versuchten, mit ihr mitzuhalten. »Captain Geary, Sie beanspruchen Ihre Antriebseinheiten zu sehr. Bremsen Sie nicht so stark ab und bleiben Sie bei der Flotte.«
Desjani hatte das ebenfalls bemerkt und schüttelte den Kopf. »Sie versucht, diese Schlachtschiffe in unserer Nähe zu belassen, um uns zu unterstützen. Aber so schnell können die nicht abbremsen.«
»Was sie auch wissen sollte.«
Er konzentrierte sich wieder auf die Leichten Kreuzer und die Zerstörer, die weiter in der Richtung beschleunigten, in der der Marine vermutlich zu finden war. »General, wenn Sie Ihrem Scout befehlen könnten, ein Leuchtfeuer zu zünden, dann könnte uns das weiterhelfen.«
»Schon geschehen, Admiral. Der Scout sollte den Befehl inzwischen empfangen haben, aber es gibt noch keine Reaktion. Sein Metabolismus könnte also immer noch verlangsamt arbeiten. Wir haben ihm soeben den Aktivierungsbefehl geschickt.«
»Empfange Notrufsignal«, meldete Lieutenant Castries.
Geary rechnete überschlägig die Position des Notrufs und dessen Bewegung in Relation zu den Kreuzern und Zerstörern aus. »Dieser Marine konnte aber noch deutlich seine Geschwindigkeit reduzieren, bevor die Bremsvorrichtung an seinem Anzug versagte. Ich glaube, eine Rettung sollte möglich sein.«
»Da muss sich aber jemand ganz gehörig bei den Vorfahren bedanken«, merkte Desjani an.
»Wir haben die Luftschleuse passiert«, meldete Carabali. »Dahinter ist noch eine Luftschleuse. Versiegelt, aber keine Fallen. Wir sprengen jetzt.«
»Sie kommen näher«, rief Desjani dazwischen.
»Alien-Schiffe beschleunigen, um uns auf unserer gegenwärtigen Position abzufangen«, rief Lieutenant Yuon aufgeregt.
»Wir können Sie gut hören, Lieutenant«, sagte Desjani energisch. »An alle Einheiten der Eingreiftruppe Lima: Nehmen Sie die Shuttles an Bord, die sich in Ihrer unmittelbaren Nähe befinden. Achten Sie dabei nicht darauf, welches Shuttle eigentlich auf welches Schiff gehört.« Sie zuckte mit den Schultern. »Das sollte uns ein paar Minuten einbringen, wenn die Shuttles zurückkehren«, wandte sie sich an Geary.
Er nickte beiläufig, während seine Aufmerksamkeit zwischen der Hauptgruppe der Flotte, den Marine Scouts, den Shuttles und den Kriegsschiffen der Aliens hin- und herwanderte. »Uns bleibt nicht einmal mehr eine Stunde, dann haben sie uns erreicht.«
»Letzte Barriere überwunden«, kam die nächste Meldung von Carabali. »Betreten weitläufigen Bereich, etliche Gebäude an der Innenwand des Asteroiden. Es ist eine Stadt. Menschen gesichtet. Einige laufen in unsere Richtung, andere rennen davon.«
»Erstes Shuttle dockt an, lässt Passagiere aussteigen.«
»Erste Schätzung der menschlichen Gefangenen liegt bei über hundert.«
»Stromversorgung im Asteroiden ist ausgefallen. Ursache unbekannt. Wir stellen tragbare Lampen auf.«
»Enigma-Kriegsschiffe noch fünfzig Minuten entfernt.«
»Leichter Kreuzer Kusari meldet, dass die geschätzte Zeit bis zur Rettung des Marine Scout bei einer Stunde vierzig Minuten liegt.«
»Befreite Gefangene werden an einem Platz zusammengeführt. Ich muss berichten, dass viele Gefangene sich in ihren Unterkünften verstecken und verbarrikadieren.«
Geary widerstand der Versuchung, sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. Auch wenn es eine noch so dumme Reaktion, konnte man sie doch nachvollziehen, wenn man berücksichtigte, in welcher Isolation sie hier lebten – von dem Zeitraum ganz zu schweigen, den sie hier zugebracht haben mussten. »Erteile Erlaubnis, alle Barrikaden zu durchbrechen und in die Gebäude einzudringen, um die Menschen herauszuholen, damit wir keine unnötige Zeit verlieren.«
Carabali schien sich über das Verhalten dieser Leute zu ärgern. »Bitte um Erlaubnis, notfalls Betäubungsmittel einzusetzen, um sich widersetzende Person unschädlich zu machen.«
»Erlaubnis erteilt. Uns läuft die Zeit davon, General.«
»Admiral«, meldete sich in diesem Moment Captain Smythe zu Wort. »Meine Ingenieure berichten, ihre Scans haben ergeben, dass sich in den Geräten und Anlagen der Enigmas auf dem Asteroiden Sprengstoff befindet. Wir könnten den Selbstzerstörungsmechanismus auslösen, wenn wir versuchen, irgendetwas abzumontieren und mitzunehmen, es sei denn, wir nehmen uns die Zeit, alle Elemente auszubauen, die zur Aktivierung dienen könnten.«
»Wie lange?«, wollte Geary wissen.
