Tarbs Sturz

I

Ich wußte, daß ich diese Reservepapiere im College nicht hatte unterzeichnen sollen, aber wer konnte denn ahnen, daß sie es ernst nehmen würden? Wenn Sie zehn Jahre alt sind, schließen Sie sich den Junior-Werbetextern an. Wenn Sie fünfzehn sind, ist es die Kleine Merchandising-Liga. Im College ist es die Reserve. Jeder tut es. Es gibt zwei Gutpunkte pro Semester, und man muß nicht Englische Literatur belegen. Alle smarten Studenten entdeckten es als Blitzkurs.

Aber für jemanden, der Pech gehabt hatte, jemanden wie mich, war es gar nicht mehr so smart...

Wenn ich einen klaren Kopf bewahrt hätte, hätte ich einen Weg zu entkommen gefunden - vielleicht Mitzi aufsuchen und um einen Job kriechen - vielleicht einen netten Arzt finden, der mir half, bei der Tauglichkeitsuntersuchung durchzufallen. Vielleicht Selbstmord. Was ich dann tatsächlich tat, lag am dichtesten bei Option 3. Ich ging auf eine Moke-Sauftour, spritzte das Zeug mit Vodd-Quor und wachte auf einem Truppentransport auf. Ich hatte nicht die geringste Erinnerung daran, mich zum Dienst gemeldet zu haben, und kaum eine an das, was sich als die achtundvierzig Stunden davor herausstellte. Ein totaler Blackout.

Und ein totaler Kater. Mir blieb keine Zeit, die unerquicklichen Nöte des Reisens nach Militärart zu würdigen, weil ich zu sehr von den innerlichen Nöten meines eigenen Kopfes in Anspruch genommen war. Ich war gerade wieder fähig, die Augen zu öffnen, ohne auf der Stelle zu sterben, als sie mich und fünfhundert andere in Camp Rubicam, Norddakota, zu einem zweiwöchigen Auffrischuagslehrgang für Offiziere ausluden. Er bestand hauptsächlich daraus, daß uns gesagt wurde, wir täten die ehrenwerteste Arbeit der Gesellschaft, plus Drill in geschlossener Ordnung. Dann hieß es, packt eure Tastatur ein, hängt euren Diskettentornister um, alle an Bord für eine Felddienstübung.

Felddienstübung - Ich würde äußerst ungern einen richtigen Krieg mitmachen.

Der erste Truppentransport war die reinste Hölle gewesen. Dieser war fast genauso, nur daß er viele Stunden länger dauerte und ich ihn stocknüchtern überstehen mußte. Kein Essen. Keine Toiletten. Kein Platz zum Beinevertreten außerhalb des Kokons, in dem man "ruhen" sollte. Nichts zu trinken außer Wasser - und das Wasser war so dicht an schierster Ozean-Salzbrühe, wie man gehen konnte, ohne tatsächlich das Gesetz zu brechen. Das schlimmste aber war, daß wir nicht wußten, wie lange es dauern würde. Einige glaubten, es ginge den ganzen Weg bis nach Hyperion, um den Arbeitern in den Gasgruben eine Lektion zu erteilen. Ich hätte das vielleicht auch gedacht, wenn der Transporter nicht nur Tragflächen und Strahlrohre gehabt hätte. Keine Raketen. Keine Raumfahrt demnach; also mußte es irgendwo auf der Erde sein.

Aber wo? Die Gerüchte, die durch die stinkende Luft von Koje zu Koje schwirrten, sagten Australien - nein; Chile - nein, mit Sicherheit nein; jemand hatte gehört, wie der Wachoffizier zum Flugingenieur definitiv Island gesagt hatte.

Am Ende landeten wir in der Wüste Gobi.

Mit unserem Gepäck und unseren platzenden Blasen drängten wir uns aus dem Transporter und stellten und zum Abzählen in einer Reihe auf. Als erstes bemerkten wir, daß es heiß war. Als zweites, daß es trocken war. Ich meine nicht die durchschnittliche Trockenheit sommerlicher Hitzeperioden, ich meine trocken. Der Wind blies feinen Staub überall hin. Er kam einem zwischen die Finger. Wenn man den Mund geschlossen hielt, kam er einem sogar zwischen die Zähne, und sobald man den Unterkiefer bewegte, knirschte er. Sie brauchten eine Stunde für das Köpfeabzählen, und dann luden sie uns in zehnachsige Truppentransporter und zogen uns über staubige weiße Straßen zu unseren Quartieren.

Technisch gesehen ist die Gegend als Autonome Region Xinjiang Uygur bekannt, aber jeder nannte sie »das Reservat«. Hier war es, wo eine der letzten übriggebliebenen Gruppen noch nicht befriedeter Ureinwohner lebte, Uygurten und Hui und Kazaken, diejenigen, die nie den Übergang in die Marktgesellschaft geschafft hatten, als das restliche China dazustieß.

Überall um sie herum herrscht Zivilisation. Im Norden liegt RussCorp, im Süden Indiastries und vor ihren Toren der ganze China-Han-Komplex. Aber diese eifrigen kleinen Winzlinge sitzen einfach da und machen ihren eigenen Kram. Während wir dahinrollten, hustend und würgend, sahen wir die Männer in einem Kreis mitten auf den Seitenstraßen hocken, ohne ein einziges Mal zu uns aufzuschauen. Die Verwahrlosung war erschütternd. Ihre Schlammhütten zerbröckelten rings um sie herum, aber auf dem Hinterhof trocknete schon wieder ein Stapel Schlammziegel, um für den Bau des nächsten Hauses bereit zu sein, wenn dieses zusammenfiel. Vor der Hausfront lag ein rostiger alter Satellitenteller, der keine anständigen Bilder mehr machen konnte... und immer waren da die Kinder, zu Hunderten, die lachten und uns zuwinkten - was hatten sie denn, um darüber glücklich zu sein? Nicht ihre Behausungen sicherlich. Ganz bestimmt nicht, nachdem wir daherkamen und die; besten davon requirierten - was, wie ich vermute, einmal eine Reihe von Touristenhotels gewesen war (stellen Sie sich vor, da führe einer freiwillig hin?), mit richtigen Klimaanlagen in den Fenstern und einem richtigen Springbrunnen im Innenhof. Natürlich war der Springbrunnen abgedreht. Desgleichen, wie sich herausstellte, die Klimaanlage. Desgleichen der gesamte Strom, also aßen wir (wenn man es essen nennen konnte - Sojasteaks und Nicht-Molkerei-Milchshakes!) bei Kerzenlicht. Den Offizieren unter uns versprach man bessere Quartiere für den Morgen, nachdem die Kommandeure uns aussortiert hatte, aber für jetzt, wenn es uns nichts ausmachte...

Ob es uns etwas ausmachte oder nicht, machte keinen Unterschied, weil wir nirgendwohin gehen konnten außer in die Motelzimmer. Sie wären vielleicht gar nicht so übel gewesen, wenn der Quartiermeister Matratzen auf die Betten verteilt hätte, bevor wir darin schlafen mußten. Also breiteten wir so viel von unserer Kleidung aus, wie wir konnten, und versuchten, in der Hitze und dem Staub zu schlafen, während alle um uns herum husteten und von draußen merkwürdige Geräusche hereindrangen. Das schlimmste war eine Art mechanisch hupendes Getöse - »Aaaah und manchmal »Aaaah-ich!« Ich schlief ein und fragte mich dabei, was für primitive Maschinen sie wohl die ganze Nacht über laufen ließen. Fragte mich, was ich hier tat. Fragte mich, ob ich jemals zum Turm zurückkommen würde, geschweige denn in den fünfundfünfzigsten Stock. Fragte mich vor allem, wie die Chancen standen, sich hier am Morgen ein paar Mokes zu besorgen, denn die Zwölferpacks, die ich in meinem Kleidersack verstaut hatte, gingen langsam zur Neige.

»Sind Sie Tarb?« knarrte eine barsche Stimme in meinem Ohr. »Raus aus der Falle! In fünf Minuten gibt's Futter, und in zehn will Sie der Oberst sehen.«

Ich hebelte ein Auge auf. »Der was?«

Das zu mir heruntergebeugte Gesicht zog sich nicht zurück. »Hoch!« brüllte es, und während meine Augen sich scharf stellten, erkannte ich, daß es zu einem dunkelhaarigen, finster blickenden Mann mit Majorsstreifen und einer Reihe von Ordensbändern auf dem Tarnanzug gehörte.

»Jawohl«, murmelte ich und schaffte es, mich zu erinnern, ein »Sir« hinzuzufügen. Das Gesicht machte keinen zufriedenen Eindruck, aber es verschwand. Ich ruckte zur Bettkante, wobei ich die schärfsten und rostigsten der Federn zu vermeiden suchte - mein halber Körper war mit Einstichen bedeckt, wo ich mich in der Nacht herumgeworfen und -gewälzt hatte -, und nahm das Problem in Angriff, in mein T-Shirt und meine Shorts zu kommen. Dieses Problem erwies sich als lösbar, obwohl ich es, glaube ich, im Schlaf ausführte. Das Problem, wo das »Futter« war, war überhaupt kein Problem, denn ich mußte nur dem langsamen Zug rotäugiger, unrasierter, blinzelnder Truppen zu dem folgen, was als »Speisesaal A« gekennzeichnet war. Wenigstens gab es Coffiest. Besser noch, es gab Mokes, auch wenn diese nicht von der Regierung ausgegeben wurden und ich kostbare Augenblicke damit vergeudete, den ein oder zwei entfernt bekannten Gesichtern, die verbissen ihre Om'Lets mit Broht attackierten, Kleingeld abzuschwatzen. Natürlich schluckte der Verkaufsautomat meine ersten drei Münzen, ohne im Gegenzug eine Moke auszuspucken, aber beim vierten Versuch bekam ich eine - natürlich warm - und trat der blendenden Sonne draußen ein bißchen tapferer entgegen.

