Neun

Desjani trat einen Schritt vor und stellte sich zwischen Benan auf der einen und Geary und Rione auf der anderen Seite. »Gibt es ein Problem, Commander?«

»Ich muss mit … dem Admiral sprechen.« Paol Benans Gesicht war kreidebleich, seine Stimme klang rau. »Es gibt eine Ehrenfrage zwischen uns zu klären. Ich muss …«

Im energischen Kommandoton und mit entsprechender Lautstärke unterbrach sie ihn. »Commander Benan, sind Sie sich über die Flottenvorschriften im Klaren?«

Sein aufgebrachter Blick richtete sich auf sie. »Ich muss mir nicht die Flottenvorschriften zitieren lassen von einer …«

»Dann wissen Sie auch, was passieren wird, wenn Sie so weitermachen«, fiel ihm Desjani frostig ins Wort. »Auf meinem Schiff werde ich solche Verletzungen der Disziplin nicht dulden.«

»Auf Ihrem Schiff? Nach allem, was Sie beide gemacht haben? Sie haben Ihre Position entehrt, Ihnen hätte man das Kommando entziehen sollen, um Sie vor …« Andere Crewmitglieder waren stehen geblieben und beobachteten das Geschehen. Auf einmal regte sich ein tiefes, missbilligendes Murren, das bedrohlich genug war, um Paol Benan abrupt verstummen zu lassen.

Ein Chief Petty Officer trat vor und erklärte mit Nachdruck: »Sir, wenn es irgendeinen Grund gegeben hätte, die Ehre unseres Captains in Zweifel zu ziehen, dann wäre uns das bekannt gewesen. Sie und der Admiral haben zu keinem Zeitpunkt ihre Pflichten oder Verantwortlichkeit vernachlässigt oder verletzt.«

»Ihre Ehre ist nicht beschmutzt«, ergänzte ein Ensign.

Benan wollte etwas darauf erwidern, aber Victoria Rione kam ihm zuvor, da sie sich an Desjani vorbeidrängte und sich vor ihn stellte, um ihn wütend anzustarren. Aufgebracht zischte sie ihrem Ehemann zu: »Wir werden reden. Unter vier Augen. Auf der Stelle.«

Benans Blässe wich einer einsetzenden Zornesröte. »Was du mir zu sagen hast, das kannst du auch …«

»Wenn ich dir noch immer irgendetwas bedeute, dann wirst du nicht in aller Öffentlichkeit zu meiner Ehre oder meinem Handeln äußern«, unterbrach Rione ihn so energisch, dass es schien, als würde ihre Stimme ihm einen körperlichen Stoß versetzen.

Diesmal drang sie zu ihm durch. Benan schluckte, dann nickte er und murmelte kleinlaut: »Ich … es tut mir leid, Vic.«

»Komm jetzt mit. Bitte.« Rione drehte sich nicht zu Geary, sondern zu Desjani um. »Wenn Sie uns entschuldigen würden, Captain. Ich … danke Ihnen«, brachte sie erstickt über die Lippen, wandte sich ab und führte ihren Mann weg.

Desjani sah den beiden nach, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre Crewmitglieder, die ein wenig unschlüssig dastanden. »Danke.« Die Männer nickten und salutierten, dann gingen sie weiter. Desjani gab Geary ein Zeichen. »Kommen Sie, gehen wir weiter. Das war knapp.«

»Was war knapp? Wovon haben Sie Benan abgehalten?«

Mitten in der Bewegung erstarrte sie und sah ihn an. »Sie wissen wirklich nicht, was er vorhatte? Er wollte Sie zu einem Ehrenduell herausfordern.«

Geary war sich nicht sicher, ob er das richtig gehört hatte. »Ein was?«

»Ein Ehrenduell. Üblicherweise auf Leben und Tod.« Sie waren an ihrem Quartier angekommen, und sie bedeutete ihm einzutreten. »Ich hoffe, du kannst fünf Minuten hier bei mir verbringen, ohne irgendwen auf die Idee zu bringen, wir könnten wie läufige Kaninchen übereinander herfallen.« Während sie redete, ließ sie sich in einen Sessel fallen und nahm dabei eine Haltung ein, die so ganz anders war als die förmliche Pose, die sie sonst zur Schau stellte. »Ehrenduelle begannen vor … ich weiß nicht, ich glaube vor dreißig Jahren. Flottenoffiziere fingen auf einmal an, andere herauszufordern, von denen sie sich in ihrer Ehre beleidigt fühlten. Wir konnten den Feind nicht besiegen, also machten wir uns daran, uns gegenseitig zu zerfleischen.« Sie sah ihm in die Augen. »Fragen der Ehre, beispielsweise der Vorwurf der Untreue.«

»Das hat sich in dieser Flotte abgespielt?«, fragte er.

»Du weißt, wie wir selbst heute noch sind! Nur die Ehre zählt! Nur die Demonstration von Tapferkeit!« Desjani verzog angewidert das Gesicht. »Ein Offizier, der herausgefordert worden war, konnte keinen Rückzieher machen, wenn er nicht als Feigling bezeichnet werden wollte. Wir hatten auch so schon einen Mangel an Offizieren, und die wenigen, die wir hatten, die brachten sich aus fehlgeleitetem Ehrgefühl gegenseitig um. Dann endlich griff die Flotte ein und erließ strenge Vorschriften, die harte Strafen für jeden androhten, der einen anderen herausforderte. Es dauerte eine Weile, und es waren einige Erschießungskommandos nötig, um diese Vorschriften durchzusetzen. Aber zu der Zeit, als ich zur Flotte kam, waren das nur noch Geschichten, erzählt von den Leuten, die zu der Zeit schon gelebt hatten. Aber die Vorschriften haben nach wie vor Bestand. Wir mussten sie bei der Offiziersausbildung auswendig lernen. Hätte dieser Idiot seine Herausforderung an dich ausgesprochen, wäre ich gezwungen gewesen, ihn in die Arrestzelle zu stecken und ihn bei unserer Rückkehr einem Kriegsgericht zu übergeben.« Sie sah Geary forschend an. »Es sei denn, du hättest entschieden, ihn sofort hinrichten zu lassen, was dein gutes Recht gewesen wäre.«

Geary schaute sich um. Er konnte sich nicht daran erinnern, je in ihrem Quartier gewesen zu sein. Nachdem er sich einen Platz ihr gegenüber ausgesucht hatte, setzte er sich hin. »Das ist nicht witzig.«

»Das war auch nicht witzig gemeint. Fast hätte er mich auch noch herausgefordert, oder ist dir das nicht aufgefallen?«

Er starrte sie verdutzt an. »Mit dieser Bemerkung, dass man dir das Kommando hätte entziehen sollen?«

»Ja, genau die«, spie Desjani aus.

»Deine Crew hat deine Ehre verteidigt«, machte Geary ihr klar.

»Aber nur, weil sie nicht weiß, wie unehrenhaft meine Gefühle waren«, fuhr sie fort, wobei ihr Tonfall zunehmend verbittert klang. »Du hättest mich haben können, und du hättest mich nicht mal freundlich darum bitten müssen. Das wusstest du, und wenn du dir selbst gegenüber ehrlich bist, dann wirst du es auch zugeben müssen. Stell mich nicht als Musterbeispiel in Sachen Ehre hin, denn ich hätte dir jeden Wunsch erfüllt, obwohl du mein vorgesetzter Offizier warst.«

»Du hast nicht … Tanya, du warst davon überzeugt, dass ich eine lebenswichtige Mission zu erfüllen hatte. Nicht mal unsere schärfsten Kritiker könnten irgendetwas vorlegen …«

»Ich selbst bin mein schärfster Kritiker, Admiral Geary!«, fuhr sie ihn an. »Hast du das noch nicht gemerkt?«

»Ich schätze, ich hätte es merken sollen.«

Eine Zeit lang starrte Desjani in eine Ecke des Raums, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich hätte Rione sein können. Du weißt, ich hatte vor dir Beziehungen. Es ist möglich, dass eine von ihnen zu einer Heirat geführt hätte, und mindestens einer der Offiziere, die ich hätte heiraten können, wurde von den Syndiks gefangengenommen. Ich hätte Jahre damit zubringen können, die Erinnerung an ihn und an unsere gemeinsame Zeit in Ehren zu halten. Dann hätte ich nach seiner Befreiung feststellen müssen, wie groß der Unterschied zwischen diesen idealen Erinnerungen und der Realität ist, wie sehr er sich von dem Mann unterscheidet, der er einmal gewesen war. Und ich wäre gezwungen gewesen, ihm zu erklären, was ich getan habe, während er in einer Gefangenschaft war, von der wir alle glaubten, sie würde bis an sein Lebensende dauern.«

Er ließ den Kopf sinken, da sich in ihren Augen Gefühlsregungen widerspiegelten, die er nicht sehen wollte. »Du hättest nicht …«

»Ich hätte es, und das weißt du. Rede nichts schön. Es war purer Zufall, dass ich nicht das Leben führen muss, in das sie geraten ist.«

Verdutzt schaute er sie an. »Darum bist du dazwischengegangen? Du wolltest sie beschützen, weil sie dir leidtut?«

»Ich bin die Befehlshaberin dieses Schiffs! Ich toleriere keine Verletzung der Disziplin!«, konterte sie energisch. »Deshalb bin ich dazwischengegangen. Ist das klar?«

Er musterte sie lange. Ihm war klar, dieses Thema würde Desjani niemals auf eine andere Weise diskutieren können. »Jawohl, Ma’am.«

»Verdammt, Jack! Hör mit so was auf!«

Den Spitznamen Black Jack hatte er noch nie leiden können. Entsprechend entsetzt hatte er feststellen müssen, dass die Allianz-Regierung den Namen zu einem Teil von ihm gemacht hatte, während sie gleichzeitig diesen Mythos vom größten Helden der Allianz überhaupt schuf. Desjani dagegen hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ihn von Zeit zu Zeit einfach nur Jack zu nennen, was ihr persönlicher Spitzname für ihn war. Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass es ihm gefiel. Aber als sie ihn jetzt so anredete, war das ein Zeichen dafür, wie wütend sie war. »Schon gut, es tut mir wirklich leid. Wie lange willst du dich noch über die Gefühle ärgern, die du für mich entwickelt hast, als ich dein vorgesetzter Offizier war?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Für den Rest dieses Lebens. Und vermutlich auch für einen Teil meines nächsten Lebens. Ich bin mir sicher, dass ich in dem Leben danach genügend Sünden angehäuft habe, um mein schlechtes Gewissen anderweitig zu beschäftigen.«