Smythe hielt nur einen Moment lang inne. »Mindestens eine Stunde.«
»Wir haben keine Stunde. Lassen Sie von Ihren Ingenieuren die Geräte so gründlich wie möglich scannen, innen wie außen, und dann sollen sie sich auf den Weg zu den Shuttles machen. Ihnen bleiben noch zwanzig Minuten.«
»Erstes Shuttle mit dreißig Gefangenen hebt ab«, rief Castries dazwischen.
»Die müssen sie aber reingequetscht haben«, murmelte Desjani.
»Admiral!« Der Ruf kam vom Chefarzt. »Ich habe ausgewertet, was wir über die Gefangenen sagen können. Sie müssen unbedingt sofort medizinisch isoliert werden, bis wir Gelegenheit hatten, sie auf biologische oder künstliche Gefahren zu untersuchen.«
»Geben Sie den Schiffsärzten der betroffenen Schlachtkreuzer Bescheid«, erwiderte Geary. »Jeder von ihnen soll es seinem Captain sagen und sicherstellen, dass das auch geschieht.«
»Fünfundzwanzig Minuten, bis die Enigma-Kriegsschiffe den Asteroiden erreichen.«
»Sir, eines der Schiffe ist aus der Formation ausgeschert und scheint Kurs auf die Position des Scouts zu nehmen, der auf seine Rettung wartet.«
Das würde er den Leichten Kreuzern und den Zerstörern überlassen müssen. Es war nicht nötig, sie auch noch darauf hinzuweisen, dass sie vor dem feindlichen Kriegsschiff den Marine erreichen mussten.
»Verpflegungsriegel?«, fragte Desjani plötzlich.
»Nein, danke. Keinen Hunger.«
»Wir haben die Hälfte aller Shuttles an Bord genommen. Die andere Hälfte wartet noch darauf, dass die Marines diese Idioten aus ihren Verstecken holen, die es für witzig halten, vor ihren Rettern davonzulaufen.«
»Zwanzig Minuten bis zum Eintreffen der Aliens.«
»Admiral, im Asteroid explodieren verschiedene Teile der Anlagen«, berichtete Carabali. »Ursache unbekannt. Möglicherweise Totmannschaltkreise, die sich aktivieren, wenn die Kommunikation für einen längeren Zeitraum unterbrochen wird.«
»Wie lange noch, bis Sie die letzten Leute da rausgeholt haben?«, gab Geary zurück.
»Unbekannt. Wir suchen immer noch, Admiral.«
»Sie haben fünfzehn Minuten, General.«
»Verstanden, Sir.«
Desjani sandte wieder Befehle aus. »Captain Duellos, Ihre Shuttlehangars sind voll. Beschleunigen Sie mit Ihren Schlachtkreuzern auf den Feind zu und nehmen Sie ihn unter Beschuss, damit wir noch etwas Zeit gewinnen.«
»Sind schon unterwegs«, erwiderte Duellos. Auf dem Display entfernten sich die Inspire, die Formidable, die Brilliant und die Implacable langsam von dem Asteroiden und nahmen Kurs auf die gegnerischen Kriegsschiffe.