Das Büro des Obersten zu finden, war erheblich schwieriger. Keiner von den neuen Verstärkungen wie ich schien eine Ahnung zu haben. Die klügeren Berufssoldaten schienen noch glücklich in ihren Kojen zu schlafen, um das Gedränge der neuen Jungs in der Messe abzuwarten, so daß sie ihr Frühstück später gemütlicher genießen konnten. Die paar Einheimischen, die mit Besen oder Eimern mit grauem, schaumigem Wasser herumspazierten - ohne allerdings Anzeichen dafür erkennen zu lassen, das eine oder andere auch zu benutzen -, waren froh, mir den Weg zeigen zu können, aber da wir keine gemeinsame Sprache sprachen, hatte ich keine Ahnung, wohin sie mich eigentlich dirigierten. Ich fand mich am Rande des Truppenlagers wieder und trat gerade durch ein Tor, als mir ein widerlicher Gestank in die Nasenlöcher stieg und im gleichen Augenblick jenes heisere Aaaah-ich! in meinern Ohr explodierte.

Das Rätsel der nächtlichen Maschinengeräusche war aufgeklärt. Zu meinem grenzenlosen Ekel stellte ich fest, daß die Maschinen gar keine Maschinen waren. Diese Leute hatten Tiere. Lebende Tiere! Nicht in einem Zoo oder anständig ausgestopft in irgendeinem Museum, sondern Tiere, die auf der Straße stände, Wagen zogen und sogar den Darm entleerten, genau dorthin, wo Leute hergehen mochten. Ich war in eine Art Abstellplatz für die Geschöpfe hineingestolpert. Ich kann Ihnen sagen, einen Augenblick lang hin es an einem seidenen Faden, ob ich die schwer erkämpfte Moke bei mir behalten würde, die ich gerade geschluckt hatte.

Bis ich zu guter Letzt das Büro des Obersten fand, war ich natürlich wenigstens zwanzig Minuten zu spät, aber ich hatte einige ernüchternde Fakten über diese neue Welt kennengelernt, in die ich geworfen worden war. Die sonderbaren Tiere mit dem lauten Kreischen wurden Esel genannt. Eine kleinere, gehörnte Eselsart nannten sie Ziege, aber sie hatten auch Hühner und Pferde und Yaks. Und eins roch übler und hatte ekelhaftere Eigenschaften als das andere. Als ich endlich in den Schlammziegelbau mit der Kennzeichnung HQ III. Btl. & Co. HQ stolperte, wußte ich, daß ich im Begriff war, meinen ersten Tadel zu ernten, aber es war mir egal. Er hatte eine Klimaanlage, und die Klimaanlage funktionierte tatsächlich, und als mir der Hauptfeldwebel mit finsterer Miene erklärte, daß ich würde warten müssen und der Oberst mich vermutlich auffressen würde, hätte ich ihn küssen können, denn die Luft war kühl, die Übelkeit erregenden Geräusche von draußen waren gedämpft - und neben der Tür war ein Moke-Automat.

Der Feldwebel war ein wahrer Prophet. Die ersten Worte des Obersten lauteten: »Sie sind zu spät gekommen, Tarb! Ein schlechter Anfang! Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ihr Werbeleute macht mich krank!«

In normalen Zeiten hätte mich diese Art von Gerede auf die Fahne gebracht, aber das hier waren keine normalen Zeiten. Ich konnte in dem Oberst lesen wie in einem Buch: ein ergrauter Veteran, die Brust voller Ordensbänder für den Sudan- und Neuguinea- und Patagonien-Feldzug. Ohne Zweifel aus dem Mannschaftsstand hervorgegangen, mit all dem früheren Haß des Verbrauchers auf die oberen Klassen. Ich schluckte die Worte hinunter, die mir auf die Lippen kamen, blieb in der strammsten Habacht-Stellung, die ich bewerkstelligen konnte, und sagte nur: »Ja, Ma'am.«

Sie sah mich mit der gleichen Art ungläubigen Ekels an, den ich, da bin ich mir sicher, für die Esel übrig hatte. Sie schüttelte den Kopf. »Also, was soll ich mit Ihnen machen, Tarb? Haben Sie irgendwelche Begabungen, die nicht auf Ihrem Personalbogen stehen - Kochen, Rohre verlegen, einen Offiziersclub leiten?«

Ich sagte indigniert: »Ma'am! Ich bin ein Werbetexter der Starklasse!«

»Sie waren«, korrigierte sie. »Hier sind Sie nur ein weiterer Offizier vom Durchgangspersonal, für den ich einen Job finden muß.«

»Aber sicherlich - meine Begabungen - meine Fähigkeit, eine Werbekampagne zu entwerfen...«

»Tarb«, sagte sie überdrüssig, »dieses ganze Zeug wird daheim im Pentagon erledigt. Wir machen hier im Feld keine Strategie. Wir sind nur die Landser, die sie ausführen.« Düster ging sie mit kleinen Rucken die Datenspeicher durch - zögerte - machte weiter - ging noch einmal zurück und fuhr mit dem Kursor eine Zeile in der Stärke- und Ausrüstungsnachweisung ab.

»Feldgeistlicher«, sagte sie befriedigt.

Ich starrte sie an. »Feldgeistlicher? Aber ich habe noch nie - ich meine, ich habe keine Ahnung von...«

»Sie haben von nichts eine Ahnung, Leutnant Tarb«, sagte sie, »aber die Militärseelsorge ist ein leichter Job. Sie können den Dreh in Null Komma nichts rauskriegen. Sie werden einen Assistenten haben, der sich auskennt - und so weit ich sehen kann, ist es ein Platz, wo sie nicht viel Schaden anrichten können. Wegtreten! Und versuchen Sie, sauber zu bleiben, bis dieser Feldzug vorüber ist, damit Sie das Problem von jemand anderem werden.«

So begann meine Laufbahn als Feldgeistlicher des Hauptquartiers des III, Bataillons und Kompanie-Hauptquartiers - schwere limbische Projektoren und Himmelschirme - nicht der beste Dienst der Welt, aber ein ganzes Stück besser als mit der Infanterie von Haus zu Haus zu gehen. Der Oberst hatte mir einen in der Feldgeistlichen-Arbeit erfahrenen Assistenten versprochen, und ich bekam einen. Oberfeldwebel Gert Martels trug die Ordensbänder von so weit zurückliegenden Feldzügen wie Kampuchea auf ihrer ziemlich hervorstechenden Brust.

Als ich meine Domäne zum ersten Mal betrat, begrüßte sie mich mit einer schlampigen Ehrenbezeigung, aber einem formvollendeten Lächeln. »Morgen. Leutnant«, rief sie, »Willkommen bei der Dritten!«

Ich sah sofort, daß StUffz. Martels das beste an meinem Kaplansamt sein würde - na ja, das zweitbeste jedenfalls. Das Büro war düster und grau. Es war einmal ein Wäschezimmer des Motels gewesen, und man konnte immer noch die Flecken von Bleichmittel und Seifenpulver sehen, die in Umrissen anzeigten, wo die Waschmaschinen gestanden hatten. Längs der Wand waren immer noch abgedichtete Rohre vorhanden. Aber es hatte eine Klimaanlage! Es befand sich in jenem hübschen Motel mit den Springbrunnen und den schattigen Bäumen, nur arbeiteten die Springbrunnen jetzt - und wir vom Durchgangspersonal waren in »reguläre« Unterkünfte verlegt worden, so daß die Räumlichkeiten zu Hauptquartierbüros werden konnten. Ich glaube, die Klimaanlage war das drittbeste; das allerbeste war ein Moke-Automat, und die Art, wie er schnurrte, verriet mir, daß die Mokes eiskalt herauskommen würden. »Woher wußten Sie das?« fragte ich, und das hübsche, narbige Gesicht leuchtete in einem weiteren dieser vortrefflichen Lächeln auf.

»Es ist«, sagte sie, »die Aufgabe eines Feldgeistlichenassistenten, solche Dinge zu wissen. Wenn der Leutnant jetzt geruhen würde, sich an seinen Schreibtisch zu setzen, wäre es mir eine Freude, die Fragen des Leutnants zu beantworten...«

Es kam sogar noch besser. Ich mußte nicht einmal irgendwelche Fragen stellen, weil StUffz. Martels besser als der Leutnant selbst wußte, was der Leutnant wissen mußte. Dies war der Weg zum Offiziersklub. Dies waren die Blanko-Passierscheine, die zu unterzeichnen ich autorisiert war. Das da an der Wand war die Gegensprechanlage, die nur von einem Freund im Büro des Obersten benutzt wurde, um uns zu warnen, wenn der Oberst in diese Richtung kam. Und wenn der Leutnant sich nicht viel aus dem Essen in der Messe machte, dann hatte der Leutnant immer das Privileg, zu verkünden, daß er während der regulären Essenszeiten zu sehr mit dringenden Pflichten beschäftigt war, um dort hinzugehen, und von Zwischen-den-Mahlzeiten-»Snacks« im privaten Speiseraum der Stabsoffiziersmesse Gebrauch zu machen. Der Leutnant, fügte sie unschuldig hinzu, hatte auch das Privileg, seinen Assistenten bei solchen Gelegenheiten mitzunehmen, wenn er wollte.