»Und was soll ich machen, wenn Commander Benan noch mal versucht, mich zu einem Duell herauszufordern?«

»Ich würde den Bastard standrechtlich erschießen lassen, aber das ist nur meine Meinung dazu.« Sie sah missmutig nach unten. »Tut mir leid. Ich weiß, du willst einen Rat von mir hören. Falls diese Harpyie, mit der er verheiratet ist, ihn deswegen nicht bereits kastriert hat, solltest du versuchen, ihn dazu zu bringen, dass er die Klappe hält. Schlag ihn notfalls bewusstlos, aber sorg dafür, dass er seine Herausforderung nicht ausspricht. Andernfalls wirst du vor Entscheidungen gestellt, die du lieber nicht treffen willst.«

»Alles klar.« Er stand auf und wusste, dass in diesem Moment viele Blicke auf die Tür zu ihrem Quartier gerichtet waren. »Und nochmals danke, dass du sichergestellt hast, dass es auf deinem Schiff nicht zu irgendwelchen Zwischenfällen kommen konnte.«

Sie schaute ihn argwöhnisch an. »Gern geschehen.«

Er wollte gehen, da bemerkte er eine Metalltafel am Schott neben der Luke, wo Desjani sie jedes Mal sah, wenn sie ihr Quartier verließ. Namen und Daten waren dort aufgelistet, außerdem die Bezeichnung verschiedener Sterne. Die Liste war erkennbar über die Jahre hinweg kontinuierlich ergänzt worden. Die Namen ganz oben waren die von Junioroffizieren, und je weiter die Liste reichte, umso höher wurden die Dienstgrade. »Wer sind diese Leute?«

»Freunde.«

Sein Blick hatte den letzten Namen erreicht. »Captain Jaylen Cresida.«

»Freunde, die nicht mehr unter uns weilen.«

Er drehte sich zu ihr um. Sie schaute auf die Tafel und vermied es, Geary anzusehen. »Mögen die lebenden Sterne ihre Erinnerung strahlen lassen«, sagte er und verließ ihr Quartier, dann zog er die Luke hinter sich leise zu.

Eine äußerst rastlose Nacht trieb ihn wieder dazu, durch die Korridore der Dauntless zu spazieren. Es erforderte ein gutes Maß an Schauspielerei seinerseits, auf seiner nächtlichen Wanderung durch das Schiff nicht den Eindruck zu erwecken, dass er nervös war und damit womöglich noch die Crewmitglieder beunruhigte, die für die Nachtschicht eingeteilt waren. Was soll ich nur mit Jane Geary machen? Tanya hat völlig recht. So gut es mir auch gelungen ist, diese Flotte in den Griff zu bekommen, bleibt es doch eine Tatsache, dass sie alle einer Attacke den Vorzug geben, dass sie Mut beweisen, dass sie schnell und energisch gegen den Feind vorgehen. Jane hat zwar meinen ausdrücklichen Befehl missachtet, aber es ist ihr gelungen, mit einem wagemutigen Vorstoß die Bedrohung durch den Gegner unschädlich zu machen. Sie hat die Gefahr ausgeschaltet und unsere Truppen auf dem Planeten beschützt, dabei hat sie auch noch das Risiko von Opfern unter der Zivilbevölkerung auf ein Minimum reduziert. Mit anderen Worten: Sie hat alles genau richtig gemacht.

Damit bleibt mir so gut wie kein Spielraum, um sie zurechtzuweisen. Ich kann eine so effiziente Initiative nicht verurteilen, ohne dabei die falsche Botschaft auszusenden. Wenn ich Gehorsam zur einzigen Tugend erkläre, könnte ich eine Kultur schaffen, die genauso übel ist wie das undisziplinierte Chaos, das ich hier vorgefunden habe. Will ich eine ganze Flotte mit Offizieren wie Captain Vente, dem man offensichtlich bis ins Detail alles erklären muss, was er tun soll? Ich muss einen Grund finden, um ihm das Kommando über die Invincible abzunehmen, aber bislang will mir nichts einfallen.

Um diese Uhrzeit waren nur wenige Besatzungsmitglieder unterwegs, und die meisten von ihnen waren auf ihren Posten. Deshalb fiel ihm auch sofort die Frau auf, die vor ihm um eine Ecke bog.

Rione.

Sie sah ihn und zögerte kurz, doch dann ging sie weiter, bis sie unmittelbar vor ihm stehen blieb.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.

»Es ging mir schon schlechter.«

Sein schlechtes Gewissen regte sich prompt. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

»Das bezweifle ich. Was Sie für mich getan haben … was wir beide getan haben, ist genau das, was zu dieser Situation geführt hat.« Sie schaute zur Seite. »Sie tragen daran keine Schuld. Das wäre nicht mal der Fall, wenn Sie mich gepackt und in Ihr Bett geschleift hätten, weil ich es schließlich wollte. Genau genommen war ich diejenige, die Sie verführt hat, nicht umgekehrt. Und das habe ich meinem Mann auch offen gesagt. Aber es geht hier nicht nur um die Vergangenheit, die Sie und ich teilen.« Rione senkte abermals den Blick, während sich ihre Miene verfinsterte. »Etwas in ihm hat sich verändert. Er ist düsterer … härter. Wütender.«

»Die meisten Gefangenen müssen eine Menge verarbeiten«, sagte Geary.

»Ich weiß, aber in seinem Fall ist Ihr medizinisches Personal in Sorge.« Sie schüttelte den Kopf. »Er redet nur noch von Vergeltung. Er will es den Syndiks heimzahlen, und er will es sogar den Menschen in der Callas-Republik heimzahlen, von denen er sich zurückgesetzt fühlt. Und an Ihnen will er sich natürlich auch rächen. Aber man hat mir versichert, dass sich seine Wutausbrüche bislang innerhalb akzeptabler Parameter bewegen.« Sie sagte das mit einem ironischen, bitteren Unterton.

»Und was ist mit Ihnen?«

»Mit mir?« Rione zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Mit Blick auf den Mann, der er einmal war, werde ich weiter versuchen, zu ihm durchzudringen. Er weiß jetzt sehr genau, dass ich ein Verhalten, wie er es heute an den Tag gelegt hat, nicht hinnehmen werde. Aber es fällt ihm schwer zu akzeptieren, dass ich nicht mehr die Frau bin, die ich mal war. Ich wurde Senatorin und Co-Präsidentin der Callas-Republik, ich habe vieles getan, seit wir getrennt worden sind. In seiner Vorstellung habe ich die ganze Zeit zu Hause gesessen und auf ihn gewartet, ohne mich in irgendeiner Weise zu verändern. Wie kann ich ihm böse sein, wenn er sich an dieses Bild geklammert hat, um die Trostlosigkeit dieses Arbeitslagers zu überstehen? Aber wie konnte er die Augen vor der Tatsache verschließen, dass ich eben nicht allein zu Hause sitzen und bis in alle Ewigkeit auf ihn warten würde, sondern dass ich dieses Zuhause verlassen würde, um zu tun, was ich tun konnte?«

»Es kann verdammt schwer sein«, sagte Geary bedächtig, »wenn man feststellen muss, wie sehr sich die Welt verändert hat, die man einmal so gut gekannt hatte.«

»Gerade Sie müssen das wissen.« Tonfall und Gesichtsausdruck verrieten, dass Rione innerlich zu ihm auf Abstand ging, obwohl sie nach wie vor dicht vor ihm stand. »Die Dinge verändern sich ständig, so wie sie zugleich immer so bleiben, wie sie einmal waren. Vertrauen Sie nie einem Politiker, Admiral Geary.«

»Nicht mal Ihnen?«

Nach einer langen Pause antwortete sie: »Vor allem nicht mir.«

»Was ist mit den Senatoren im Großen Rat?« Diese Frage hatte ihn schon lange gequält.

Diesmal ließ Rione sich noch mehr Zeit mit ihrer Antwort: »Ein lebendiger Held kann etwas sehr Lästiges sein.«

»Denkt die Regierung immer noch so von mir?«, fragte Geary geradeheraus.

»Die Regierung.« Rione hauchte einen kurzen Lacher aus, ihr Gesichtsausdruck veränderte sich dabei nicht. »Sie reden von ›der Regierung‹, als wäre die eine einzelne, monolithische Bestie von gewaltigen Ausmaßen, mit zahllosen Händen, die nur von einem einzigen Gehirn kontrolliert werden. Drehen Sie das Bild lieber um, Admiral. Stellen Sie sich vor, dass die Regierung ein Mammut ist mit nur einer einzigen, riesigen Hand, die von zahllosen Gehirnen gelenkt wird. In der Praxis bedeutet das, dass diese Hand zwar gewaltige Macht besitzt, aber sich schwerfällig und tollpatschig bewegt. Sie haben den Großen Rat bei der Arbeit beobachten können. Welches Bild halten Sie für passender?«

»Was ist im Augenblick los? Wieso sind Sie wirklich hier?«

»Ich bin eine Gesandte der Allianz-Regierung.« Ihre Stimme verriet keine Gefühlsregung.

»Wer hat Sie zur Gesandten bestimmt? Navarro?«

»Navarro?« Sie sah ihm wieder in die Augen. »Glauben Sie, er würde Sie hintergehen?«

»Nein.«

»Dann haben Sie recht. Jedenfalls würde er es nicht wissentlich machen. Aber er ist müde, ihm haben die Pflichten im Großen Rat die Kräfte geraubt. Suchen Sie woanders, Admiral. So einfach sind die Dinge nicht.«

»Wir sind nicht nach Dunai geflogen, nur weil Ihr Mann hier gefangen war. Sie wussten gar nicht, dass er hier festgehalten wurde. Wen sollten wir tatsächlich aus dem Lager holen?«

Wieder folgte eine lange Pause. »Suchen Sie nach einer einzelnen Person?« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und ging an ihm vorbei durch den Korridor.

