Die falsche Mitsui Ku

I

Es war einmal ein Mann namens Mitchell Courtenay, der, nach dem die Hälfte aller Straßen auf der Venus benannt zu sein scheint. Sie glauben, er sei ein Held, aber als meine Grundschullehrerin uns im Geschichtsunterricht von ihm erzählte, spie sie seinen Namen voller Verachtung aus. Wie ich war er ein Werbetexter der Starklasse. Wie ich geriet er in eine Gewissenskrise, die er nie gewollt hatte und mit der er nicht fertigzuwerden wußte.

Wie ich war er ein Verräter.

Das ist die Art von Wort, das man nicht hören will, wenn man selbst es ist, auf den es angewandt wird. »Tennison Tarb«, schrie ich, so laut ich konnte - hinein in den Donner des U-Bahn-Tunnels, als ich den Spätnahverkehrszug zu meiner Herberge in Bensonhurst nahm, wo niemand das Wort hören konnte, nicht einmal ich selbst - »Tennison Tarb, du bist ein Verräter am Handel!«

Nicht einmal ein Echo antwortete. Oder wenn doch, dann ging es im Brausen der U-Bahn unter. Ich verspürte keinen Schmerz bei dem Wort, obwohl ich wußte, daß es gerecht und vernichtend war.

Ich nehme an, es waren die langen grünen Pillen, die jenen Schmerz betäubten, zusammen mit all den anderen Schmerzen, die ich nicht länger spürte. Das war mein Glück; aber wenn man die Münze umdrehte, war die andere Seite, daß ich auch keine Freude darüber empfand, wieder ein Werbefachmann zu sein. Hinauf, hinab. Hinauf, hinab. Wie lange ich dieses Mal oben bleiben würde, konnte ich nicht einmal vermuten, aber da war ich nun. Ich hätte triumphiert - wenn die Welt nicht so grau gewesen wäre.

Und wenn die Welt nicht so grau gewesen wäre, hätte ich vielleicht immer noch vor Angst gezittert, denn es war sehr knapp gewesen, dort auf dem Dachboden über der Ösenfabrik.

Ich hatte sehen können, wie Desmond Haseldynes Kartensortierer-Verstand einen Plan nach dem anderen auswarf: Schlag ihm den Schädel ein und steck ihn in eine Ösenpresse, um die Beweise verschwinden zu lassen. Betäube ihn mit Drogen und wirf ihn aus einem hohen Fenster. Besorge etwas Moke-Extrakt und verpaß ihm eine Überdosis - das wäre das einfachste und sicherste überhaupt gewesen. Aber er tat es nicht. Mitzi würgte hervor, daß sie mir eine Chance geben wollte, und Haseldyne setzte sich nicht darüber hinweg.

Er gab mir aber auch nicht die »Selbstmordankündigung« zurück.

Wenn ich das Leben vor mir betrachtete, konnte ich zwei gähnende Abgründe sehen. Auf der einen Seite, daß Haseldyne die Selbstmordankündigung schließlich doch noch benutzen würde, und das wäre für immer das Ende Tennison Tarbs. Auf der anderen Entdeckung, Festnahme, Gerhirnausbrennen. Zwischen den beiden verlief eine schmale Messerschneide, auf der entlangzuspazieren ich hoffen konnte - doch sie führte in eine Zukunft, in der mein Name für immer von Generationen zukünfiger Schulkinder geschmäht werden würde.

Es war ein Segen, daß ich die langen grünen Pillen hatte.

Da ich nun einmal auf die Messerschneide festgelegt war, machte ich auch weiter damit. Ich rasierte mich und bügelte meine Klamotten und machte mich so schick, wie es mir mit dem Geld, das ich noch übrig hatte, und den in meiner Bensonhurster Behausung verfügbaren Einrichtungen nur eben gelingen wollte - wenn ich an schlafwandelnden Eltern und knütterigen Kindern vorbeikommen konnte, um sie zu erreichen. Die lange, dampfige U-Bahn-Fahrt weichte die neuen Bügelfalten wieder aus meinen Shorts heraus und blies Ruß in meine gewaschenen Haare, aber nichtsdestotrotz war ich hinreichend präsentabel, als ich mich in der Lobby des Haseldyne & Ku-Gebäudes meldete. Dort überprüfte ein Wackerhut-Bulle meine Handflächenabdrücke, steckte eine Magnetplakette, die mich als vorübergehenden Besucher auswies, an meinen Kragen und brachte mich schnellstens hinauf zu Mitzis Büro. Zur Tür von Mitzis Büro jedenfalls, wo ihr neuer Sek² mich aufhielt. Er war ein Fremder für mich. Ich aber nicht für ihn, denn er begrüßte mich mit Namen. Ich mußte gewisse Formalitäten über mich ergehen lassen. Der Sek² hatte die Personalabteilung schon vorbereitet; ein Mitarbeitervertrags-Fax lag für meinen Daumenabdruck bereit, und sobald ich offiziell unterschrieben hatte, überreichte er mit eine permanente Agentur-ID und einen Zwei-Wochen-Gehaltsvorschuß.

So kam es, daß ich Geld in meinem Kreditspeicher hatte, als ich endlich durch die Tür in Mitzis Büro gelangte. Es war eine Kommandozentrale erster Klasse, so opulent und gewaltig wie die des Alten bei T., G. & S. Eingerichtet war sie mit Schreibtisch und Konferenzcouch, einer Getränkebar und einem Vid-schirm, dazu drei Fenstern und zwei Besuchersesseln. Das einzige, was fehlte, war Mitzi Ku. An ihrer Stelle saß finster blickend Des Haseldyne hinter dem Schreibtisch, und er hatte noch nie größer ausgesehen. »Mitzi ist beschäftigt; ich erledige das für sie«, verkündete er.

Ich nickte, obwohl es nicht zu meinen liebsten Träumen zählte, von Des Haseldyne erledigt zu werden. »Können wir hier sprechen?« fragte ich.

Er seufzte geduldig und winkte mit der Hand in Richtung der Fenster. Und tatsächlich, Fenster und Tür glitzerten alle im schwachen Schimmer eines Abschirmvorhangs; keine elektronischen Schweinereien würden aus diesem Raum hinausgelangen, solange er an war. »Fein«, sagte ich. »Setzen Sie mich an die Arbeit.«

Er war seltsam unschlüssig. »Eigentlich haben wir gar keinen Platz für Sie«, grollte er schließlich.

Das war deutlich genug. Ich war kein Teil ihrer Pläne gewesen, bis ich mich ihnen aufgedrängt hatte. Ich glaubte nicht, daß irgend etwas, was ich anbieten konnte, ihm wie eine gute Idee erscheinen würde; er mochte auf Mitzi hören, aber niemals auf mich. Trotzdem versuchte ich, die Pille leichter zu schlucken zu machen. »Mitzi erwähnte die Politik - Sie wissen, daß ich da praktisch alles verkaufen kann«, meinte ich.

»Nein!« Das Bellen war laut, wütend und endgültig. Wieso brachte ihn das so aus der Fassung? Ich zuckte die Achseln und versuchte es noch einmal.

»Es gibt andere immaterielle Aktiva - Religion zum Beispiel. Oder jede Art von Produkt...«

»Nicht unser Tätigkeitsfeld«, brummte er und schüttelte dabei den gewaltigen Kopf. Er hob die Hand, um weitere nutzlose Vorschläge meinerseits abzuschneiden. »Es wird etwas erheblich Bedeutsameres sein müssen«, meinte er bestimmt.

Erleuchtung! »Ach so«, sagte ich, »verstehe. Sie wollen einen offenkundigen Akt. Sie wollen, daß ich meinen Hals riskiere, um meine Loyalität zu beweisen. Ein richtiges Verbrechen begehen, stimmt's? So daß ich nicht mehr kehrtmachen kann? Was soll ich denn tun, jemanden ermorden?«

Ich sagte das so leichthin! Vielleicht lag es an dem graugetrübten Taubwerden von allem, was die Pillen mir geschenkt hatten, aber nachdem ich einmal verstanden hatte, was er wollte, kamen die Worte ohne jegliche Skrupel heraus. Haseldyne jedoch hatte keine Pillen genommen. Das riesige Gesicht versammelte sich zu einem granitenen Ausdruck heftiger Gemütsbewegung. »Für was zum Teufel halten Sie uns eigentlich?« frage er voller Abscheu vor mir. »Wir tun nichts dergleichen!« Ich wartete darauf, daß sein Unwille wieder nachließ. Es dauerte eine Weile, weil er Schwierigkeiten zu haben schien, seine Gedanken zusammenzunehmen.