Und warum, fragte ich mich verträumt, hatte ich mich so sehr gesträubt, die Hetzjagd der Madison Avenue aufzugeben, um in dieses irdische Paradies zu kommen?

Nun ja, das Paradies war es nicht. Die Nächte waren immer noch die Hölle. Die »regulären« Unterkünfte erwiesen sich als Schaumstoffiglus mit flachen Schützenbgräben. Die einzige »Klimaanlage«, die sie hatten, waren winzige Sonnenzellenventilatoren, und die Schaumwände saugten jede Kalorie der lodernden Tagessonne der Gobi auf, um sie uns die ganze Nacht über zurückzugeben. Außerdem gab es Wanzen. Und es gab auch die Nacht über das Schreien der Tiere in Einfriedungen außerhalb der Wälle. Es gab auch schlaflose Stunden, in denen ich mich traurig fragte, was Mitzi wohl vorhatte, wer meinen Posten bei Taunton, Gatchweiler und Schocken übernahm. Es gab auch die Tatsache, daß die Wüstenhitze die Mokes so schnell wieder aus meinem Körper herauskochte, wie ich sie schlucken konnte, und mit jedem Tag wurde ich hagerer und zittriger. Am zweiten Tag sah Gert Martels mich beunruhigt an. »Der Leutnant«, sagte sie, »arbeitet zu hart.« Eine offensichtliche Lüge, natürlich; ich wartete immer noch darauf, meinen ersten Soldaten zu sehen, der um Trost oder Hilfe hereinkam. »Ich schlage vor, der Leutnant stellt sich selbst einen Passierschein aus und nimmt den Rest des Tages frei.«

»Passierschein nach wohin in diesem Höllenloch?« knurrte ich und stutzte plötzlich. Hatte ich eine Unterhaltung wie diese nicht schon einmal gehabt - auf der Venus - mit Mitzi? »Na ja«, sagte ich, nochmals überlegend, »vermutlich werde ich es in zehn Jahren einmal bedauern, wenn ich mir nicht anschaue, was es an Sehenswürdigkeiten gibt. Aber Sie kommen mit.«

Also saßen wir zwanzig Minuten später Rücken an Rücken auf einer Art vierräderigem Karren mit einer Plane über unseren Köpfen und klapperten die weiße Staubstraße entlang zur Hauptstadt Urumqi. Militärlaster dröhnten vorbei, eine zwei Meter lange Staubfahne hinter sich herziehend. Tolles Freizeitvergnügen! Sich zu unterhalten, war nahezu unmöglich, nicht nur, weil wir voneinander wegblickten, sondern weil wir die Hälfte unserer Zeit damit verbrachten, den Staub aus unseren Lungen zu husten, bis Gert eine Art weißer Operationsmasken zum über Nase und Mund binden hervorholte.

Zum Glück war Umrumqi - man sprach es »TJh-RUUM-tschi« aus, was Ihnen eine Menge über die Uygher verrät - nicht weit entfernt. Es war auch nichts Besonderes, wenn man dort ankam. Die Hauptstraße wurde zwar von richtigen Bäumen gesäumt, einer Doppelreihe sogar, aber unter den Bäumen gab es nichts als nackten gelben Lehm. Kein Gras. Keine Blumen. Was es allerdings gab, war etwa ein Dutzend Uygher mit Gazemasken eigener Machart, die Blätter vorn nackten Boden fegten. Man hätte glauben können, daß für jeden Menschen schon genug Staub in der Luft sei, aber nein, da waren die Winzlinge und wirbelten große Wolken auf, für den Fall, daß sie uns vielleicht ausgingen. »Ich wünschte, ich hätte eine Moke«, knirschte ich, und Gert drehte sich um, um zu sagen:

»Halten Sie aus, Leutnant...«

»Ich heiße Tenny.«

»Halt aus, Tenny, wir sind fast da. Siehst du das am Ende des Blocks? Divisons-Erholungszentrum, und sie haben alle Mokes, die du dir nur wünschst.«

Und das hatten sie; und nicht nur das, sie hatten auch eine Bar und ein Restaurant für alle Dienstgrade, wo man Markenartikelnahrungsmittel bekommen konnte, und ein Offizierskasino mit Satelliten-Omni-V. Und Toiletten mit Wasserspülung! Und - ich will Ihnen eine Vorstellung davon geben, was für ein himmlischer Luxus das hier nach meinen achtundvierzig Stunden im Feld war - erst nachdem ich all diese Dinge bemerkt hatte, bemerkte ich, daß das ganze Gebäude vollklimatisiert war. »Wie viele Passierscheine kann ich mir selbst ausstellen?« fragte ich.

»So viele, wie du willst«, sagte Gert zu meiner Befriedigung, und wir steuerten zuerst auf das Restaurant los. Als ich ihr sagte, ich würde die Zeche bezahlen, schaute sie amüsiert, widersprach jedoch nicht, und wir spülten TruThan-Salat-Sandwiches auf echtem Broht mit einem halben Dutzend Mokes herunter, saßen behaglich an unserem Fenstertisch und starrten verächtlich auf die Winzlinge draußen. »Es gibt schlimmeren Dienst als den hier, Tenny«, verkündete Gerd, während sie noch ein Coffiest bestellte.

Ich langte hinüber und berührte ihre Ordensbänder. Sie wich nicht zurück. »Ich nehme an, du hast einiges erlebt, stimmt's« meinte ich.

Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ich schätze, Papua-Neuguinea war so ungefähr das schlimmste«, sagte sie, als schmerze die Erinnerung.

Ich nickte. Jeder wußte von Papua-Neuguinea und wie Hunderte von Eingeborenen bei den Tumulten gestorben waren, als Coffiest und ÄchtFlaisch ausgingen.

»Es ist eine ehrbare Arbeit, Gert«, sagte ich tröstend. »Es sind nicht mehr viele Ureinwohner-Reservate übrig. Das Ausräuchern der Schlupfwinkel muß gemacht werden - ein schmutziger Job, aber irgend jemand muß ihn tun.« Sie antwortete nicht, sondern nahm nur ein Schlückchen von ihrem Coffiest, ohne meinen Blick zu erwidern. Ich sagte: »Ich weiß, was ich getan habe, kommt nicht an euch alte Kämpfer heran. Aber immerhin habe ich drei Jahre auf der Venus verbracht, weißt du.«

»Vizekonsul und Moralbeauftragter«, nickte sie. Sie wußte es.

»Nun, dann weißt du auch, daß die Veenies nicht so viel besser sind als diese Winzlinge, Handelslos, bigott, fortschrittsfeindlich - he, nimm ein bißchen äußerliche Technologie weg, und sie würden genau in dieses Reservat passen!« Ich fuchtelte mit der Hand auf die Straßen draußen hinaus. Eine Gruppe von Unteroffizieren und Mannschaftspersonal lungerte auf der Hoteltreppe herum und versuchte die Uygher mit Mokes und Taschensehern und Nic-O-Chews in Versuchung zu führen, aber die Stammesangehörigen lächelten nur und schüttelten den Kopf und gingen weiter. »Ich zweifle daran, daß die meisten dieser Ureinwohner überhaupt wissen, daß eine Zivilisation existiert. Sie haben sich seit tausend Jahren nicht verändert.«

Sie starrte auf die Straße hinaus, und ihr Gesichtsausdruck ließ sich nur schwer entziffern. »Mehr als das, Tenny. Wir sind nicht die ersten Invasoren, die sie gesehen haben. Sie hatten die Manchus und die Mongolen und die Hans und haben sie alle überlebt.«

Ich hustete - es war nicht Staub in meiner Kehle. »Invasoren ist nicht gerade das Wort, das ich gewählt hätte, Gert. Wir sind Zivilisatoren, weißt du. Was wir hier tun, ist eine wichtige Mission.«

»Wichtig stimmt«, schnappte sie, und es war eine Schärfe in ihrer Stimme, die mich überraschte. »Die letzte vor der großen Offensive, was? Hast du jemals daran gedacht, daß es eine logische Progression dabei gibt - Neuguinea, der Sudan, die Gobi. Und dann...« Plötzlich stockte sie und sah sich im Raum um, als fragte sie sich, wer mitgehört haben mochte.

Das konnte ich verstehen, denn sie sagte Sachen, die sie teuer zu stehen kommen würden, wenn die falschen Leute zuhörten. Ich war sicher, daß sie es nicht so meinte. Nicht tief in ihrem Inneren, heißt das. Den Kampftruppen an der Angriffsspitze der Zivilisation konnte man es nicht zum Vorwurf machen, wenn ihnen hin und wieder seltsame Dinge in den Sinn kamen. Daheim in der Zivilisation konnte einem derartiges Gerede eine Menge Schwierigkeiten einbringen, Hier... »Hier«, sagte ich nachsichtig, »stehts du unter Streß, Gert. Trink noch ein Coffiest, das wird dich beruhigen.«

Sie blickte mich einen Augenblick lang stumm an, dann lachte sie. »Na gut, Tenny«, sagte sie, die Winzlingskellnerin heranwinkend. »Weiß du was? Du wirst einen großartigen Feldgeistlichen abgeben.«

Es kostete mich einen Augenblick, darauf zu antworten - irgendwie hatte es nicht wie ein Kompliment geklungen. »Danke«, sagte ich schließlich.