»Würden Sie mir wichtige Informationen vorenthalten, wenn Sie wollten, dass ich Sie und Ihren Mann sicher zurück nach Hause bringe?«, rief Geary ihr nach. Rione antwortete nicht, sondern ging einfach weiter.

Es war ihm gelungen, einige der zahlreichen Bitten und auch Forderungen nach einem persönlichen Treffen von sich fernzuhalten, die von Charban an ihn weitergeleitet worden waren, bis die Dauntless und der Rest der Flotte in das Nichts des Sprungraums zurückgekehrt war. Aus Respekt vor dem Rang und Dienst an der Allianz hatte sich Geary nur Zeit genommen, um mit einigen wenigen zu reden. Dabei hatten sich diese Treffen überwiegend als schwierig erwiesen, da er den Offizieren nichts von dem bieten konnte, was sie von ihm erwarteten. Obwohl er es ihnen ausführlich darlegte, beharrten etliche von ihnen auf ihren Forderungen.

Nie zuvor hatte er das isolierte Nichts des Sprungraums so genossen wie in diesem Moment.

Die Arbeiten auf der Dauntless sorgten weiter dafür, dass Korridore zeitweise gesperrt waren, aber das allmähliche Vorrücken dieser Baustellen war auch der Beweis dafür, dass die Überholung des Schiffs Fortschritte machte. Hin und wieder wurden dabei ganze Sektionen übersprungen, weil dort Systemkomponenten aufgrund von in Gefechten davongetragenen Schäden bereits umfassend ausgetauscht worden waren. »Die Überholung der Dauntless ist zu einundfünfzig Prozent abgeschlossen«, hatte Captain Smythe vor dem Sprung stolz verkündet. »Die restlichen neunundvierzig Prozent können aber noch ziemlich haarig werden, weil wir erst mal das erledigt haben, was mit dem geringsten Aufwand verbunden ist.«

Wenig später erhielt Geary Besuch von Desjani, die beim Betreten seines Quartiers auf den Matrosen neben ihr deutete, einen Master Chief Petty Officer, dessen Bauchumfang an der obersten Grenze dessen liegen musste, was die Flotte erlaubte. Seine Uniform saß dennoch tadellos, und die Abzeichen ließen erkennen, dass er einige beeindruckende Gefechtsauszeichnungen erhalten hatte. »Admiral, kennen Sie Master Chief Gioninni?«

Geary nickte, da er sich gut daran erinnern konnte, dem stämmigen Mann einige Male begegnet zu sein. »Wir haben uns schon mal unterhalten.«

»Hat Master Chief Gioninni bei einer dieser Unterhaltungen jemals erwähnt, dass er noch nie wegen der Verletzung eines einzigen Gesetzes oder einer einzigen Vorschrift verurteilt worden ist? Und dass dennoch unzählige Gerüchte darüber kursieren, er würde angeblich in einem solchen Umfang tricksen und schachern, dass die taktischen Systeme eines typischen Schlachtkreuzers damit hoffnungslos überfordert wären?«

»Captain, es gibt keinen Beleg dafür, dass auch nur ein einziges dieser Gerüchte zutrifft«, protestierte Gioninni.

»Würden wir einen Beleg finden, dann könnten Sie die nächsten fünfhundert Jahre in der Arrestzelle zubringen, Master Chief.« Desjani machte eine Geste in die ungefähre Richtung, in der sich die Hilfsschiffe befanden. »Master Chief Gioninni ist meiner Meinung nach bestens geeignet, um die Aktivitäten an Bord der anderen Schiffe der Flotte daraufhin zu überwachen, ob sich dort irgendetwas abspielt, das nicht den Vorschriften entspricht.«

»Auf der Grundlage meiner Professionalität und meiner scharfen Beobachtungsgabe, versteht sich«, fügte der Master Chief erläuternd an.

»Ja, natürlich«, stimmte Geary zu, der sich fragte, ob Gioninni die Reinkarnation eines Senior Chiefs war, den er vor hundert Jahren gekannt hatte. »Warum sollte jemand, der sich vorschriftswidrig verhält, daran interessiert sein, die vorschriftswidrigen Verhaltensweisen anderer zu melden? Das ist eine rein theoretische Frage, wie Sie sich sicher vorstellen können.«

»Nun, Sir, rein theoretisch gesprochen«, antwortete Gioninni, »wäre jemand, der sich so verhält und daraus Profit erzielt, sicher an so wenig Konkurrenz wie möglich interessiert. Und er würde wohl auch nicht wollen, dass diese Konkurrenz versucht, Beweismaterial gegen ihn zutage zu fördern. Was nicht heißen soll, dass derartiges Beweismaterial existieren könnte.«

»Ja, natürlich.« Es fiel Geary schwer, eine ernste Miene zu wahren. »Ich muss allerdings wissen, was Sie als Ihre oberste Priorität ansehen, Master Chief.«

»Meine oberste Priorität, Sir?« Gioninni überlegte einen Moment lang. »Selbst wenn ich einmal davon ausgehe, dass an gewissen Gerüchten etwas wahr sein könnte, Admiral, schwöre ich bei der Ehre all meiner Vorfahren, dass ich niemals zulassen würde, dass diesem Schiff etwas zustößt. Oder einem der anderen Schiffe. Oder irgendjemandem auf irgendeinem der Schiffe.«

Geary sah zu Desjani, die mit einem kurzen Nicken zu verstehen gab, dass sie dem Mann glaubte. »Also gut«, sagte er. »Behalten Sie die Dinge im Auge, und wenn es etwas gibt, das wir wissen sollten, dann geben Sie uns sofort Bescheid.«

»Und wenn wir herausfinden, dass Sie irgendwem gegenüber bereits versprochen haben, Stillschweigen zu wahren, um am Profit teilzuhaben, dann werden Sie sich viel früher zu Ihren Vorfahren begeben, als Sie sich vorstellen können«, ergänzte Desjani und warf ihm dabei ihren bedrohlichsten Blick zu.

»Ja, Ma’am!« Gioninni salutierte, dann verließ er in bester militärischer Haltung das Quartier.

»Und Sie haben ihn bislang noch bei nichts ertappen können?«, fragte Geary an Desjani gewandt.

»Noch nicht, aber das ist vielleicht auch gut so. Es gibt Situationen, in denen bestimmte, dringend notwendige Dinge auf den offiziellen Wegen nicht schnell genug beschafft werden können. Bei solchen Gelegenheiten hat sich Master Chief Gioninni bereits als sehr nützlich erwiesen. Aber natürlich hat ihm nie jemand aufgetragen, die vorgeschriebenen Dienstwege zu umgehen.«

»Ja, natürlich.«

Bei 0,1 Licht dauerte es eineinhalb Tage, um vom Ankunftspunkt im Hasadan-System zum dortigen Hypernet-Portal zu gelangen. Geary musste sich immer wieder davon abhalten, eine höhere Geschwindigkeit anzuordnen, die sie früher das Portal erreichen und damit auch eher im Midway-System eintreffen ließe, um endlich in das Gebiet der Aliens vordringen zu können.

Kurz vor Erreichen des Hypernet-Portals bat ihn Captain Tulev um ein Gespräch unter vier Augen. Es war eine ungewöhnliche Bitte, war doch Tulev jemand, der seine Gedanken und Gefühle normalerweise für sich behielt. Aber nun schien er einen Moment lang um Worte verlegen zu sein, ehe er zu reden begann: »Admiral, es gibt da eine Sache, von der ich möchte, dass Sie sie wissen. Es geht um die befreiten Gefangenen von Dunai. Einer von ihnen, Colonel Tukonov, ist mein Cousin.«

Geary hatte Mühe, eine passende Erwiderung zu finden. Seines Wissens war Tulevs ganze, weit verzweigte Familie bei Raumschlachten und bei dem brutalen Syndik-Bombardement seiner Heimatwelt umgekommen. »Das ist doch eine erfreuliche Nachricht.«

»Ja. Colonel Tukonov war für tot gehalten worden, zusammen mit dem Rest seiner Einheit, von der seit neunzehn Jahren kein Lebenszeichen mehr gekommen war. Jetzt lebt er doch noch.« Wieder rang Tulev mit dem, was er sagen wollte. »Die Toten kehren ins Leben zurück. Sie. Mein Cousin. Der Krieg ist vorüber. Die Menschheit stellt fest, dass sie nicht allein im Universum ist. Das sind außergewöhnliche Zeiten.«

»Sie hören sich schon fast so an wie Tanya Desjani.«

Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Es gibt Schlimmeres, Admiral. Sie ist eine großartige Frau.«

»Da werde ich Ihnen nicht widersprechen. Danke, dass Sie mir wegen Ihres Cousins Bescheid gesagt haben. Es ist schön zu wissen, dass die Befreiung dieser Gefangenen wenigstens eine erfreuliche Sache nach sich gezogen hat.

Tulev dachte über Gearys Worte nach. »Diese Leute sind sehr aktiv, aber in erster Linie streiten sie sich untereinander, weil zu viele von ihnen der Meinung sind, den Anspruch auf das Kommando über die Flotte anmelden zu können.«

»Es ist schon gut, dass ihr hoher Dienstgrad und ihr Statusdenken zugleich ihre größten Schwächen sind«, meinte Geary dazu. »Wir haben ein paar von ihnen auf der Dauntless, und ich überlege momentan, ob ich sie nicht zu den anderen auf die Haboob und die Mistral schicken sollte.«

»Auch den Ehemann der Gesandten Rione?«, fragte Tulev. »Tun Sie das besser nicht, Admiral.«

»Wieso nicht?« Commander Benan hatte seit der Szene im Korridor keinen Ärger mehr gemacht, aber Geary hielt es dennoch für keine so schlechte Idee, den Mann von seinem Schiff zu schaffen.

