Der wahre Tennison Tarb

I

In Phase Zwei verliert man die Jahreszeiten aus den Augen, weil eine so schlimm ist wie die andere. Als ich zurück in die Stadt kam, war ich überrascht, festzustellen, daß es immer noch sommerlich war, obwohl der Baum im Central Park schon angefangen hatte, sich zu verfärben. Schweiß rann den Rücken der Frau hinunter, die mein Pedicab zog. Der ohrenbetäubende Verkehrslärm aus Schreien und Schimpfen und Knirschen war unterlegt mit ihrem trockenen, geschwärzten Husten. Natürlich herrschte Smogalarm. Natürlich trug mein Kuli trotzdem kein Gesichtsfilter, weil man durch einen Filter nicht genug Luft bekommen kann, um in dichtem Verkehr seine Geschwindigkeit beizubehalten. Als wir in den Broadway einbogen, scherte direkt vor uns plötzlich ein gepanzerter Sechs-Mann-Geldtransporter einer Bank aus. Beim Versuch, ihm auszuweichen, rutschte der weibliche Kuli auf dem schmierigen Niederschlag aus, und einen Augenblick lang glaubte ich, das ganze Gespann würde umkippen. Sie wandte mir ein verängstigtes Gesicht zu. »'tschuldigung, Mister«, keuchte sie. »Diese verdammten Lastwagen geben einem keine Chance!«

»Eigentlich«, rief ich, »ist es so ein angenehmer Tag, daß ich mir sowieso überlege, den Rest des Weges zu Fuß zu gehen.« Natürlich sah sie mich an, als sei ich verrückt, besonders, da ich ihr befahl, leer mit mir Schritt zu halten für den Fall, daß ich mir das mit dem Gehen doch noch anders überlegen sollte. Als ich sie am Haseldyne & Ku-Gebäude mit einem großen Trinkgeld entlohnte, war sie sicher, daß ich verrückt war. Sie konnte es gar nicht erwarten, sich davonzumachen. Aber der Schweiß auf ihrem Rücken war getrocknet, und sie hustete kaum noch.

Ich hatte so etwas noch nie vorher getan.

Ich winkte geistesabwesend den Kollegen zu, die ich erkannte, als ich das Gebäude betrat. Sie starrten mich mit unterschiedlichen Graden von Erstaunen an, aber ich war vollauf damit beschäftigt, selbst über mich erstaunt zu sein. Etwas war im Entgiftungszentrum mit mir passiert. Ich war mit mehr als den blauen Flecken von den Vitaminsprayschüssen und dem Widerwillen gegenüber länglichen grünen Pillen zurückgekehrt. Ich hatte auch ein paar neue Zubehörteile drinnen in meinem Kopf mitgebracht. Worum genau es sich dabei handelte, wußte ich noch nicht, aber eines von ihnen schien auf den Namen »Gewissen« hören zu wollen.

Als ich mein Büro betrat, machte Dixmeister so Stielaugen wie alle anderen. »Donnerwetter, Mr. Tarb«, wunderte er sich. »Sie sehen so gesund aus! Der Urlaub muß Ihnen wirklich gut bekommen sein.«

Ich nickte. Er sagte mir nur, was die Waage und der Spiegel mir schon die letzten paar Morgen gesagt hatten. Ich hatte zwanzig Pfund zugelegt. Ich zitterte nicht. Ich fühlte mich nicht einmal zittrig; sogar die Blinkwerbungen und Glitzer-Päng-Poster hatten auf dem Weg ins Büro keinerlei Sehnsüchte in mir geweckt. »Machen Sie weiter«, befahl ich ihm. »Ich muß mich bei Mitzi Ku zurückmelden, bevor ich hier übernehme.«

Das war nicht einfach. Sie war nicht da, als ich es das erste Mal versuchte. Sie war auch beim zweiten Mal nicht da, und als ich sie schließlich auf der dritten Rundwanderung zwischen ihrem Büro und meinem erwischte, war sie zwar da, aber gerade im Begriff, wegzugehen. »Mr. Haseldyne wartet«, mahnte sie ihre Sek³, aber Mitzi zögerte. Sie schloß die Tür. Wir küßten uns. Dann trat sie einen Schritt zurück.

Sie sah mich an. Ich sah sie an. Sie sagte mit nachdenklicher Überraschung zu mir: »Tenny, du siehst gut aus.«

Ich erwiderte: »Mitzi, du siehst auch gut aus«, und fügte um der Wahrheit willen hinzu: »Für mich.« Denn genaugenommen wäre Mitzis morgendlicher Spiegel nicht so freundlich gewesen wie meiner. In Wirklichkeit sah sie schrecklich abgespannt aus, aber die subjektive Wahrheit hinter diesen Tatsachen war, daß es mir egal war, wie sie aussah, so lange sie nur da war. Bei ihrem Teint waren die Ringe unter ihren Augen nicht deutlich. Aber sie waren vorhanden: sie hatte zu wenig geschlafen, vielleicht sogar ein paar Mahlzeiten ausgelassen... Und trotzdem sah sie für mich ganz wunderbar aus.

»War es schlimm, Tenny?«

»Leidlich schlimm.« Natürlich hatte es eine Menge Gekotze gegeben und eine Menge verzweifeltes Herumkrabbeln, um etwas zu finden, womit ich mir die Kehle durchschneiden konnte. Aber ich hatte keinen Erfolg gehabt, und außerdem hatte ich diese Anfälle nur zweimal mitgemacht. Ich überging es. »Mitzi«, sagte ich, »ich habe dir zwei wichtige Dinge zu sagen.«

»Natürlich, Tenny, aber im Augenblick liegt gerade so schrecklich viel Arbeit...«

Ich unterbrach sie. »Mitzi. Ich möchte, daß wir heiraten.«

Ihre Hände krampften sich zusammen. Ihr Körper erstarrte. Ihre Augen öffneten sich so weit, daß ich befürchtete, ihre Kontaktlinsen würden herausfliegen.

Ich sagte: »Ich hatte im Entgiftungszentrum reichlich Zeit, über alles nachzudenken. Es ist mir ernst damit.«

Von draußen kam Haseldynes gereiztes Foltern: »Mitzi! Wir müssen los!«

Schweigend, wie ein Automat, erwachte sie wieder zum Leben. Sie nahm ihre Handtasche und öffnete die Tür, starrte mich aber die ganze Zeit über an. »Nun komm schon«, bellte Haseldyne.

»Ich komm ja«, rief sie; und zu mir, während sie dem Aufzug zustrebte: »Lieber Tenny, ich kann jetzt nicht reden. Ich ruf dich an.«

Und dann, zwei Schritte entfernt, drehte sie sich um und kam zu mir zurück. Und dort, direkt vor Gottes und jedermanns Augen, küßte sie mich. Unmittelbar bevor sie in den Aufzug stieg, flüsterte sie: »Das würde mir gefallen.«

Aber sie rief nicht an. Sie rief mich an jenem Tag überhaupt nicht mehr an.

Da ich noch nie zuvor irgend jemandem einen Heiratsantrag gemacht hatte, verfügte ich über keine persönliche Erfahrung, die mir hätte verraten können, ob das eine annehmbare Reaktion war. Mir kam es nicht so vor. Ich fühlte mich so, wie Mitzi selbst sich gefühlt hatte - na ja, nicht Mitzi selbst; nicht diese Mitzi, sondern die andere, die rücksichtslose damals auf der Venus - so, wie jene Mitzi mir erklärt hatte, daß sie sich fühlte, als wir es zum erstenmal miteinander trieben und ich vor ihr fertig wurde, und sie mich wissen ließ, daß ich beim nächstenmal viel besser würde sein müssen, oder... jedenfalls war es nicht angenehm. Ich fühlte mich hängengelassen.

Und ich hatte ihr die andere wichtige Sache noch nicht gesagt.

Zum Glück gab es genug, was mich beschäftigt hielt. Dixmeister hatte die Dinge in Gang gehalten, so gut man es erwarten konnte, aber Dixmeister war nicht ich. An jenem Abend hielt ich ihn lange da, korrigierte seine Fehler und befahl Änderungen. Als ich ihn nach Hause gehen ließ, wirkte er arg ramponiert und mürrisch. Was mich anbetraf, so warf ich eine Münze, wo ich die Zeit verbringen würde, und verlor. Ich verkroch mich in einem Schließfachhotel ein paar Straßen vom Büro entfernt und begab mich am nächsten Morgen früh zur Arbeit. Als ich zu Mitzis Büro ging, sagte ihre Sek³, daß ihr Sek² ihr gesagt hätte, Mitzi Ku würde den ganzen Vormittag unterwegs sein, zusammen mit ihrem Sek¹. Ich brachte meine Mittagspause - die ganzen fünfundzwanzig Minuten meiner Mittagspause, weil ein Tag nicht ausreicht hatte, um den Dingen eine Kehrtwendung zu geben und sie wieder richtig in Bewegung zu setzen - damit zu, in Mitzis Vorzimmer zu sitzen und das Telefon ihres Sek¹ zu benutzen, um Dixmeister auf Trab zu halten. Mitzi erschien nicht. Die Den-ganzen-Vormittag-Termine hatten sich hinausgezogen.

An jenem Abend ging ich zu Mitzis Condo.

Das Türding ließ mich ein, aber Mitzi war nicht da. Sie war nicht da, als ich um zehn ankam, und auch nicht um Mitternacht und auch nicht, als ich um sechs aufwachte und eine Zeitlang wartete und mich anzog und zurück ins Büro ging. O ja, Mr. Tarb, berichtete mir ihre Sek³, Miß Ku hatte während der Nacht angerufen, um mitzuteilen, daß sie auf unbegrenzte Zeit aus der Stadt gerufen worden sei. Sie würde sich selbst mit mir in Verbindung setzen. Bald.

Aber sie tat es nicht.

Ein Teil meines Kopfes legte diese Tatsache ohne Kommentar zu den Akten und machte mit dem weiter, was er eben tat. Und das war, die mir erteilten Anordnungen auszuführen. Was Mitzi wollte, daß ich tat, war, Kandidaten auszuwählen. Es war schon September, und bis zur "Wahl" waren es nur noch wenige Wochen. Es gab viel, um mich beschäftigt zu halten, und jener Teil meines Kopfes nutzte jede Minute aus, die er hatte. Er nutzte auch jede Minute aus, die Dixmeister und jeder andere in der Abteilung Immaterielle Aktiva (Politik) hatte. Wenn ich durch die Korridore schlich, wandten Leute aus anderen Abteilungen die Augen ab und gingen mir aus dem Weg - aus Angst, ich könnte sie zu Zwölf-Stunden-Tagen heranziehen, nehme ich an.

Der andere Teil meines Kopfes, der neue, den ich anscheinend im Entgifrungszentrum entdeckt hatte - der befand sich nicht so wohl. Er schmerzte - nicht nur wegen Mitzi, sondern auch wegen dem Stachel jener anderen Sache, die er mit sich herumtrug und die ich ihr nicht erzählt hatte. Dann stürzte der hausinterne Briefbote in mein Büro, gerade lange genug, um einen selbstentflammenden Umschlag auf meinen Schreibtisch fallen zu lassen und wieder davonzuhuschen.

Die Nachricht war von Mitzi. Sie lautete:

Tenny - Liebling, mir gefällt Deine Idee. Wenn wir das hier lebend überstehen, hoffe ich, daß Du es immer noch willst. Ich jedenfalls werde es, sehr sogar. Aber jetzt ist nicht die Zeit, um über Liebe zu sprechen. Ich stehe unter revolutionärer Disziplin, Tenny, und Du auch. Bitte, bedenke das stets...