»Gute Idee«, sagte Geary. »Es gibt keinen Grund für Schlachtkreuzer, länger hier zu verharren, wenn sie sowieso keine Shuttles mehr aufnehmen können. Daran hätte ich auch denken können.«
»Sie haben was anderes zu tun«, entgegnete Desjani. »Außerdem haben Sie mir die Verantwortung für diesen Bereich übertragen. Allerdings würde ich es zu schätzen wissen, wenn Sie die Marines scheuchen, damit wir die restlichen Shuttles an Bord nehmen können, bevor die Aliens hier eintreffen.«
»Wir ziehen uns zurück«, meldete Carabali in dem Moment. »Wir können nicht mit Gewissheit sagen, dass wir jeden rausgeholt haben, aber der Asteroid bricht in sich zusammen, und die Atmosphäre beginnt zu entweichen. Das heißt, jeder, den wir bislang nicht finden konnten, wird ohnehin in ein paar Minuten tot sein. Die müssen hier überall Totmannschaltkreise installiert haben.«
»Verstanden«, sagte Geary. »Holen Sie Ihre Leute raus. Wie viele Gefangene konnten Sie retten?«
»Dreihundertdreiunddreißig.«
»Wie bitte?«
»Dreihundertdreiunddreißig«, wiederholte Carabali. »Ja, Sir. Ist schon eigenartig, und vielleicht hat es irgendwas zu bedeuten.« Sie wurde von etwas abgelenkt. »Sofort! Ich will, dass alle Marines sofort rauskommen! Wenn diese Flotteningenieure trödeln, schlagen Sie sie bewusstlos und tragen Sie sie raus!«
Kleinere Explosionen erschütterten die Oberfläche des Asteroiden und sprengten Trümmerstücke heraus, die wegen der geringen Schwerkraft ins All schossen und davontrudelten. An etlichen Stellen entwich die Atmosphäre ins Vakuum. Geary warf einen Blick auf das Hauptdisplay. Sechs Minuten bis zum Eintreffen der feindlichen Kriegsschiffe. »Das wird sehr knapp.«
Desjani nickte. »Captain Tulev, rücken Sie mit Ihrer Division los und fliegen Sie den Aliens entgegen.«
»Verstanden«, erwiderte Tulev. Die Leviathan, die Dragon, die Steadfast und die Valiant beschleunigten und nahmen Kurs auf die Enigma-Schiffe.
»Captain, unser Hangar ist voll. Ich schließe jetzt die Luken.«
»In Ordnung. Invincible, wieso hängt da ein Shuttle vor Ihrem Hangar?«
Vente klang so steif wie immer. »Ich befolge nur die Vorschriften für die korrekte Landesequenz und …«
»Sie nehmen sofort das Shuttle an Bord, sonst stelle ich Sie vor ein Erschießungskommando! An alle Einheiten, wir haben noch drei Minuten! Ich möchte mir nicht mit diesen Dreckskerlen ein Gefecht liefern, während wir noch Shuttles an Bord nehmen und neben diesem Felsbrocken festhängen!«
Duellos’ Schlachtkreuzer hatten die Enigma-Kriegsschiffe erreicht und schleuderten ihnen Phantome entgegen, denen die mit hastigen Manövern auszuweichen versuchten. Dann rasten die beiden Formationen auch schon aneinander vorbei und schossen mit allem, was sie aufzubieten hatten.
»Wir sind raus«, meldete Carabali. »Personal vollzählig, letztes Shuttle ist jetzt unterwegs zur Incredible.«
Sekundenlang starrte Geary auf das Display, das den Asteroiden zeigte. Große Teile der Hülle stürzten ins Innere, andere platzten nach außen weg.
»Alle Shuttles an Bord, Captain. Die Incredible schließt die Hangartore.«
»An alle Einheiten der Eingreiftruppe Lima: Manövrieren Sie nach eigenem Ermessen und eröffnen Sie das Feuer auf den Feind.«
Neunundzwanzig Enigma-Schiffe waren noch übrig, aber die mussten erst einmal an Tulevs Schlachtkreuzern vorbeikommen. Auch wenn ihnen nicht viel Zeit zum Beschleunigen blieb, waren diese Schlachtkreuzer immer noch todbringend, und wenn die Enigmas den Asteroiden erreichen wollten, mussten sie an diesen Schiffen vorbei.
Phantome wurden abgefeuert, gefolgt von Höllenspeeren und Kartätschen, als beide Streitmächte einander passierten.
»Die Valiant ist schwer getroffen«, hörte Geary jemanden sagen, aber dann wurde ihm bewusst, dass diese Worte über seine Lippen gekommen waren. Aber es waren nur noch sechzehn feindliche Schiffe, und die acht verbliebenen Schlachtkreuzer der Allianz unter Führung der Dauntless hielten zielstrebig auf sie zu.
Desjanis Finger tanzten über die Feuerkontrollen, und im nächsten Moment ging ein leichtes Zittern durch die Dauntless, als die Gefechtssysteme Phantome und Höllenspeere auf den Feind losließen. Kartätschensalven folgten in dem Augenblick, bevor die viel schneller fliegenden Kriegsschiffe der Aliens sich ihren Weg zwischen den Allianz-Schiffen hindurch bahnten.
Geary nahm den Blick nicht von seinem Display, das laufend die Anzeigen aktualisierte, sobald neue Werte von den Sensoren aller Schiffe der Flotte verarbeitet worden waren. Nur drei Enigma-Schiffe bewegten sich noch und hielten mit unverminderter Geschwindigkeit auf den Asteroiden zu. »Was soll denn das?«
Einen Augenblick später schlugen diese drei Schiffe mit einer Geschwindigkeit von sechzigtausend Kilometern pro Sekunde auf der Oberfläche ein.