»Es gibt eine Möglichkeit«, sagte er endlich. »Sie waren Angehöriger der limbischen Einheiten bei der Gobi-Aktion.«

»Feldgeistlicher, richtig«, pflichtete ich bei. »Man hat mich mit einer unehrenhaften Entlassung hinausgeworfen.«

»Das ließe sich leicht genug rückgängig machen«, sagte er ungeduldig. Sicher stimmte das - für jemanden mit dem Einfluß eines Agentur-Mitbesitzers. »Angenommen, wir würden Sie wieder hineinbekommen. Angenommen, wir setzten Sie an einen Platz, wo Sie Campbellsches Gerät unter Ihrem Kommando hätten - Sie wissen doch bestimmt, wie man dieses Zeug bedient, nehme ich an.«

»Nicht ein Stück, Des«, erklärte ich ihm vergnügt. »Das ist Sache der Techniker. So etwas lernt man nicht, dafür hat man seine Leute.«

Starrsinnig sagte er: »Aber Sie könnten Techniker befehligen?«

»Natürlich. Das könnte jeder. Für welchen Zweck?«

Wenn ich noch irgendwelche Zweifel gehabt hätte, daß er improvisierte, und das nicht sehr gut, so zerstreute er sie jetzt.

»Um die venusische Sache voranzubringen!« röhrte er. »Um die verdammten Werbefritzen dazu zu bringen, uns in Ruhe zu lassen.«

Ich schaute ihn mit echter Verwunderung an. »Meinen Sie das ernst? Vergessen Sie's!«

Grollen tiefer und gefährlicher: »Warum?«

»Ah, Des, jetzt kann ich sehen, daß Sie ein Veenie-Agent sind, aber ganz bestimmt kein Werbefachmann. Limbische Stimulation ist keine eigenständige Technik. Sie ist nur ein Verstärker. Ein Beförderer.«

»Also?«

»Also muß sie den grundlegenden Gesetzen jeder Werbung folgen. Sie können Menschen nur dazu bringen, Dinge zu wollen, Des. Sie können ihnen Kniesehnenreflex-Kaufmuster antrainieren oder ein Verlangen nach etwas erzeugen, aber Sie können die Werbung nicht dazu benutzten, die Menschen nett und freundlich zu machen, um Gottes willen!« Ich hatte den Finger auf die Wahrheit gelegt. Werbemäßig gesehen war der Mann ein Ignorant. Wie er sein Nichtwissen so lange in einer großen Agentur geheimgehalten hatte, war ein Wunder - auch wenn das, was ich gerade gesagt hatte, stimmte: Man mußte das, wozu man seine Leute hatte, nicht lernen. Er blickte finster, während ich zu erklären fortfuhr: »Für so etwas brauchen Sie B-Mod, wenn Sie es wirklich eilig haben, und das kommt nicht in Frage außer bei kleinen, unfreiwilligen Zuhörerschaften. Eigentlich wollen Sie überhaupt keine Werbung, Des.«

»Nein?«

»Publicity«, erklärte ich. »Mundpropaganda. Sie wollen ein Image schaffen. Zur Eröffnung setzen Sie Geschichten über die "gute Veenies" in Umlauf. Führen Sie ein Dutzend Veenie-Charaktere in Situationskommödien ein und verwandeln Sie sie langsam von schurkischen Clowns in liebenswerte Exzentriker. Machen Sie ein paar dazu passende Werbeeinblendungen mit venusischem Hintergrund - Sachen in der Art von "Die Venus liebt Cari-Os".«

»Die Venus, zur Hölle damit, tut das nicht«, explodierte er.

»Die genauen Einzelheiten könnten natürlich anders sein. Natürlich würden Sie supervorsichtig sein müssen hinsichtlich dessen, wie Sie es machen. Schließlich spielen Sie mit tiefsitzenden Vorurteilen, das wissen Sie, ganz davon zu schweigen, daß Sie vielleicht sogar das Gesetz beugen. Aber es läßt sich machen, genügend Geld und Zeit vorausgesetzt. Ich würde sagen, fünf oder sechs Jahre.«

»Wir haben keine fünf oder sechs Jahre!«

»Das hatte ich auch nicht geglaubt«, grinste ich. Es war spaßig, aber ich stellte fest, daß ich seinen Ärger genauso genoß, als wäre der Stachel in seinem Fleisch nicht ich - und als stünde ihm nicht die einfache und naheliegende Möglichkeit zur Verfü-. gung, ihn zu entfernen, die meine "Selbstmordankündigung" ihm gegeben hatte. Es lief auf die Tatsache hinaus, daß es mich einfach nicht mehr kümmerte, was mit mir geschah. Die ganze Angelegenheit lag nicht länger in meinen Händen. Mitzi war der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte. Entweder würde sie mich retten... oder sie würde es nicht.

Ich verließ den finster dreinblickenden Des Haseldyne mit einem so ruhigen und gelösten Gefühl wie seit vielen Monaten nicht mehr, und an diesem Abend ging ich los und gab einen großen Happen meines Kreditguthabens für neue Kleider aus. Ich suchte sie so glücklich und sorgfältig aus, als sei ich zuversichtlich, am Leben zu sein, um sie zu tragen.

Als am nächsten Morgen der Ruf in Mitzis Kommandozentrale erfolgte, war Mitzi selbst darin - rotäugig, die Stirnrunzelfalten zwischen den Augen tiefer als je. Es sah aus, als hätte sie nicht gut geschlafen. Sie deutete schweigend auf einen Sessel, knipste die Abschirmung an und saß da, die Ellbogen auf dem Schreibtisch und das Kinn in den Handflächen, während sie mich anstarrte. Endlich sagte sie: »Wie bin ich nur in das mit dir hineingeraten, Tenny?«

Ich zwinkerte ihr vertraulich zu. »Ich habe eben einfach Glück, nehme ich an.«

»Mach keine Witze!« fuhr sie mich an. »Ich habe nicht um dich gebeten. Ich wollte mich nicht in dich ver... in dich ver-...« Sie holte tief Luft und preßte es heraus: »In dich verlieben, verdammt nochmal! Weißt du, wie gefährlich dies alles ist?«

Ich stand auf, um sie auf den Scheitel zu küssen, bevor ich ernsthaft sagte: »Ich weiß es ganz genau, Mitz. Was nützt es, sich darüber Sorgen zu machen?«

»Setz dich hin, wo du hingehörst!« Dann, einlenkend, während ich mich in meinen Sessel zurückzog: »Es ist nicht dein Fehler, daß meine Drüsen mich durcheinanderbringen, nehme ich an. Ich will nicht, daß dir etwas zustößt. Aber, Tenn, wenn es jemals zu dem Punkt kommt, wo ich zwischen dir und der Sache wählen muß...«

Ich hob die Hand, um sie zu stoppen. »Ich weiß das. Mitz. Das wirst du nie müssen. Ihr werdet froh sein, mich an Bord zu haben, denn ehrlich gesagt, Mitz, wißt ihr Clowns nicht, was ihr tut.«

Harter Blick. Dann verdrossen: »Es stimmt, dieses ganze Zeug erfüllt uns zu sehr mit Abscheu, um gut darin zu sein. Wenn du uns ein bißchen Sachkenntnis liefern könntest...«

»Ich kann. Du weißt, daß ich kann.«

»Ja«, gab sie widerstrebend zu, »ich glaube, das tue ich wohl. Ich habe Des erklärt, das limbische Zeug wäre hoffnungslos, aber er wollte dich nicht in den wirklichen Plan einweihen. Na gut. Ich trage die Verantwortung. Was wir vorhaben, ist politischer Natur, Tenny, und du wirst es für uns ausführen. Du wirst die gesamte Kampagne leiten - unter meiner Aufsicht und der von Des.«

»Fein«, sagte ich aufrichtig. »Hier? Oder...«

Sie senkte den Blick. »Für den Anfang jedenfalls hier. Noch irgendwelche Fragen?«

Nun, zunächst war da einmal die Frage, warum es hier statt auf dem Dachboden über der Ösenfabrik sein würde, aber das schien keine von denen zu sein, die sie beantworten wollte. Langsam sagte ich: »Wenn du mich einfach bloß über das informieren könntest, was eigentlich vor sich geht...«

»Ja, natürlich.« Sie sagte es, als hätte ich nach dem Weg zum Herrenklo gefragt. »Das große Bild sieht wie folgt aus: Wir wollen die irdische Wirtschaft ruinieren, und das werden wir bewerkstelligen, indem wir die Regierungen übernehmen.«

Ich nickte und wartete auf den nächsten Satz, der das alles klar machen würde. Als kein nächster Satz folgte, fragte ich: »Die was?«

»Die Regierungen«, sagte sie fest. »Überrascht dich, wie? Es ist so offensichtlich, und trotzdem hat keiner von euch Werbefritzen je den Verstand gehabt, es zu sehen, nicht einmal die Konservationisten.«

»Aber Mitz! Wozu würdet ihr die Regierung übernehmen wollen? Niemand schenkt diesen Marionetten irgendwelche Beachtung. Die wirkliche Macht liegt hier in den Agenturen.«

Sie nickte. »De facto ist das so. Aber de jure hat die Regierung immer noch Enteignungsrecht. Die Gesetze sind nie geändert worden. Es ist nur so, daß die Leute, die die Gesetze schreiben, den Agenturen gehören. Sie erhalten ihre Instruktionen. Niemand zieht sie je in Zweifel. Der einzige Unterschied liegt darin, daß sie uns gehören werden. Die Marionetten werden einfach weitermachen, nur werden sie jetzt unsere Befehle entgegennehmen, und was wir befehlen, wird diesen Planeten in die verdammteste, schlimmste Wirtschaftskrise stürzen, die die menschliche Rasse je erlebt hat - dann wollen wir mal sehen, ob sie immer noch mit der Venus herumspielen können!«

Ich glotzte sie an. Es war so ungefähr die wahnsinnigste Idee, die ich je gehört hatte. Selbst wenn sie funktionierte, und alle hergebrachte Klugheit beschwor mich, daß sie nicht funktionieren konnte, war es das, was ich wollte? Eine Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit? Die Zerstörung all dessen, das zu verehren ich gelehrt worden war...?