»Und um einen aus dir zu machen«, meinte sie, »sollte ich dich wohl besser über deine Pflichten in Kenntnis setzen. Also, es werden zwei Sorten von Leuten zu dir kommen und dich um Hilfe bitten. Die erste Sorte sind die, die sich wegen etwas Sorgen machen - sie haben einen »Liebe Jane, leider muß ich Dir mitteilen, daß«-Brief von Ihrem Verlobten bekommen, oder sie glauben, ihre Mutter sei krank, oder sie sind überzeugt, daß sie verrückt werden. Mit denen wirst du am besten fertig, indem du ihnen rätst, sich keine Sorgen zu machen, und ihnen einen Vierundzwanzig-Stunden-Passierschein ausstellst. Die zweite Sorte sind Leute, die Mist gebaut haben. Sie haben ihren Verband verpaßt oder den Anwesenheitsappell verschlafen oder sind unangenehm beim Waffenappell aufgefallen. In diesen Fällen schickst du eine Benachrichtigung an den Hauptfeldwebel, damit der ihre Passierscheine für eine Woche streicht, und rätst ihnen, daß sie besser anfangen, sich Sorgen zu machen. Manchmal kommt auch jemand mit einem wirklichen Problem, und in diesem Falle... «

Also hörte ich zu und nickte und amüsierte mich wirklich recht gut. Da wußte ich auch noch nicht, daß sich zwei jener Leute mir wirklichen Problemen in meiner Gesellschaft befanden.

Oder daß sie beide an meinem Tisch aßen.

Das Amt eines Feldgeistlichen war nicht schwierig. Es ließ mir reichlich Zeit für lange, späte Mittagessen in der Stabsoffiziersmesse und abendliche Passierscheine nach Urumqi. Es ließ mir auch Zeit, mich zu fragen - und das zuerst ziemlich häufig -, was ich eigentlich hier machte, denn die Operation, die durchzuführen wir alle von einer Hemisphäre in die andere gescheucht worden waren, schien nicht stattzufinden... was immer es auch war, das stattfinden sollte. Als ich Gert Martels fragte, zuckte sie die Achseln und meinte, das sei einfach nur die gute alte Tradition des erst eilig Habens und dann Wartens, also hörte ich auf, mir deswegen den Kopf zu zerbrechen. Ich nahm, was jeder Tag mir bot. Das alte Urumqi-Hotel, das für das Divisions-Erholungszentrum requiriert worden war, wurde mir so vertraut wie mein offizieller Schlafiglu - tatsächlich verbrachte ich sogar meine Nächte im Hotel, wenn ich konnte, nicht nur wegen der Klimaanlage, sondern auch, weil jedes der heruntergekommenen alten Gästezimmer seine eigene Toilette mit Wasserspülung und Badewanne und Dusche hatte. Oft funktionierten alle drei von ihnen. Und im Offizierkasino war das Omni-V.

Das war nicht die reinste Freude. Zum einen, was ich wirklich wollte, waren Nachrichten. Um diese zu bekommen, mußte ich die nach Zivilisation ausgehungerten Offiziere, die meisten davon mit höherem Rang als ich, abwehren, die verzweifelt Sportsendungen, Shows, Unterhaltungsserien und Werbespots nötig hatten - vor allem Werbespots. Die Art von Nachrichten, die ich wollte, waren nicht die üblichen - das die Augen verdrehende Paar, das in Detroit den »Verbraucher des Monats« gewonnen hatte, oder die Ansprache des Präsidenten oder die Geschichte von den sechs zerstörten Pedicabs mit den elf Toten, als die Spitze des alten Chrysler-Gebäudes herunterfiel und einen halben Straßenzug der Zweiundvierzigsten plattdrückte. Ich meine die richtigen Nachrichten, den »Welt der Werbung«-Report und die täglichen Zeilenzahlen und Werbespot-Zeit-Hitparaden. Diese Nachrichten kamen um sechs Uhr morgens aufgrund der Tatsache, daß wir uns halb um die Erde herum befanden, und so hatte ich keine Hoffnung, sie zu sehen, wenn ich mein Glück nicht herausforderte und noch wieder eine Nacht im Divisions-Erholungszentrum verbrachte - und es natürlich schaffte, mich rechtzeitig wach zu bekommen, um mich hinunter ins Kasino zu begeben. Das war nicht leicht. Mit jedem Morgen wurde das Aufwachen schwerer und schwerer. Das einzige, was mich schließlich noch aus dem Bett kriegen konnte, war, keine Mokes im Zimmer zu haben, so daß ich aufstehen und losgehen mußte, um mir eine zu besorgen, sobald meine Augen sich öffneten.

Und dann war auch das, was ich sah, nicht eben die reinste Freude. Eines Morgens wurde ein ganzer Zehn-Minuten-Spot meinem ConsumAnon-Plan gewidmet. Er war mit einem Werbebudget von sechzehn Millionen Dollar gestartet worden. Er war ein großer Erfolg. Aber es war nicht meiner.

Darauf war ich vorbereitet. Worauf ich nicht vorbereitet war, war, daß der Kommentator mit jenem lüsternen Lächeln, das Leute bekommen, wenn jemand einen Coup gelandet hat, schloß, indem er das Verdienst jener dynamischen neuen Agentur anrechnete, die aus dem Nichts aufgetaucht war, um die Giganten herauszufordern... Haseldyne und Ku.

Der Hauptmann, der genau in diesen Augenblick das Kasino betrat, seine Gewichte schwingend und frischfrommfröhlichfrei dazu bereit, sein allmorgendliches Krafttraining zu absolvieren, wußte nicht, was für ein Glück er hatte. Ich ließ ihn am Leben. Wenn ich ihn nicht so mit meinem Wutausbruch erschreckt hätte, als er versuchte, den Kanal zu wechseln, hätte er mich bestimmt wegen ungebührlichen Verhaltens gemeldet, aber ich glaube nicht, daß er je zuvor so viel Gewaltbereitschaft auf einem Gesicht gesehen hat. Ich klammerte mich an den Kanalwahlschalter. Ich sah mich nicht einmal um, als er mit senkrecht herunterhängenden Gewichten davonschlich. Ich drehte an der Wählscheibe, auf der Jagd nach Nachrichtensendungen, ausgehungert nach Informationsbröckchen, Angesichts der zweihundertfünfzig Kanäle, die von den Satelliten herunterkamen, war es, als suche man den Schachteldeckel mit der Gewinnzahl im Abfalleimer. Ich scherte mich nicht darum, wie die Chancen standen. Klick, und ich bekam einen koreanischen Wetterbericht herein; klick, eine Kiddypomo-Showe mit Publikumsbeteiligung - ich drehte weiter. Ich erwischte den Rest der letzten Spätnachrichten zum Tagesschluß der BBC und RussCorps frühe Morgennachrichten aus Wladiwostok. Ich bekam nicht die ganze Geschichte. Ich war nicht sicher, daß alle Teile zusammenpaßten. Aber Haseldyne und Ku waren weltweit in den Nachrichten, und der große Umriß war erkennbar. Dambois hatte mir nicht die ganze Wahrheit gesagt. Mitzi und Desmond Haseldyne hatten ihre Erlöse genommen und ihre eigene Agentur gestartet, das stimmte wohl. Aber sie hatten nicht nur Geld mitgenommen. Sie hatten die ganze Abteilung Immaterielle Aktiva von T., G. & S. mitgenommen - den Stab abgeworben - die Geschäftsunterlagen an sich gerissen... Meine Idee gestohlen.

Das nächste, was ich wußte, war, daß ich mich auf halbem Weg zurück zum Hauptquartier längs jener armseligen, heißen, staubigen Straße befand, und daß ich zu Fuß ging.

Niemals zuvor habe ich solche Wut verspürt. Sie grenzte schon an Wahnsinn - grenzte sogar sehr dicht daran, denn was anderes als geistige Umnachtung hätte mich veranlassen können, durch dieses Inferno zu marschieren, wo sogar die Winzlinge sich von ihren Eseln oder Yaks von Ort zu Ort tragen ließen? Außerdem war ich durstig. Ich hatte ziemlich heftig den Mokes zugesprochen - nicht einfach nur puren Mokie-Kokes, sondern gespritzt mit allem Alkoholischen, was das Offizierskasino zu bieten hatte. Aber das alles war auf dem Weg aus mir herausgekocht, und der Rückstand, der zurückgeblieben war, war konzentrierter, kristallklarer Zorn.

Wie konnte ich in die Zivilisation zurückkommen? - zurückkommen und Gerechtigkeit bekommen; bekommen, was Mitzi Ku mir schuldete! Es mußte einen Weg geben. Ich war Feldgeistlicher. Konnte ich mir Urlaub aus dringenden familiären Gründen gewähren? Wenn ich das nicht konnte, konnte ich einen Nervenzusammenbruch vortäuschen und irgendeinen freundlichen Arzt dazu bringen, mich mit Tabletten zu versorgen, die Herzklopfen verursachten? Wenn ich davon nichts tun konnte, wie standen die Chancen, sich als blinder Passagier auf dem Rückflug des nächsten Frachtflugzeuges zu verstecken, das landete? Wenn auch das nicht ging...

Und natürlich ging nichts von alledem. Ich hatte gesehen, was mit den winselnden Schwachköpfen geschah, die mit ihren Ammenmärchen von fremdgehenden Ehefrauen oder unerträglichen Schmerzen im verlängerten Rücken in mein Büro kamen; Urlaube aus dringenden familiären Gründen aus dem Reservat hinaus wurden nicht gewährt, und es bestand keine Chance, sich als blinder Passagier an Bord zu schmuggeln.

Ich saß fest.