Niemand sagte ein Wort, als auf den Displays nur noch eine sich rasch ausbreitende Wolke aus Trümmern und Staub an der Stelle zu sehen war, an der sich eben noch der Asteroid und die drei feindlichen Schiffe befunden hatten. Schließlich riss sich Geary von diesem Anblick los und musste feststellen, dass alle in der Nähe befindlichen Enigma-Schiffe ohne Rücksicht auf das Ausmaß der Schäden bereits der Selbstzerstörung zum Opfer gefallen waren.
Gut eine halbe Stunde später konnten sie beobachten, wie das letzte verbliebene Enigma-Schiff beidrehte und die Flucht antrat, als ihm die Leichten Kreuzer und ein Teil der Zerstörer entgegenkamen, während die restlichen Zerstörer ihre Fahrt verlangsamten, um den Marine an Bord zu nehmen. »Warum nur bringen die sich manchmal um, wenn es dafür keinen vernünftigen Grund zu geben scheint? Und dann wieder sind sie intelligent genug, vor einer Übermacht den Rückzug anzutreten? Ich verstehe das nicht«, rätselte Geary. Er schaute auf die Schadensmeldungen der Schlachtkreuzer und konzentrierte sich dabei auf die Valiant und ihre siebzehn Toten.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Desjani, »und es interessiert mich auch nicht mehr. Wenn noch mal einer von diesen Aliens in die Reichweite meiner Waffen kommt, dann werde ich dafür sorgen, dass ihm gar keine Zeit bleibt, sich zu überlegen, ob er sich besser umbringen oder vielleicht doch die Flucht ergreifen sollte.«
Die Zerstörer wurden noch langsamer, bis die Carbine den Marine an Bord holen konnte. »Treffer!« Die triumphierende Nachricht traf wenige Minuten später von den Rettern ein. Die Gruppe aus Leichten Kreuzern und Zerstörern beschleunigte, um zur Flotte zurückzukehren.
»Die Zerstörer verlangen ein Lösegeld«, meldete Carabali, die nun wesentlich entspannter wirkte als während des Einsatzes auf dem Asteroiden.
»Irgendwas, das die Marines nicht zahlen wollen?«
»Wir werden ihren Besatzungen einen ausgeben, sobald diese Flotte an irgendeiner Bar eine Rast einlegt, Admiral. Vielen Dank.«
»Ich hatte nicht vor, Ihren Scout da draußen zurückzulassen, General.«
»Die Entscheidung mussten Sie wenigstens nicht treffen, Admiral.«
Desjani sah ihn an, als er das Gespräch mit Carabali beendet hatte. »Sie sollten sich ein wenig ausruhen.«
»Sie auch.«
»Ich hab’s Ihnen aber zuerst gesagt.«
»Das war verdammt gute Arbeit.«
»Danke, Admiral. Darf ich Vente jetzt erschießen lassen?«
»Nein.« Er schloss einen Moment lang die Augen und spürte, wie eine Welle der Müdigkeit über ihm zusammenschlug, nachdem die Anspannung der letzten Tage von Erfolg gekrönt worden waren. »Diese Drohung hat ihm aber offenbar Beine gemacht. Nur ein paar Minuten länger, und wir wären zu dicht an diesem Asteroiden gewesen, als er von den Aliens in einen Trümmerhaufen verwandelt wurde. Das hätte üble Folgen haben können.«
Desjani klang ein wenig distanziert, als sie erklärte: »Wir mussten diesmal Erfolg haben, weil wir das kein zweites Mal hinkriegen. Wenn wir das nächste Mal in einer Lichtstunde Entfernung an einem Objekt vorbeifliegen, in dem sie Menschen festhalten, werden sie das Objekt sofort sprengen.«
Er wusste, dass sie recht hatte. Hier hatten sie einen Sieg errungen, aber zugleich vereitelt, dass ihnen ein Erfolg in dieser Art noch einmal gelingen konnte.
Geary nahm sich die Zeit, die Flotte zusammenkommen zu lassen und sie in eine einzelne geschlossene Formation zu bringen, obwohl durch andere Sprungpunkte fast zwanzig weitere Enigma-Schiffe ins System gekommen waren. Da das Ganze ebenso Tage in Anspruch nahm, wie die Reise zum Sprungpunkt, den sie als Nächstes benutzen wollten, ergab sich die Gelegenheit, etwas über die geretteten Menschen herauszufinden.