Mit all der Liebe, von der ich jetzt nur zu Dir sprechen kann –

Mitzi

Wieder flammte er auf und versengte mir die Finger, bevor ich ihn fallen ließ. Aber das war mir egal. Es war eine Antwort - und die richtige Antwort obendrein.

Blieb noch das Problem der anderen Sache, die ich sagen mußte.

Also fuhr ich fort, die Sek³ zu piesacken, und als sie mir schließlich mitteilte, ja, Miß Ku sei an diesem Morgen wieder in der Stadt, führe aber gleich zu einem dringenden Treffen anderswo weiter, konnte ich nicht mehr warten.

Außerdem glaubte ich zu wissen, wo ich sie finden konnte.

»Tarb«, rief Semmelweiss - »ich meine, Mr. Tarb, schön, Sie zu sehen! Sie schauen wirklich gut aus!«

»Danke«, sagte ich, während ich meine Blicke durch die Ösenfabrik schweifen ließ. Die Stanzen pufften und ratterten und warfen hämmernd ihre, Millionen von kleinen runden Dingern aus. Der Lärm war der gleiche, der Dreck war der gleiche, aber etwas fehlte. »Wo ist Rockwell?« fragte ich.

»Wer? Ach, Rockwell«, sagte er. »Ja, der hat mal hier gearbeitet. Er wurde in irgendeinen Unfall verwickelt. Wir mußten ihn gehen lassen.« Sein Grinsen wurde nervös, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Na ja, er war schließlich nicht mehr in der Lage zu arbeiten, oder? Beide Beine gebrochen, und dann wie sein Gesicht aussah... Wie dem auch sei, ich nehme an. Sie wollen raufgehen? Immer nur zu, Mr. Tarb! Ich nehme an, sie sind da oben. Das weiß man nie, bei diesen ganzen Eingängen und Ausgängen - trotzdem, ich sage immer, wenn sie ihre Miete pünktlich bezahlen, wer braucht da Fragen zu stellen?«

Ich ließ ihn stehen. Es gab nichts über Nelson Rockwell zu sagen, und nichts, das ich hätte sagen mögen, um seine Neugier hinsichtlich seiner Mieter zu befriedigen. Armer Rockweil! Also war das Inkassobüro am Ende nicht mehr bereit gewesen, noch länger zu warten. Ich schwor, daß ich etwas für Nelson Rockwell würde tun müssen, als ich die Tür aufstieß...

Und dann dachte ich eine Weile nicht mehr an Nelson Rockwell, denn die Tür, die einmal auf einen dreckigen Dachboden geführt hatte, führte jetzt in eine Diebesschleuse. Hinter mir fiel die Treppentür zu. Vor mir war eine verriegelte Tür; rings um mich waren Stahlwände. Licht flutete über mich. Ich konnte nichts hören, aber ich wußte, daß ich beobachtet wurde.

Ein Lautsprecher über meinem Kopf grollte mit Des Haseldynes Stimme: »Sie haben hoffentlich einen verdammt guten Grund für das hier, Tarb.« Die Tür vor mir glitt auf. Die hinter mir schleuderte mich mit einer Schubstange aus der kleinen Kammer, und ich war in einem Raum voller Menschen. Sie starrten mich alle an.

Auf dem alten Dachboden hatte sich einiges verändert. Erstklassige Technik und Luxus hatten Einzug gehalten. An einer Wand spie ein Teleschirm-Monitor Lageberichte aus, und die anderen Wände waren großzügiger drapiert als das Büro des Alten bei T., G. & S. Das Zentrum des riesigen Raumes wurde von einem gewaltigen ovalen Tisch ausgefüllt - er sah nach echtem Holzfurnier aus -, und in Sesseln rings um den Tisch, jeder mit seiner eigenen Karaffe und Glas und Sekretärschirm und Phon, saßen mehr als ein Dutzend Menschen. Und was für Menschen das waren! Nicht einfach nur Mitzi und Haseldyne und der Alte. Es waren Leute hier, die ich außer auf dem Nachrichtenschirm nie zuvor gesehen hatte, Agenturleiter von RussCorp und Indiastries und Südamerika s. a. - Deutsche, Engländer, Afrikaner - die halbe Creme de la creme der Weltwerbung war abgeschöpft und in diesen Raum gegossen worden. Bei jedem Schritt war ich geblendet gewesen von den fortwährenden Enthüllungen noch gewaltigerer Ausmaße, noch größerer Macht der Veenie-Maulwurfsorganisation. Jetzt hatte ich den letzten Schritt getan und war in ihr Herz eingedrungen. Es machte sehr den Eindruck wie ein Schritt zu viel.

Mitzi mußte ebenso gedacht haben. Sie sprang auf, während sich ihr Gesicht vor Schreck verzerrte. »Tenny! Verdammt, Tenny, warum bist du hierher gekommen?«

Ich sagte fest: »Ich habe dir doch gesagt, daß ich etwas habe, das du wissen solltest. Es betrifft Sie alle, also schadet es gar nichts, daß ich Sie überrascht habe. Ihr Plan ist gescheitert. Sie haben keine Zeit mehr. Jeden Augenblick wird eine Werbefritzenflotte zur Venus unterwegs sein - mit voller Campbellscher Artillerie.«

In Mitzis Nähe am Kopfende des Tisches war ein leerer Sessel. Ich ließ mich hineinplumpsen und wartete darauf, daß der Sturm losbrach.

Er kam, und ob. Die Hälfte von ihnen glaubte mir nicht. Die andere Hälfte mochte darin der einen oder anderen Meinung sein, aber das, woran sie jetzt hauptsächlich dachten, war, daß ich in ihre geheimste Stätte eingedrungen war. Wut im Megatonnenbereich brodelte auf dem Dachboden, und sie war nicht nur gegen mich gerichtet. Auch Mitzi bekam ihren Anteil ab - mehr als ihren Anteil sogar, besonders von Des Haseldynes: »Ich hatte dir geraten, ihn loszuwerden«, brüllte er. »Jetzt bleibt uns keine Wahl mehr!« Die Dame von SA-Quadrat: »Isch denk, Sie haben groß Problem hier!« Der Mann von RussCorp, mit der Faust auf den Tisch hämmernd: »Ist keinä Fraggä, Probläm!

Ist einzigä Fraggä, wie wirr lösen? Ihrr Probläm, Ku!« Der Mann von Indiastries, Handflächen zusammen und Finger spitz nach oben: »Sicher wünscht man nicht, Leben zu nehmen, aber bei gewissen Arten von mißlichen Lagen kann man keine Alternativen finden, die...«

Mir reichte es. Ich stand auf und beugte mich über den Tisch. »Hören Sie mir jetzt zu?« fragte ich. »Ich weiß, daß es der einfachste Ausweg für Sie ist, mich loszuwerden und zu vergessen, was ich gesagt habe. Das bedeutet, daß die Venus verloren ist.«

»Schweigen Sie!« murrte die Frau aus Deutschland, aber sie stand allein. Sie sah sich in der Runde um, ein Dutzend in zornigen Posen erstarrte Menschen, und sagte dann verdrießlich: »Also sagen Sie schon, was Sie wollen. Wir hören zu. Aber nicht lange.«

Ich schenkte ihnen ein breites Lächeln. »Danke«, sagte ich. Ich fühlte mich nicht besonders tapfer. Ich wußte, daß es bei dieser Verhandlung unter anderem um mein Leben ging. Aber mein Leben schien nicht länger gar so wertvoll zu sein. Es reichte zum Beispiel nicht an die Prozedur in der Entgiftungsfarm heran; wenn ich mich je wieder der Notwendigkeit dazu gegenübergesehen hätte, jetzt, da ich wußte, wie es war, hätte ich mich bestimmt vorher ausge-x-t. Aber ich hatte die Schnauze voll. Ich sagte: »Sie haben während der letzten Jahre in den Nachrichten verfolgt, wie man die Ureinwohner-Gebiete gesäubert hat, um sie der Zivilisation einzuverleiben. Haben Sie bemerkt, wo die letzten sich befanden? Der Sudan. Arabien. Die Wüste Gobi. Ist Ihnen an diesen Orten irgend etwas aufgefallen?« Ich blickte mich am Tisch um. Das war es nicht; aber ich konnte erkennen, daß es ihnen langsam anfing zu dämmern. »Wüsten«, sagte ich. »Heiße, trockene Wüsten. Nicht so heiß wie die Venus und auch nicht so trocken - aber das Venus ähnlichste, das es auf der Erdoberfläche gibt, und darum der beste Ort zum Üben. Das ist Punkt eins.«

Ich setzte mich hin und sprach im Konversationston weiter. »Als ich vors Kriegsgericht gestellt wurde«, sagte ich, »hielt man mich ein paar Wochen in Arizona gefangen. Wieder ein Wüstengebiet. Sie hatten dort zehntausend Soldaten im Manöver; so weit ich es erkennen konnte, waren es dieselben Truppen, die in Urumqi eingesetzt gewesen waren. Und draußen in der Wildnis hatten sie eine Raketenflotte. Direkt neben den Raketen lagerten riesige Gütermengen. Campbellsche Artillerie. Jetzt wollen wir mal sehen, ob wir rauskriegen können, was das bedeutet. Sie haben unter simulierten Venusbedingungen trainiert. Sie haben ausgebildete Kampftruppen, die in diesem Augenblick Invasionstaktiken einüben; sie haben schwere Campbell-Waffen, die zum Einladen in Shuttles bereitstehen. Zählen Sie zusammen. Was kommt unter dem Strich dabei heraus?«

Totale Stille im Raum. Dann, zögernd, die Frau von SA-Quadrat: »Es iest wahr, man hat uns von sehr vielen früher ien Venezuela stationierten Shuttles beriechtet, die jetzt aus irgendeinem Grund verlegt worden siend. Wir haben angenommen, daß vielleicht Hyperion das Ziel sei.«

»Hyperion«, höhnte RussCorp. »Ein Shuttle allein - reicht fürr Hyperion!«

Haseldyne bellte: »Lassen Sie sich von diesem Pillenkopf nicht in Panik versetzen! Ich bin sicher, er übertreibt. Die Werbefritzen sind ein Papiertiger. Wenn wir unsere Arbeit tun, werden sie keine Zeit haben, sich um die Venus Gedanken zu machen - sie werden viel zu sehr damit beschäftigt sein, Daumen zu lutschen und sich zu fragen, was mit der Erde schiefgelaufen ist.«

»Ich frreue mich«, sagte RussCorp düster, »daß Sie so sichärr sind. Ich fürr mein Teil habbä Zweifel. Hat vielä Gerüchtä gegäben, sind allä berichtät diesem Ratt - allä abgetan. Warr Fehlär, denkä ich jätzt.«

»Ich persönlich würde vorschlagen...«, begann die Deutsche, aber Haseldyne unterbrach sie.