»Sie sagten doch, dass die Gesandte Rione den Befehl hat, bei Ihnen auf der Dauntless zu bleiben«, erläuterte Tulev. »Sie wollen also ihren Ehemann wegschicken, während Sie beide sich gemeinsam auf einem Schiff befinden?«

»Oh.« Verdammt, das hörte sich wirklich sehr übel an. »Das sollte ich vielleicht besser nicht machen.«

»Ich bin kein Experte auf dem Gebiet, aber ich glaube, damit liegen Sie richtig.« Tulev nahm Habtachthaltung an, ein Zeichen dafür, dass er die Unterhaltung beenden wollte. »Behalten Sie die befreiten Gefangenen im Auge? Mein Cousin wird mir sicher das eine oder andere berichten, aber ich weiß nicht, ob er etwas davon mitbekommen wird, falls ein paar von denen … irgendetwas planen.«

»Wir behalten sie im Auge«, versicherte Geary ihm, aber nachdem Tulevs Bild verschwunden war, ließ er sich in seinen Sessel fallen. Lieutenant Iger kann in begrenztem Umfang die Aktivitäten der Ex-Gefangenen überwachen, aber früher konnte ich immer darauf zählen, dass Riones Agenten innerhalb der Flotte sie auf drohenden Ärger aufmerksam machten. Nicht, dass diese Agenten absolut alles bemerkt hätten. Bei Weitem nicht. Zum ersten Mal fragte er sich, ob die Agenten wohl noch aktiv waren und nach wie vor Rione Bericht erstatteten. Seit sie auf die Dauntless zurückgekehrt ist, hat sie darüber kein Wort verloren. Sie meidet die meiste Zeit über die Brücke, was zumindest Tanya freut.

Er verließ sein Quartier und machte sich auf den Weg zur Brücke. Dort angekommen nahm er seinen Platz ein und überflog die Daten auf dem Display, das automatisch vor ihm in der Luft auftauchte, sobald er in seinem Sessel saß. Die Flotte war noch immer in der Formation November unterwegs, die fünf rechteckigen Unterformationen näherten sich dabei kontinuierlich dem riesigen Hypernet-Portal, das nun nicht mehr in so weiter Ferne war.

Geary tippte auf seine Kontrollen und wandte sich an die ganze Flotte: »Hier spricht Admiral Geary. Die letzten Nachrichten aus Midway sind mittlerweile einige Monate alt. Wir können nur hoffen, dass wir den Aliens beim letzten Mal die Nase so blutig geschlagen haben, dass sie dem System ferngeblieben sind. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass sie zurückgekehrt sind und das System besetzt halten. Alle Schiffe müssen in dem Augenblick in Gefechtsbereitschaft sein, wenn wir das Portal bei Midway verlassen. Wenn sich die Aliens in unmittelbarer Nähe zum Hypernet-Portal aufhalten, werden sie als feindselig betrachtet, und wir eröffnen sofort das Feuer.«

Diese Entscheidung war für ihn nicht einfach gewesen. Es war nicht auszuschließen, dass die Syndiks bei Midway sich in irgendeiner Weise mit den Aliens geeinigt hatten, damit die Zugang zu diesem System hatten. Wenn sie dort auftauchten und sofort das Feuer eröffneten, liefen sie Gefahr, eine erst kurz zuvor vereinbarte friedliche Koexistenz zu zerstören. Sehr wahrscheinlich war das allerdings nicht, wenn man in Erwägung zog, was über die Aliens bekannt war. Außerdem würden wertvolle Sekunden und Minuten verstreichen, wenn jedes Schiff sich erst bei ihm eine Erlaubnis einholte, um das Feuer eröffnen zu dürfen. Sekunden und Minuten, die über Leben und Tod entscheiden konnten.

Dann ging ihm ein Gedanke durch den Kopf, der ihn glücklicherweise daran erinnerte, dass er noch etwas sagen musste. »Die Syndiks im Midway-Sternensystem stehen uns nicht feindselig gegenüber, sie werden daher auch nicht angegriffen, solange ich das nicht ausdrücklich genehmige. Es könnte ein Kriegsschiff oder ein Kurierschiff der Syndiks am Hypernet-Portal Wache halten. Dieses Schiff wird nicht unter Beschuss genommen. Wenn wir unseren Erwartungen entsprechend dort nicht auf die Aliens treffen, wird diese Flotte Midway durchqueren und den Sprungpunkt ansteuern, den die Aliens benutzt haben. Auf diesem Weg werden wir in ihr Territorium vordringen. Die Vorfahren eines jeden Einzelnen in dieser Flotte wären sicher stolz darauf, dass er zu denen gehört, die an diesem historischen Erkundungsflug teilnehmen dürfen. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary Ende.«

Desjani sah ihn an. »Sie haben den Syndiks in Midway das Geheimnis der Quantenwürmer der Aliens anvertraut. Mit diesem Wissen könnten sie in die Lage versetzt worden sein, sich mit ihrer kleinen Flotte zur Wehr zu setzen.«

»Möglicherweise ja. Achten Sie darauf, dass Ihre Finger nicht zu den Feuerkontrollen zucken, wenn wir bei Midway das Portal verlassen und vor uns einen Syndik-Jäger sehen.«

Sie setzte eine gespielt verletzte Miene auf. »Ich feuere Waffen nur ab, wenn ich das will.«

»Davon rede ich ja.«

Das Gefühl der Desorientierung war beim Verlassen des Hypernets nicht ganz so schlimm wie beim Sprungraum. Innerhalb einer Sekunde nach dem Auftauchen der Flotte bei Midway konzentrierte sich Geary auf sein Display, während die Sensoren aller Schiffe hastig die Daten aktualisierten.

Tatsächlich hielt sich ein einzelnes Syndik-Schiff einige Lichtminuten entfernt in der Nähe des Portals auf. Damit war es glücklicherweise weit genug entfernt, dass kein Allianz-Schiff »versehentlich« eine Salve darauf abfeuern konnte. Es handelte sich aber nicht um ein Kriegsschiff, sondern um ein ziviles Raumfahrzeug, dessen Präsenz am Hypernet-Portal eher ungewöhnlich war. Die einzigen anderen Schiffe hielten sich in einer Entfernung von gut einer Lichtstunde auf, ein paar zivile Frachter, die mit Blick auf einen sparsamen Verbrauch ihrer Brennstoffvorräte gemächlich auf dem Weg ins System waren oder zum Portal flogen.

Midway hatte sich nicht sehr verändert. Die gleichen Planeten und anderen Objekte wie beim letzten Besuch zogen auf ihren Bahnen um den Stern, so wie sie es schon seit einer Ewigkeit machten, ohne von den Menschen Notiz zu nehmen, die sich seit sehr kurzer Zeit für die Herrscher dieses Sternensystems hielten. Die Syndik-Flotte, die zum Schutz des Systems abgestellt worden war, bestand nach wie vor aus sechs Schweren Kreuzern, die Zahl der Leichten Kreuzer war um einen auf fünf erhöht worden, die Zahl der Jäger belief sich auf nur noch ein Dutzend. Es gab keinen Hinweis darauf, dass seit dem Zusammentreffen der Allianz-Flotte und der Aliens vor drei Monaten irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen vorgefallen waren.

Dort, wo es zuletzt von Schiffen gewimmelt hatte, die die Bewohner des Systems vor einer Attacke der Aliens in Sicherheit hatten bringen wollen, war nun bloß routinemäßiger Fracht- und Passagierverkehr zu beobachten.

»Was glauben Sie, wieso sie nicht mehr so viele Jäger haben?«, fragte Geary an Desjani gewandt. »Hier deutet nichts auf einen Kampf hin, seit wir das System zuletzt verlassen haben.«

Sie verzog missbilligend den Mund, dann deutete sie auf die Region rings um das Hypernet-Portal. »Da hält sich in der Nähe gar kein Jäger auf. Die übliche Vorgehensweise der Syndiks bestand bislang darin, einen Jäger an einem Sprungpunkt oder einem Hypernet-Portal zu postieren, damit der als Kurier fungieren kann. Stattdessen haben sie nun ein ziviles Schiff dafür abgestellt.« Desjani schaute Geary an. »Vermutlich haben sie ein paar Jäger als Kuriere benutzt, um Nachrichten zur Zentralregierung in ihrem Heimatsystem zu überbringen, und die haben die Schiffe einfach einkassiert.«

»Das, was von der Syndik-Regierung noch übrig ist, kann jedes Kriegsschiff gebrauchen, das ihr in die Finger fällt. Aber die Leute hier brauchen ihre Schiffe auch. Meinen Sie, sie haben auf zivile Schiffe als Kuriere umgestellt, als sie gemerkt haben, dass ihnen allmählich die Jäger ausgehen?«

»Selbst Syndiks dürften schlau genug sein, um das zu erkennen«, sagte sie. »Nach einer Weile jedenfalls. Dafür haben sie sich einen weiteren Leichten Kreuzer einverleibt, vielleicht einen, der auf der Durchreise war und dessen Crew sie zum Bleiben überreden konnten. Aber vergessen Sie nicht, dass diesen Syndiks hier die schützende Flotte weggenommen wurde, damit sie uns stoppt. Die wissen, dass ihre Flotte nicht zurückkehren wird und dass ihre eigene Regierung sie praktisch wehrlos gegen die Aliens zurückgelassen hat.«

»Sie müssen wissen, dass sie auf sich allein gestellt sind«, stimmte Geary ihr zu. »Ich werde sie wissen lassen, dass wir nur auf dem Durchflug sind. Vielleicht können sie uns ja neue Erkenntnisse über diese Wesen liefern.«

»Dann wollen sie bestimmt im Gegenzug etwas von uns haben.«

»Vielleicht verspüren sie ja noch eine gewisse Dankbarkeit, dass wir ihnen das Leben gerettet haben.«

Desjani machte sich gar nicht erst die Mühe, darauf etwas zu erwidern.

Die Primärwelt befand sich derzeit fast genau auf der gegenüberliegenden Seite des Sterns, was die Kommunikation um einige Minuten hinauszögern würde. Da aber der Gesamtabstand zwischen der Flotte und diesem Planeten ohnehin bei über fünf Lichtstunden lag, machte das auch nicht mehr viel aus.

Die Syndiks hatten abgewartet, zunächst von den Allianz-Schiffen zu hören, daher traf ihre Antwort ein, als die Flotte bereits einen halben Tag im Midway-Sternensystem unterwegs war und sich dem Sprungpunkt zu jenem System deutlich genähert hatte, dem die Menschen einmal den Namen Pele gegeben hatten. Vor Jahrzehnten hatten sie es dann aber wieder verlassen müssen, als die Aliens dort einfielen und die Menschen vertrieben.