»Sie haben nie einen Alien gesehen«, berichtete Lieutenant Iger. »Weder die, die in Gefangenschaft geraten waren, noch die, die dort geboren wurden.« Er aktivierte ein weiteres Fenster, das zeigte einen Mann an, der sein mittleres Alter schon vor einer Weile hinter sich gelassen hatte. »Dieser Mann war einmal Crewmitglied eines Syndik-Jägers. Wie lange das her ist, kann er nicht sagen, weil die Gefangenen in diesem Asteroiden sich an nichts orientieren konnten, um zu bestimmen, wie viel Zeit verging. Wenn man seine Angaben aber mit den von den Syndiks überlassenen Unterlagen vergleicht, dann ist es wahrscheinlich vierzig Jahre her, als ein Jäger beim Durchqueren des Grenzsystems Ina spurlos verschwand.«
Der alte Mann begann zu reden: »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich befand mich auf meinem Posten, als wir auf einmal aus dem Nichts beschossen wurden. Ich weiß noch, wie alle riefen: ›Wo kommt denn das her?‹ Dann bekamen wir den Befehl, das Schiff zu evakuieren. Ich schaffte es mit zwei Kameraden in eine Rettungskapsel, und wir ließen uns aus dem Schiff ausstoßen. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Danach bin ich in diesem Asteroiden aufgewacht. Vom ersten Moment an war ich mir sicher, dass das ein Asteroid sein musste. Was mit den beiden anderen passiert ist, mit denen ich in der Rettungskapsel saß, weiß ich nicht. Ich war der Einzige von unserer Einheit, der hier gelandet war. Aber keiner hat mich ankommen sehen. Ich war auf einmal da. Manchmal ging das Licht aus, und wir schliefen alle ein. Wenn wir wieder aufwachten, lag manchmal ein Neuzugang auf dem Boden. Oder man hatte uns eine Kiste mit Lebensmitteln hingestellt. Oder ein Verstorbener war verschwunden. Wenn jemand starb, dann wussten wir, dass entweder bald ein neuer Gefangener auftauchen oder dass eine der Frauen schwanger werden und ein Kind bekommen würde. Wir waren immer gleich viele. Ja, immer dreihundertdreiunddreißig. Keine Ahnung wieso.«
Der befreite Gefangene hatte aufgehört zu reden, er kniff die Augen zusammen, um gegen seine Tränen anzukämpfen. »Ich weiß, Sie sind von der Allianz, aber … kann ich bitte zurück nach Hause, Sir? Es ist lange her, und ich dachte, ich müsste an diesem Ort sterben. Ich möchte einfach nur nach Hause, Sir.«
Geary schaute zur Seite, da er versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Er konnte es sich nicht leisten, seine Entscheidungen vom Mitleid mit diesem Mann und vom Hass auf die Aliens beeinflussen zu lassen. Wie hätten wir Aliens behandelt, wenn es uns gelungen wäre, sie gefangenzunehmen? Die Allianz hätte es vielleicht nicht getan, aber den Syndiks wäre zuzutrauen gewesen, ein Gefangenenlager in einem Asteroiden unterzubringen. »Sonst kann er uns nichts sagen, Lieutenant Iger?«
»Nein, Sir. Und von den anderen kann auch keiner etwas berichten.«
Vom Chefarzt der Flotte kam eine Meldung, die nur wenig aufmunternder war als Igers Bericht. »Wir haben in den Körpern keine biologischen Kampfstoffe finden können, und es deutet auch nichts darauf hin, dass man sie irgendwelchen Versuchen ausgesetzt hat. Allerdings hat man ihnen Nano-Objekte eingepflanzt, die wir rechtzeitig entdecken und unschädlich machen konnten. Diese Objekte lösen tödliche Reaktionen im Körper aus, sobald der Gefangene den Asteroiden für eine bestimmte Zeit verlässt.«
Auch eine Art von Totmannschalter. »Wie steht es um ihre Gesundheit?«
»Für die Umstände nicht schlecht«, meinte der Arzt achselzuckend. »Sie haben in einer isolierten Gemeinschaft gelebt. Die Ausrüstung und die Geräte, die sie für ihr Überleben benötigten, waren menschlichen Ursprungs, sie erhielten medizinische Versorgung und so weiter. Zwei Gefangene waren medizinisch ausreichend gebildet, um die Geräte zu handhaben und bis auf wirklich schwere Erkrankungen oder Verletzungen alles behandeln zu können. Sie haben Getreide angebaut, und von Zeit zu Zeit tauchten in der Nähe der Luftschleuse Lieferungen mit Lebensmitteln auf, die ganz eindeutig von Menschen verarbeitet und zubereitet worden waren. Nach ihrer körperlichen Verfassung zu urteilen haben sie eine ausgewogene Ernährung erhalten, nur war die die meiste Zeit über sehr eintönig.«
»Und ihre geistige Verfassung? Wie sieht es damit aus?«
Der Arzt sah kurz vor sich, ehe er antwortete. »Zerbrechlich. Sie hatten in diesem Asteroiden eine Gesellschaftsstruktur errichtet, die stabil genug war, um Wissen weitergeben und Ordnung wahren zu können. Es gab eine Art Rat, der Entscheidungen traf. Aber sie waren völlig isoliert und den Launen eines unbekannten und unsichtbaren Gegners ausgeliefert, der sie in dieser Umgebung festhielt. Jetzt können ein paar von ihnen es nicht erwarten, endlich wieder den Himmel über sich zu sehen, während andere genau davor panische Angst empfinden. Ihre Welt ist nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch buchstäblich zerstört worden, und das hat ihrem Leben die vertraute Stabilität genommen.«
»Aber es war doch richtig, sie zu retten, oder nicht?«, vergewisserte sich Geary seufzend.