Und doch - sagte die Bescheidenheit -, wer war ich, ein Versager und Süchtiger, um Kritik zu üben? Der Himmel wußte, daß meine Prinzipien in den letzten paar Achterbahnmonaten so viele Male ins Wanken gebracht und erschüttert worden waren, daß ich nicht vorgeben konnte, irgend etwas zu wissen. Ich war ins Schwimmen gekommen - und Mitzi wirkte so selbstsicher.

Tastend sagte ich: »Hör mal, Mitzi, weil einige unserer irdischen Gebräuche euch so ungewohnt sind...«

»Nicht ungewohnt!« explodierte sie. »Niederträchtig! Kriminell! Krank.«

Ich breitete die Hände aus, was »keine Streitfrage« bedeuten sollte - besonders, da ich in dieser Streitfrage gerade die Seiten zu wechseln schien. »Die Frage ist, wie könnt ihr sicher sein, daß das klappen wird?«

Sie sagte heftig: »Glaubst du, wir seien unwissende Barbaren? Es ist alles hundertmal in Simulationen durchgespielt und geprobt worden. Wir hatten Eingaben von den führenden Denkern auf der Venus - Psychologen, Anthropologen, politikwissenschaftlichen Denktanks und Kriegsstrategen... Verdammt«, schloß sie verdrießlich, »nein. Wir wissen nicht, daß es klappen wird. Aber es ist das einzige, was uns eingefallen ist, das vielleicht klappen könnte.«

Ich lehnte mich zurück und starrte meine Messinglady an. Das also war es, worauf ich mich eingelassen hatte - eine gewaltige und todbringende Verschwörung, ausgedacht von Eierköpfen, durchgeführt von Fanatikern. Es war eine auf komische Weise hoffnungslose, clowneske Farce, nur daß sie nicht sehr lustig war, wenn man darüber nachdachte, was sie bedeutete. Verrat, Vertragsbruch, unfaire geschäftliche Praktiken. Wenn sie schiefging, war das beste, was ich erhoffen konnte, eine Rückfahrkarte zur Polaren Strafkolonie, diesmal auf der falschen Seite der Gitterstäbe.

Der Ausdruck auf Mitzis Gesicht mochte einmal zu Jeanne d'Arc gehört haben. Sie schien beinahe zu leuchten, die Augen zum Himmel erhoben, das Messingladygesicht über Bronze zu purem, warmem Gold transmutiert, die Zwillings-Stirnrunzelfalten streng zwischen den Augen...

Ich langte über den Schreibtisch hinweg und berührte sie. »Plastische Chirurgie, nehme ich an?« erkundigte ich mich.

Rasch kam sie wieder auf den Boden der Realität zurück, funkelte mich an (die Stirnrunzelfalten jetzt durch echte verstärkt), schürzte die Lippen, »Na ja, zum Teufel, Tenny«, sagte sie, »natürlich war etwas plastische Chirurgie nötig. Ich sehe nur ein bißchen wie Mitsui Ku aus.«

»Ja«, meinte ich nickend, »ich dachte mir schon, daß es das war. Also sah der Plan vor«, fügte ich im Gesprächston hinzu, »daß ihr uns beide in der Trambahnstation umbringen würdet, stimmt's? Und dann hättet ihr verkündet, daß ihr durch herkulische Anstrengungen und das Geschick der Veenie-Chirurgen wenigstens Mitzi durchgebracht hättet? Nur, daß es in Wirklichkeit du gewesen wärst?«

Sie sagte schroff: »Etwas in der Art.«

»Ja. Sag«, erkundigte ich mich interessiert, »wie ist eigentlich dein richtiger Name?«

»Hol dich der Teufel, Tenn! Was für einen Unterschied macht das?« Sie schmollte einen Augenblick und sagte dann: »Sophie Yamaguchi«, wiederholte ich, wie um den Namen zu kosten. Er schmeckte nicht richtig. »Ich denke, ich werde dich auch weiterhin Mitzi nennen, falls es dir nichts ausmacht.«

»Ausmacht? Ich bin Mitzi Ku! Ich habe sieben Monate damit zugebracht, zu üben, sie zu sein, habe die Überwachungsbänder studiert, ihre Eigenheiten kopiert, ihren Hintergrund auswendig gelernt. Ich habe sogar dich getäuscht, nicht wahr? Jetzt erinnere ich mich kaum noch an Sophie Yamaguchi. Es ist, als sei Sophie gestorben statt...«

Abrupt hielt sie inne. Ich sagte: »Dann ist Mitzi also tot, nehme ich an.«

Die falsche Mitzi sagte widerstrebend: »Nun, ja, sie ist tot. Aber sie ist nicht von der Tram getötet worden. Und glaube mir, Tenny, ich bin froh darüber! Wir sind keine Meuchelmörder, weißt du. Wir wollen niemandem unnötig wehtun. Es ist einfach nur so, daß die objektiven Realitäten der Lage... Jedenfalls haben sie sie zur, äh, Umerziehung weggebracht.«

»Ah«, nickte ich. »Die Anti-Oase.«

»Natürlich kam sie dorthin! Und dort wäre ihr auch kein Haar gekrümmt worden. Entweder wäre sie zu unserer Denkweise übergewechselt, oder sie wäre wenigstens lebend und außer Sicht dort gefangen gehalten worden. Aber sie hat versucht zu entkommen. In der Wüste ging ihr wohl der Sauerstoff oder so aus, Tenny«, sagte sie ernsthaft, »es war niemandes Verschulden.«

»So, war hat denn behauptet, daß es das war?« fragte ich. »Nun aber zu dem, was ich für euch machen soll...«

Wenn, man es richtig betrachtet, ist vermutlich nichts jemals das Verschulden von irgendwem, oder jedenfalls glaubt nie jemand, daß es das sei. Man muß hin, was man tun muß.

Und doch, als ich an jenem Abend nach Bensonhurst zurückfuhr, sah ich mir die müden Pendler mit den traurigen Gesichtern an, die in ihren Haltegurten hingen, während die schmutzigen Tunnelwände vorüberflogen, der smogige Wind uns herumblies und die Lampen flackerten. Und ich kam ins Grübeln. Wollte ich wirklich das harte Leben dieser Verbraucher noch härter machen? Die Wirtschaft der Erde ruinieren, war nichts Abstraktes; es bedeutete konkrete Dinge, einen konkreten Arbeitsplatzverlust für einen Registratur oder einen Schupo bei Brink. Eine konkrete Niedrigerstufung für einen Werbefachmann. Ein konkrete Kürzung im Nahrungsmittelbudget für die Familie, bei der ich wohnte. Nun, sicher, ich glaubte jetzt daran, daß die Erde unrecht damit hatte, die Venus zu sabotieren und zu überwältigen, und daß es richtig war, mich mit Mitzi - der falschen Mitzi, hieß das - zusammenzutun und dieser Niedertracht ein Ende zu bereiten. Aber welcher Grad von Niedertracht war gerechtfertigt, um dieses nicht-niederträchtige Ziel zu erreichen?

Zu allen meinen Sorgen und Kümmernissen und Dilemmas wollte ich mir nicht auch noch das eine aufladen, worunter ich bisher noch nicht viel gelitten hatte: Schuld.

Trotzdem...