CEO Iceni meldete sich. Sie saß an ihrem Schreibtisch und schaute skeptisch in die Kamera, was nur zu verständlich war. Immerhin begrüßte sie eine große Raumflotte der Allianz in ihrem System; eine Flotte, die in den Jahrzehnten vor dem Friedensvertrag mit aller Verbitterung und Beharrlichkeit bekämpft worden wäre. »Ich richte meinen persönlichen Gruß an Admiral Geary. Um auf Ihre Frage zu sprechen zu kommen: Nein, wir haben seit der Abreise Ihrer Flotte keine Aktivitäten der Enigma-Rasse mehr beobachten können. Es ist der Wunsch unseres Volks, dass es auch weiterhin bei dieser Situation bleibt. Wir wollen die Enigma-Rasse nicht zu weiteren Offensiven gegen unser System provozieren. Nennen Sie uns bitte den Grund für die Rückkehr Ihrer Flotte nach so vielen Monaten der Abwesenheit. Die Menschen von Midway sind Ihnen natürlich nach wie vor dankbar für die Verteidigung dieses Systems, dennoch gehört Ihre Flotte einer fremden Macht an. Wir wissen, dass vage Vertragsformulierungen diesen Zustand erlauben, aber die Bewohner des Midway-Systems hegen nicht den Wunsch, dass die Allianz ein solches Eindringen in unser Gebiet zur Routine werden lässt. Wir werden Ihre Bewegungen aufmerksam verfolgen und darauf bestehen, dass zukünftige Besuche durch fremde Kriegsschiffe in unserem System zuvor mit uns abgesprochen werden.«

»Gern geschehen«, grummelte Desjani.

General Charban und Rione waren inzwischen auf die Brücke gekommen, weil sie die Antwort der Syndiks hatten hören wollen. »Sie hat uns nicht bedroht«, betonte Charban, als wäre das das äußerste Maß an Höflichkeit, das man erwarten konnte.

»Das ist ja auch verständlich«, warf Geary ein. »Anders als dieser Idiot bei Dunai will sie das Wenige noch eine Weile behalten, was sie an Verteidigungskapazitäten aufbieten kann.«

»Ich glaube«, meldete sich Rione zu Wort, »dass Iceni wesentlich intelligenter ist als dieser CEO im Dunai-Sternensystem. Sie weiß, dass sie mit einem Bluff bei uns nicht weit kommt, darum versucht sie es gar nicht erst. Das ist das eine, was sie nicht gemacht hat.« Rione sah Geary forschend an. »Diese CEO hat nicht gesagt, dass sie unseren Durchflug durch dieses Sternensystem der Zentralregierung der Syndikatwelten melden wird.«

»Was von der Zentralregierung der Syndikatwelten noch übrig ist, wollten Sie sagen«, gab Geary zurück und runzelte die Stirn, während er auf sein Display sah. »Wir haben überlegt, wieso in der Nähe des Hypernet-Portals kein Jäger, sondern ein Zivilschiff als Kurier postiert worden ist. Wir dachten, sie wollten bloß verhindern, dass die Zentralregierung ihre Jäger einbehält, sobald die dort eintreffen.«

»Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, aber ich würde Ihnen raten, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass CEO Iceni sich ganz bewusst von der Regierung der Syndikatwelten distanziert, weil sie hier ein eigenständiges Sternensystem entstehen lassen will.«

»Es gibt genügend CEOs, die das mit anderen Sternensystemen schon gemacht haben. Angenommen, es gelingt ihr, warum sollte uns das kümmern?«

Charban machte eine gequälte Miene. »Unser Vertrag wurde mit der Zentralregierung der Syndikatwelten geschlossen, aber Iceni kann argumentieren, dass ihre eigene Regierung an diesen Vertrag nicht gebunden ist, und sie kann darauf bestehen, dass wir mit ihr alles neu verhandeln.«

Als hätte Rione Gearys Gedanken gelesen sagte sie: »Wir können mit diesem Sternensystem nicht so umgehen wie mit Dunai. Wir wollen hier so oft wie nötig wieder herkommen, und wir brauchen ein stabiles System mit einer stabilen Regierung an diesem Schnittpunkt zum Territorium der Aliens. Mit Iceni als Ansprechpartner dürften wir gut bedient sein.«

»Sie ist eine Syndik-CEO«, betonte Geary.

»Und zwar eine, die bei ihren Leuten geblieben ist, als die von den Aliens bedroht wurden, während andere mit dem erstbesten Schiff Reißaus genommen hätten, wobei sie noch so viele Schätze wie nur möglich mitgenommen hätten«, machte Rione ihm klar. »Sie ist nicht nur mutig, sie scheint auch ein Pflichtgefühl gegenüber den Menschen zu haben, die sie führt.«

»Eine Syndik-CEO?«, murmelte Desjani skeptisch.

»Syndik-CEOs«, sagte Rione zu Geary, »sind genauso Individuen wie Allianz-Politiker oder Flottenoffiziere. Jeder muss nach seinen persönlichen Leistungen beurteilt werden – oder nach dem Fehlen irgendwelcher Leistungen.«

»Iceni will nicht, dass wir uns zu den Aliens begeben«, entgegnete Geary. »Aber ich will sie nicht anlügen, was unsere Pläne angeht, vor allem dann nicht, wenn es offensichtlich ist, dass wir zum Sprungpunkt nach Pele wollen.«

»Dann lügen Sie sie nicht an«, meinte Rione tonlos. »Lügen hat Black Jack Geary sowieso noch nie gut zu Gesicht gestanden.«

Desjani warf ihr einen verärgerten Blick zu, aber sie konnte Rione nicht widersprechen.

Also sagte Geary die Wahrheit, als er seine Antwort an Iceni richtete. »Wir sind auf dem Weg nach Pele, von dort wollen wir weiter in das Gebiet der Aliens vordringen, um mehr über die Enigma-Rasse herauszufinden und hoffentlich friedliche Beziehungen herzustellen.«

Es dauerte bis zum nächsten Tag, ehe er wieder von der CEO hörte. Die Nachricht nahm er in seinem Quartier entgegen, da sie als streng vertraulich gekennzeichnet war. Die Übertragungsdauer war inzwischen ein wenig kürzer geworden und betrug nur noch gut vier Stunden in eine Richtung, was eine Unterhaltung aber immer noch alles andere als ein Vergnügen sein ließ. Icenis Gesichtsausdruck verriet nichts über ihre Gefühle, auch wenn es nicht so offensichtlich war, dass sie ihm die bewusst verschwieg. In diesem Punkt konnten Allianz-Politiker noch etwas von ihr lernen – sogar Rione. »Ich will offen sprechen, Admiral Geary. Wie ich aufgrund Ihres Rufes und durch unsere vorangegangenen Unterhaltungen weiß, sind Sie kein Mann für ausschweifende Wortspielereien. Sie wollen mit Ihrer Flotte in das von der Enigma-Rasse kontrollierte Gebiet vordringen. Mir gefällt das nicht, weil wir hier schon genug Probleme haben, ohne uns auch noch Sorgen machen zu müssen, dass wir es mit einem aufgebrachten Gegner aus der Richtung zu tun bekommen. Aber mir ist auch klar, dass ich nicht über die Mittel verfüge, um Sie aufzuhalten oder Sie auch nur ein Stück weit zu behindern.«

Iceni lehnte sich ein wenig vor und blickte eindringlich in die Kamera. »Mir ist klar, dass Sie das Schlupfloch im Friedensvertrag nutzen, um das Midway-Sternensystem als Vorposten für ein Vorrücken auf das Territorium der Aliens zu benutzen. Genauso klar ist, dass Sie von unserer Kooperation profitieren würden. Ich bin bereit, mit Ihnen über eine solche Vereinbarung zwischen diesem Sternensystem und Ihnen zu reden, und zwar auf einer für beide Seiten nützlichen Grundlage. Ich kann mehr anbieten als nur unser Einverständnis und unsere Unterstützung für Ihre Flottenbewegungen durch Midway hindurch. Ich kann Ihnen noch etwas bieten, was Sie benötigen. Im Gegenzug gibt es aber auch etwas, das ich von Ihnen haben möchte. Ich werde einen Handel besprechen, aber nur mit Ihnen persönlich. Wenn Sie daran interessiert sind, antworten Sie auf diesem Kanal, auf keinem anderen. Für das Volk. Iceni Ende.«

Und nun? Sollte er Rione fragen? Von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen hatte sie aufgehört, ihn mit Ratschlägen zu versorgen. Außerdem wollte Iceni nur mit ihm direkt in Verbindung treten. Charban mochte wegen seines Status als Gesandter politische Autorität besitzen, aber bislang hatte er Geary mit seinen wohlmeinenden, aber unbeholfenen Gehversuchen als Diplomat nicht beeindrucken können.

Was war es, das Iceni hatte und das Geary brauchte? War es nur ein Köder, damit er reagierte, oder gab es etwas, das seine Flotte tatsächlich nötig hatte?

Schließlich antwortete er: »CEO Iceni, ich bin bereit, mit Ihnen über jedes Thema zu reden. Bedenken Sie, dass ich keine Zugeständnisse machen werde, die dem Wohlergehen der Allianz zuwiderlaufen. Wenn Sie irgendwelche Grundlagen diskutieren wollen, werde ich die Gesandten der Allianz-Regierung hinzuholen müssen. Lassen Sie mich bitte Ihr Angebot wissen und auch, was Sie im Gegenzug von uns haben wollen. Auf die Ehre unserer Vorfahren. Geary, Ende.«

Da bis zur Erwiderung rund acht Stunden vergehen würden, war es unsinnig, solange dazusitzen und zu warten. Er widmete sich wieder seiner Arbeit und versuchte, sich mit den Verwaltungsangelegenheiten zu beschäftigen, bis sich Desjani bei ihm meldete: »Ein Shuttle von der Tanuki hat uns Ersatzteile geliefert – und einen Besucher, der zu Ihnen möchte. Das Shuttle wartet im Hangar, bis Sie mit Ihrem Treffen durch sind.«

»Einen Besucher?« Captain Smythe persönlich, der gekommen war, um sich ein Bild von den bislang erledigten Arbeiten zu machen?

»Lieutenant Kleeblatt«, antwortete Desjani amüsiert.