Außerdem begann es mir jetzt richtig schlecht zu gehen. Exzessives Trinken und schlaflose Nächte hatten rein gar nichts für meinen von Mokes gebeutelten Körper getan. Die Sonne war gnadenlos, und jedesmal, wenn ein Fahrzeug vorbeikam, glaubte ich, ich würde mir die Lungen aushusten. Es waren auch viele Fahrzeuge unterwegs, denn hinter vorgehaltender Hand wurde gemunkelt, daß unsere Operation endlich losgehen solle. Jeden Augenblick jetzt. Die schweren Angriffsgeschütze waren an Ort und Stelle. Die Einheiten hatten ihre vorgesehenen Angriffsziele mitgeteilt bekommen. Die taktische Unterstützungslogistik war einsatzbereit.

Ich blieb schlagartig mitten auf der Straße stehen, benommen schwankend, während ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln. Darin lag eine Bedeutung, eine Hoffnung... natürlich! War die Operation erst einmal beendet, würden wir alle turnusgemäß zurück in die Zivilisation versetzt werden! Sicherlich, ich würde immer noch in der Armee sein, aber in irgendeinem Lager in den Vereinigten Staaten, wo ich mühelos einen Achtundvierzig-Stunden-Passierschein organisieren konnte, lange genug, um zurückzukehren und Mitzi und ihrem ekelhaften Kumpanen gegenüberzutreten...

»Tenny!« rief eine Stimme, »O Tenny, dem Himmel sei Dank, daß ich dich gefunden habe - Mensch, Junge, du bist ganz schön in Schwierigkeiten!«

Ich blinzelte durch den blendenden Staub und das Leuchten. Ein zweirädriges Uygher-"Taxi" hielt neben mir an, und heraus sprang Gert Martels, das hagere, vernarbte Gesicht besorgt. »Der Oberst ist auf dem Kriegspfad! Wir müssen dich gründlich instand setzen, bevor sie dich findet!«

Ich wankte auf den Klang ihrer Stimme zu, »Zum Teufel mit dem Oberst«, krächzte ich.

»O bitte, Tenny«, bettelte sie, »steig in das Taxi. Duck dich, damit niemand dich sieht, wenn eine Patrouille vorbeikommt.«

»Sollen sie mich doch sehen!« Das Merkwürdige an StUffz. Martels war, daß sie dauernd verschwamm. Einen Teil der Zeit war sie eine nebelhafte Gestalt aus schwarzem Rauch, durchscheinend gegen den blendenden Himmel. Einen Teil der Zeit war sie klar konturiert, und ich konnte sogar den Ausdruck auf ihrem Gesicht lesen - Sorge; heftige Gemütsbewegung; dann seltsamerweise Erleichterung.

»Du hast einen Hitzschlag!« rief sie. »Dem Himmel sei Dank! Mit einem Hitzschlag kann der Oberst nicht rechnen! Fahrer! Du kennen Armee-Hospital, ja? Du fahren dorthin schnell-schnell, ja?« Und ich sah mich von Gert Martels kräftigen Armen auf den Karren gezerrt.

»Wer will denn ins Hospital?« fragte ich streitlustig. »Ich brauche kein verdammtes Hospital! Alles, was ich brauche, ist eine Moke...« Die bekam ich aber nicht. Und wenn doch, so wäre ich nicht in der Lage gewesen, etwas damit anzufangen, denn genau in diesem Augenblick verdunkelte sich der Himmel und legte sich in einem schwarzwollenen Kokon um mich, und ich war für die nächsten zehn Stunden weg.


II

Es waren keine müßigen Stunden. Das Rezept gegen Hitzschlag war: rehydrieren; kühl halten; Bettruhe. Zum Glück war es das gleiche Rezept wie gegen akuten Kater. Ich bekam, was der Doktor verschrieb. Sicher, zu der Zeit wußte ich es nicht, weil ich zuerst ohne Besinnung war und danach mit Drogen in Schlaf versetzt wurde. Ich hatte nebelhafte Erinnerungen an die Nadeln mit physiologischer Kochsalzlösung und Glukose, die dann und wann in meinen Arm stachen, und daran, ganz vorsichtig geweckt zu werden, um gewaltige Mengen von Flüssigkeit zu schlucken. Und an Träume. O ja, Träume. Schlimme Träume. Träume von Mitzi und Des Haseldyne, die in ihren Luxus-Penthäusern zusammenhockten und sich dumm und dämlich lachten, wenn sie an den armen, dummen alten Tennison Tarb dachen.

Und als ich dann schließlich tatsächlich aufwachte, glaubte ich, es sei immer noch ein Traum, weil sich der Hauptfeldwebel über mich beugte, einen Finger an den Lippen. »Leutnant Tarb? Können Sie mich hören? Machen Sie kein Geräusch - nicken Sie einfach mit den Kopf, wenn Sie es können...«

Ich machte den Fehler, zu tun, was er sagte. Ich nickte. Meine Schädeldecke rüttelte sich los und klapperte auf den Boden, wo sie bei jedem Aufprall vor Schmerz explodierte.

»Ich nehme an, Sie haben einen ganz schön schlimmen Kater, stimmt's? Zu bös... aber hören Sie zu, es gibt da ein Problem.«

Die Tatsache, daß es da ein Problem gab, war mir nicht neu. Die einzige Frage war, welches Problem meinte er? Überraschung; es war keines von denen, dich ich schon kannte. Es war etwas Brandneues, und nicht so sehr mein Problem wie das Gert Martels'. Ein Auge nach der Stationsschwester gerichtet, mit seinen Lippen so dicht an meinem Ohr flüsternd, daß sein Atem meine Ohrhärchen kitzelte, erklärte er: »Gert hat da so eine schlechte Angewohnheit, ich nehme an, Sie wissen davon...«

»Was für eine Angewohnheit ist das?« fragte ich.

»Sie wissen es nicht?« Er wirkte überrascht, dann aufrichtig verlegen. »Na ja«, sagte er zögernd, »ich weiß, es klingt echt schofel, aber eine Menge von den Jungs und Mädels, Sie wissen schon, draußen im Feld, wo sie allem möglichen Einflüssen ausgesetzt sind...

Wider gegen jede Klugheit und jedes Wollen stemmte ich mich hoch. »Feldwebel«, sagte ich, »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen. Erklären Sie's mir.«

Er sagte: »Sie ist mit den Winzlingen weg. Leutnant. Und sie hat ihre Schutzausrüstung nicht mit. Und es ist T minus zwei Stunden, und der Countdowm läuft.«

Das ging mir unter die Haut. »Sie meinen, die Operation steigt heute nacht?« brüllte ich.

Er zuckte zusammen. »Bitte, sprechen Sie leise. Aber... ja. Sie beginnt um Mitternacht, und jetzt ist es zweiundzwanzig Uhr.«

Ich starrte ihn an. »Heute nacht?« wiederholte ich. Wo war ich gewesen? Wie hatte ich die Vorwarnung verpaßt? Natürlich handelte es sich technisch gesehen um eine Geheiminformation, aber sicherlich mußte es jeder Soldat im Lager Stunden vorher gewußt haben!

Der Hauptfeldwebel nickte. »Sie haben es vorverlegt, weil das Wetter ideal ist.« Jetzt, da ich wußte, wonach ich suchen mußte, konnte ich den um seine Schultern geschlungenen Überwurf aus polarisiertem Stoff und die riesigen geräuschdämpfenden Ohrenschützer sehen, die unter seinem Kinn baumelten. »Die Sache ist...«

Geräusche am Ende der Station. Eine Tür, die sich öffnete. Ein Licht.

»Verdammt!« bellte er. »Hören Sie zu, ich habe noch eine Menge zu erledigen. Gehen Sie und holen Sie sie, ja, Leutnant? Unten wartet ein Winzling auf Sie, mit Schutzausrüstungen für Sie beide - er wird Sie zu ihr bringen - er...«

Schritte näherten sich. »Tut mir leid, Leutnant«, keuchte er. »Ich muß gehen.«

Und er ging.

So glitt ich aus dem Bett, sobald die Schwester ihre Runden gemacht hatte und wieder verschwunden war, schlüpfte in meine Kleider, schlich mich aus der Station. Mein Kopf hämmerte, und ich wußte, daß das letzte, was ich brauchte, ein Eintrag wegen Entfernens ohne Erlaubnis aus dem Hospital in meiner Personalakte war, zusätzlich zu all den anderen Minuspunkten. Das Komische war, daß ich keinen Augenblick zögerte.

Ich zögerte nicht einmal lange genug, um zu erkennen, daß es komisch war. Erst später fiel mir auf, daß es in der Vergangenheit eine Menge Anlässe gegeben hatte, bei denen der eine oder andere seinen Kopf in die Schlinge gesteckt hatte, um mich vor etwas zu retten. Bisher war es mir nie schwergefallen, das zu vergessen, wenn eine Gelegenheit kam, mich dafür erkenntlich zu zeigen. Alles, an was ich dachte, war, daß ich Gert etwas schuldete und sie mich brauchte, um ihr aus der Klemme zu helfen. Also ging ich... und hielt nur einmal inne, an der Pforte des Hospitals, um mir ein paar Mokes aus dem Verkaufsautomaten zu besorgen. Und ich glaube tatsächlich, wenn die Maschine nicht gerade da und in Reichweite gewesen wäre, wäre ich wohl auch ohne sie gegangen.

Der Winzling wartete wie angekündigt, nicht nur mit kompletter Ausrüstung für zwei, sondern sogar mit einem Esel und einem zweirädrigen Karren. Das einzige, woran es ihm mangelte, waren Englischkenntnisse. Aber da er anscheinend auch ohne Anweisungen von mir wußte, wohin es ging, stellte das offenbar kein Problem dar.