»Wir werden das besprechen - allein«, sagte er gefährlich. »Sie! Raus mit Ihnen! Wir rufen Sie wieder herein, wenn wir Sie brauchen!«

Ich bedachte sie mit einem Achselzucken und einem Lächeln und marschierte aus der Tür, die der Mann von Indiastries für mich offenhielt. Es überraschte mich nicht, festzustellen, daß sie nur zu einer kurzen Treppe und einer Außentür führte - die abgeschlossen war. Ich setzte mich auf die Stufen und wartete. Als die innere Tür endlich wieder aufging und Haseldyne meinen Namen rief, versuchte ich nicht, den Ausdruck auf seinem Gesicht zu lesen. Ich schob mich nur höflich an ihm vorbei und nahm den leeren Sitz am Tisch ein. Das gefiel ihm nicht besonders; sein Gesicht rötete sich, und seine Miene war todbringend, aber er sagte nichts. Er hatte kein Recht dazu. Er führte nicht mehr den Vorsitz.

Derjenige, der jetzt den Vorsitz, führte, war der Alte höchstpersönlich. Er blickte auf, um mich zu mustern, und sein Gesicht sah so aus wie immer, rosig und rundlich und von wolligem Haar eingerahmt, nur daß es alles andere als jovial war. Der Gesichtsausdruck war düster und abweisend. Und, was ganz und gar nicht zu dem Alten paßte, den ich so lange kannte, er machte keinerlei Anstalten zu oberflächlicher Konversation. Einen endlosen Augenblick lang sagte er überhaupt nichts, schaute nur zu mir auf, dann wieder auf seinen Tischplattenbildschirm, und seine Finger waren geschäftig dabei, neue Anfragen einzutippen und ungünstige Antworten zu bekommen. Von der Treppe aus hatte ich eine Menge Lärm gehört - erregtes Poltern und gebieterisches, schrilles Zetern -, aber jetzt waren sie alle still. Der erstickende Geruch echten Tabaks zog von dem Platz herüber, wo die RussCorp-Frau stumm ihre Pfeife rauchte. Die SA-Quadrat-Frau streichelte geistesabwesend etwas auf ihrem. Schoß - ein Tier, konnte ich sehen; vielleicht ein Kätzchen.

Dann hieb der Alte auf seine Tastatur, um seinen Schirm freizumachen, und sagte schleppend: »Tarb, das sind keine guten Nachrichten, die Sie uns da gebracht haben. Aber wir müssen annehmen, daß es stimmt.«

»Jawohl, Sir«, rief ich aus altem Reflex heraus.

»Wir müssen rasch handeln, um uns dieser Herausforderung zu stellen«, erklärte er. Seine Schwülstigkeit war nicht den Weg seiner guten Laune gegangen. »Sie werden natürlich verstehen, daß wir Ihnen nicht unsere Pläne mitteilen können...«

»Natürlich nicht, Sir!«

»...und Sie werden auch verstehen, daß Sie Ihre Zuverlässigkeit in unseren Augen bisher noch nicht unter Beweis gestellt haben. Mitzi Ku bürgt für Sie«, fuhr er fort, und sein kalter Blick schweifte über die Runde, um schließlich an ihr hängenzubleiben. Sie starrte ihre Fingerspitzen an und sah nicht auf, um sich ihm zu stellen. »Einstweilen begnügen wir uns mit ihrer Garantie.« Bei diesen Worten zuckte sie zusammen, und mich durchfuhr die blitzartige Erkenntnis, welches die Alternativen, die sie diskutiert hatten, gewesen sein mochten - einstweilig.

»Ich verstehe«, sagte ich und schaffte es, das "Sir" wegzulassen. »Was möchten Sie, daß ich tue?«

»Sie sind angewiesen, mit Ihrer Arbeit fortzufahren. Das ist unser wichtigstes Projekt, und es kann nicht gestoppt werden. Mitzi und wir anderen müssen jetzt - andere Dinge tun, also sind Sie in gewissem Maße auf sich allein gestellt. Lassen Sie sich dadurch nicht nachlässig machen.«

Ich nickte und wartete darauf, ob noch mehr kam. Das war nicht der Fall. Des Haseldyne führte mich zur Tür und geleitete mich hindurch. Mitzi hatte gar nicht gesprochen. Am Fuß der Treppe schob Haseldyne mich in eine weitere Diebesschleuse. Bevor er die Tür schloß, bellte er: »Sie hatten wohl Dank erwartet, was? Vergessen Sie's! Wir haben Ihnen gedankt, indem wir Sie am Leben ließen.«

Während ich darauf wartete, daß die äußere Tür sich öffnete, hörte ich, wie das heftige Poltern und Zetern wieder einsetzte, als sie sich erneut in die Diskussion stürzten. Was Haseldyne gesagt hatte, traf zu: sie hatten mich am Leben gelassen. Ebenfalls wahr war, daß sie ihre Entscheidung jederzeit revidieren konnten. Konnte ich das verhindern? Ja, entschied ich, aber nur auf eine Weise: indem ich so gute Arbeit für sie leistete, daß ich unentbehrlich wurde... oder, genauer gesagt, indem ich dafür sorgte, daß sie glaubten, ich wäre es.

Dann öffnete sich die Außentür.

Des Haseldyne mußte die Kontrollen bedient haben. Auch diese Schleuse verfügte über eine Schubstangeneinrichtung; die Tür hinter mir schleuderte mich hinaus auf die Straße. Ich stolperte, fiel und rutschte über den Bürgersteig unter die Füße dahinhastender Verbraucher. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Mister?« fragte ein alter Verbraucher mit zittriger Stimme und starrte mich mit offenem Mund berunruhigt an.

»Mir geht es ausgezeichnet«, schnappte ich, während ich mich aufrappelte. Ich glaube nicht, daß ich je zuvor eine größere Lüge erzählt habe.


II

Es ist eine ungesunde und quälende Angelegenheit, sich als Komplize für Verbrechen, auf denen Gehirnausbrennen steht, mit einem Haufen von Schwerverbrechern zusammengetan zu haben. Erheblich schlimmer ist es, erkennen zu müssen, daß sie unfähig sind. Jener Zirkel von venusischen Meisterspionen und Saboteuren hätte mit vereinten Kräften vielleicht genug Geschick und Niedertracht aufbringen können, einen Stapel gefälschter Discount-Coupons an einem Supermarktprüfer vorbeizuschmuggeln. Was die Aufgabe betraf, ihre Welt vor der Macht der Erde zu schützen, so waren sie ganz einfach nicht fähig dazu.

Dixmeister verbrachte deswegen an diesem Nachmittag eine gemütliche Zeit. Als ich in mein Büro zurückgehumpelt kam, knurrte ich ihn an, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern und mich in Ruhe zu lassen, bis ihm Gegenteiliges befohlen wurde. Dann schloß ich meine Tür ab und dachte nach.

Ohne Mokes oder kleine grüne Pillen, hinter denen ich mich hätte verstecken können, war das, was ich sah, wenn ich die Augen öffnete, die nackte Realität. Sie bot keinen reizvollen Anblick, denn sie war voller Probleme - drei im besonderen:

Erstens, wenn ich die Veenies nicht davon überzeugte, daß sie mich brauchten und mir vertrauen konnten, würde der gute alte Haseidyne wissen, was zu tun war. Danach würde ich keinerlei Sorgen mehr haben.

Zweitens, wenn ich tat, wie mir geheißen worden war, sah die Zukunft trostlos aus. Ich war nicht bei der Planung ihrer großen strategischen Kampagne hinzugezogen worden; je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger sicher war ich mir, daß sie funktionieren würde.

Drittens und schlimmstens, wenn sie nicht funktionierte, dann waren wir alle erledigt. Wir würden den Rest unseres Lebens damit zubringen, in Laufställchen zu hausen. Windeln zu tragen, von Wärtern, die uns nicht besonders mochten, mit dem Löffel gefüttert zu werden und unsere hauptsächliche intellektuelle Stimulation dadurch zu erhalten, daß wir zusahen, wie die hübschen Lichter vorbeizogen. Wir alle. Nicht bloß ich. Auch die Frau, die ich liebte.

Ich wollte nicht, daß Mitzi Ku das Gehirn ausgebrannt wurde.

Ich wollte auch nicht, daß Tennison Tarb das Gehirn ausgebrannt wurde. Meine erst kürzlich erworbene Klarheit des Denkens wies nüchtern darauf hin, daß es immerhin einen Weg aus diesem Teil der Klemme gab. Alles, was ich tun mußte, war, zum Phon zu greifen, die Kommission für faire Handelspraktiken anzurufen und die Veenies anzuzeigen; womöglich würde ich dann mit der Polaren Strafkolonie davonkommen, vielleicht sogar mit der bloßen Rückstufung auf Verbraucherstatus. Aber das würde Mitzi nicht retten...

Unmittelbar vor Geschäftsschluß beriefen Mitzi und Des eine Mitarbeiterbesprechung für die höchsten Chargen in den Sitzungssaal ein. Mitzi sprach nicht und schaute mich auch nicht an. Des Haseldyne führte das große Wort. Er sagte, es hätten sich einige, äh, unerwartete Expansionsmöglichkeiten ergeben, und er und Mitzi würden geschäftlich unterwegs sein müssen, um sie zu prüfen. In der Zwischenzeit hätten sie Val Dambois' Kontrakt von T., G. & S. gekauft, und er werde als Interimsmanager das Ruder übernehmen; die Abteilung Immaterielle Aktiva (Politik) würde selbständig von Tennison Tarb, das war ich, geleitet werden, und er sei sicher, daß wir die Geschäfte mit voller Leistungskraft weiterführen würden.

Es war keine überzeugende Vorstellung. Sie wurde auch nicht gut aufgenommen. Es gab Seitenblicke und besorgte Mienen in der Zuhörerschaft. Als wir uns alle erhoben, schaffte ich es, lange genug so dicht an Mitzi heranzukommen, daß ich ihr ins Ohr flüstern konnte: »Ich bleibe weiter im Condo, okay?« Sie antwortete auch darauf nicht. Sie blickte mich nur an und zuckte die Achseln.

Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, nachzuhaken, weil in diesem Augenblick Val Dambois hinter uns auftauchte und meine Schulter ergriff. »Ich möchte kurz mit Ihnen sprechen, Tenny«, knirschte er und führte mich in Mitzis Büro - jetzt sein Büro. Er knallte die Tür zu, schaltete mit einem Ruck den Anti-Abhörschirm ein uns sagte: »Werden Sie nur nicht zu selbständig, Tarb. Denken Sie immer daran, daß ich hier bin und Sie beobachte.« Daran brauchte ich nicht erinnert zu werden. Als ich nicht antwortete, sah er mich scharf an. »Können Sie damit fertigwerden?« fragte er. »Fühlen Sie sich in Ordnung?«

Ich sagte, in dieser Reihenfolge: »Ich kann damit fertigwerden«, was erheblich mehr Hoffnung als Überzeugung war, und »Ich fühle mich wie jemand, auf dessen Schultern zwei ganze Planeten lasten«, was stimmte.

Er nickte. »Denken Sie nur stets daran«, sagte er, »wenn Sie einen fallenlassen müssen, vergewissern Sie sich, daß es der richtige ist.«

»Klar, Val«, sagte ich. Aber welches war der richtige?

Da Mitzi nicht gesagt hatte, daß ich nicht weiter in dem Condo bleiben dürfte, tat ich es einfach. Ich erwartete nicht, daß sie in jener ersten Nacht dort sein würde, und das war sie auch nicht. Ich war aber nicht ganz allein. Val Dambois hatte dafür gesorgt, daß ich ein gewisses Maß an Gesellschaft hatte. Als ich vor dem Büro ein Pedicab herbeirief, bemerkte ich einen muskulösen Burschen, der hinter mir herbummelte, und derselbe Mann lungerte gegenüber von Mitzis Condo herum, als ich am Morgen herauskam. Es war mir egal. Sie ließen mich im Büro in Ruhe, obwohl ich das Gegenteil vielleicht nicht einmal bemerkt hätte. Ich war beschäftigt. Ich wollte dieses Gewicht zweier Welten von meinen Schultern herunter haben, und der einzige Weg, das zu erreichen, war, ihren Krieg für sie zu gewinnen... irgendwie.