Lieutenant Jamensons grünes Haar wirkte irgendwie nicht ganz so leuchtend, als sie gegenüber von Geary Platz nahm. »Admiral, es gibt da eine Sache, von der Captain Smythe meint, ich sollte Sie darüber informieren.«

»Ein Problem mit den Reparaturen innerhalb der Flotte?«

»Nein, Sir.« Jamenson hielt kurz inne, als wisse sie nicht so recht, wie sie weiterreden sollte. »Ich sagte Ihnen ja bereits, dass ich nicht nur Dinge verdrehen, sondern auch entwirren kann. Captain Smythe … nun, er hält sich gern auf dem Laufenden über alles, was sich so abspielt, deshalb überwacht er auch einen Großteil des Nachrichtenverkehrs, der nicht ausdrücklich für ihn oder für sein Kommando bestimmt ist.«

»Verstehe.« Das bedeutete nichts anderes, als dass Captain Smythe schon in Varandal Allianz-Mitteilungen angezapft hatte, die ihn eigentlich nichts angingen. Es überraschte Geary nicht sonderlich. Rein rechtlich betrachtet war es eine Verletzung der Sicherheitsregeln und der Kommunikationsbestimmungen, aber in der Praxis war Captain Smythe nicht der einzige befehlshabende Offizier, der auf diese Weise Ausschau nach Dingen hielt, die er besser wissen sollte, auch wenn formal nicht festgelegt worden war, dass man ihn davon in Kenntnis zu setzen hatte. Außerdem konnte es nie schaden, wenn man etwas wusste, das eigentlich nur ein anderer erfahren sollte.

»Wir hatten eine Menge solcher Nachrichten zwischengespeichert, bevor wir das Allianz-Gebiet verließen«, fuhr Jamenson fort. »Es dauert eine Weile, sie durchzuarbeiten, weil sie zahlreiche Details sowie unbekannte Programmcodes und Finanzierungskanäle enthalten, die ich nicht kenne. Aber ich glaube … nein, ich bin mir sicher, dass in diesen Nachrichten ein Muster zu finden ist.«

Ihr Tonfall war alles andere als ermutigend. »Etwas, das diese Flotte betrifft?«

»Das weiß ich nicht, Admiral. In wenigen Worten zusammengefasst: In der Allianz werden weiter neue Kriegsschiffe gebaut.«

»Das ist uns bekannt«, sagte Geary. »Es werden die Schiffe zu Ende gebaut, deren Hüllen bereits fertiggestellt sind.«

»Nein, Sir. Es ist viel mehr als nur das.« Abermals zögerte Jamenson. »Ich kann mich nicht mit absoluter Gewissheit auf Zahlen festlegen, aber nach der Anzahl der Projektnummern, der Verweise auf Verträge und der Finanzierungsanforderungen muss es sich mindestens um je ein Dutzend Schlachtschiffe und Schlachtkreuzer handeln, darunter auch umfassende Modifikationen an den teilweise fertiggestellten Hüllen. Dazu kommen noch etliche Schwere und Leichte Kreuzer sowie Zerstörer, die als Eskorten dienen sollen.«

Eine Zeit lang sah er Jamenson schweigend an, während er versuchte, diese Information in das einzufügen, was er bereits wusste. Oder was er zu wissen glaubte. »Und das wird geheim gehalten?«

»Ja, Admiral. Wir sollten keine von diesen Nachrichten sehen, die den Bau der Schiffe angehen, und das Ganze ist in einem Wirrwarr aus Details verborgen. Es existiert nicht eine einzige Namensnennung einer Werft, von daher war es schwierig herauszufinden, um was es da überhaupt geht.«

Wieder folgte eine lange Pause, in der Geary nachzudenken versuchte. »Hilfsschiffe? Werden auch Hilfsschiffe gebaut?«

»Ähm …« Jamenson schaute verdutzt drein. »Ich habe keinen Hinweis auf den Bau neuer Hilfsschiffe entdecken können, Admiral.«

Hatte das Hauptquartier deshalb versucht, ihm einen Teil seiner Hilfsschiffe abzunehmen? Oder waren diese neuen Schiffe lediglich für die Verteidigung der Allianz vorgesehen, nicht aber für irgendwelche Operationen außerhalb des Territoriums?

Warum hatte man den Bau dieser Schiffe vor ihm geheim gehalten? Warum hatten der Große Rat und alle anderen ihm gegenüber beteuert, dass keine neuen Schiffe mehr gebaut wurden? Und was hatte es mit diesen umfangreichen Modifikationen auf sich? Wurden diese Schiffe so angelegt, dass sich ihre Lebensdauer verlängerte? Wenn das der Fall war, dann hatte irgendjemand erkannt, was mit den viel kurzlebigeren Schiffen in Gearys Flotte schon bald geschehen würde.

Jamenson sah ihn besorgt an und biss sich auf die Unterlippe.

Schließlich nickte Geary ihr zu. »Danke, Lieutenant. Das ist eine wichtige Information, und dank Ihren Fähigkeiten wissen wir jetzt Bescheid. Haben Sie sonst noch etwas?«

»Nein, Sir, das ist alles, was ich Ihnen im Moment dazu sagen kann.«

»Aber Sie können guten Gewissens sagen, dass vierundzwanzig große Kriegsschiffe und genügend kleinere Schiffe für eine Eskorte gebaut werden?«

»Ja, Sir. Ich kann Ihnen alle Details aufzeigen, Admiral.«

»Lassen Sie die einfach bei mir, dann kann ich sie mir in Ruhe ansehen.« Erneut hielt er kurz inne. »Richten Sie bitte Captain Smythe meinen Dank aus, dass er vorausschauend genug war, mich über diese Erkenntnisse ins Bild zu setzen. Haben wir irgendeinen Anhaltspunkt, inwieweit die Bürokratie daheim durchschaut hat, dass wir diese Flotte aufrüsten?«

»Nein, Sir, tut mir leid. Allerdings gab es bis zum Zeitpunkt unserer Abreise keinen Hinweis darauf, dass jemand etwas durchschaut haben könnte. Ich gab mir ganz besondere Mühe, um alles so undurchschaubar wie möglich zu machen.«

»Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass ich einem Lieutenant jemals für so etwas dankbar sein würde.« Geary warf ihr seinen anerkennendsten Blick zu. »Verdammt gute Arbeit, Lieutenant. Nochmals vielen Dank.«

Wenn das hier alles vorüber war, sollte er ihr eigentlich einen Orden verleihen, weil sich die Flotte dank ihrer Leistung auf etwas gefasst machen konnte, das noch keine klare Form hatte, von dem sie aber anderenfalls erst erfahren hätte, wenn es womöglich schon zu spät gewesen wäre. Aber wie sollte er den Orden begründen? Unter schwierigen Arbeitsbedingungen und mit begrenzten Ressourcen ist es Lieutenant Jamenson gelungen, wiederholt vorgesetzte Dienststellen zu verwirren und dafür zu sorgen, dass die entsprechenden, in der Befehlskette über ihr stehenden Offiziere nicht in der Lage waren, die tatsächlichen Sachverhalte zu durchschauen. Viele Junioroffiziere (und gar nicht mal so wenige Senioroffiziere) hatten das in der Vergangenheit unabsichtlich bewerkstelligt, aber Jamenson konnte die Erste sein, die für ein vorsätzliches Handeln ausgezeichnet wurde.

Zwölf Schlachtschiffe und zwölf Schlachtkreuzer. Etwas, das man vermutlich vor den Steuerzahlern und ganz sicher vor den Syndiks verschweigen wollte. Aber wieso diese Anstrengungen, auch ihn selbst und viele andere darüber im Unklaren zu lassen?

CEO Iceni lächelte flüchtig, wie ein Geschäftspartner oder vielleicht ein Mitverschwörer. »Ich werde Ihnen erklären, was ich von Ihnen will, Admiral Geary, dann sage ich, was ich Ihnen im Gegenzug anbiete. Dann können Sie entscheiden, ob das ein fairer Tausch ist oder nicht. Ich versichere Ihnen, ich bitte Sie um nichts, was Sie mir nicht geben könnten. Was dieses Sternensystem vor allem benötigt, ist Ihr Schutz vor der Enigma-Rasse. Ich glaube, ich liege nicht verkehrt, wenn ich Folgendes sage: Die Formulierung im Friedensvertrag, die Sie als Rechtfertigung benutzen, um ungehindert durch das Gebiet der Syndikatwelten zu reisen und in dieses System zu gelangen, lässt sich auch als eine zeitlich unbefristete Verpflichtung der Allianz deuten, dieses Sternensystem gegen die Enigma-Rasse zu verteidigen.«

Mit allem Möglichen hatte Geary gerechnet, aber nicht mit so etwas. Sein Gefühl sagte ihm, dass dies auch eine der Interpretationen des Vertragstextes war, über die Anwälte bis in alle Ewigkeit diskutieren konnten. Aber wenn die Syndiks etwas vorweisen konnten, was jeder Durchschnittsbürger als eine dauerhafte Verpflichtung der Allianz zur Verteidigung von Midway deuten würde, dann würde es schwierig werden, diese Auslegung des Vertragstextes zu ignorieren. Vor allem, wenn die Allianz ihrerseits eine Interpretation wählte, die die gleiche Passage zu ihren Gunsten deutete.

»Darüber hinaus«, fuhr Iceni fort, als sei das Thema der Verteidigung bereits beschlossene Sache, »möchte ich Ihre passive Unterstützung und Ihre aktive Duldung. Mein Wissen über die verbliebene Stärke der Allianz ist alles andere als umfassend. Zudem weigert sich die Zentralregierung der Syndikatwelten, uns mit Informationen über ihre momentane Schlagkraft zu versorgen. Allerdings kann ich wohl mit einiger Sicherheit behaupten, dass Sie und Ihre Flotte derzeit die beherrschende Macht im von Menschen besiedelten All darstellen. Wenn der Eindruck entsteht, dass dieses System Ihrem Schutz untersteht, dann wird jeder potenzielle Angreifer – ob menschlich oder nicht – es sich zweimal überlegen, ob er uns nicht lieber in Ruhe lässt.«

Ob menschlich oder nicht. Iceni sollte die Allianz nicht als Bedrohung ansehen. Die einzige menschliche Gefahr konnte von den CEOs der umliegenden Sternensysteme ausgehen, die auf eigene Faust ihre Nachbarn überfielen, sowie von den Überresten der Zentralregierung der Syndikatwelten.