Trotzdem erledigte ich den Job, den Mitzi mir zugedacht hatte. Und erledigte ihn überdies verdammt gut. »Was du tun sollst, Tenny«, hatte sie befohlen, »ist eine Wahl gewinnen. Versuche nichts Kompliziertes. Versuche nicht, Prinzipien in die Kampagne einfließen zu lassen. Tu einfach nur dein Verdammtestes als Werbefritze, damit unsere Leute gewinnen.«

Genau, Mitzi, das tat ich - mein Verdammtestes, und versuchte, nicht zuzulassen, daß ich mich dabei selbst verdammt fühlte. Einer der Leute, die sie von Taunton, Gatchweiler und Schocken gestohlen hatte, war mein alter Lakai Dixrneister; er war einige Stufen hinaufbefördert worden, um meinen Platz einzunehmen, und war traurig, aber ergeben, diese Stufen nun wieder hinunterbefördert zu werden. Er wurde erst lebhafter, als ich ihm erklärte, diesmal könne er größere Machtbefugnisse haben; ich ließ ihn sämtliche Besetzungsaufrufe ausrichten, ließ ihn sogar mögliche Kandidaten aus den ersten Siebungen auswählen. Ich verriet ihm nicht, daß ich die Überprüfungen über die betriebsinterne Fernsehleitung zu meinem Büro im Auge behielt, aber das war gar nicht nötig - sich selbst überlassen, den Genuß meiner Ausbildung im Rücken, machte sich der Junge prächtig.

Und ich hatte wichtigere Dinge zu erledigen. Ich suchte Themen. Slogans. Wortkombinationen, die etwas bedeuten mochten oder auch nicht (das war nicht wichtig), aber kurz und einprägsam waren. Ich setzte die Forschungsabteilung an die Arbeit, um all die Themen und Slogans auszugraben, die jemals bei politischen Kampagnen benutzt worden waren, und alsbald war mein Monitor mit ihnen überflutet. »Der ehrliche Handel.« »Freiheit oder Sozialismus.« »Die moralische Mehrheit«. »Der Mann ihres Vertrauens.« »Wir brauchen weniger Staat.« »Kuba ist nur 90 Meilen entfernt.« »Ich gehe nach Korea.« »Wahrheit in der Werbung« - na ja, nein, der klang nicht richtig, »Ich bin kein Gauner« - der hatte nicht funktioniert. »Der Krieg gegen die Armut.« Besser, auch wenn der, wie es schien, den Krieg nicht gewonnen hatte. Es gab hunderte von den verdammten Dingern. Natürlich hatten die meisten davon keinen Bezug mehr zu der Welt, in der wir lebten - was können Sie sich unter »Möllemann, geh du voran« vorstellen? - aber, wie ich immer zu meinen Werbewölflingen zu sagen pflegte, nicht was ein Slogan aussagt zählt, sondern was die Leute in ihn hineinlesen können, das irgendwie das Unterbewußtsein berührt. Es war eine harte, langwierige Arbeit, und sie wurde auch nicht durch die Tatsache erleichtert, daß ich etwas verloren hatte. Was ich verloren hatte, war das Gefühl, daß das Gewinnen ein Selbstzweck war. In diesem Falle war es das - Mitzi hatte mir das gesagt. Aber ich empfand es nicht länger.

Nichtsdestotrotz kam ich mit ein paar Prachtexemplaren daher. Ich rief Dixmeister herein, um sie sich anzusehen, alle von der Kunstabteilung wunderschön kalligraphiert und ornamentiert, mit Kennmeldoie und multisensuellem Hintergrund aus der Produktion. Verblüfft starrte er den Monitor an.

»"Hände weg von Hyperion"? Das ist wirklich hervorragend, Mr. Tarb«, sagte er reflexartig, und dann zögernd, »aber ist es nicht eigentlich irgendwie anders herum? Ich meine, wir wollen doch Hyperion nicht als Markt aufgeben, oder?«

»Nicht unsere Hände weg, Dixmeister«, sagte ich freundlich. »Die Hände der Veenies. Wir wollen, daß sie von den Veenies in Ruhe gelassen werden.«

Sein Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Ein Meisterwerk, Mr. Tarb«, sagte er hingerissen. »Und dieser hier. "Freiheit der Information." Das bedeutet die Versuche, die Werbung zu zensieren, richtig? Und "Wir brauchen weniger Staat"?«

»Bedeutet, die Vorschrift abzuschaffen, Warntafeln vor Campbell-Zonen aufzustellen«, erklärte ich.

»Ein Geniestreich!« Und ich schickte ihn los, die Slogans bei der Kandidatenschar des heutigen Tages auszuprobieren, um festzustellen, welcher von ihnen sie aufsagen konnte, ohne sich zu verhaspeln oder verwirrt dreinzuschauen, während ich mich an die Arbeit machte, ein Spionagesystem einzurichten, um die Kandidaten der anderen Agenturen auszukundschaften. Es gab so viel zu tun! Ich arbeitete zwölf, vierzehn Stunden am Tag. Langsam, aber gleichmäßig verlor ich an Gewicht, und manchmal schlief ich auf den langen U-Bahn-Fahrten nach Bensonhurst fast ein und ließ meinen Haltegriff los. Es war mir gleichgültig. Ich war eine Verpflichtung eingegangen, und ich würde durchhalten, koste es was es wolle. Wenigstens wirkten die Pillen immer noch; schon lange hatte ich nicht einmal mehr das Verlangen nach einer Moke gehabt.

Ich hatte auch kein großes Verlangen nach nichts anderem mehr gehabt - nach fast nichts anderem - nach nichts als dem einen jedenfalls, und dieses eine war nicht von der Art der ausgehungerten körperlichen Begierden, die die grünen Pillen so gut anästhesierten. Es war eine Kopfsehnsucht. Es war ein Erinnerungsverlangen, eine Sehnen danach, wieder die süße Berührung von Körpern zu spüren, während wir schliefen, und das Geräusch des Atmens, das von einem warmen, weichen, in meine Arme gekuschelten Körper kam. Es war Mitzi, die ich wollte.

Ich bekam nicht viel von ihr. Einmal am Tag pflegte ich in ihrer Kommandozentrale Bericht zu erstatten. Manchmal war sie nicht da, und es war Des Haseldyne, der seinen riesigen Körper gereizt auf dem Stuhl verlagerte und während meines Lageberichts finster dreinblickte, der nie vollständig war oder schnell genug voranging, um ihn zufriedenzustellen, weil Mitzi fort zu irgendeinem anderen Treffen war. Manchmal fanden die Treffen weit weg statt. Ich wußte, daß eine Menge vor sich ging, in das ich nicht eingeweiht war, während sie versuchten, den rachitischen Plan auszubessern und abzustützen, dem ich mich verpflichtet hatte. Es war schon gut so, daß ich anästhesiert war. Die Pillen hielten zwar nicht vollständig die schweißnassen Alpträume über Einsatztruppen der Kommission für faire Handelspraktiken fern, die mein Büro und meine Schlafstelle in Bensonhurst stürmten, aber sie ließen mich sie überstehen.

Selbst wenn Mitzi da war, berührten wir einander nicht. Der einzige Unterschied dazwischen, Mitzi Bericht zu erstatten und Des Bericht zu erstatten, war, daß sie mich dann und wann »Liebster« nannte. Die Tage verstrichen...

Und dann, eines späten Abends, studierte ich gerade mit einem unserer Kanditaten die traditionellen Schachzüge für Diskussionen ein: die hochgezogene Augenbraue humorvoller Skepsis; die zusammengepreßte Kinnlade der Entschlossenheit; das indignierte Gewitterwolkenstirnrunzeln des Unglaubens - den plötzlichen Blick des Erstaunens und das langsame Wegrücken, als hätte der Gegenspieler gerade anstößig und unverzeihlich einen Wind abgehen lassen. Während ich die Marionette in den verschiedenen herabwürdigenden möglichen Fehlaussprachen des Namens seines Gegenspielers unterwies, kam Mitzi herein. »Laß dich durch mich nicht unterbrechen, Tenny«, rief sie beim Eintreten. Und dann, nachdem sie nähergekommen war, flüsterte sie mir leise ins Ohr, so daß die Marionette es nicht hören konnte: »Aber wenn du fertig bist... Jedenfalls, du arbeitest zu hart, um jede Nacht diese lange Fahrt nach Bensonhurst zu machen. Bei mir ist reichlich Platz.«

Es war, worum ich gebetet haben würde, wenn ich gebetet hätte.

Unglücklicherweise war es nicht sehr befriedigend. Die Pillen hatten nicht nur meine Umwelt eingegraut, sie hatten mich eingegraut. Ich hatte nicht die Leidenschaft, die Begeisterung, den überwältigenden Hunger; ich freute mich, daß wir taten, was wir taten, aber es schien nicht gar so viel zu bedeuten, und Mitzi war nervös und angespannt.

Ich schätze, alte verheiratete Paare machen Zeiten durch, in denen beide müde und gereizt sind - oder, wie ich, völlig ausgepowert -, und das, was sie tun, tun sie, weil sie im Augenblick nichts Besseres zu tun haben.

Tatsachlich schien es, als hätten wir etwas Besseres zu tun. Wir redeten. Wir redeten jede Menge, Kopfkissengeflüster, aber nicht die Art von Kopfkissengeflüster. Wir redeten, weil keiner von uns beiden besonders gut schlief und weil es nach ein bißchen selten sehr befriedigendem Sex besser war, zu reden, als vorzugeben zu schlafen, und auf die Person neben einem zu lauschen, die vorgab, dasselbe zu tun.