Es war eine heiße, dunkle Nacht, so dunkel, daß es fast erschreckend war. Man konnte den Himmel sehen! Ich meine nicht einfach einen Taghimmel oder auch nur einen Nachthimmel, wenn die Lichter von unten ihm diesen trübrotlichen Schimmer geben, ich meine Sterne. Jeder hat von Sternen gehört, aber wie viele Menschen haben wirklich einen gesehen? Und hier gab es Millionen von ihnen, die sich über den Himmel erstreckten, hell genug, daß man bei ihrem Licht sehen konnte... Hell genug jedenfalls, daß der Esel sehen konnte, denn er schien keinerlei Schwierigkeiten zu haben, seinen Weg zu finden. Wir waren von den Hauptstraßen herunter und strebten den nahegelegenen Hügeln zu. Zwischen uns und den Hügeln lag ein Tal. Ich hatte davon gehört; es war eine Art Sehenswürdigkeit in dieser Gegend, weil es fruchtbar war. Was die Gobi zu einer Gobi macht - das heißt, einer Geröllwüste -, sind Trockenheit und Wind. Die Trockenheit verwandelt den Boden in Staub. Der Wind bläst den Staub davon, bis alles, was übrigbleibt, endlose Quadratkilometer steiniger Wüste sind. Außer, da es hin und wieder an ein paar isolierten Orten - einem Tal, einer schützten Hügelflanke - ein bißchen Wasser gibt und diese Stellen den Mutterboden einfangen. Andere Offiziere hatten mir erzählt, daß dieses hier fast wie ein italienischer Weingarten sei, mit Spaliertrauben und sogar plätschernden Bächlein. Ich hatte es nicht der Mühe für wert erachtet, es zu besuchen. Ich hatte auch nicht geplant, es jetzt zu besuchen, besonders bei Nacht, besonders, wenn - ich warf einen verstohlenen Blick auf meine in der dunklen Nacht leuchtende Uhr - etwa einer Stunde und fünf Minuten die Hölle losbrechen sollte. Und tatsächlich besuchten wir es diesmal nicht. Der Winzling nahm einen Weg um den Weingarten herum, hielt den Karren an, bedeutete mir, auszusteigen, und wies einen Hügel hinauf.

Im Sternenlicht konnte ich undeutlich eine Art Gebäude sehen, hüttenartig, ganz für sich stehend. »Du meinst, ich soll dort hinaufgehen?« fragte ich. Der Winzling zuckte die Achsel und deutete erneut. »Ist Feldwebel Martels in jener Hütte?« Wieder ein Achselzucken. »Zum Teufel«, sagte ich, drehte mich um und begann seufzend, den Hügel hinaufzusteigen.

Das Sternenlicht reichte dann doch nicht ganz aus, um dabei zu sehen. Ich stolperte und fiel ein dutzendmal hin, während ich versuchte, jene schwächliche Entschuldigung für einen Pfad zu erklettern - jenen verdammten, schmutzigen, staubigen Pfad, der so trocken war, daß ich, wenn ich ausglitt, sehr wahrscheinlich nicht mehr als ein oder zwei Meter zurückrutschte. Wenigstens zweimal riß ich mir die Haut auf. Als ich das zweite Mal mühsam wieder auf die Füße kam, hustete etwas whump jenseits der Hügel, und einen Augenblick später kam es whump... whump... whump von überall ringsumher, am Horizont, und an einem Dutzend Stellen wurden die Sterne von sich langsam ausbreitenden Wolken aus Dunkelheit befleckt. Ich brauchte nicht erklärt zu bekommen, was das war: Himmelsschirme. Die Operation konnte jeden Augenblick beginnen.

Ich roch die Hütte, bevor ich sie erreichte. Sie wurde dazu verwendet, Trauben zu Rosinen zu trocknen, und sie stank betäubend nach Wein. Aber über diesem Übelkeit erregenden Fruchtgestank war etwas Stärkeres - nein, nicht bloß stärker. Beinahe beängstigend. Es erinnerte ein bißchen an Essen - ÄchtFlaisch vielleicht, oder TruThan - aber etwas an dem Geruch war falsch. Nicht Verderb. Schlimmer als Verderb. Mein Magen hatte mich schon seit einiger Zeit daran erinnert, daß ich ihm in letzter Zeit das Leben arg schwer gemacht hatte; der Geruch trieb ihn beinahe zur Rebellion. Ich schluckte und tastete mich in die Hütte.

Im Innern war eine Art Licht. Sie hatten ein Feuer gebaut - um sehen zu können, während' sie gestohlene Rationen aßen, nahm ich an. Falsche Annahme! So falsch wie die andere Annahme, nämlich daß Feldwebel Martels' "schlechte Angewohnheit" etwas in der Art war wie mit den Eingeborenen in die Falle zu steigen oder sich vielleicht mit selbstgebrauter Hirnbrause zu betrinken. Wie naiv ich gewesen war! Rings um das Feuer in der Hütte hatte sich ein halbes Dutzend Soldaten versammelt, und was sie mit dem Feuer machten, war, ein Tier darüber zu dörren. Schlimmer noch, sie aßen das tote Tier. Gert Martels starrte mit offenem Mund zu mir auf, und in der Hand hatte sie einen Teil seines Vordergliedes. Sie hielt es bei seinem Knochengerüst...

Das gab meinen Magen des Rest. Ich mußte nach draußen stolpern.

Ich schaffte es so gerade noch. Als ich damit fertig war, alles zu erbrechen, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden zu mir genommen hatte, atmete ich tief durch und ging wieder nach drinnen. Jetzt waren sie erschrocken, denn sie schauten mich im Feuerschein mit bleichen, ängstlichen Gesichtern an.

»Ihr seid schlimmer als Schlitzaugen«, erklärte ich ihnen mit bebender Stimme. »Ihr seid schlimmer als Veenies. Feldwebel Martels! Legen Sie das hier an. Dir übrigen zieht die Köpfe ein, steckt die Finger in die Ohren und öffnet für die nächste Stunde nicht die Augen. Die Operation beginnt in zehn Minuten!«

Ich wartete nicht ab, um ihre gequälten Beschwerden zu hören oder auch nur zu sehen, ob Gert Martels tat, was ich ihr befohlen hatte, Ich verließ dieses Höllenloch, so schnell ich konnte, und glitt und rutschte ein Dutzend Meter den Pfad hinunter, bevor ich lange genug anhielt, um die Ohrenschützer an Ort und Stelle zu schieben und die Kapuze über alles zu stülpen. Danach konnte ich natürlich nicht mehr das Geringste hören, am allerwengisten, wie Gert Martels neben mir auftauchte. Eine Unterhaltung war unmöglich. Das war auch gut so. Es gab nichts, was ich in diesem Augenblick zu ihr hätte sagen mögen. Oder hören. Wir suchten uns einen Weg den Hügel hinunter, wo der Winzling mit seinem Esel wartete, quetschten uns in den Karren, der in Richtung, des Lagers stand. Der Winzling nahm die Zügel auf...

Dann begann es.

Die erste Stufe war Feuerwerk - schlichte, einfache alte Pyrotechnik. Zerplatzende Sterne. Goldener Regen. Schauer diamantheller Wasserfälle. Sie waren zwar nicht hell genug, um die schnell reagierenden Dimmer in unseren Kapuzen zu aktivieren, aber hell genug, um Aufsehen zu erregen - unser Winzlingsfahrer ließ beinahe die Zügel fallen, als er mit hervorquellenden Augen in den Himmel starrte - und das Ganze durchsetzt mit Bomben, die in der Luft detonierten, gedämpft und fern durch unsere Auslöscher, aber so laut, daß der Lärm von den Hügeln zurückrollte. Die Landschaft war hell erleuchtet von den Explosionen im Äther; und das war nur der Anfang. Es diente bloß dazu, die Winzltnge zu wecken und sie hinaus ins Freie zu bekommen.

Dann traten die Campbellschen Brigaden in Aktion.

Jetzt gab es nicht mehr viele Lärmexplosionen, aber die, die erfolgten, klangen wie ein Überschallknall, der sich zwischen Ihrer Schulter und Ihrem ereignete. Unglaublich laut. Sogar durch die Ohrenschützer qualvoll laut - ohne die großen Auslöscher hätte die Hälfte der Einheiten das Gehör verloren. Bei den Winzlingen war es vermutlich so. Ich fand später heraus, daß bei diesem Dröhnen zwei Gletscher in den fernen Bergen gekalbt hatten und eine Lawine aus gelockertem Schnee die Bevölkerung eines Uygher-Dorfes erwischt hatte, während sie in den Himmel starrte. Aber der Lärm war nur die Hälfte davon. Die andere Hälfte war Licht. Es blitzte wie ein Stroboskop in den Augen - sogar durch die schnell reagierenden Kapuzen. Sogar durch geschlossene Lider. So eine Show hatte es noch nie gegeben. Selbst wenn man geschützt war, schockte sie die Sinne taub.