»Ihre aktive Duldung ist ebenfalls entscheidend.« Iceni deutete auf ein Sternendisplay neben ihr, in dessen Mitte sich das Heimatsystem der Syndikatwelten befand. »Die Zentralregierung hat alle Hände voll zu tun, um die Systeme zu kontrollieren, die sich noch nicht von ihr abgewandt haben. Jedes Schiff, das hier eintrifft, berichtet von weiteren Sternensystemen, die nach Autonomie streben. Die Zentralregierung kann sie nicht alle dazu zwingen, sich wieder unter ihre Fuchtel zu begeben, schon gar nicht jetzt, nachdem Sie mit Ihrem Feldzug die Flotte der Syndikatwelten so drastisch dezimiert haben, Admiral Geary. Aber manche Sternensysteme sind wertvoller als andere. Ich weiß zum Beispiel, wie sehr die Zentralregierung darauf aus ist, die Kontrolle über dieses System zurückzuerlangen – wegen des Hypernet-Portals und wegen der strategisch bedeutsamen Lage.«

Sie hielt inne, um ihm Zeit zu geben, damit er über ihre Worte nachdenken konnte. »Ihre Hilfe wäre eine große Unterstützung für die Menschen in diesem Sternensystem, um die Freiheit und die Eigenständigkeit zu erlangen, die von der Allianz immer so sehr betont werden.«

Will sie mich tatsächlich bitten, ihr zu helfen, damit sie ihre Unabhängigkeit von den Syndikatwelten erklären kann? Sie erwähnt zwar Freiheit und Eigenständigkeit als Dinge, die der Allianz wichtig sind, aber von Demokratie war bislang keine Rede. Ich glaube kaum, dass sie das lediglich vergessen hat. Und ich habe so meine Zweifel, dass sie mit Freiheit die Freiheit der Bürger in diesem System meint.

»Mir ist klar«, redete Iceni weiter, »dass eine aktive Unterstützung unserer Bestrebungen unmöglich ist, ohne damit offenkundig gegen den Friedensvertrag zu verstoßen. Worum ich Sie deshalb nur bitten will, ist eine Weigerung, wenn die Zentralregierung der Syndikatwelten auf Sie zukommt und erklärt, es sei für die Verteidigung des von Menschen bewohnten Alls unverzichtbar, dass dieses Sternensystem ihrer Kontrolle unterstellt bleibt.«

Rione hatte recht gehabt. Iceni plante die Unabhängigkeit dieses Sternensystems. Oder besser gesagt: die eigene Unabhängigkeit, um selbst über dieses System zu herrschen.

»Nun«, sagte die CEO und schaute geradewegs in die Kamera, wobei sie bemerkenswert gut den Gesichtsausdruck einer Frau nachahmte, die nichts zu verbergen hatte, »kommen wir zu dem Punkt, was ich Ihnen im Gegenzug anbieten kann.« Das Display neben ihr veränderte sich und zeigte das Hypernet-Portal von Midway. »Alle von den Syndikatwelten gebauten Hypernet-Portale verfügen jetzt über den Schutzmechanismus. Wie Sie aber selbst wissen, begrenzt dieser Mechanismus nur die unmittelbare Gefahr, wenn ein Portal kollabiert. Mit jedem kollabierenden Portal verlieren wir einen Teil unseres Hypernets, was unsere Verteidigungsfähigkeit einschränkt und unserem Handel sowie anderen wirtschaftlichen Aspekten schadet.

Wenn die Enigma-Rasse das gesamte von den Syndikatwelten errichtete Hypernet zusammenbrechen lassen wollte, wozu sie unserer Meinung nach in der Lage sein muss, dann wären die langfristigen Folgen verheerend. Unserer Ansicht nach haben sich die Enigmas noch nicht zu diesem Schritt durchgerungen, weil sie nach einem Weg suchen, wie sie die Wirkung der Schutzvorrichtung aufheben können, damit die kollabierenden Portale so wie zuvor ganze von Menschen bevölkerte Sternensysteme auslöschen.«

Geary betrachtete Icenis Bild und war froh darüber, dass sie seine Reaktion auf ihre Worte nicht sehen konnte. Ein Zusammenbruch des gesamten Hypernets? Das würde keinen direkten Schaden verursachen, aber jetzt, da sie darauf zu sprechen gekommen war, stellte sich diese Taktik als eigentlich völlig offensichtlich dar. Wenn den Aliens klar wurde, dass die Menschheit sich nicht selbst auslöschen würde, indem sie die Portale als Waffen benutzte, gab es auch keinen Grund mehr, sie weiter von Vorteilen profitieren zu lassen, die das Hypernet-System mit sich brachte.

Iceni machte eine wegwerfende Geste. »Mir ist bewusst, dass die Allianz die gleichen Schlussfolgerungen gezogen haben muss und an den entsprechenden Maßnahmen arbeitet, um das Hypernet-System nicht zu verlieren. Wir haben allerdings bereits die Lösung. Ein Mechanismus, der den Befehl zum Kollabieren blockiert, sodass sowohl die Portale als auch das System als Ganzes gegen diese Form eines Angriffs durch die Aliens geschützt sind. Es wurde getestet, und es funktioniert.«

Arbeitete die Allianz an einem solchen System? Das musste sogar der Fall sein. War das der Grund für den Befehl, alles Personal mit Kenntnissen über das Hypernet sofort von den Schiffen zu holen? Aber Commander Neeson war doch davon überzeugt, dass niemand in der Flotte genug zum Thema Hypernet-Portale wusste, um bei den Anstrengungen der Allianz etwas bewirken zu können. Jedenfalls nicht, seit Captain Cresida tot war.

Aber mit dem Abzug dieses Personals von den Schiffen hätte man erreicht, dass die Flotte keine Möglichkeit besaß, überhaupt nur die Möglichkeit zu erkennen, dass diese spezielle Gefahr existierte. Und sie wäre auch nicht in der Lage gewesen, einen Mechanismus der Art zu entwickeln, wie Iceni ihn soeben angeboten hatte.

Gearys Blick wanderte zu seinem eigenen Sternendisplay. Er begann, sich die Rückreise von Midway bis ins Allianz-Gebiet vorzustellen; immer darauf angewiesen, von einem System ins nächste zu springen. Eine Strecke, doppelt so lang wie der Heimweg aus dem Syndik-Heimatsystem. Selbst ohne die vormals allerorten lauernde Gefahr eines Syndik-Angriffs würde es ein langer und mühseliger Weg sein. Brennstoffvorräte, Lebensmittel … wie sollte er solche Dinge für seine Flotte beschaffen, wenn er sie sich nicht gerade unter Gewaltandrohung einfach nahm?

Und was, wenn die Flotte aus dem Gebiet der Aliens nach Midway zurückkehrte, die Vorräte großenteils aufgebraucht, möglicherweise von einer Schlacht mit den Aliens geschwächt, und dann feststellen musste, dass die Heimreise fast ein Jahr dauern würde?

Hatte die Regierung die Existenz dieses Risikos erkannt und sich gedacht, die Notwendigkeit, mehr über die Aliens herauszufinden, rechtfertigte es, sich dem Risiko zu stellen? Aber warum hatten sie ihm dann nichts davon gesagt? Und warum hatte das Flottenhauptquartier in letzter Minute versucht, ihm vier seiner acht Hilfsschiffe abzunehmen, wenn doch dieses Risiko es umso erforderlicher machte, dass er über alle diese Schiffe verfügte? War das der wahre Grund für diese Vorgehensweise? Oder sollten sie die im Bau befindlichen neuen Kriegsschiffe unterstützen? Oder kamen beide Faktoren zufälligerweise zusammen?

Warum sollten die Regierung und das Hauptquartier das Risiko eingehen, den größten Teil der Flotte am Rand des von Menschen besiedelten Weltraums und damit weit von der Föderation entfernt stranden zu lassen? Aber wenn es eigentlich gar nicht um die Flotte ging, sondern … sondern nur darum, ihn weit weg stranden zu lassen?

Ein lebendiger Held kann etwas sehr Lästiges sein.

Ihm wurde bewusst, dass Iceni weiterredete. »Ich bin mir sicher, Sie wissen den Wert meines Angebots zu schätzen. Im Austausch für den Bauplan für diesen äußerst wichtigen Mechanismus müssen Sie nur schweigen, wenn behauptet wird, dass dieses Sternensystem unter Ihrem Schutz steht, und zwar gegen jeden Aggressor. Und Sie lehnen jede Bitte von Seiten der Zentralregierung der Syndikatwelten ab, wenn die Sie um Unterstützung bitten, um einen Schlag gegen die friedliebenden Menschen von Midway zu führen.«

Ihr Lächeln nahm den gewohnt aufgesetzten Ausdruck eines Syndik-CEO an. »Sie sehen also, es ist nicht nur eine Frage des Eigeninteresses, sondern auch eine humanitäre Angelegenheit. Ich bin bereit, in dieser Sache Ihr … Ehrenwort zu akzeptieren. Sagen Sie mir nur, dass es das ist, was Sie tun wollen, und Ihnen werden die Baupläne übermittelt. Ich erwarte Ihre Zustimmung, Admiral Geary. Für das Volk. Iceni Ende.«

Er vergrub das Gesicht in seinen Händen, seine Gedanken überschlugen sich. Die Regierung wird sich an nichts gebunden fühlen, was ich mit dieser CEO vereinbare, aber sie scheint so wie Badaya und seine Gefolgsleute zu glauben, dass ich in der Allianz tatsächlich das Sagen habe. Wenn ich ihr sage, ich erhalte meine Befehle von der Allianz-Regierung, dann stimmt das zwar, aber sie wird nicht glauben, dass das der wahre Grund ist.