Natürlich gab es Dinge, die wir nicht ansprachen. Mitzi erwähnte nie die geheime Hauptmasse des Eisbergs, die mysteriösen Treffen, an denen ich nicht teilnehmen und über die ich nichts wissen durfte. Ich für meinen Teil erwähnte nie wieder meine Zweifel. Daß die Veenie-Verschwörer in einem windigen Plan nicht weiterwußten, war klar. Ich hatte das von dem Augenblick an gewußt, als Des Haseldyne Fragen über limbischen Zwang zu stellen begann. Ich sagte nichts dazu.

Allerdings dachte ich hin und wieder über Gehirnausbrennen nach. Wenn Mitzi aufschrie und im Schlaf zuckte, wußte ich, daß auch sie darüber nachdachte.

Worüber ich in der Hauptsache redete, waren Geheimnisse, die ich verraten konnte. Ich erzählte Mitzi alles, was mir einfiel, das den Veenies helfen konnte, jedes Agenturgeheimnis, das ich je gehört hatte, jede heimliche Botschaftsoperation, jede Einzelheit über den Schlag in der Wüste Gobi. Jedesmal rümpfte sie dann die Nase und sagte etwas wie: »Typische gnadenlose Werbefritzen-Tyrannei«, und dann mußte ich mir irgendwelche andere hochgeheime Information ausdenken, die ich verraten konnte. Sie kennen Scheherazade? Genau das war ich: ich erzählte eine Geschichte jede Nacht, um am nächsten Morgen am Leben zu bleiben, denn ich hatte nicht vergessen, wie entbehrlich ich war.

Natürlich handicapte mich das in auf intimere Weise wichtigen Gebieten.

Aber eigentlich war es nicht alles so. Ich erzählte ihr von meiner Kindheit und wie Mom mit ihren eigenen Händen meine Uniform anfertigte, als ich zu den Junior-Werbetextern kam, und von meiner Schulzeit und meinen ersten Lieben. Und sie erzählte mir - na ja, sie erzählte mir alles. Na ja, wenigstens alles über sich selbst, Nicht so viel darüber, was meine Mitverschwörer vorhatten, aber das erwartete ich auch nicht. »Mein Daddy-San kam mit dem ersten Schiff zur Venus«, pflegte sie zu sagen, und ich pflegte zu wissen, daß sie mir diese Dinge erzählte, um das Risiko zu vermeiden, mir irgend etwas Gefährliches zu erzählen.

Trotzdem war es interessant. Mitzi hatte eine große Schwäche für ihren Daddy-San. Er war einer aus der Bande der selbstgerechten revolutionären Konservationisten des alten Mitchell Courtenay gewesen, die die Gehirnwäscherei und das Leutemanipulieren der merkantilen Gesellschaft so haßten, daß sie aus dem Fegefeuer der Erde in die flammende Hölle der Venus sprangen. Wenn sie mir von Daddy-Sans Geschichten aus der Anfangszeit erzählte, klang es wirklich wie ein Klon der Hölle selbst. Und ihr Vater war kein großes Rad im Getriebe gewesen. Nur ein junger Bursche. Seine Hauptarbeit schien darin zu bestehen, mit bloßen Händen Löcher auszuheben, in denen man leben konnte, und Schmutzwasser aus dem Schiff zu tragen, um es zwischen den Arbeitsschichten zu vergraben. Während die Bautrupps die ersten großen Hilsch-Röhren zusammenbauten, um den größten Aktivposten anzuzapfen, über den die Venus verfügte - die gewaltige Energie in ihren heißen, dichten, tobenden Winden -, wechselte Daddy-San Windeln für die erste Generation von Babys in den Kinderzimmern. »Daddy« sagte sie mit feuchten Augen, »war nicht nur ein unerfahrener junger Bursche, er war auch ein körperliches Wrack. Zu viel Junk-Food, als er klein war, und dann war etwas mit seinem Rückgrat nicht in Ordnung, das nie behoben wurde - aber er ließ sich dadurch niemals abhalten, sein Bestes zu tun!«

Irgendwann während der Zeit, als man damit anfing, Atombomben über tektonischen Verwerfungen zu zünden, um Vulkane zu erzeugen, nahm er sich genug Zeit zu heiraten und Mitzi in die Welt zu setzen. Das war auch, als er befördert wurde und in der Folge starb. Die ganze Idee bei den Vulkanen war natürlich, daß sie die beste Möglichkeit darstellten, die die Veenies hatten, um den unterirdischen Sauerstoff und Wasserdampf dort hinaufzuholen, wo sie sie gebrauchen konnten. Daher sind auch die ganzen Ozeane und die Luft der Erde gekommen, aber die Venus konnte sie nicht so verschwenden, wie die frühe Erde es getan hat, weil man es sich nicht leisten konnte, vier Milliarden Jahre auf die Ergebnisse zu warten. Also mußten die Vulkane mit Kappen abgedeckt werden, »Das war eine harte und gefährliche Arbeit«, sagte Mitzi, »und als etwas schiefging und eine der Kappen in die Luft flog, flog mein Daddy-San mit in die Luft. Ich war drei Jahre alt.«

Ausgepowert, erschöpft, übermüdet wie ich war, rührte sie an mein Herz. Ich streckte die Hand nach ihr aus.

Sie drehte sich weg, »Das ist es, was Liebe für mich bedeutet«, sagte sie in ihr Kopfkissen. »Man liebt jemanden, und man wird verletzt. Nachdem Daddy-San gestorben war, verwendete ich meine ganze Liebe auf die Venus - ich wollte nie wieder einen anderen Menschen lieben!«

Nach einem Augenblick stand ich unsicher schwankend auf. Sie rief mich nicht zurück.

Die Morgendämmerung brach an; genausogut konnte ich in diesen nächsten schlimmen Tagen eintreten. Ich setzte etwas von ihrem »Kaffee« auf und starrte aus dem Fenster auf die smogige, große Stadt mit ihren wimmelnden Werbefritzen und fragte mich, was ich mit meinen Leben machte. In körperlicher Hinsicht war die Antwort einfach; ich ruinierte es. Die schwache Reflexion im Glas zeigte, wie mit jedem Tag mein Gesicht dünner, meine Augen flackernder und hohler wurden. Hinter mir sagte sie: »Schau dich nur gut an, Tenny. Du siehst schrecklich aus.«

Langsam wurde ich es müde, das zu hören. Ich drehte mich um. Sie saß aufrecht im Bett, die Augen auf mich gerichtet. Sie hatte ihre Kontaktlinsen noch nicht eingesetzt. Ich sagte: »Mitz, Liebling, es tut mir leid...«

»Langsam werde ich es müde, das zu hören!« fuhr sie mich an, als hätte sie meine Gedanken gelesen. »Dir tut es leid, na schön! Du bist so ziemlich das selbstmitleidigste Exemplar Mensch, das ich je gesehen habe, Tenny! Du wirst mir noch unter den Händen wegsterben!«

Ich blickte aus dem Fenster, um festzustellen, ob irgend jemand in der schmutzigen, alten Stadt mir eine Antwort darauf liefern würde. Niemand tat es. Da das, was sie sagte, durchaus wie eine glaubhafte Möglichkeit erschien, schien es die beste Methode zu sein, ihre Bemerkung auf sich beruhen zu lassen.

Aber Mitzi wollte sie nicht auf sich beruhen lassen. »Du wirst an diesen verdammten Pillen sterben«, sagte sie wütend, »und dann werde ich auch noch gottverdammte Trauer zu meiner gottverdammten Sorge und meiner gottverdammten Angst haben.«

Ich ging zum Bett zurück, um besänftigend ihre nackte Schulter zu berühren. Sie war nicht besänftigt. Sie funkelte zu mir auf wie eine gefangene Wildkatze.

Langsam nutzte sich die Anästhesie ab.

Ich griff nach meiner Morgenpille und warf sie ein, während ich darum betete, daß sie mir dieses eine Mal Auftrieb statt einer Betäubung gäbe, daß sie mir die Weisheit und das Mitgefühl gäbe, ihr auf eine Art und Weise zu antworten, die ihren Schmerz linderte. Weisheit und Mitgefühl stellten sich nicht ein. Ich tat das beste, was ich konnte mit dem, was mir zur Verfügung stand; ich sagte beschwichtigend: »Mitz, vielleicht ziehen wir uns besser an und gehen an die Arbeit, bevor wir etwas sagen, das wir nicht sagen sollten. Wir sind beide ziemlich fertig, vielleicht kriegen wir heute nacht ein bißchen Schlaf...«

»Schlaf!« zischte sie. »Schlaf! Wie kann ich schlafen, wenn ich alle Viertelstunde aufwache, weil ich denke, die Gorillas vom Amt für fairere Handelspraktiken brechen die Tür auf!«

Ich zuckte zusammen. Ich hatte die gleichen Alpträume; ich dachte viel ans Gehirnausbrennen. Mit unsicherer Stimme sagte ich: »Ist es das nicht wert, Mitz? Wir lernen uns richtig kennen...«

»Ich weiß mehr über dich, als ich mir wünsche, Tenny! Du bist ein Süchtiger. Du bist ein körperliches Wrack. Du bist nicht mal gut im Bett...«

Und an dieser Stelle hielt sie inne, denn sie wußte genausogut wie ich, was das bedeutete. Das war das todbringende Wort. Danach gab es nichts mehr zu sagen als: »Es ist aus zwischen uns.« Und angesichts der besonderen Umstände unserer Beziehung gab es nur einen Weg, um sie zu beenden.