»Natürlich. Ein Käfig ist und bleibt nun mal ein Käfig. Aber sie werden Mühe haben, sich an ihre Freiheit zu gewöhnen. Was werden Sie mit ihnen machen?«
»Sie nach Hause bringen.« Geary hielt inne, da ihm klar wurde, dass das gar nicht so einfach sein würde, wie es sich im ersten Moment anhörte. »Sie müssten eigentlich alle noch irgendwelche Verwandten im Syndik-Territorium haben.«
»Wo die Zentralregierung die Kontrolle über viele Sternensysteme verloren hat«, gab der Arzt zu bedenken. »Für einige von ihnen wird das Wiedersehen nicht allzu schwierig ausfallen, weil sie aus einer Welt gerissen wurden, in die sie zurückkehren können. Andere sind aber die Nachfahren von Syndiks, die vor über hundert Jahren in Gefangenschaft geraten waren. Sie kennen kein anderes Zuhause als das Innere dieses Asteroiden, und ihre Familie sind die Menschen, mit denen sie dort lebten.«
Nach einem kurzen Zögern fuhr der Arzt bedächtiger fort: »Ich habe Angst um sie, Admiral. Sie sind … einzigartige und damit sehr kostbare … Forschungssubjekte. So, jetzt ist es raus … Es gibt viele Leute, die sie liebend gern als Versuchskaninchen benutzen würden, die mit ihnen also nichts anderes anstellen würden als die Aliens. Sie haben niemanden, der sich schützend vor sie stellt, erst recht nicht in den Syndikatwelten. Diese Leute müssen davor bewahrt werden, dass man sie wie Menschen ohne irgendwelche Rechte behandelt.«
»Meinen Schutzmöglichkeiten für diese Leute sind Grenzen gesetzt, Doctor.«
»Aber Sie können sie zurück in die Allianz mitnehmen, wenn sie das wollen«, beharrte der Chefarzt. »Da treten andere für ihre Rechte ein. Und wenn Black Jack Geary öffentlich erklärt, dass man diese Leute wie Menschen behandeln soll, die schon genug gelitten haben, dann wird das Einfluss auf den Umgang mit ihnen haben. Vielleicht sogar im Territorium der Syndikatwelten.«
Der Gedanke war nicht verkehrt, aber Geary konnte dabei eine maßgebliche Hürde nicht übersehen. »Ich werde eine solche Erklärung abgeben, allerdings stellt sich die Frage, was sein soll, wenn sie gar nicht in die Allianz gebracht werden wollen.«
»Admiral, was werden Syndik-CEOs mit diesen Leuten anstellen? Die Antwort darauf kennen Sie so gut wie ich. Ich weiß, es wird noch eine Weile dauern, bis wir zurück bei den Syndiks sind, aber ich möchte Sie bitten, sich bis dahin diese Sache noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.«
Die befreiten Menschen waren allesamt auf der Typhoon untergebracht. Zwar hatten deshalb einige Marines anderswo hingeschickt werden müssen, aber die Flottenärzte hatten darauf gedrängt, dass diese Leute als Gruppe zusammenblieben, um sie nicht noch mehr zu verunsichern. Die Konferenzsoftware wurde so angepasst, dass sich Geary an sie alle gleichzeitig wenden konnte, indem er in jedem ihrer Quartiere gleichzeitig auftauchte, während es ihm erschien, als würden sie sich alle in einem großen Raum aufhalten, um ihm zuzuhören.