Jene Allianz-Regierung, die versucht haben könnte, mich mit meiner Flotte hier draußen stranden zu lassen. Was würden die Aliens machen, wenn wir in ihr Territorium vordringen? Gerade unsere Ankunft könnte sie dazu veranlassen, den Zusammenbruch des Hypernets der Syndikatwelten auszulösen. Hat sich darüber niemand Gedanken gemacht? War das boshafte Absicht oder bloße Gedankenlosigkeit? Das Fiasko mit der Ankündigung der Kriegsgerichtsverfahren war doch ein deutlicher Beleg dafür, dass da oben Leute das Sagen haben, denen die möglichen Folgen ihres Handelns gar nicht bewusst sind. Aber wenn sich solche Dinge häufen, dann entsteht ein sehr beunruhigendes Muster.

Inwieweit ist Rione in diese Geschehnisse eingeweiht worden?

Die Ironie an der momentanen Situation bestand darin, dass Geary den Syndiks die Informationen über die Würmer der Aliens und die Baupläne für den von Captain Cresida entwickelten Schutzmechanismus überlassen hatte, damit die Syndiks die Enigma-Rasse daran hindern konnte, die Portale als Waffe gegen die Allianz-Flotte einzusetzen. Und nun hatten die Syndiks daraus ein neues Schutzsystem entwickelt, das sie ihm jetzt in einem Tauschhandel überlassen wollten. Aber vielleicht war das alles gar nicht so ironisch. Sein Handeln war ihm damals richtig vorgekommen. Es war eine humanitäre Geste im wahrsten Sinne des Wortes gewesen, um den Syndiks in Midway eine Chance zu geben, sich gegen die Aliens zu verteidigen. Zugleich hatte die Geste auch darauf abgezielt, die Allianz zu schützen. Dank dieser Entscheidungen bot sich ihm nun die Gelegenheit, in den Besitz von etwas zu gelangen, das sich als ein Durchbruch von gewaltiger Tragweite entpuppen mochte. Wenn die Allianz so in ihr internes Kompetenzgerangel verstrickt war, dass ihr diese spezielle Bedrohung noch gar nicht bewusst war, oder wenn dort einfach niemand eine Ahnung davon hatte, wie man ein solches Gerät konstruieren sollte – war es dann nicht seine Pflicht, dass er diese von den Syndiks entwickelte Gegenmaßnahme der Allianz überreichte?

Iceni verlangte von ihm keine schriftlichen Zusagen, aber das war auch kein Wunder. Sie war zu klug, als dass sie irgendetwas zu Papier gebracht hätte, das von ihrer eigenen Regierung als Beweis für einen Hochverrat gegen sie verwendet werden konnte. Es war bestürzend, aber auch lehrreich, welch Mühe Iceni hatte, den Begriff »Ehrenwort« über die Lippen zu bringen, der bis dahin in ihrem Wortschatz gar nicht vorhanden gewesen zu sein schien. Einen Moment lang fragte er sich, welche Art von Garantie Syndik-CEOs benutzten, um sicherzugehen, dass das Gegenüber eine Vereinbarung auch einhalten würde.

Ich kann in dieser Sache niemanden um Rat fragen. Wenn ich mich mit Iceni einige, könnte man das als Verstoß gegen die Vorschriften einstufen, als Überschreitung meiner Befugnisse, als unrechtmäßige Handlung, mit der ich die Allianz in die inneren Angelegenheiten der Syndikatwelten hineinziehe. Und jeder, mit dem ich vor meiner Entscheidung rede, würde sich im nachhinein den gleichen Vorwürfen ausgesetzt sehen.

Ich muss es allein entscheiden, damit niemand sonst für meine Entscheidung den Kopf hinhalten muss.

Er rief einen vom Geheimdienst erstellten Bericht auf, der auf den abgefangenen Nachrichten in diesem Sternensystem basierte, und las ihn ein weiteres Mal. Iceni war hier immer noch die Senior-CEO, was ihn nicht überraschte. Zweitmächtigster CEO war der Befehlshaber der Bodenstreitkräfte, ein Mann namens Drakon. Über ihn wussten sie nicht viel, allerdings hatte er an mehreren Gefechten entlang der Grenze zur Allianz teilgenommen und war vom Allianz-Geheimdienst als äußerst tüchtiger Offizier eingestuft worden, bis man ihn dann auf einmal unter rätselhaften Umständen ans andere Ende des Syndik-Territoriums versetzt hatte.

Geary musste an Jason Boyens denken, den gefangen genommenen Syndik-CEO, der mit ihnen nach Midway gekommen war und der ihnen erzählt hatte, dass er hierher strafversetzt worden war, weit weg von der Allianz. Möchte wissen, wem Drakon auf die Füße getreten hat, dass man ihn in dieses Exil geschickt hat.

Ebenfalls aufgeführt wurde ein CEO namens Hardrad, der offenbar die internen Sicherheitskräfte unter sich hatte und der sich auf einer Ebene mit Iceni und Drakon zu befinden schien. Nach allem, was Geary wusste, verfügten die für die innere Sicherheit zuständigen Syndik-Streitkräfte über beachtliche Macht. Das war schon früher so gewesen, doch im Laufe des Krieges hatten sie diese Macht kontinuierlich ausgebaut, sodass sie in einigen Sternensystemen der Syndikatwelten sogar über Nuklearwaffen verfügt hatten, um planetenweite Rebellionen niederzuschlagen. Er fragte sich, wie Iceni diesen Hardrad in den Griff bekommen wollte. Oder hatte sie ihn bereits auf ihre Seite gezogen?

In anderen Sternensystemen hatte er aus erster Hand beobachten können, welche Folgen versuchte Unabhängigkeitserklärungen manchmal nach sich zogen: offene kriegerische Auseinandersetzungen zwischen dem Militär, Zivilisten und Sicherheitskräften. Es würde ihm missfallen, eine solche Entwicklung auch in Midway zu erleben, aber darauf hatte er keinen Einfluss.

Der Bericht listete die Namen weiterer Sub-CEOs auf, die im Nachrichtenverkehr erwähnt worden waren, über die man aber wenig wusste. Außerdem gab es noch eine Aufstellung der Syndik-Kriegsschiffe in diesem System.

Brauchbare Antworten fanden sich in diesem Bericht nicht, also unternahm Geary einen Spaziergang durch die Gänge tief im Inneren der Dauntless, dorthin, wo die Gebetskammern für jene bereitstanden, die Privatsphäre suchten. Er setzte sich in eine der Kammern und zündete eine zeremonielle Kerze an. Geehrte Vorfahren, ihr wisst, welche Entscheidung ich treffen muss. Was könnt ihr mir raten?

Er wartete, spürte aber nichts. Nachdem er die Frage anders formuliert hatte, wartete er erneut, doch auch diesmal geschah nichts, woraufhin er die Flamme ausblies und den Raum verließ. Draußen wäre er beinahe mit einem Matrosen zusammengestoßen, der in eine der Kammern eilte. Mit einem fast schon amüsanten entsetzten Blick schaute der Matrose ihn an, straffte die Schultern und salutierte. »Entschuldigen Sie, Admiral!«

»Kein Problem«, erwiderte Geary und winkte den Matrosen durch. »Sie scheinen eine sehr dringende Frage stellen wollen.«

»Nichts so Dringendes, Sir«, antwortete der Matrose und lächelte verlegen. »Nur ich und … ähm … ein Freund. Ob … Sie wissen schon … etwas Persönliches. Die wichtigen Sachen weiß ich ja bereits, weil Sie das Kommando haben. Sie werden uns zurück nach Hause bringen. Das wollten meine Eltern wissen: Wirst du wiederkommen? Und ich habe ihnen gesagt, dass Admiral Geary das Kommando hat, und damit wussten sie, dass der Flotte nichts passieren würde.«

»Danke«, sagte Geary und sah dem Matrosen nach, der sofort weitereilte. Vielleicht waren es ja die Vorfahren, die ihm diese Antwort geschickt hatten. Sie werden uns zurück nach Hause bringen. Ohne Rücksicht darauf, was aus ihm wurde – was würde am wahrscheinlichsten sicherstellen, dass diese Schiffe und Matrosen heimkehren konnten?

Zurück in seinem Quartier versuchte Geary nüchternes Selbstbewusstsein auszustrahlen, als er seine Antwort an Iceni aufnahm und abschickte. »Ich erkläre mich mit Ihrem Vorschlag einverstanden. Ich werde mich nicht ausdrücklich dazu äußern, was unsere Unterstützung bei der Verteidigung dieses Sternensystems gegen andere Bedrohungen als die durch die Enigma-Rasse angeht. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich auch vermeiden werde, eine solche Unterstützung abzustreiten. Ich kann nicht garantieren, dass unsere Regierung nicht dieser oder einer anderen Allianz-Flotte befiehlt, die Zentralregierung der Syndikatwelten dabei zu unterstützen, die Kontrolle über das Midway-System zurückzuerlangen. Aber ich werde gegen einen Einsatz der Flotte zu diesem Zweck auf das Heftigste widersprechen, und ich werde mich weigern, eine solche Streitmacht zu befehligen. Im Gegenzug erwarte ich von Ihnen neben der zugesagten Überlassung der Baupläne für den verbesserten Schutzmechanismus auch Ihr Versprechen, dass Sie nicht die Unterstützung durch diese Flotte für Ihre eigenen Zwecke fordern und dass Sie nicht erklären, bei Ihren Plänen von mir unterstützt zu werden. Sollten Sie so etwas öffentlich behaupten, werde ich das abstreiten. Sollten Sie gegen Ihr eigenes Volk vorgehen oder andere Sternensysteme angreifen, dann betrachte ich diese Vereinbarung als nicht länger bindend.«

Da war noch etwas. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten, was aus CEO Boyens nach seiner Freilassung geworden ist. Ich erwarte Ihre Zustimmung zu meinen Bedingungen und die Übersendung der Baupläne für den Mechanismus, der den Zusammenbruch von Hypernet-Portalen blockiert.«

Keine zehn Minuten nach dem Absenden der Nachricht, wurde die Türglocke an Gearys Luke betätigt. Er ließ seinen Besucher eintreten und stutzte, als er Lieutenant Iger sah. Was konnte den Geheimdienstoffizier dazu veranlasst haben, ihn hier in seinem Quartier persönlich aufzusuchen?

»Admiral«, begann der sichtlich nervöse Iger. »Es gibt da eine Angelegenheit, die einen hochrangigen Offizier betrifft und die von mir verlangt, dass ich aktiv werde.«

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