Es waren ein Dutzend Werbespots mit den Leitthemen der Wahl vorzubereiten und nur wenige Tage Zeit dafür. Ich setzte Dixmeister darauf an, Sendezeiten zu organisieren und der Produktionsabteilung die Hölle heiß zu machen. Ich übernahm vollständig Talentsuche und Drehbuch.

Wenn ein Projektleiter normalerweise sagt, er übernimmt Talentsuche und Drehbuch, dann meint er damit, daß er ungefähr ein halbes Dutzend Kopfjäger hat, die Talente für ihn aufspüren, und wenigstens ebensoviele Werbetexter, die die Drehbücher entwickeln; was er macht, ist vor allem, Arschtritte zu verteilen, um sicherzustellen, daß sie ihre Arbeit tun. Bei mir war es ein bißchen anders. Ich hatte den Stab, und ich verteilte Arschtritte. Aber ich hatte auch eigene Pläne. Sie waren noch nicht sehr klar in meinem Kopf. Sie waren weit davon entfernt, zufriedenstellend zu sein, selbst für mich. Und es gab niemanden, von dem ich sie abprallen lassen konnte, um zu sehen, wie hoch sie sprangen. Aber sie waren es, was mich sechzehn Stunden am Tag im Büro hielt statt der nur zehn oder zwölf, die ich sonst dort verbracht hätte. Es war nicht so schlimm; was sonst hätte ich mit meiner Zeit anfangen sollen?

Ich wußte, was ich sonst mit meiner Zeit hätte anfangen wollen, aber Mitzi war - war - was soll ich sagen? Außerhalb meiner Reichweite? Nicht wirklich; wir schliefen jede Nacht zusammen, die sie sich in der Stadt aufhielt. Aber außerhalb meines Zugriffs, weil das Bett der einzige Ort war, wo ich sie sah, und auch da nicht oft. Ich hatte den ganzen Veeniestock mit meinen Neuigkeiten in Aufregung versetzt, und sie schwärmten in alle Richtungen. Wenn Mitzi in der Stadt war, verbrachte sie jede Minute bei Geheimversammlungen auf oberster Ebene; und wenn sie nicht bei Versammlungen hier war, dann war sie es anderswo auf der Erde. Oder außerhalb der Erde, denn eine volle Woche lang hielt sie sich auf dem Mond auf und tauschte heimliche, verschlüsselte Nachrichten mit einer Nachnahmesendung aus Port Kathy auf der Venus aus.

Eines Nachts hatte ich schon die Hoffnung auf sie aufgegeben und war eingeschlafen, als ich mitten in einem wirklich gemeinen Traum über einen Schläger von der Kommission für faire Handelspraktiken, der gerade dabei war, neben mir ins Bett zu kriechen, aufwachte und feststellte, daß tatsächlich jemand neben mir ins Bett kroch und dieser Jemand Mitzi war.

Aufgrund meiner Erschöpfung brauchte ich lange, um völlig wach zu werden, und als ich es geschafft hatte, war Mitzi bereits eingeschlafen. Als ich sie so anschaute, konnte ich sehen, daß sie noch erheblich erschöpfter war als ich. Hätte ich Mitleid gehabt, hätte ich schweigend die Arme um sie gelegt und uns beide die Nacht durchschlafen lassen. Aber das konnte ich nicht. Ich stand auf und machte etwas von diesem seltsam schmeckenden echten Kaffee für sie und setzte mich auf die Bettkante, bis sie ihn roch und sich regte. Sie wollte nicht aufwachen. Sie hatte sich so unter der Bettdecke vergraben, daß nur die obere Hälfte ihres Kopfes und gerade genug von ihrer Nase hervorlugte, daß ihr Atmen noch sichtbar war, und ein warmer Geruch nach schlafender Frau vermischte sich mit dem Aroma des Kaffees. Sie warf sich verdrießlich auf die andere Seite des Bettes hinüber, wobei sie etwas murmelte - alles, was ich verstehen konnte, waren ein paar Worte darüber, »Zünder auszuwechseln«. Ich wartete. Dann veränderte sich ihr Atemrhythmus, und ich wußte, daß sie wach war.

Sie schlug die Augen auf. »Hallo, Tenny«, sagte sie.

»Hallo, Mitzi.« Ich streckte ihr die Kaffeetasse entgegen, aber sie ignorierte sie einen Augenblick lang und schaute mich nur trübe darüber hinweg an.

»Möchtest du wirklich heiraten?«

»Darauf kannst du wetten, wenn...«

Sie erwartete nicht von mir, daß ich den Satz beendete. Sie nickte. »Ich auch«, sagte sie. »Wenn.« Sie schob sich gegen die Kissen hoch und nahm die Tasse. »Nun«, sagte sie, den Gegenstand auf unbestimmte Zeit vertagend, »wie läuft's?«

Ich meinte: »Ich habe ein paar ziemlich heiße neue Themen für unsere Werbung. Vielleicht sollte ich sie mit dir besprechen.«

»Warum? Du hast die Leitung.« Dieses Thema war ebenfalls abgehakt. Ich streckte die Hand aus und beruhte ihre Schulter. Sie rückte nicht weg, aber sie sprach auch nicht darauf an. Es gab eine Menge anderer Punkte, die ich gerne diskutiert hätte. Wo wir leben würden. Ob wir Kinder haben wollten, und welchen Geschlechts. Was wir zur Kurzweil tun würden, und - das neu Verlobten immer liebe Thema - wie sehr und auf welch ganz besondere Weisen wir einander liebten...

Ich sagte keines von diesen Dingen. Statt dessen fragte ich: »Was hast du mit "Zünder auswechseln" gemeint, Mitzi?«

Sie setzte sich kerzengerade auf, so daß Kaffee in die Untertasse schwappte, und funkelte mich an. »Was zum Teufel fragst du da, Tenn?« schnappte sie.

Ich sagte: »Das klingt mir ganz so, als hättest du darüber gesprochen, Ausrüstungsgegenstände zu sabotieren. Campbell-Projektoren, richtig? Womöglich schleust ihr Leute in die limbischen Einheiten ein, um die Geräte zu vermasseln.«

»Sei endlich still, Tenn.«

»Weil, wenn ihr das macht«, fuhr ich vernünftig fort, »dann glaube ich nicht, daß es funktionieren wird. Sieh mal, der Flug zur Venus dauert ziemlich lange, und sicher werden sie Bereitschaftspersonal haben, das in turnusmäßigen Schichten wach bleibt. Sie werden nichts anderes zu tun haben, als die Ausrüstung wieder und wieder zu überprüfen. Alles, was ihr kaputtmacht, werden sie reichlich Zeit haben zu reparieren.«

Das erschütterte sie. Sie stellte die Tasse neben dem Bett ab und starrte mich an.

»Das andere, was mir daran Sorgen macht«, fuhr ich fort, »ist, daß, wenn sie herausfinden, daß es Sabotage gegeben hat, sie anfangen werden, nach dem zu suchen, der es war. Sicher, die Werbefritzen-Abwehrleute sind dick, dumm und gücklich - sie haben sich lange über nichts Sorgen machen müssen. Aber ihr könntet sie vielleicht aufwecken.«

»Tenny«, explodierte sie, »halt dich da raus. Tu deinen eigenen verdammten Job. Überlaß uns die Sorge um die Sicherheit!«

Also tat ich, was ich schon von Anfang an hätte tun sollen. Ich knipste das Licht aus und schlüpfte neben ihr ins Bett und nahm sie in die Arme. Wir sprachen nicht mehr. Während wir in den Schlaf hinüberglitten, merkte ich, daß sie weinte. Ich war nicht überrascht. Es war eine höllische Art für ein frisch verlobtes Paar, seine Zeit zu verbringen, aber anders ging es im Augenblick nicht. Wir konnten ganz einfach nicht mühelos miteinander sprechen, denn sie hatte ihre Geheimnisse, die zu bewahren sie verpflichtet war.

Und ich hatte meine.

Am sechzehnten Oktober erschienen die gesetzlich vorgeschriebenen Zehn-Wochen-Vorwarndekorationen für Weihnachten in den Schaufenstern. Der Wahltag kam rasend schnell näher.

Es sind die letzten zehn Tage einer Kampagne, die zählen. Ich war bereit für sie. Ich hatte alles getan, was ich vorgehabt hatte, und ich hatte es wirklich gut getan. Ich fühlte mich diese ganzen Tage über in wirklich guter Verfassung, abgesehen von einer leichten Tendenz, das große Zittern zu kriegen, wenn sich eine Dose Moke im Zimmer befand (so viel zur Aversionstherapie), und einem beträchtlichen Gewichtsverlust. Die Leute blieben stehen, um mir zu sagen, wie gut ich aussähe. Das brauchten sie nicht; ich sah so gut aus, wie man es von jemandem erwarten konnte, dessen nächtlicher Schlaf jedesmal von Träumen über Gehirnauisbrennen verstümmelt wurde. Dixmeister tanzte in mein Büro hinein und wieder hinaus, elektrisiert von seinen neuen Verantwortlichkeiten, in ehrfürchtiges Staunen versetzt von den neuen Themen, von denen ich nach und nach den Schleier des Geheimnisses lüftete. »Das ist wirklich starker Tobak, Mr. Tarb«, meinte er unbehaglich zu mir, »aber sind Sie sich sicher, daß Sie nicht zu weit gehen?«

»Täte ich das«, lächelte ich ihn an, »glauben Sie nicht, daß Mitzi Ku mich dann gestoppt hätte?« Vielleicht hätte sie das, wenn ich ihr gesagt hätte, worum es dabei ging. Aber der Augenblick dafür war vorüber. Ich hatte mich festgelegt.

Ich hielt ihn auf, als er sich abwandte, um hinauszueilen. »Dixmeister«, sagte ich, »ich habe da ein paar Beschwerden von den Sendeanstalten über verstümmelte Signale bei unseren Übertragungen erhalten.«

»Übertragungsschwund? Aber Mr. Tarb, ich habe keine Memos darübergesehen...«

»Die kommen später. Ich habe es bei direkten Gesprächen mit den Leuten vom Sender erfahren. Darum möchte ich, daß Sie das überprüfen. Besorgen Sie mir ein Verkabelungsdiagramm dieses Gebäudes; ich möchte sehen, wo jedes Signal von seinem Ausgangspunkt bis zu den Hauptanschlüssen der Telefongesellschaft draußen hingeht.«

»Gewiß, Mr. Tarb! Sie meinen nur die Reklameübertragungen, natürlich?«

»Natürlich nicht. Ich will alles. Und ich will es jetzt.«

»Das wird Stunden dauern, Mr. Tarb«, jammerte er. Er hatte Familie, und er dachte daran, was seine Frau sagen würde, wenn er am Ersten Geschenkeabend nicht nach Hause kam.