Ich wartete auf die nächsten Worte, die sein mußten: »Verschwinde von hier! Verschwinde aus meinem Leben!« Nachdem sie mich hinausgeworfen hatte, dachte ich geistesabwesend, würde es der beste Plan sein, direkt zum Raketenflughafen zu fahren, so weit zu fliegen, wie mein Geld reichte, und in den wimmelnden Verbrauchermassen in Los Angeles oder Dallas oder sogar noch weiter weg unterzutauchen. Möglicherweise würde Des Haseldyne mich nicht finden. Ich konnte vielleicht einfach die nächsten Monate abwarten, während der Coup entweder gelang oder nicht. Danach wurde es natürlich haarig - egal, welche Seite gewann, die Sieger würden bestimmt kommen und nach mir suchen...

Ich bemerkte, daß sie diese Worte nicht gesagt hatte. Sie saß aufrecht im Bett und horchte aufmerksam auf ein leises Geräusch von der Tür her. »O mein Gott«, sagte sie voller Verzweiflung, »sieh nur auf die Uhr, sie sind da!«

Tatsächlich war jemand an Tür von Mitzis Wohnung. Sie wurde nicht aufgebrochen. Sie wurde mit einem Schlüssel geöffnet, also waren es nicht die Sturmtruppen von den Fairen Handelspraktiken.

Es waren drei Personen. Eine davon war eine Frau, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Die anderen beiden waren zwei Leute, die, darauf hätte ich alles verwettet, was ich besaß, die denkbar letzten Leute gewesen wären, um auf diese Weise in Mitzis Wohnung zu kommen: Val Dambois und der Alte.

Als ich sie sah, war ich nur verblüfft. Sie hingegen waren wie vom Donner gerührt und außerdem wütend. »Verdammt, Mitz!« schäumte Dambois. »Jetzt ist es also passiert! Was macht dieser Moke-Kopf hier?«

Ich hätte ihm erklären können, daß ich genaugenommen kein Moke-Kopf mehr war. Ich versuchte es erst gar nicht. Ich verwendete all meine erschütterten und entsetzten Gedanken darauf, was ihre Anwesenheit hier bedeutete. Ich hätte auch sowieso keine Chance gehabt, es ihm zu erklaren, denn der Alte hob eine Hand. Sein Gesicht war wie Granit. »Sie, Val«, befahl er. »Bleiben Sie hier und behalten Sie ihn im Auge. Ihr anderen kommt mit.«

Ich sah zu, wie sie gingen, Mitzi und der Alte und die Frau bei ihnen - klein, untersetzt, und das, was sie gemurmelt hatte, als sie mich erblickte, schien einen Akzent gehabt zu haben. »Sie ist von RussCorp, nicht wahr?« fragte ich Dambois, und er gab mir die Antwort, die ich erwartete. Er knurrte:

»Maul halten. «

Ich nickte. Er mußte es mir nicht bestätigen. Allein die Tatsache, daß er und der Alte sich auf diese Weise in Mitzis Wohnung schlichen, verriet mir alles, was ich wissen mußte. Die Verschwörung war erheblich umfangreicher, als Mitzi zugeben hatte. Und erheblich älter. Wie hatte der Alte seinen Reichtum bekommen? Durch die Venus. Durch eine »Lotterie«, in der er »zufällig« gewonnen hatte. Wie hatte Mitzi ihren bekommen? Durch eine »Schadenersatzzahlung« für den »Unfall«. Und wie Dambois? Durch »Handelsgewinne«. Alles von der Venus. Alles unüberprüfbar durch irgend jemanden auf der Erde.

Alles für denselben Zweck benutzt.

Und wenn RussCorp darin verwickelt war, betraf es nicht nur Amerika. Ich mußte annehmen, daß es weltweit war. Ich mußte annehmen, daß für jede Krume an Information, die Mitzi so zögernd preisgegeben hatte, ein ganzer verborgener Laib dahinter stand. »Es spricht manches dafür, daß Sie mir trauen können«, erwähnte ich Dambois gegenüber. »Schließlich habe ich bisher niemandem ein Wort gesagt.« Und natürlich antwortete er nur mit: »Maul halten.«

»Ja«, sagte ich nickend. »Ach, haben Sie etwas dagegen, wenn ich mir noch ein bißchen Kaffee nehme?«

»Stillsitzen«, schnappte er, dann dachte er einen Augenblick darüber nach. Widerstrebend fügte er hinzu: »Ich hole ihn für Sie, aber Sie bleiben hier.« Er ging hinüber zur Kanne, aber er ließ keine Sekunde die Augen von mir - weiß der Himmel, was er erwartete. Ich rührte mich nicht. Ich saß still, ganz wie befohlen, und horchte auf das An- und Abschwellen lauter Stimmen aus Mitzis Schlafzimmer. Ich konnte die Worte nicht verstehen. Andererseits brauchte ich das auch nicht; ich war mir ziemlich sicher, zu wissen, worüber sie diskutierten.

Als sie herauskamen, betrachtete ich forschend ihre Gesichter. Sie waren alle ernst. Mitzis war undurchdringlich. »Wir haben eine Entscheidung gefällt«, sagte sie düster. »Setz dich und trink deinen Kaffee, und ich werde dich darüber informieren.«

Nun, das war der erste Hoffnungsstrahl in einer sonnenlosen Lage. Ich hörte aufmerksam zu. »In erster Linie«, sagte sie langsam, »ist das hier meine Schuld. Ich hätte dich schon vor einer Stunde hier herausschaffen sollen. Ich wußte, daß sie zu einem Treffen kommen würden.«

Ich nickte, um anzuzeigen, daß ich zuhörte, und warf zugleich rasche Blicke um mich, um ihre Mienen zu taxieren. Keine von ihnen war aufschlußreich. »Ja?« fragte ich intelligent.

»Also wäre es falsch, moralisch falsch«, sagte sie, und jedes Wort kam in abgegrenzten Intervallen heraus, als wöge sie jedes einzeln ab, »zu sagen, irgend etwas von dem hier sei deine Schuld.« Sie hielt inne, als warte sie auf eine Reaktion von mir.

»Danke«, sagte ich, nervös meinen Kaffee schlürfend. Aber sie sprach nicht weiter. Sie fuhr nur fort, mich zu betrachten, und komisch, der Ausdruck auf ihrem Gesicht veränderte sich nicht, wohl aber ihr Gesicht selbst. Es verschwamm. Die Züge liefen zusammen. Der ganze Raum verdunkelte sich und schien zusammenzuschrumpfen... Es kostete mich diese ganze Zeit, zu bemerken, daß der Kaffee ein ganz kleines bißchen merkwürdig geschmeckt hatte.

Und ach, wie wünschte ich mir, niemals diese Selbstmordankündigung geschrieben zu haben! Ich wünschte es mir angestrengt und mit jeder Faser meines Wesens, unmittelbar bis an den Punkt, wo meine Wünsche völlig zu funktionieren aufhörten und auch meine Augen und auch meine Ohren und schließlich - in der Mitte eines stummen Entsetzensschreis, der inständig um eine weitere Chance bat, um einen Tag länger zu leben bettelte - auch mein Gehirn.

Die Welt war fort und hatte mich zurückgelassen.


II

Sogar dann noch muß Mitzi hart für mich gekämpft haben. Was sie mir heimlich in den Kaffee getan hatten, war am Ende doch nicht tödlich gewesen. Es hatte mich nur eingeschläfert, tief und hilflos schlafen lassen für sehr lange Zeit.

In meinem Traum schrie jemand: »Erster Aufruf - fünf Minuten«, und ich wachte auf.

Ich war nicht mehr in Mitzis Wohnung. Ich war in einer winzigen, spartanischen Zelle mit einer einzigen Tür und einem einzigen Fenster, und vor dem Fenster war es dunkel.

Nachdem ich einmal dahin gekommen war, an die befremdliche Tatsache zu glauben, daß ich noch am Leben war, sah ich mich um. Ich war nicht gefesselt, stellte ich zu meiner Verwunderung fest, und ich schien auch nicht kürzlich zusammengeschlagen worden zu sein. Ich lag leidlich bequem auf einem schmalen Feldbett, mit einem Kissen und einer über meinen irgendwie entkleideten Körper geworfenen leichten Decke. Neben dem Bett stand ein Tisch. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit einer Art Haferflocken und einem Glas Vita-Frucht, und zwischen ihnen lag ein Umschlag von der raffinierten Sorte, wie man sie für hochgeheime Agenturbotschaften benutzt. Ich öffnete ihn und las sie rasch, im Wettlauf gegen die Zeit. Sie lautete:

Tenny, Liebster,

Du bist für Dich oder uns als Süchtiger nichts wert. Wenn Du die Entgiftung überlebst, werden wir uns wieder unterhalten.