Er hatte die Gefangenen gesehen, die seine Flotte bei der Flucht aus dem Syndikterritorium aus deren Arbeitslagern befreit hatte, doch das hier war eine ganz andere Situation. Die Menschen standen dicht an dicht, fast so, als würde sich einer am anderen festklammern. Manche trugen Kleidung aus den Beständen der Flotte, andere hatten das anbehalten, was sie bei ihrer Rettung getragen hatten: eine sonderbare Kombination aus unterschiedlichsten Stilen der verschiedenen Jahrzehnte und Berufe. Das Meiste davon durchgescheuert und an vielen Stellen geflickt. »Wir werden jeden von Ihnen dorthin bringen, wohin er will«, sagte Geary. »Einige von Ihnen möchten nach Hause auf Ihren Planeten innerhalb der Syndikatwelten. Ich weiß, man hat Ihnen bereits erzählt, dass sich die Dinge verändert haben. Sie wissen, dass das Leben in den Syndikatwelten ungewisser geworden ist, als Sie es in Erinnerung haben. Aber wenn Sie dorthin zurückkehren wollen, dann werden wir alles tun, damit Sie Ihre Heimatwelten erreichen können. Sie alle sind aber auch in der Allianz herzlich willkommen, wo man Sie gut behandeln wird. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Die Menschen blickten einander an; einigen war ihre Angst anzusehen, andere strahlten Hoffnung aus. Kinder klammerten sich an ihre Mütter. »Wie viel Zeit haben wir, um darüber nachzudenken?«
»Einige Monate. Diese Zeit werden wir allein schon benötigen, um ins Syndik-Gebiet zurückzukehren, da unsere Mission hier noch nicht abgeschlossen ist.«
Dem hatte keiner etwas hinzuzufügen, die Leute drängten sich nur noch etwas dichter zusammen, sodass Geary schließlich die Verbindung beendete und sich in seinen Sessel sinken ließ. Und da habe ich mich noch bemitleidet, nachdem ich aus dem Kälteschlaf geholt worden war und feststellen musste, dass ein Jahrhundert vergangen ist. Ich hatte in vieler Hinsicht Glück. Verzeiht mir, Vorfahren, aber ich möchte diesen Enigmas wehtun. Ich möchte sie für das hier bezahlen lassen. Aber ich habe ihnen längst wehgetan. Viele von ihnen sind gestorben, und wir haben etliche ihrer Schiffe zerstört. Und hat das irgendwas gebracht? Zumindest konnten wir diese Menschen befreien.
Er rief den aktuellen Statusbericht für die Flotte auf. Bei fast dreißig Zerstörern waren Teile der Ausrüstung ausgefallen, sodass Captain Smythes Hilfsschiffe neben der Reparatur der Schäden aus dem Gefecht mit den Aliens auch noch damit beschäftigt waren. Damit mussten die geplanten Austauscharbeiten an allen Schiffen weiter nach hinten geschoben werden, womit das Versagen durch Materialermüdung auf den älteren Schiffen der Flotte wieder ein Stück näher rückte.
Die Glocke an der Luke zu seinem Quartier wurde betätigt. Er sah auf und hoffte, Tanya würde ihm einen Besuch abstatten, musste aber feststellen, dass Victoria Rione vor ihm stand. »Was verschafft mir die Ehre?«, fragte er und bemerkte, wie unbeabsichtigt schroff ihm diese Worte über die Lippen kamen.
Riones Miene nahm einen härteren Zug an. »Ich wollte Sie wissen lassen, dass Commander Benan Diskussionen über Ihren Nachfolger zu Ohren gekommen sind.«
»Hat jemand meine Versetzung beschlossen, und ich weiß nichts davon?«
Sie kam zu seinem Tisch. »Unfälle ereignen sich ohne Vorankündigung.«
»Ist das eine Warnung oder eine philosophische Weisheit?«
»Mir ist nichts von einer Bedrohung aus den Reihen der Flotte bekannt«, antwortete sie kopfschüttelnd.