»Sie haben ja auch Stunden«, erklärte ich ihm. Die hatte er. Und ich wollte nicht, daß er diese Stunden damit verbrachte, nach hereinkommenden Memos Ausschau zu halten, die nicht existierten, oder mit dem Stab von irgend jemand anderem darüber zu schwatzen, was Mr. Tarb jetzt wieder machte. Als er die gesamte elektronische Verkabelung für mich auf dem Schirm hatte, ließ ich eine Hardcopy davon ausdrucken, stopfte sie in die Tasche und zwang ihn dazu, sich mir bei einer pyhsischen Inspektion des Ortes anzuschließen, wo alle Leitungen zusammenliefen, dem Fernmelderaum im Kellergeschoß.

»Ich war noch nie im Kellergeschoß, Mr. Tarb«, winselte er. »Können wir das nicht der Telefongesellschaft überlassen?«

»Nicht, wenn wir jemals wieder befördert werden wollen, Dixmeister«, erklärte ich ihm freundlich, und so nahmen wir zusammen den Lift nach unten, so weit er ging, und dann einen Lastenaufzug noch zwei Stockwerke tiefer. Das Kellergeschoß war dreckig, düster, dumpfig, deprimierend - jede Menge Dinge, die mit »D« anfingen, einschließlich desolat. Hier gab es Hunderte von Quadratmetern Raum, aber sie waren zu abstoßend, um sie zu vermieten, sogar an Nachtschläfer. Es war genau das, was ich wollte.

Der Fernmelderaum lag am Ende eines langen Korridors, unter Staub erstickt. Daneben waren drei Räume mit eingelagerten Mikrofilmen, hauptsächlich dringende Weisungen von der KFH und dem Wirtschaftsministerium - Weisungen, die natürlich nie geöffnet worden waren. Ich sah sorgfältig in jeden Lagerraum, dann baute ich mich an der Tür des Fernmelderaumes auf und schenkte ihm einen raschen Rundblick. Jeder Telefonanruf, jede Datenverbundnachricht, jedes Faksimile und jede Videoübertragung, die ihren Ursprung in der Agentur hatten, liefen durch diesen Raum. Natürlich war er dabei vollautomatisch und -elektronisch; nichts bewegte sich oder leuchtete auf oder klickte. Es gab manuelle Override-Terminals, um Nachrichten um einen defekten Schaltkreis herumzuleiten - oder sie völlig zu unterbinden -, aber es gab keinen Grund, sie zu bemannen. »Sieht ganz in Ordnung aus«, sagte ich.

Dixmeister warf mir einen mürrischen Blick zu. »Ich nehme an, Sie werden alle Schaltkreise testen wollen?«

»Humbug, wozu? Das Problem muß draußen liegen.« Er öffnete den Mund, um zu protestieren, aber ich verschloß ihn mit einem »Und, hören Sie, schaffen Sie diesen ganzen Müll aus diesen Lagerräumen. Ich übernehme sie als Kommandozentrale.«

»Aber, Mr. Tarb!«

»Dixmeister«, sagte ich sanft, »wenn Sie erst einmal in der Starklasse sind, werden Sie das Bedürfnis nach Abgeschiedenheit in Zeiten wie diesen verstehen. So lange versuchen Sie es am besten erst gar nicht. Tun Sie's nur.«

Ich überließ ihn seiner Aufgabe und begab mich zurück zu Mitzis Condo, wobei ich mir sehnlichst wünschte, sie dort anzutreffen. Ich mußte immer noch das eine oder andere Problem lösen. Mitzi war nicht die Person, sie für mich zu lösen, aber sie konnte mir wenigstens die Berührung geliebter Haut und den Trost von Körperwärme geben... wenn dies zufällig eine Nacht war, in der sie zu Hause war.

Sie war es nicht. Alles, was von ihr da war, war eine Nachricht auf selbstentflammendem Papier auf dem Kopfkissen, die besagte, daß sie für ein paar Tage nach Rom mußte.

Es war nicht das, was ich wollte, aber als ich dasaß und mit vier Zentilitern Äthylneutralalkohols in der Hand über die schmutzige, schlafende Stadt hinausstarrte, begann ich zu erkennen, daß es vielleicht das war, was ich brauchte.


III

Meine Drehbücher waren fertig. Die Kandidaten, die in ihnen auftreten sollten, waren ausgewählt und in Verstecken überall in der Stadt auf Abruf bereit. Es war nicht schwierig gewesen, sie zu finden, weil ich genau wußte, was ich wollte; sie in die Stadt zu holen und einsatzbereit zu machen, war erheblich schwieriger gewesen. Aber sie waren da. Vom Condo aus gab ich telefonisch Befehle an Zwei-Mann-Teams von Wackerhut durch, sie zusammenzutreiben und in den Aufnahmestudios abzuliefern, und bis ich das Büro erreichte, waren auch sie da. Die eigentliche Aufnahme war einfach - na ja, verhältnismäßig einfach. Verglichen mit, sagen wir, einer sechsstündigen Gehirn Operation. Sie beanspruchte das ganze Geschick, das ich besaß, und all meine Konzentration, während ich mit meinen Schauspielern probte und den Makeup-Leuten im Nacken saß, während sie sie für die Kameras präparierten, und die Aufnahmeteams antrieb und jede Bewegung und jedes Wort dirigierte.

Der einfache Teil war, daß jeder der Schauspieler seine Zeilen mühelos und überzeugend sprach, weil ich sie aus dem Wissen heraus geschrieben hatte, was sie am besten konnten. Der schwierige Teil war, daß ich nur Rumpfmannschaften benutzen konnte, denn je weniger Leute wußten, was vor sich ging, desto besser. Als das letzte Drehbuch im Kasten war, verfrachtete ich die ganze Crew, Produktion, Make-up und alles, zu imaginären »Außenaufnahmen« nach San Antonio, Texas, mit der Anweisung, so lange zu faulenzen, bis ich eintraf, was nie der Fall sein würde.

Aber wenigstens würden sie in San Antonio mit niemand anderem sprechen. Dann schickte ich meine Schauspieler hinunter in die frisch fertiggestellte Zimmerflucht im Kellergeschoß und bereitete mich auf den schwierigen Teil vor. Ich holte tief Luft, wünschte mir, ich würde mich trauen, eine Pille zu schlucken, um meine Nerven zu beruhigen, turnte fünf Minuten lang heftig, so daß ich außer Atem kam, und stürzte in das Büro, das früher Mitzi gehört hatte. Erschrocken fuhr Val Dambois senkrecht von den Zahlen auf seinem Tischschirm in die Höhe, als ich keuchte: »Val! Dringender Anruf von Mitzi! Sie müssen unbedingt zum Mond fliegen! Der Agent hat einen Herzanfall gehabt, die Kommunikationsverbindung ist unterbrochen!«

»Wovon zum Teufel reden Sie?« schnarrte er, während sein pausbäckiges Gesicht zitterte. In normalen Zeiten hätte Dambois mich damit vielleicht nicht durchkommen lassen, aber auch er hatte in den letzten paar Wochen die Grenze seiner Belastbarkeit überschritten.

Ich plapperte: »Nachricht von Mitzi! Sie sagte, es sei kritisch. Ein Cab wartet schon - Sie haben gerade noch Zeit, zum Shuttlehafen zu kommen...«

»Aber Mitzi ist in...« Er unterbrach sich und musterte mich unsicher.

»In Rom, richtig«, nickte ich. »Von da hat sie ja auch angerufen. Sie sagte, es sei jeden Augenblick mit einer langen Prioritätsorder zu rechnen, und jemand müsse auf dem Mond sein, um sie entgegenzunehmen. Also kommen Sie schon, Val!« bettelte ich, schnappte seine Aktentasche, seinen Hut, seinen Reisepaß; expedierte ihn aus der Tür, auf den Lift, ins Cab. Eine Stunde später rief ich beim Shuttleport an, um nachzufragen, ob er an Bord des Fluges gegangen sei,

Sie erzählten mir, das sei er.

»Dixmeister!« rief ich. Dixmeister erschien augenblicklich unter der Tür, das Gesicht gerötet, ein halbes Sojasandwich in einer Hand; in der anderen hielt er immer noch sein Phon. »Dixmeister, diese neuen Spots, die ich gerade auf Band aufgenommen habe, ich will, daß sie heute abend gesendet werden.«

Er schluckte einen Mundvoll Soja hinunter. »Aber ja, Mr. Tarb, ich nehme an, das läßt sich machen, aber eigentlich hatten wir andere Spots vorgesehen...«

»Tauschen Sie die Spots aus«, befahl ich. »Neue Anweisungen von ganz oben. Ich möchte, daß diese neuen Spots in einer Stunde ausgestrahlt werden, zur Hauptsendezeit. Stornieren Sie alle anderen; benutzen Sie die neuen. Tun Sie's, Dixmeister.« Und er trabte immer noch kauend los, um es zu veranlassen.

Es war Zeit, in den Ring zu steigen.

Sobald Dixmeister außer Sicht war, stand ich auf, verließ mein Büro und schloß die Tür hinter mir. Ich würde sie nicht wieder öffnen, wenigstens nicht in derselben Welt. Sehr wahrscheinlich würde ich sie überhaupt nie wieder öffnen.

Mein neues Büro war erheblich weniger luxuriös als mein altes, besonders, was seine Lage betraf: unten in Kellergeschoß sechs. Trotzdem, wenn man bedachte, wie wenig Zeit ich ihnen gelassen hatte, hatte die Verwaltung ihr bestes getan. Sie hatten alles eingebaut, worum ich gebeten hatte, einschließlich einer Wand von einem Dutzend Schirmen für die direkte Mitschau einer jeden Eingabe, die ich wählte. Es gab ein Dutzend Schreibtische, die alle von Angehörigen meines neuen Expertenteams besetzt waren. Am besten aber war, daß die Bauabteilung ein paar alte Türen geschlossen und ein paar neue gebrochen hatte, wie befohlen. Es bestand nicht länger ein direkter Zugang vom Korridor zum Fernmelderaum. Der einzige Weg in das Nervenzentrum der Agentur führte durch meine neue Zimmerflucht von ehemaligen Lagerräumen. Der kleine Kabuff, wo früher die Bereitschaftstechniker während ihres Dienstes gedöst hatten, war leer, und seine Tür hatte jetzt ein Schloß. Die Techniker selbst waren lange fort, weil ich ihnen allen eine Woche freigegeben hatte, mit der Begründung, daß das System automatisch und narrensicher sei und ich den Versuch machen wolle, es eine Zeitlang völlig unbemannt zu lassen. Zuerst hatten sie zweifelnd dreingeschaut, bis ich sie überzeugt hatte, daß niemandes Job bedroht sei, aber dann waren sie nur zu freudig verschwunden.

Kurz gesagt, die Räumlichkeiten waren genau so, wie ich es angeordnet hatte, mit allem, was mir für den Erfolg meines Unternehmens nötig erschienen war. Ob das auch ausreichend war, war eine völlig andere Frage, aber jetzt war es zu spät, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Ich setzte mein bestes und zuversichtlichstes Lächeln auf, während ich mich Jimmy Paleologue an seinem »Empfangs«tisch im Korridor näherte. »Hast du alles, was du brauchst?« fragte ich jovial.