Viel Glück!

Es gab keine Unterschrift, aber es gab ein P. S.:

Wir haben Leute im Zentrum, um zu berichten, wie Du Dich machst. Ich sollte Dir wohl sagen, daß sie autorisiert sind, selbständige Schritte zu unternehmen.

Einen Augenblick lang grübelte ich darüber nach, was die Worte »selbständige Schritte« bedeuten mochten - einen Augenblick zu lange, denn das Trickpapier versengte mir die Finger, als es das tat, was von ihm erwartet wurde, und sich selber zu zerstören begann. Hastig ließ ich die schwelende Asche fallen und sah mich in dem Raum um.

Er bot nicht viel an Informationen. Die Tür war abgeschlossen. Das Fenster war aus bruchsicherem Glas und hermetisch verriegelt. Offensichtlich wollte dieses Zentrum nicht, daß ich mich vor dieser Entgiftungskiste davonmachte. Es war alles ziemlich bedrohlich, und es gab keine grünen Pillen, um die Gefühle zu betäuben. Immerhin gab es Essen, und ich war am Verhungern. Offensichtlich hatte ich ein paar Mahlzeiten verschlafen. Ich griff gerade nach dem Vita-Frucht, als die Hölle losbrach. Die schreiende Stimme aus meinem Traum war gar kein Traum. Jetzt gellte sie: »Letzter Aufruf - alle raustreten!« Sie war nicht allein. Unterstützt wurde sie von Sirenen und Hupen, um sicherzustellen, daß ich auch gehört hatte; das Türschloß öffnete sich klickend, und rennende Füße auf den Fluren begleiteten ein Hämmern gegen jede Tür. »Raus!« gellte ein einzelnes lebendes menschliches Wesen, während es wild hereinstarrte und ruckweise einen riesigen Daumen bewegte.

Ich sah keinen Grund, mich deswegen mit ihm zu streiten, weil er wenigstens zwei Nummern größer war als Des Haseldyne.

Er trug einen blauen Jogginganzug. Das taten auch ungefähr ein Dutzend andere, die, die das ganze Geschrei machten. Obwohl ich im letzten Augenblick ein paar Shorts gefunden und sie mir geschnappt hatte, fühlte ich mich hoffnungslos unzulänglich gekleidet - aber nicht nur ich allein; neben den Jogginganzug-Typen gab es noch ein paar Dutzend anderer menschlicher Wesen, die alle so mangelhaft angezogen wie ich aus dem Gebäude strömten und wenigstens ebenso unglücklich wirkten. Sie jagten uns hinaus in die schweißige, smogige Luft (es war immer noch dunkel, auch wenn jetzt in einer Ecke des Himmels ein ermutigendes rötliches Glühen war), und dort drängten wir uns zusammen und warteten, daß man uns sagte, was wir tun sollten. Es war, dachte ich, wie der schlimmste Teil der Grundausbildung.

Das war falsch. Es war erheblich schlimmer als jede Grundausbildung. Eine Grundausbildung beginnt ihren Verarbeitungsprozeß für gewöhnlich mit einigermaßen gesundem Rohfleisch. Unter meinen Leidensgenossen war nichts dergleichen in Sicht. Sie kamen in allen Formen und Größen daher, außer gut. Da gab es eine Frau, die mehr als dreihundert Pfund wiegen mußte, und ein paar andere beiderlei Geschlechts, die vielleicht weniger wogen, das aber dadurch ausglichen, daß sie ein ganzes Stück kleiner waren, so daß sie geradezu unanständig über ihren Gürteln schwollen. Da gab es Vogelscheuchen, magerer als ich und wenigstens ebenso kaputt. Da gab es ältliche Männer und Frauen, die nicht hoffnungslos unmenschlich aussahen, außer daß sie Tics hatten, die sie nicht kontrollieren konnten - Hand an den Mund, Hand an den Mund, wieder und wieder in endlos wiederholten Gesten des Rauchens, Essens, Trinkens. Aber sie hatten nichts in der Hand. Und, ach ja, es regnete.

Die Jogger schubsten und nörgelten uns zu einer unordentlichen Art von Klumpen in der Mitte eines weiten, von niedrigen, kasernenartigen Gebäuden umgebenen Zementgevierts zusammen. Über der Tür des Gebäudes, aus dem wir gerade gekommen waren, prangte ein Schild:

Heilstätte für akut Suchtkranke

Abteilung Entgiftungsanstrengungen

Einer der Ausbilder blies dicht neben meinem rechten Ohr in eine Pfeife. Als das Geräusch aufgehört hatte, in meinem Schädel herumzuspringen, sah ich, daß eine Amazone im gleichen Jogginganzug wie die anderen, aber mit einem auf die Jacke aufgenähten goldenen Abzeichen, auf uns zustolzierte. Sie sah uns mit heftiger Gemütsbewegung an. »Gott«, bemerkte sie zu dem Irren mit der Pfeife, »sie werden jeden Monat schlimmer. Okay, ihr!« brüllte sie, während sie auf eine Kiste kletterte, um uns besser zu sehen, und ihren Befehlen mit einem Schmettern ihrer eigenen Pfeife Nachdruck verlieh, das beinahe meine Schädeldecke abtrennte und sie über die Kasernen davonwirbeln ließ. »Aufgepaßt! Seht ihr dieses Schild? "Abteilung Entgiftungsanstrengungen". Das entscheidende Wort ist Anstrengungen. Wir unternehmen Anstrengungen. Ihr werdet auch Anstrengungen unternehmen, das verspreche ich euch. Aber trotz all unserer Anstrengungen werden wir in der Regel scheitern. Die Statistiken sagen das. Von zehn von euch werden vier clean hier wieder rauskommen - und dann binnen eines Monats wieder süchtig werden. Drei werden behindernde physische oder psychoneurotische Symptome entwickeln und eine ausgedehntere Behandlung benötigen - und ausgedehnter bedeutet dabei für gewöhnlich den Rest eures Lebens, der oft kurz ist. Und zwei von euch werden nicht einmal den Kurs überstehen.« Sie grinste freundlich - ich nehme jedenfalls an, sie hielt es für freundlich. Ich war sechs Stunden über meine letzte Pille hinaus, und selbst die heilige Mutter Gottes wäre mir in diesem Augenblick nicht freundlich erschienen.

Ein erneutes zermalmendes Schmettern auf der Pfeife. Sie hatte einen Augenblick innegehalten, und sie wollte nicht, daß wir tagträumten, »Eure Behandlung«, sagte sie, »zerfällt in zwei Phasen. Die erste Phase ist die unangenehme. Da setzen wir euch nach und nach auf Minimaldosis, päppeln euch zui Erhöhung der Widerstandskraft auf, drillen euch, um die Muskelspannkraft zu entwickeln, bringen euch neue Verhaltensweisen bei, um eure Körperbewegungsmuster aufzubrechen, die eure Sucht verstärken - und ein paar andere Dinge - und das fängt jetzt an. Runter auf eure Bäuche, alle miteinander für fünfzig Liegestütz - und dann runter mit den Klamotten und unter die Duschen!«

Fünfzig Liegestütz. Wir blickten uns in jener dunklen, schwulen Dämmerung ungläubig an. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben fünfzig Liegestütz gemacht, und ich glaubte auch nicht, daß das möglich sei... bis ich herausfand, daß es keine Duschen, kein Frühstück, kein Verlassen des Exerzierplatzes - und vor allem, keine Pillen - geben würde, bis sie absolviert waren.

Es wurde möglich, sogar für die Dreihundertpfünder.

Die Dame hatte nicht gelogen. Phase Eins war unangenehm, o ja. Die einzige Methode, mit der ich mich durch jede elende Stunde zwingen konnte, war, daß ich an die gesegnete grüne Pille dachte, die am Ende des Tages wartete. Sie nahmen mir die Pillen nicht weg; sie ließen sie mich nur verdienen. Und das Scheußliche war, daß die Belohnung umso geringer ausfiel, je besser ich im Verdienen wurde. Am dritten Tag hatten sie begonnen, das Ende von den Pillen abzuschaben; am sechsten Tag schnitten sie sie halb durch. Drei von uns litten unter starker Pillensucht infolge von Mokemißbrauch. Die anderen hatten jede nur vorstellbare Sucht, Die dicke Dame, die, wie sich herausstellte, Marie hieß, war auf Junk-Food; sie schnaufte wie eine Dampforgel, wenn sie über den Hinderniskurs ging, aber sie ging - denn es führte kein anderer Weg zum Speisesaal. Ein dunkler kleiner Mann namens Jimmy Paleologue war selbst Campbell-Techniker gewesen, durch die Armee von seiner Agentur ausgeliehen, um den Maoris auf Neuseeland zivilisierte Sitten beizubringen. Er war viel zu klug, um selbst von Campbellschen Stimuli eingefangen zu werden, war aber unerklärlicherweise auf eine kostenlose Probierportion Coffiest hereingefallen. »Sie war mit einem Lotterielos gekoppelt«, erklärte er blöde, während wir auf dem schlammigen Boden lagen und zwischen Kniebeugen und Seilklettern keuchten. »Der erste Preis war eine Drei-Zimmer-Wohnung, und ich dachte daran, zu heiraten...« Zittrig und elend, am Ende eines Fünf-Kilometer-Laufes kaum noch in der Lage, sich vorwärtszuschleppen, dachte er nicht mehr daran.