Er wurde hellhörig und wiederholte: »Aus den Reihen der Flotte?«
»Ich habe gesagt, was ich gesagt habe. Wer wird das Kommando über die Flotte übernehmen, wenn Ihnen etwas zustößt?«
Er spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, ihr nicht zu antworten, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, doch dann entschied er, sich auf seine Stärke zu besinnen und einfach nur die Wahrheit zu sagen. »Captain Badaya. Doch er hat auch zugesichert, sich die Empfehlungen von Tulev und Duellos anzuhören. Wollen Sie sich nicht setzen?«
Sie nahm Platz und betrachtete ihn. »Kein Kommandoposten für Ihren Captain?«
»Man kann wohl davon ausgehen, wenn mir etwas zustößt, wird sie sich in meiner unmittelbaren Nähe befinden und ebenfalls davon betroffen sein. Außerdem hat sie noch nicht genügend Dienstjahre zusammen, und Diplomatie ist auch nicht gerade Tanyas Stärke.«
»Ach, ist Ihnen das auch aufgefallen? Aber sollte der unerfreuliche Fall eintreten und Ihnen stößt etwas zu, würde sie dann nicht davon profitieren können, dass sie Black Jacks Witwe ist?«
»Tanya würde sich das nicht zunutze machen.«
»Wenn es erforderlich wird, sollte sie das aber.« Rione zögerte und machte einen Moment lang den Eindruck, als hätte sie mehr gesagt, als sie eigentlich wollte. »Was ist mit den Admirälen, die in den Transportern sitzen und auf Ihren Posten lauern?«
»Die sind alle aus medizinischen Erwägungen zurückgestellt worden. Sie müssen erst gründlich untersucht werden, um festzustellen, ob sie den Belastungen des aktiven Dienstes gewachsen sind.«
Rione lachte auf. »Der große Black Jack lässt sich zu politischen Spielchen hinreißen?«
»Der große Black Jack weiß, welche Folgen posttraumatischer Stress nach sich ziehen kann. Es ist ein Wunder, dass ich in der Lage war, die Flotte vor den Syndiks zu retten, als mir das Kommando vor die Füße geworfen wurde. Hinzu kommt, dass keiner dieser befreiten Admiräle eine Ahnung davon hat, was Taktik in Wahrheit bedeutet.« Er lehnte sich zurück. »Mir liegt das Wohl der Flotte am Herzen.«
»Indem Sie das Kommando Badaya übertragen?«
»Badaya ist kein Dummkopf, und er weiß, dass Tulev genug Autorität besitzt, um ihm das Kommando streitig zu machen, wenn er vom Kurs abkommt. Badaya weiß auch, dass er ohne mich nicht darauf hoffen kann, die Allianz zu kontrollieren. Sind Sie hergekommen, um mit mir über Politik zu reden?«
Sie sah ihm in die Augen. »Lassen Sie die Flotte jetzt umkehren?«
»Nein. Erst sehen wir uns noch in ein paar Systemen um, danach machen wir kehrt.«
Ein behutsames Nicken war ihre erste Reaktion. »Ich muss Sie daran erinnern, dass Sie den Auftrag haben, die Ausdehnung des Enigma-Territoriums herauszufinden.«
»Was Sie hiermit getan haben. Victoria, warum hat man Sie als eine der Gesandten auf diese Mission geschickt?«
Für einen kurzen Moment blitzten ihre so sorgfältig gehüteten Emotionen auf. »Ich habe mich freiwillig gemeldet, nachdem man mir ein Angebot gemacht hatte, das ich nicht ablehnen konnte. Vielleicht hätte ich es abgelehnt, aber ich wusste nicht, wen sie stattdessen mitgeschickt hätten.«
»Wussten Sie, dass Ihr Mann bei Dunai festgehalten wurde?«
»Nein. Ich wusste, dass es ein Arbeitslager für VIPs war, aber Paol ist nur Commander.«
»Ein Commander, der mit der Co-Präsidentin der Callas-Republik verheiratet ist.«
Sie zuckte mit den Schultern und zog sich hinter ihren undurchdringlichen Panzer zurück. »Daran hätte ich eigentlich denken sollen. Diese Leute, die wir jetzt gerettet haben … Was werden Sie mit ihnen machen?«
»Wir werden alles tun, um gut auf sie aufzupassen. Aber sie sind freie Menschen, und letztlich entscheiden sie, was sie machen wollen.«
»Welche Abmachung haben Sie mit CEO Iceni getroffen, damit sie Ihnen die Unterlagen für diesen Mechanismus überlässt, mit dem der Zusammenbruch von Hypernet-Portalen verhindert werden kann?«
Die Frage überraschte ihn, weil er davon ausgegangen war, dass Rione die Antwort darauf schon längst gefunden hatte. »Ich lasse den Eindruck zu, dass ich nichts gegen sie unternehmen werde. Sie plant, sich von den Syndikatwelten loszusagen. Schon ein Glücksfall, dass die Syndiks dieses Gerät entwickelt haben, nicht wahr? Ohne das Hypernet der Syndiks wäre das eine sehr lange Reise geworden«, fuhr er fort, wobei er diese Anspielung ganz gezielt einbaute, um Riones Reaktion zu sehen.
»Ja, das wäre tatsächlich eine sehr lange Reise geworden.« Wieder nickte sie, dann stand sie auf. »Noch ein paar Systeme mehr, Admiral? Es könnte verlockend sein, noch etwas weiter vorzudringen.«
Ihre Haltung vermittelte Geary, dass sie es für einen Fehler hielt. Und doch hinderte irgendetwas sie daran, das auszusprechen. »Ich verstehe. Wir haben die Route für sieben weitere Sternensysteme geplant, weiter als bis zum siebten wird es nicht gehen.«