Er zog seine Schreitischschublade gerade weit genug zurück, um mir die Schockspistole darin zu zeigen, bevor er mein Lächeln erwiderte. Wenn eine Spur von Anspannung in dem Lächeln lag, so konnte man ihm das nicht zum Vorwurf machen. Nachdem er das Entgiftungszentrum überstanden hätte, hatte man ihm wieder seinen alten Job als Campbell-Techniker versprochen; dann hatte ich ihn gefunden und ihn zu diesem ziemlich aussichtslosen Manöver überredet. »Gert und ich haben ein Einwickelnetz an der Tür montiert und ein weiteres eben innerhalb deines Zimmers«, berichtete er. »Alle außer Nels Rockwell sind bewaffnet - er schafft es nicht, den Arm weit genug zu heben, um zu schießen. Er sagt, er hätte gern eine limbische Granate an den Körper geschnallt - "kämpfen bis zum letzten Atemzug" und so, du weißt schon. Was denkst du darüber?«

»Ich denke, daß er für uns gefährlicher wäre als für irgend jemand sonst«, lächelte ich, obwohl mir tatsächlich in den Sinn kam, daß die Idee ihre Verdienste hatte. Aber nicht limbisch. Explosiv. Vielleicht sogar eine Mini-Atombombe. Wenn die Lage schlimm genug wurde, würden wir vielleicht alle eine nette, saubere Verdampfung anstelle der Alternative willkommen heißen... ich vergaß diesen Gedanken wieder und betrat die Zimmerflucht.

Gert Martels sprang auf und riß mich an sich, um mich zu umarmen. Sie war von allen meinen Leuten am schwierigsten zu rekrutieren gewesen - man hatte sie nicht aus dem Militärgefängnis herauslassen wollen, nicht einmal, nachdem ich meinen Agenturrang in die Waagschale geworfen hatte; es hatte schließlich eines Stellenangebotes an den Gefängniskommandanten bedurft -, und sie war auch am dankbarsten für die Chance. »Ach, Tenny«, lachte - schluchzte sie - es war eigentlich etwas von beidem - »wir tun es wirklich!«

»Es ist halb getan«, erklärte ich ihr. »Die ersten Spots müßten jeden Augenblick laufen.«

»Sie haben schon angefangen!« rief die dicke Marie von ihrer Couch an der Wand. »Wir haben gerade Gwenny gesehen - sie war großartig!« Gewndolyn Baltic war die jüngste meiner Rekruten, fünfzehn Jahre alt und mit einer schrecklichen Geschichte. Ich hatte sie durch Nelson Rockwell gefunden; sie war das Produkt eines kaputten Zuhauses, als man ihrer Mutter wegen wiederholter Kreditkartenbetrügereien das Gehirn ausgebrannt und ihr Vater lieber Selbstmord begangen hatte, als sich einer Entgiftung für seine Mico-Hype-Sucht zu stellen. Sie war meine Wahl dafür gewesen, die »Marsch der Dollars«-Kampagne anzuführen, um Gelder für mehr und bessere Entgiftungszentren zu sammeln. Ich hatte das ausgesucht, als erstes zu laufen, weil es der Einstieg war, das, was die Drehbuchannahme-Leute der Sender wahrscheinlich am wenigsten so schocken würde, daß sie sich genötigt fühlten, einzugreifen. »Sie war grandios«, strahlte Marie, und die kleine Gwenny errötete.

Wenn sie bereits angefangen hatten, konnten wir bald mit einer Reaktion rechnen. Sie kam binnen zehn Minuten. »Wir kriegen Gesellschaft«, rief Jimmy Paleologue vom Korridor, und als ich sah, wer es war, befahl ich ihm, ihn hereinzulassen.

Es war Dixmeister, der mit dringenden Nachrichten heruntergeeilt kam. »Mr. Tarb!« begann er, wurde aber abgelenkt von den dicht bevölkerten Schreibtischen. Nicht von den Schreibtischen, genaugenommen; mehr von denjenigen, die an den Schreibtischen saßen. »Mr. Tarb?« fragte er nörgelig. »Sie haben Talente hier? Schauspieler?«

»Für den Fall, daß wir sie für Wiederholungsaufnahmen in letzter Minute benötigen«, sagte ich glatt und gestikulierte zu Gert hinüber, die Hand von der Schockpistole in ihrer Schreibtischschublade zu nehmen. »Sie wollten etwas von mir?«

»Verdammt, ja - ich meine, ja, Mr. Tarb. Ich habe Anrufe von den Sendern erhalten. Sie haben Ihre neuen Promo-Themen geprüft, die für die Kandidaten, Sie wissen schon...«

»Ich weiß«, sagte ich mit meinem bedrohlichsten Gesichtsausdruck. »Was zum Teufel bedeutet das, Dixmeister? Lassen Sie sie etwa mit den Versuch durchkommen, Werbung zu zensieren?«

Er wirkte schockiert.

»O Gott, Mr. Tarb, nein! Nichts dergleichen. Es ist nur, daß ein paar der Inhaltsprüfer meinten, sie hätten das eine, na ja, eine Art Spur von, äh, Ko-, äh, Kon-...«

»Konservationimus, meinen Sie, Dixmeister?« fragte ich freundlich. »Sehen Sie mich an, Dixmeister. Sehe ich für Sie etwa wie ein Konservationist aus?«

»O Gott, nein, Mr. Tarb!«

»Oder glauben Sie, diese Agentur würde politische Werbespots für Konsies herausbringen?«

»Nicht in einer Million Jahre! Es sind aber nicht nur die Spots für die Kandidaten. Es ist diese neue Wohlfahrtsoffensive, wissen Sie? Der Marsch der Dollars?« Ich wußte - sie war meine eigene Erfindung, eine Sammelaktion zugunsten der Ausbreitung von Entgiftungszentren wie dem, in dem ich gewesen war.

»Das ziehen sie auch in Zweifel?« fragte ich und lächelte mein Jetzt-haben-sie-also-wieder-diese-alten-Tricks-drauf-Lächeln.

»Nun, ehrlich gesagt, ja, aber das ist es nicht, weswegen ich Sie fragen wollte. Die Sache ist nur, ich bin, die Akten durchgegangen, und ich kann keine Anweisung von höchster Stelle für diese ganze Kampagne finden.«

»Nun, natürlich nicht«, sagte ich, während ich vor Überraschung die Augen weit öffnete. »Ich nehme nicht an, daß Val genug Zeit hatte, sie fertigzumachen, oder? Ich meine, bevor er einfach so zum Mond abdüste. Lassen Sie's gut sein, Dixmeister«, befahl ich. »Sobald er zurückkommt, werde ich mich mit ihm in Verbindung setzen. Gute Arbeit, daß Sie es bemerkt haben, Dixmeister!«

»Danke, Mr. Tarb«, rief er aus - grinsend, beinahe mit den Füßen scharrend. »Ich werde aber sicherheitshalber noch einmal nach der Order suchen.«

»Sicher.« Natürlich würde er das. Und natürlich würde er sie nicht finden, weil keine da war. »Und lassen Sie sich kein Geschwätz von diesen Leuten vom Sender bieten. Erinnern Sie sie daran, daß wir hier nicht um Murmeln spielen. Wir wollen keine Anklage wegen Vertragsbruch einbringen müssen.«

Er zuckte zusammen und verschwand, wenngleich er sich einen letzten fragenden Blick auf Marie und Gert Martels nicht verkneifen konnte, die sich um Maries Tischbildschirm drängten. »Langsam wird es heiß, nicht wahr?« fragte Gert.

»Heiß ja«, pflichtete ich bei. »Ist das einer von unseren, den ihr euch anschaut? Führt ihr ihn mir auch mal vor, ja?«

Marie bewegte einen Regler an ihrem Kontrollpult, und auf dem ersten der Wandschirme leuchtete ein Senderbild auf. Es war der Nelson-Rockwell-Spot; die Augen leuchteten aus dem mit Verbänden umwickelten Kopf, während er seine Platte abspulte: »...durchtrennte Patella, das ist die Kniescheibe, zwei gebrochene Rippen, innere Blutungen und eine Gehirnerschütterung. Das alles haben sie mir angetan, als ich die Sachen nicht bezahlen konnte, die ich eigentlich nie gewollt hatte...«

Gert kicherte: »Sieht er nicht süß aus?«

»Ein richtiger Ladykiller«, sagte ich warm. »Habt ihr alle eure Schockpistolen dort, wo ihr sie schnell erreichen könnt?« Gert nickte, und das Lächeln gefror plötzlich auf ihrem Gesicht. Es war kein Lächeln mehr. Es war schaurig. Ich schloß, daß die Anstrengungen, die es gekostet hatte, sie aus dem Militärgefängnis herauszuholen, sehr wohl die Mühe wert gewesen waren.

Rockwell löste die Augen von seinem eigenen Abbild auf dem Schirm und richtete sie auf mich. »Glaubst du, daß es Ärger geben wird, Tenny?« fragte er. Seine Stimme zitterte nicht, aber ich bemerkte, daß seine linke Hand, diejenige, die nicht in seinem Ganzkörpergips steckte, dicht über der Schreibtischschublade schwebte. Was mochte darin sein? Keine Pistole; ich hoffte, keine Granate - ich hatte diese Entscheidung noch nicht so ganz getroffen.

»Tja, man weiß nie, nicht war?« fragte ich, während ich wie zufällig zu seinem Schreibtisch hinüberschlenderte. »Es ist halt am besten, bereit dafür zu sein, wenn es kommt, richtig?« Sie alle nickten, und ich verdrehte den Hals, um zu sehen, was sich in der Schublade befand. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, daß es keine Granate war; es war eine seiner verdammten Authentischen Kupfersimulat-Miniaturtodesmasken führender Modelle für Herrenunterwäsche. Ich erstickte beinahe an einer plötzlichen Anwandlung von Mitgefühl. Armer Kerl. »Nels«, sagte ich weich, »wenn wir das hier überstehen, dann verspreche ich dir, daß du nächste Woche in der Entgiftung bist.«

So weit ich es unter den Bandagen erkennen konnte, war sein Gesichtsausdruck ängstlich, aber entschlossen, und ich glaube, er nickte. Laut sagte ich zu ihnen allen: »Es wird eine lange Nacht werden. Wir schlafen besser alle ein wenig - in Schichten,«

Sie bekundeten im Chor ihre Zustimmung, und während ich mich meinem eigenen Büro zuwandte, gingen sie wieder dazu über, sich das Ende des Nelson-Rockwell-Spots anzuschauen: »...das ist meine Geschichte, und wenn Sie mir helfen möchten, gewählt zu werden, schicken Sie Ihre Spenden bitte an...«

Ich schloß die Tür hinter mir und ging geradewegs zu meinem eigenen Schreibtisch. Ich wählte die neueste Werbezeit an und starrte auf den Schirm hinunter. Sie hatten nicht auf die stündliche Ausgabe gewartet. Sie brachten eine rot blitzende Sondernummer. Die Schlagzeilen lauteten:


Schockierende neue Fernsehspots von H & K

KFH ordnet Untersuchung an.

Langsam wurde es heiß, und ob.

Ich war nicht ganz ehrlich mit ihnen gewesen. Manchmal wußte man doch, wann es Ärger geben würde. Ich wußte es. Und ich wußte, daß er nicht mehr sehr fern war.

Ich befolgte meine eigenen Anweisungen, aber nicht sehr erfolgreich. Der Schlaf stellte sich nicht leicht ein. Wenn er sich einstellte, endete er in großer Eile - durch ein beunruhigendes Geräusch aus dem Nebenraum, einen schlechten Traum, am häufigsten aber durch einen zunehmend gereizten Anruf von Dixmeister droben in der Welt. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, in dieser Nacht nach Hause zu kommen, und jede Stunde rief er mit irgendeiner neuen und dringenderen Beschwerde der Kommision für faire Handelspraktiken oder Senderschelte an. Ich hatte keinen Ärger damit. »Nehmen Sie das in die Hand«, befahl ich jedesmal, und das tat er auch. Dreimal in dieser Nacht trommelte er die Rechtsanwälte von Haseldyne & Ku aus dem Bett, um einen gefügigen Richter zu mieten, der eine Freiheit-der-Werbung-Verfügung erließ. Aber die Rechtslage würde nicht so bleiben. Die Anhörungen würden alle in einer Woche oder weniger fällig werden, aber auf die eine oder andere Art würde es in erheblich weniger als einer Woche nichts mehr ausmachen.