Und dann natürlich bellten die Lautsprecherbataillone ihre Befehle, und unser Projektor-Bataillon bevölkerte seine Nebelschirme mit den bunten, wollüstigen, unwiderstehlichen Bildern und dampfenden Bechern mit Coffiest und Cari-O-Schokoriegeln und Nic-O-Chews und Starrzelius Verily-Hosenanzügen und Sportbüstenhaltern und brutzelnden, saftigen ÄchtFlaischwürfeln, von denen sich Scheiben abkräuselten, so nahrhaft und köstlich, daß man sie beinahe schmecken konnte - man sie tatsächlich sogar riechen konnte, weil die Chemische Unterstützungsmannschaft vom Neunten Bataillon nicht untätig gewesen war und ihre Generatoren Coffiest-Duftwolken und das Aroma von ÄchtFlaisch-Burgern und, für mich am schlimmsten, hin und wieder den schokoladigen Geruch einer Moke ausstießen - und immer und über allem die betäubenden Geräusche, die blendenden Stroboskoplichter... »Sehen Sie nicht hin!« brüllte ich Feldwebel Martels ins Ohr. Aber wie konnte sie es verhindern? Selbst durch Hörmuscheln und Kapuzen vor den limbischen Stimuli geschützt, waren die Bilder an sich schon so appetitlich, so Begierde weckend, daß mir das Wasser im Munde zusammenlief und meine Hände wie von allein in die Taschen nach Kreditkarten langten. Der Großteil des grundlegenden Zwangs ging natürlich an uns vorüber. Uns blieben die Campbellschen Verstärker erspart. Die verbalen Botschaften, die von Hügel zu Hügel dröhnten, waren im Uygher-Dialekt, den wir nicht verstanden. Aber unser Fahrer saß verzückt da, den Kopf zurückgeworfen, die Zügel locker im Schoß, mit glänzenden Augen und einem Ausdruck solch unaussprechlichen Verlangens auf dem Gesicht, daß mein Herz schmolz. Ich griff in die Tasche und fand einen halben Riegel Cari-O; und als ich ihn ihm gab, reagierte er mit so überschwenglicher Dankbarkeit, daß ich wußte, ich hatte seine lebenslange Ergebenheit gewonnen. Arme Winzlinge! Sie hatten nicht die geringste Chance.

Oder, um es angemessener auszudrücken, verbesserte ich mich pedantisch, endlich waren die der reichen lohnenden Gemeinschaft der merkantilen Gesellschaft beigetreten. Wo die Mongolen und Manchus und Hans gescheitert waren, hatten moderne kulturelle Imperative triumphiert.

Das Herz lief mir über. Alle Kümmernisse und Tragödien der letzten Tage waren vergessen. Ich griff nach Gert Martels, während wir in jenem regungslosen Karren saßen, da die letzten der Himmelsreklamen verblaßten und die Echos der akustischen Untermalung verhallten, und legte meinen Arm um ihre Schultern.

Zu meiner Überraschung weinte sie.

Bis um elf Uhr am nächsten Morgen waren die Handelsposten regelrecht ausgeplündert. Vor ihren leeren Regalen bettelten Kazaken und Uygher und Hui um die Möglichkeit, Eis am Stiel und Kelpy Krisps kaufen zu dürfen. Die gesamte Operation war ein makelloser Triumph. Sie bedeutete eine ehrenvolle Erwähnung auf Einheitsebene für alle daran Beteiligten und eine ehrenvolle Erwähnung als Sachbearbeiter für Kundenwerbung für einige.

Für mich bedeutete sie - vielleicht - sogar die Chance zu einem Neubeginn.


III

Aber das, so stellte sich heraus, sollte sie noch nicht gleich bedeuten. Ich schaffte die rotäugige und unerklärlicherweise immer noch schnüffelnde Gert zurück in ihr Quartier und schlich mich ohne Probleme zurück ins Hospital - die Hälfte der Patienten und nahezu alle Sanitäter und Angehörige des Ärztestabes waren noch draußen, wo sie mit über die Schultern zurückgeklappten Kapuzen erregt über den Angriff schwatzten. Ich mischte mich einen Augenblick unter sie, arbeitete mich durch die Menge, erreichte mein Bett und schlief wieder; es war ein harter Tag gewesen.

Der nächste Morgen war eine Wiederholung meines ersten Tages, da der Major mit den Ärzten im Schlepptau durch die Station getappt kam, um mir mitzuteilen, daß ich aus der Station entlassen sei und mich in zwanzig Minuten im Hauptquartier einzufinden habe. Das einzig Gute war, daß der Oberst nicht da war; sie hatte sich selbst zu den Fleischtöpfen Shanghais abkommandiert, sobald die Operation vorüber war, um dem Großen Hauptquartier Bericht zu erstatten. »Aber deswegen sind Sie noch lange nicht vom Haken, Tarb«, belehrte mich der Oberstleutnant, der an zweiter Stelle in der Befehlshierarchie kam. »Ihr Benehmen ist unerhört. Sie wären selbst als Verbraucher eine Schande für die Uniform, aber Sie sind ein Werbefachmann. Passen Sie bloß auf, was Sie hin. Ich werde Sie im Auge behalten!«

»Jawohl, Sir.« Ich versuchte, mein Gesicht ausdruckslos erscheinen zu lassen, aber es gelang mir wohl nicht, denn er knurrte: »Sie denken daran, nach Hause zurückzukehren, nicht wahr, damit Sie sich nicht länger um solche Dinge kümmern müssen?«

Na ja, genau das hatte ich gedacht. Es ging das Gerücht um, daß die Truppenrückführung an eben diesem Tage beginnen würde.

»Daraus wird nichts«, sagte er bestimmt. »Feldgeistliche gehören zürn Stammpersonal. Das Stammpersonal hat die Aufgabe, alle anderen herauszubringen, bevor es nach Hause fahren kann. Sie werden nirgendwohin gehen, Tarb... außer vielleicht in den Bunker, wenn Sie sich nicht am Riemen reißen!«

Also kroch ich zurück in mein Büro und zu meinem kleinlauten StUffz. Gert Martels. »Tenny«, begann sie verlegen.

Ich bellte: »Leutnant Tarb, Feldwebel!«

Ihr Gesicht lief dunkelrot an, und sie nahm hart Haltung an. »Jawohl, Sir. Ich wollte mich nur beim Leutnant entschuldigen für mein, äh, mein...«

»Ihr abstoßendes Benehmen, meinen Sie«, hielt ich ihr eine Strafpredigt. »Feldwebel, Ihr Benehmen ist unerhört. Sie wären selbst als - äh - als Gemeine eine Schande für die Uniform, aber Sie sind ein Unteroffizier...« Ich hielt inne, weil ein Echo im Raum war. Oder in meinem Kopf. Schweigend starrte ich sie einen Augenblick lang an, dann ließ ich mich schwer auf einen Stuhl fallen. »Ach, verdammt, Gert«, sagte ich, »Vergiß es. Wir sind zwei von der gleichen Sorte.«

Die Röte wich aus ihrem Gesicht. Sie stand unsicher da, trat von einem Fuß auf den anderen. Endlich sagte sie mit leiser Stimme: »Ich kann dir diese Sache auf dem Hügel erklären, Tenny...«

»Nein, das kannst du nicht. Ich brauche es nicht zu hören. Hol mir eine Moke.«

Oberstleutnant Headley mochte die Absicht gehabt haben, mich im Augen zu behalten, aber er hatte nur zwei Augen. Die Truppenrückführung beanspruchte sie beide. Die gesamte schwere limbische Ausrüstung wurde zusammengepackt und auf Transporter verladen, und die Stoßtruppen marschierten hinter ihr her in die Rumpfzellen und waren verschwunden. Die zurückkehrenden Transporter waren jedoch nicht leer. Sie waren voll mit Versorgungsnachschubtruppen und vor allem Handelsgutern. Und die Handelsgüter schmolzen dahin wie Schnee. Jeden Morgen sah man die Winzlinge in einer Schlange an den Handelsposten darauf warten, daß sie geöffnet wurden, und mit Armen voller Schokoriegel und Snacks und Thomas Jefferson-Amuletten aus purem Simulatsilber für die Frauen und Kinder zu ihren Jurten davonstolpern. Die Operation war ein totaler Triumph gewesen. Sie haben noch nie eine so ergebene Gruppe von Verbrauchern gesehen wie die eifrigen kleinen Winzlinge, und ich wäre auf meine Beteiligung an dem großen Kreuzzeug stolz gewesen, wenn in meinem Herzen noch irgendwelcher Stolz übriggeblieben wäre. Aber diesen Artikel konnten die Versorgungsnachschubtruppen nicht liefern.

Wenn ich irgend etwas zu tun gehabt hätte, wäre es vielleicht leichter gewesen. Das Büro des Feldgeistlichen war der ruhigste Ort im Reservat. Die alten Truppen hatten nichts, weswegen sie hätten kommen und sich beklagen sollen, weil sie sowieso auf dem Weg nach Hause waren; die Nachschubeinheiten waren zu beschäftigt. Ohne uns jemals eigentlich darüber zu verständigen, arbeiteten Gert Martels und ich Ad-hoc-Arbeitsteilung aus. Jeden Morgen pflegte ich allein in dem leeren Büro zu sitzen, Mokes zu picheln und mir zu wünschen, ich sei - egal was - alles, nur nicht, was und wo ich war. Sogar tot. Und nachmittags löste sie mich ab, und ich verzog mich ins Offizierskasino nach Urumqi, balgte mich darum, welche Kanäle wir am Omni-V verfolgen sollten, und wartete vergebliche Stunden in meinen endlosen Versuchen, einen Anruf durchzubekommen zu Mitzi oder Haseldyne oder dem Alten... oder Gott. Ein paarmal wagte ich mich sogar an das Büro des Oberstleutnant heran und versuchte, meine Entlassung zu erwirken. Die rechte Zeit, um als Held nach Hause zurückzukehren, ist, bevor alle vergessen, bei welcher Gelegenheit man sich heldenhaft verhalten hat, und schon jetzt verschwand die Gobi-Operation aus den Omni-V-Nachrichtensendungen. Kein Glück. Und es war weiterhin heiß. Egal, wie viele Mokes ich soff, ich schien sie schneller auszuschwitzen, als ich sie runterkippen konnte. Ich wog mich nicht mehr, weil die Zahlen, die auf der Anzeige erschienen, langsam anfingen, mir Angst zu machen.