Das Zentrum befand sich in einem der äußersten Vororte, einem Ort namens Rochester, und früher einmal war es ein Universitätscampus gewesen. Die Gebäude trugen noch die alten, in die Betonwände eingegrabenen Beschriftungen - Psychologisches Institut, Wirtschaftswissenschaften, Angewandte Physik und so weiter. Am Fuße des Campus leckte eine matschige Flüssigkeitsfläche, und so weit es die physikalische Umwelt anging, war das der schlimmste Teil. Sie nannten es den »Ontariosee«. Wenn der Wind von Norden kam, haute der Gestank einen um. Ein paar von den alten Gebäuden waren Kasernen, ein paar Therapieräume, ein Speisesaal, Büros; aber es gab auch einige am Rande des Campus, zu denen wir keinen Zutritt hatten. Sie waren nicht leer. Ab und zu konnten wir flüchtige Blicke auf so elende, armselige Geschöpfe wie uns selbst werfen, die hinein- und hinausgetrieben wurden, aber wer immer sie waren, wir verkehrten nicht miteinander. »Tenny«, keuchte Marie und stützte sich auf mich, als wir an ihnen zur nachmittäglichen Therapie vorüberstrebten, »was glaubst du, tun die hier drin?« Eine Frau in einem rosa Jogginganzug - sogar ihre Instruktoren unterschieden sich von unseren - lehnte sich aus der Tür eines der Gebäude, um uns anzustarren, während sie etwas in die Mülltonne warf. Als sie wieder nach drinnen ging, zog ich Marie hinüber.

»Wollen doch mal nachsehen«, sagte ich und bückte mich um, um sicherzugehen, daß kein Blauanzug in der Nähe war. Ich glaubte nicht, daß irgendwelche weggeworfenen grünen Pillen unter dem Müll sein würden, und ich bin mir sicher, daß Marie nicht erwartete, irgendwelche Extrabissen Nahrung zu finden. Zu unserer Enttäuschung behielten wir recht. Alles, was wir entdeckten, waren ein Paar goldfarbener Schühchen und eine gesprungene Spielzeugpistole mit Pseudoelfenbeingriff. Mir sagten sie nichts, aber Marie stieß ein jähes Quäken aus.

»O, mein Gott, Tenny, das sind Sammlerstücke! Meine Schwester hatte welche davon! Das hier gehört zu den authentischen Miniaturnachbildungen bronzierter Babyschuhe von Gangstern des zwanzigsten Jahrhunderts - der ist von Bugs Moran, glaube ich -, und ich bin mir fast sicher, daß das andere aus der Lerne Star Scrimshaw-Handwaffensammlung ist. Was sie da drinnen betreiben, ist Aversionstherapie - zuerst sorgen sie dafür, daß man aufhört, es zu brauchen, und dann bringen sie einen dazu, es zu hassen! Könnte das Phase Zwei sein?«

Und dann das Bellen des Instruktors hinter uns: »Na schon, ihr beiden Wandervögel, wenn ihr Zeit habt, rumzustehen und zu schwatzen, habt ihr auch Zeit für ein paar Extraliegestütz. Zeigt mir mal fünfzig, jetzt auf der Stelle. Und immer schön flink, denn ihr wißt ja wohl, was passiert, wenn ihr zu spät zur Therapie kommt!«

Wir wußten es.

Wenn ich keine Gymnastik machte oder den Kopf zurechtgerückt bekam, aß ich - alle zehn Minuten, wie es mir schien. Einfaches Essen, gesundes Essen, wie Broht und ÄchtFlaisch und Algensaft, und keine Widerrede. Ich aß meinen Teller jedesmal leer, oder es hieß, Sie haben's bestimmt schon erraten, fünfzig weitere Liegestütz zum Nachtisch. Nicht, daß fünfzig Extraliegestütz so sehr viel ausmachten. Ich machte vier- oder fünfhundert am Tag, dazu Kniebeugen und Rumpfbeugen im Stehen und im Sitzen und vierzig Runden am Tag im Schwimmbecken. Es war nur genug Platz vorhanden, daß immer drei von uns nebeneinander schwimmen konnten, und sie richteten die Vorgaben so ein, daß wir drei im Können ziemlich gleich waren - raten Sie, was der Verlierer bekam? Natürlich, was denn sonst? Die vierzig von uns verringerten sich auf einunddreißig, auf fünfundzwanzig, auf zweiundzwanzig... Die, die mich am härtesten traf, war Marie. Sie hatte tatsächlich schon an die vierzig Pfund verloren und fing gerade an, fähig zu sein, ihre »Mahlzeiten« zu essen - Vitamine und Proteinriegel, und nicht viele davon -, ohne zu wimmern, als sie am zwölften Tag beim Hinaufkrabbeln der Netze keuchte und würgte und zu Boden rollte. Sie war tot. Nicht permanent tot zwar, weil sie den Herzschocker herausrollten und sie schnellstens in einem dreirädrigen Krankenwagen mit Luftbereifung wegbrachten, aber zu tot, um in unsere Gruppe zurückzukehren.

Und die ganze Zeit über kribbelten meine Nerven im Innern meiner Haut, und was ich mehr als alles andere wollte, war, dem Medikationsbruder eins über den Schädel zu hauen, ihm seine Schlüssel wegzunehmen und in das verschlossene Schränkchen mit den langen grünen Pillen zu gelangen.

Aber ich tat es nicht.

Das Merkwürdige nämlich war, daß ich mich nach zwei Wochen, auf eine Kapsel von einem Viertel der bisherigen Stärke heruntergesetzt, wirklich ein bißchen besser zu fühlen begann. Nicht gut. Nur weniger schlecht, weniger kaputt, weniger Jesus-ich-würde-für-eine-Kaspel-töten. »Falsches Wohlbefinden«, keuchte Paleologue weise, als ich es ihm erzählte. Wir waren gerade aus dem Schwimmbecken heraus und warteten darauf, unseren Drei-Kilometer-Lauf zu beginnen. »Du erreichst diese zeitweiligen Plateaus, aber sie bedeuten nichts. Ich habe euch Campbell-Syndrom-Leute schon früher erlebt...«

Und ich lachte ihn aus. Ich wußte es besser; es war mein Körper, oder etwa nicht? Ich konnte sogar Zeit erübrigen, um an etwas außer den langen grünen Pillen zu denken - kam einmal sogar so weit wie bis zur Warteschlange an dem einen öffentlichen Telefon, mit der festen Absicht, Mitzi anzurufen.

Und das hatte ich auch, wenn mich nicht einer dieser Übelkeitsanfälle zum Gemeinschaftsabtritt getrieben hätte, und dann blieb keine Zeit mehr, noch einmal die Schlange durchzustehen.

Und zwei weitere Wochen vergingen, und das war das Ende von Phase eins. Des unangenehmen Teils.

Ich Narr. Ich hatte unseren Instruktor nicht gefragt, wie der zweite Teil sein würde. Ich hatte zum Glück hoffnungsvoll angenommen, daß, wenn Phase Eins als unangenehm beschrieben wurde, sich Phase Zwei am besten als wenigstens okay beschreiben lassen wurde.

Das war, bevor ich die Aversionstherapie und den endgültigen Entzug kennenlernte und herausfand, daß Phase zwei bestimmt nicht das war, was man unangenehm nennen würde. Sie war viel mehr als unangenehm. Der beste Ausdruck, der mir dafür einteilt, ist schlicht und einfach: die reinste Hölle.

Ich glaube, daß ich nicht mehr über Phase Zwei sprechen möchte, denn jedesmal, wenn ich das tue, fange ich an zu zittern; aber ich überstand sie. So wie die Gifte aus meinem Körper verschwanden, schienen sie auch aus meinem Kopf zu verschwinden. Als der Direktor mir die Hand schüttelte und mich in eine Rakete zurück in die Welt setzte - diesmal bei Bewußtsein -, fühlte ich mich - immer noch nicht gut - eher traurig als gut - eher wütend als traurig - aber vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben vernünftig.

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