Wenn ich dann und wann hinausspähte, konnte ich sehen, daß meine tapferen Getreuen nicht besser schliefen als ich. Sie erwachten aufgeschreckt bei jedem kleinen Geräusch - wachten schnell auf und schliefen langsam und unruhig wieder ein, weil auch sie ihre schlimmen Träume hatten. Nicht alle meine Träume waren Alpträume. Aber keiner von ihnen war wirklich gut. Der letzte, an den ich mich erinnerte, handelte von Weihnachten, irgendeinem unwahrscheinlichen Weihnachtsfest, das ich mit Mitzi verbrachte. Es war genau wie Erinnerungen an die Kindheit, mit dem rußigen Schnee, der die Fenster verschmutzte, und dem Weihnachtsbaum, der seine frohen Botschaften von anzahlungsfreien Geschenken zwitscherte... nur wollte Mitzi nicht aufhören, die Werbungen vom Baum zu reißen und die Kiddy-Drug-Süßigkeiten ins Klo zu schütten, und ich konnte ein Hämmern an der Tür hören, von dem ich wußte, daß es die Helfer des Weihnachtsmannes mit gezogenen Pistolen waren, fertig zum Sturmangriff...

Ein Teil davon stimmte. Es war tatsächlich jemand an der äußeren Tür.

Wäre ich in wettlustiger Gemütsverfassung gewesen, hätte ich darauf gewettet, daß der erste, der an meine Tür hämmerte, der Alte sein würde, weil er nur quer durch die Stadt kommen mußte. Ich hatte mich getäuscht. Der Alte mußte mit Mitzi und Des in Rom gewesen sein - wahrscheinlicher, schon auf dem halben Weg zurück mit der Nachtrakete, um dieses unerwartete Feuer zu löschen -, denn der erste war Val Dambois. Hinterlistiger alter Gauner! Man konnte sich nicht einmal darauf verlassen, daß er ausgetrickst blieb, wenn man ihn austrickste, weil er mich offensichtlich schnurstracks zurück ausgetrickst hatte. »Sie sind also doch nicht in das Mondschiff eingestiegen«, sagte ich benommen. Er bedachte mich mit einem unheilverkündenden Blick.

Der Blick war nicht halb so unheilverkündend wie das, was er in der Hand hielt. Es war kein Schocker, nicht einmal eine Tötungswaffe. Es war schlimmer als beides. Es war eine Campbellsche Handwaffe, die überhaupt nur zu besitzen für einen Zivilisten eindeutig illegal war; noch illegaler aber war es, sie außerhalb besonders ausgewiesener Areale zu benutzen. Und am schlimmsten von allem war, daß man Marie allein im Büro zurückgelassen hatte und sie auf ihrer Liege eingedöst war. Er war an dem Einwickelnetz an der Tür vorbei, bevor irgend jemand ihn aufhalten konnte.

Ich zitterte. Das ist an sich überraschend, denn ich hätte nicht gelaubt, daß noch irgend etwas in der Lage sein würde, einen Menschen zu erschrecken, der schon so viel zu fürchten hatte wie ich. Irrtum. In die flackernde Mündung des limbischen Projektors zu sehen, verwandelte mein Rückgrat in Gelee und mein Herz in Eis. Und er richtete sie genau auf mich. »Werbefritzen-Bastard!« knurrte er. »Ich wußte, daß Sie etwas im Schilde führten, als Sie mich so schnell loswerden wollten. Gut, daß es immer einen Moke-Kopf auf dem Raumhafen gibt, den man bestechen kann, einen Freiflug zu unternehmen, so daß ich zurückkommen und darauf warten konnte, Sie auf frischer Tat zu ertappen!«

Er redete immer zuviel, dieser Val Dambois. Das gab mir die Gelegenheit, meine Nervenkraft wieder zusammenzunehmen. Ich sagte mit aller Tapferkeit, derer ich fähig war, während ich mir ein Lächeln abrang und meinen Tonfall kühl und selbstsicher hielt -das hoffte ich jedenfalls, auch wenn er in meinen Ohren nicht so klang-: »Sie haben zu lange gewartet, Val. Es ist alles vorbei. Die Werbespots werden bereits ausgestrahlt.«

»Sie werden nicht lange genug leben, um Ihre Freude daran zu haben!« schrieb er und hob den Lauf der Campbell.

Ich behielt mein Lächeln bei. »Val«, sagte ich geduldig, »Sie sind ein Narr. Wissen Sie dann nicht, was vorgeht?«

Leichtes Schwanken der Pistole; mißtrauisch: »Was?«

»Ich mußte Sie aus dem Weg schaffen«, erklärte ich, »weil Sie zu viel reden. Mitzis Befehle. Sie traute Ihnen nicht.«

»Traute mir nicht?«

»Weil Sie eine Nulpe sind, verstehen Sie das nicht? Verlassen Sie sich nicht auf mein Wort - sehen Sie selbst. Der nächste Spot ist Mitzi persönlich...« Und ich warf einen raschen Blick auf den Wandschirm.

Und das tat auch Val Dambois. Er hatte schon vorher Fehler gemacht, aber dies war der endgültig letzte. Er nahm die Augen von Marie. Man kann ihm das nicht gänzlich vorwerfen, wenn man den Zustand bedenkt, in dem Marie sich offensichtlich befand, aber er hatte Grund, es zu bedauern. Zingg machte ihr Schocker, und der limbische Projektor fiel Val aus der Hand, und Val fiel geradewegs hinterher.

Ein bißchen später flog die Tür des Lagerraumes auf, und der Rest meines Teams wogte herein, aus ihren unruhigen Nickerchen erwacht. Marie hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und grinste - ihre Liege enthielt ihr mechanisches Herz, aber sie hatte eine Hand für den Schocker frei, wenn er benötigt wurde. »Ich hab' ihn für dich erwischt, Tenny«, sagte sie stolz.

»Und ob du das hast«, pflichtete ich bei, und dann zu Gert Martells: »Hilf mir, ihn in den Lagerraum zu schaffen.«

Also verstauten wir ihn in dem Raum, wo früher einmal die Techniker ihre Bereitschaftsschichten verdöst hatten, und ließen ihn dasselbe tun. Den limbischen Projektor übergab ich Jimmy Paleologue. Ich konnte es nicht ertragen, das Ding anzufassen, aber ich dachte, daß er es vielleicht als wertvolle Ergänzung zu unserem beschränkten Arsenal betrachten würde. Noch ein Irrtum. Er stürzte damit hinaus auf den Flur, ich hörte das Geräusch laufenden Wassers aus dem Fürkleinejungs, und als er zurückkam, war der Projektor tropfnaß. »Der wird nie wieder funktionieren«, knirschte er und warf ihn in einen Papierkorb. »Was meinst du, Tarb? Wieder schichtweise weiterschlafen?«

Ich schüttelte den Kopf. Der Schlafraum war jetzt zu einem Gefängnis geworden, und außerdem waren wir alle hellwach. »Können ebensogut den Spaß genießen«, sagte ich und ließ sie zurück, während sie Kaffee brauten, um die letzten Reste von Müdigkeit zu vertreiben. Ich wollte einen Blick auf die Werbezeit werfen, und ich wollte es in der Abgeschiedenheit meines eigenen Büros tun.

Es war nicht ermutigend. Sie sendeten jetzt nichts als Verlautbarungen mit Überschriften wie:

KFH-Chef verspricht volle Strafverfolgung

und

Gehirnausbrennen im H & K-Fall als wahrscheinlich angesehen

Ich rieb mir unbehaglich das Genick und fragte mich, wie es wohl sein mochte, eine geistlose Pflanze zu sein.

Mir blieb nicht lange, mich dieser unerfreulichen Beschäftigung zu widmen, weil Mitzi, so vermute ich, schließlich doch noch die Nachtrakete erwischt hatte. Es gab ein Rattern und ein Quieksen und einen Haufen erleichterter Lacher, und als ich meine Tür aufbekam, war sie da. In Gert Martels' Einwickelnetz hängengeblieben. »Was machen wir mit der hier?« fragte Nels Rockwell durch seine Bandage. »Es ist immer noch reichlich Platz im Lagerraum.«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie nicht. Sie kann in mein Büro kommen.«

Als Marie den Saft im Netz abdrehte, stolperte Mitzi und fiel halb hin. Sie fing sich, zu mir hochfunkelnd. »Du Narr, Tenn!« fauchte sie. »Was zum Teufel glaubst du eigentlich, machst du da?«

Ich half ihr auf. »Du hättest mich nicht zur Kur schicken sollen, Mitzi. Sie hat mich kuriert.«

Ihr Kinn fiel herunter. Sie ließ zu, daß ich ihren Arm nahm und sie in mein Büro führte. Sie setzte sich schwer hin, starrte mich an. »Tenny«, sagte sie, »weißt du, was du getan hast? Ich konnte es nicht glauben, als man mir erzählte, was du als politische Werbespots ausstrahlst - das ist beispiellos!«

»Leute, die die Wahrheit sagen, ja«, nickte ich. »Ist noch nie versucht worden, so weit ich weiß.«

»O, Tenny! "Wahrheit". Werde erwachsen!« explodierte sie. »Wie können wir mit der Wahrheit gewinnen?«

Ich sagte sanft: »Als ich entgiftet wurde, mußte ich eine Menge Seelenforschung betreiben - es war besser, als mir die Kehle durchzuschneiden, weißt du. Also stellte ich Fragen. Eine davon möchte ich dir stellen: In welcher Weise ist das, was wir tun, richtig?«

»Tenny!« Sie war schockiert. »Verteidigst du die Werbefritzen? Sie haben ihren eigenen Planeten geplündert, und jetzt wollen sie das gleiche mit der Venus machen!«

»Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf, »du beantwortest die Frage nicht. Ich habe nicht gefragt, warum sie unrecht haben, weil ich weiß, warum sie unrecht haben. Ich wollte wissen, ob wir recht haben.«

»Verglichen mit den Werbefritzen...«

»Nein, das genügt auch nicht. Nicht "verglichen mit". Verstehst du, es reicht nicht, weniger schlecht zu sein. Weniger schlecht ist immer noch schlecht.«

»So ein frommes Gewäsch habe ich noch nie gehört...« begann sie und hielt dann lauschend inne. Plötzliche Geräusche einer Kabbelei aus dem Vorraum: das wütende Bellen eines Mannes - Haseldynes?; knappe Befehle in einer höheren Stimme - Gert Martels'?; das Geräusch einer sich schließenden Tür. Sie starrte mich erstaunt an. »Du wirst niemals damit durchkommen«, flüsterte sie.

»Das ist möglich. Indessen«, erläuterte ich, »habe ich diesen Ort ausgesucht, weil er unmittelbar neben dem Fernmelderaum liegt. Der gesamte Nachrichtenverkehr der Agentur geht hier durch, also ist das Gebäude abgeschnitten, und die Wackerhuts haben Anweisung, Mitarbeiter nur hereinzulassen, nicht hinaus.«

»Nein, Tenny«, schluchzte sie, »ich meine nicht jetzt sofort, ich meine später. Weißt du, was sie mit dir machen werden?«

Das Fleisch in meinem Nacken kribbelte, weil ich das sehr genau wußte. »Gehirnausbrennen vielleicht. Oder mich einfach umbringen«, gab ich zu. »Aber das nur, wenn ich scheitere, Mitz. Es werden zweiundzwanzig verschiedene Werbespots ausgestrahlt. Möchtest du dir ein paar ansehen?« Ich wandte mich zum Monitor, aber sie hielt mich auf.

»Ich habe sie gesehen! Dieser fette Krüppel, den du da draußen hast, die darüber jammert, wie man sie dazu verleitet hat, Junk-Food zu essen - der Ureinwohner, der sagt, daß die Lebensweise seines Volkes zerstört worden sei...«

»Marie, ja. Und der Sudanese.« Ihn zu finden, war ein bißchen Glück gewesen - Gert Martels hatte das getan, nachdem ich sie aus dem Militärgefängnis freibekommen und ihr erklärt hatte, was ich suchte. »Das sind nur zwei von ihnen, meine Liebe. Es gibt noch einen wirklich guten mit Jimmy Paleologue darüber, wie Campbellsche Techniken wirken - auf Leute wie mich ebenso wie die Eingeborenen. Nels Rockwell ist auch gut...«

»Ich habe sie gesehen, ich sage es dir doch. O Tenny, ich dachte, du wärest auf unserer Seite.«

»Weder für noch gegen euch, Mitz.«

Sie höhnte: »Eine treffende Beschreibung für Untätigkeit.« Aber darauf mußte ich nichts entgegnen; es war nicht Untätigkeit, dessen ich schuldig war, und sie wußte es, sobald sie die Worte ausgesprochen hatte. »Du wirst scheitern, Tenny. Du kannst das Böse nicht mit sentimentaler Frömmigkeit besiegen!«

»Vielleicht nicht. Vielleicht kann man das Böse überhaupt nicht besiegen. Vielleicht sind die gesellschaftlichen Übel schon zu weit fortgeschritten, und das Böse wird siegen. Aber man muß nicht sein Komplize sein, Mitzi. Und man muß nicht aufgeben, wie euer Held Mitch Courtenay.«

»Tenny!« Jetzt war sie nicht wütend, nur erschüttert wegen der Blasphemie.

»Aber das war es, was er getan hat, Mitzi. Er hat das Problem nicht gelöst. Er ist vor ihm weggelaufen.«

»Wir laufen nicht weg!«

Ich nickte. »Richtig, ihr kämpft. Und benutzt die gleichen Waffen. Und erzielt die gleichen Endresultate! Die Werbefritzen haben den Planeten in zehn Milliarden hirnloser Münder verwandelt - was ihr vorhabt, ist, die Münder hungern zu lassen, nur damit ihr eure Ruhe habt! Also bin ich nicht auf der Werbefritzen-Seite, und ich bleib nicht auf der Veenie-Seite. Ich spiele nicht mehr mit! Ich probiere etwas völlig anderes aus.«

»Die Wahrheit.«

»Die Wahrheit, Mitzi«, erklärte ich, »ist die einzige Waffe, die nicht beide Seiten verwundet.«

Und dann verstummte ich. Ich steigerte mich da in eine grandiose Ansprache hinein, und der Himmel allein wußte, welche Höhen der Redekunst ich für mein Ein-Frau-Publikum noch erreicht hätte. Aber die besten Teile davon hatte ich bereits gesagt, und ich hatte sie auf Band. Ungeschickt tastete ich auf meine Eingabetastatur herum, um meinen eigenen Werbespot abzurufen, und hielt mit dem Finger auf dem Ausführungsknopf inne. »Schau, Mitz«, sagte ich, »es gibt insgesamt zweiundzwanzig Werbesports, jeweils drei für die sieben Leute, die ich verwende...«

»Welche sieben?« fragte sie argwöhnisch. »Ich habe da draußen nur vier gesehen.«

»Zwei von ihnen waren Kinder, und ich habe den Sudanesen mit ihnen fortgeschickt, um sie aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Gib acht, Mitz! Diese ersten einundzwanzig sind nur dazu da, das Publikum auf den zweiundzwanzigsten vorzubereiten. Das ist meiner. Wenigstens bin ich es, der ihn vorträgt - aber eigentlich ist er für dich.«

Ich hieb auf den Knopf. Per Schirm erwachte abrupt zum Leben. Da war ich, ernst und von Sorgen zermürbt, mit einem im Hintergrund eingeblendeten Archivfoto von Port Kathy. »Mein Name«, verkündete uns die aufgezeichnete Stimme, und der professionelle Teil meines Gehirns dachte, nicht schlecht, nicht zu schwülstig, wenn auch vielleicht bei bißchen zu schnell, »mein Name ist Tennison Tarb. Ich bin Werbetexter der Starklasse, und was Sie hinter mir sehen, ist eine der Städte auf der Venus. Sehen Sie die Menschen? Sie sehen genauso aus wie wir, nicht wahr? Aber in einer Hinsicht sind sie anders als wir. Sie mögen es nicht, wenn ihr Denken von der Werbung beeinflußt wird. Unglücklicherweise hat das die Dinge aber nur verschlimmert, weil ihr Denken nun auf gegenteilige Art negativ beeinflußt ist. Sie haben begonnen, uns zu hassen. Sie nennen uns "Werbefritzen". Sie glauben, daß wir vorhaben, sie zu erobern und ihnen unsere Reklame in den Hals zu stopfen. Das hat sie so schlecht wie jeden Agenturmann werden lassen, und das Schreckliche dabei ist, daß ihre Befürchtungen gerechtfertigt sind. Wir schleusen Spione in ihre Regierung ein. Wir entsenden Terrortrupps, um ihre Wirtschaft lahmzulegen. Und gerade in diesem Augenblick planen wir, sie mit Campbellschen limbischen Waffen anzugreifen, genauso, wie ich es uns kürzlich in der Wüste Gobi habe tun sehen...«

»O Tenny«, flüsterte Mitzi. »Sie werden dir das Gehirn ausbrennen.«

Ich nickte, »Ja, das werden sie wohl, wenn wir scheitern.«

»Aber ihr müßt einfach scheitern!«

Alte Gewohnheiten sterben langsam; so sehr ich mir auch wünschte, mit Mitzi ins Reine zu kommen, konnte ich mir doch nicht verkneifen, einen bedauernden Blick auf den Schirm zu werfen - gerade kam ich zu den besten Passagen. Aber ich sagte: »Das werden wir sehr bald herausfinden, Mitz. Mal schauen, was sie sagen.« Und indem ich auf dem Schirm den Rest meines Spots unbeachtet durchlaufen ließ, holte ich die Schlagzeilen auf meinen Tischschirm. Das erste halbe Dutzend waren nichts als gräßliche Drohungen und unheilvolle Omen, genau wie vorher - aber dann kam eine, die mir das Herz im Leibe hüpfen ließ:

Stadt gelähmt, Massen sammeln sich

Und unmittelbar darunter:

Brinks-Chef: Demonstration »außer Kontrolle«

Ich hielt mich nicht mit dem Text auf. Ich riß die Tür zum äußeren Büro auf, wo meine getreuen Vier um ihre Schreibtische versammelt waren. »Was bedeutet das?« rief ich. »Kriegen wir ein Bild? Überprüft die neuen Kanäle, ja?«

»Ein Bild! Was glaubst du, was wir uns gerade ansehen?« rief Gert Martels grinsend. Als die neuen Wandschirme flackernd zum Leben erwachten, sah ich, weswegen sie grinste. Die örtlichen Stationen hatten sich mit Außenreportagen überschlagen, um Aufnahmen von der Reaktion zu bekommen - und die Reaktion war gewaltig.

»Mein Gott, Tenny«, schrie Rockwell, »der Verkehr steht still!« Und so war es in etwa. Die Kameras der Nachrichtenstationen schweiften von Kreuzung zu Kreuzung - Times Square, Wall Street, Central Park Mall, Riverspace -, und bei jeder sah es gleich aus. Es war die morgendliche Hauptlaufzeit, aber der Verkehr war beinahe zum Erliegen gekommen, während die wimmelnden Millionen der Stadt an tragbaren Radios lauschten oder die Großbildschirme an den Häuserwänden betrachteten, und jeder einzelne von ihnen verfolgte einen unserer Werbespots.

Ich konnte vor Aufregung kaum atmen. »Die Sendernetze!« rief ich. »Was geht im Rest des Landes vor?«

»Das gleiche, Tenny«, sagte Gert Martels und fügte hinzu: »Siehst du, was da passiert, in der Ecke?«

Wir blickten gerade auf den Union Square, und ja, in der hinteren rechten Ecke gab es eine Gruppe von Leuten, die nicht bloß mit herunterhängenden Unterkiefern stillstanden. Sie waren sogar sehr beschäftigt. Sie waren dabei, methodisch und brutal einen Großbildschirm herunterzuzerren.

»Sie reißen unsere Werbungen runter«, keuchte ich.

»Nein, nein, Tenny! Das war ein Kelpy-Krips! Und siehst du dort drüben - die limbische Zone? Sie haben den Projektor zerstört!«

Ich fühlte, wie Mitzis Hand sich in meine stahl, während ich so dastand, und als ich mich umdrehte, lächelte sie verschleiert. »Wenigstens kriegst du ein Publikum«, sagte sie; und von der Tür her erklärte eine neue Stimme feierlich:

»Das größte Publikum, das es je gegeben hat, Mr. Tarb.«

Es war Dixmeister. Gert Martels hatte bereits einen Schocker gezogen, und er war genau auf seinen Kopf gerichtet. Er sah sie nicht einmal an. Seine Hände waren leer. Er sagte: »Sie kommen besser mit nach oben, Mr. Tarb.«

Mein erster Gedanke war auch der schlimmste. »Eine KFH-Schwadron?« riet ich. »Sie setzen die Spots ab? Sie haben eine Gegenverfügung...?«

Er runzelte die Stirn. »Nichts dergleichen, Mr. Tarb. Mein Gott! Ich habe noch nie solche Einschaltquoten gesehen! Jeder der Spots Ihrer Kampagne erreicht Optimum-plus-fünfzig-Reakt, der Marsch der Dollars kann sich nicht retten vor Spenden - nein, nein, es ist kein Polizeieinsatz.»

»Was dann, Dixmeister?« rief ich aus.

Er sagte unsicher: »Es sind all diese Menschen. Sie kommen besser nach oben und sehen es sich selbst an.«

Und das tat ich, und vom zweiten Stock des Agenturgebäudes aus konnte ich auf die Straße, den Platz, die gegenüberliegenden Fenster hinausblicken. Und jeder Zoll war voller Menschen.

Das Merkwürdige ist, daß ich es zuerst nicht einmal dann glauben konnte. Ich dachte, es sei ein Lynch-Mob - bis ich sie jubeln hörte.

Und der Rest der Welt? RussCorp, Indiastries, SA² - sie alle? Auch dort beginnt man Jubelrufe zu hören; und wo das alles enden wird, weiß ich nicht. Alte Gewohnheiten sterben schwer, für Nationen ebenso wie für Individuen. Monolithen lassen sich schwer niederreißen.

Aber sie haben begonnen, die Shuttles in Arizona wieder zu entladen, und der Monolith hat angefangen, Risse zu zeigen.

Ende

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