Die Freitage waren am schlimmsten, weil wir da nicht einmal versuchten, das Feldgeistlichen-Büro offenzuhalten. Ich kämpfte mich nach Urumqi durch die Massen von Winzlingen in ihren Wagen und Karren und Fahrrädern, in deren Augen der Verbraucherglanz schimmerte, während sie den Basaren der großen Stadt zustrebten, reservierte ein Zimmer, füllte meinen Moke-Vorrat auf, strebte dem Offizierskasino und meinen endlosen Kabbeleien wegen des Omni-V und der Telefonanrufe zu...

Aber diesmal wartete Gert Martels vor dem Kasino auf mich. »Tenny«, sagte sie, während sie sich rasch umsah, um sicherzugehen, daß niemand nahe genug war, um zuzuhören, »du siehst schrecklich aus. Du brauchst ein Wochenende in Shanghai. Und ich auch.«

»Außerhalb meiner Urlaubsscheinbefugnis«, sagte ich düster. »Geh und versuch es bei Oberstleutnant Headley, wenn du willst. Vielleicht läßt er dich ja gehen. Mich nicht. Da bin ich mir sicher.« Ich blieb stehen, weil sie mir zwei Passierscheinkarten unter die Augen hielt. Über dem Magnetstreifen war Headleys Unterschrift.

»Es hat keinen Sinn«, sagte sie, »mit dem Hauptfeldwebel befreundet zu sein, wenn er nicht ein paar Passierscheine in den Unterschriftsakten des Obersten schmuggeln kann, wenn er das will. Das Flugzeug geht in vierzig Minuten, Tenny. Möchtest du mit?«

Shanghai! Juwel des Orients! Um zehn Uhr an jenem Abend saßen wir in einer schwimmenden Bar an der Bund. Ich verdrückte gerade die zehnte - oder vielleicht war es auch die zwanzigste - tüchtig gespritzte Moke, musterte dabei die schwarzhaarigen kleinen Barmädchen mit den Flapperfrisuren und fragte mich, ob ich versuchen sollte, bei einer Anschluß zu finden, bevor ich zu benommen war, um etwas in dieser Richtung zu unternehmen. Gert trank ÄNA pur und wurde mit jedem Gläschen steifer und vorsichtiger in ihrer Redeweise. Und glasiger in den Augen. Das war eine komische Sache bei Gert Martels. Sie war keine schlechtaussehende Frau, wenn man die Narben nicht mitrechnete, die über ihrer linken Gesichtshälfte klafften, vom Ohr bis zur Kinnlade. Aber ich hatte mich nie an sie herangemacht oder sie sich an mich. Viel davon hatte wohl mit dem militärischen Ehrenkodex und den Schwierigkeiten zu tun, in die man geraten konnte, wenn man zwischen Offizieren und Mannschaftsdienstgraden fraternisierte, aber eine Menge anderer Os und MDs hatten es riskiert und waren damit durchgekommen. Und Mitzi lag lange, lange zurück. »Wie kommt's?« fragte ich, als ich der Bedienung winkte.

Sie rülpste damenhaft und richtete ihre Augen auf mich. Es dauerte ein oder zwei Sekunden; sie schien Schwierigkeiten zu haben, scharf zu sehen. »Wie kommt genau was, Tennison?« fragte sie mit sorgfältiger Betonung.

Ich hätte ihre Frage beantwortet, nur kam die Kellnerin vorbei, und ich mußte einen weiteren Moke- und Dschinn und einen Äthylneutralalkohol für die Dame bestellen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich wieder erinnerte. »Ach ja«, sagte ich, »was ich fragen wollte, war, warum wir beide es eigentlich nie miteinander probiert haben.«

Sie bedachte mich mit einem würdevollen Lächeln. »Wenn du möchtest, Tennison...«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich meine nicht, wenn ich möchte, ich meine, wie kommt's, daß es nie, na, du weißt schon, zwischen uns gefunkt hat.« Sie antwortete nicht sofort. Die Drinks kamen, und als ich die Kellnerin bezahlt hatte und Gert den ÄNA gab, sah ich, daß sie weinte.

»Mensch, hör mal«, sagte ich, »ich hab' doch nicht meinen Rang oder irgendwas raushängen lassen, Oder hab' ich das?« fragte ich, indem ich mich bestätigungsheischend am Tisch umsah. Ich erinnerte mich nicht mehr so genau, wie es dazu gekommen war, aber es schienen da vier oder fünf Leute zu sein, die sich uns angeschlossen hatten. Sie alle lächelten und schüttelten die Köpfe - was vielleicht bedeutete Nein, hatte ich nicht und vielleicht Nein, wir verstehen kein Englisch. Aber einer von ihnen tat das doch. Der Zivilist. Er beugte sich herüber und rief über den Lärm der Bar:

»Ihl mich lassen nächste Lunde spendielen, okay?«

»Warum nicht?« Ich dankte ihm mit einem Lächeln und wandte mich wieder Gert zu. »Entschuldige, aber was hast du gesagt?« fragte ich.

Einen Augenblick lang dachte sie darüber nach, und der Zivilist beugte sich zurück zu mir:

»Ihl Jungs aus Uhlumuhtschih, lichtig?« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, daß er Urumqi zu sagen versuchte, aber dann gab ich zu, daß er recht habe. »Kann immel elkennen! Ihl Jungs Spitze. Ich spendielen zwei Lunden!« Und die Matrosen von der Whangpu-Flußpatrouille grinsten und applaudierten alle; so viel Englisch konnten sie auch.

»Ich nehme an«, sgte Gert nachdenklich, »ich war wohl im Begriff, dir meine Lebensgeschichte zu erzählen.« Sie nahm den nächsten Drink entgegen, nickte höflich und kippte ihn zwischen zwei Sätzen herunter, ohne aus dem Takt zu kommen. »Als ich ein kleines Mädchen war«, sagte sie, »hatten wir eine glückliche Familie. Was Mutti alles aus Soja-tem und ZelloWeizen und ein paar Prisen MSG machen konnte! Und zu Weihnachten hatten wir dann immer TruThan - richtiges wiederaufbereitetes ÄchtFlaisch, und Dscheleh-Dessert mit Preiselbeeraroma und alles.«

»Weihnachten!« rief der Zivilist entzückt aus. »Das Chlistfest! Ach, ihl Jungs Spitze mit eulem Chlistfest!«

Sie schenkte dem Mann ein höfliches, aber kühles Lächeln und griff nach dem nächsten Drink. »Als ich fünfzehn war, starb Daddy, Sie sagten, er hätte Bronchial-irgendwas. Er hustete sich zu Tode.« Sie hielt inne, um zu schlucken, und das gab dem rundlichen alten Zivilisten eine Chance.

»Ihl wissen, ich gehen zul Missionalsschule?« fragte er. »Da hatten auch Chlistfest. Oh, wil auch Missionalsjungs schulden viel gloße Menge!«

Es war nicht einfach für mich, einer Lebensgeschichte zu folgen, viel weniger zweien. Die Bar war inzwischen erheblich lauter und voller geworden, und obwohl der alte Ausflugsdampfer sicher an den Pfählen der Bund vertäut war, hätte ich schwören mögen, daß er in den Wellen schaukelte. »Nur zu«, sagte ich allgemein.

Gert reagierte schneller. »Wußtest du, Tenny«, fragte sie, »daß Fabriken früher einmal Rauchfilter in den Schornsteinen hatten? Sie filterten den Schwefel und die Flugasche aus. Die Luft war sauber, und die durchschnittliche Lebenserwartung betrug acht Jahre mehr als heute.«

»Hiel auch!« rief der Zivilist. »Als ich in Missionalsschule...«

Aber sie überging ihn einfach. »Weißt du, warum man damit aufhörte? Tod. Man wollte mehr Tod. Im Tod liegt das große Geld. Teilweise sind es die Bilanzen der Versicherungsgesellschaften - die Versicherungsmathematiker rechneten aus, daß es weniger kostet, Lebensversicherungspolicen auszuzahlen, als Leibrenten. Dann ist da das ganze Dollaraufkommen aus der Krankenhausversicherung, und ein Fünfzigjähriger, der sein ganzes Leben im Smog gelebt hat, weiß, daß er eine Menge Zeit damit verbringen wird, krank zu sein, also muß er eine abschließen - dann, wenn er schnell stirbt, ist das fast alles Profit. Natürlich sind da auch noch die Leichenbestatter. Du würdest nicht glauben, welche Profite beim Begraben der Toten gemacht werden. Aber vor allem -« Sie sah sich am Tisch um, mild lächelnd- »vor allem, na ja, zum Teufel. Sobald ein Verbraucher das Rentenalter erreicht, wieviel Geld hat er dann, um sich Sachen zu kaufen? Verdammt wenig. Wer also braucht ihn?«

Ich sagte nervös: »Gert, Schätzchen, vielleicht sollten wir ein bißchen frische Luft schnappen.« Der alte Zivilist grinste und nickte; er hatte selbst genug intus, daß es ihm egal war, was irgend jemand sagte. Aber einer der Whangpu-Matrosen runzelte die Stirn, als verstünde er doch ein wenig Englisch. Es schien Gert kalt zu lassen.

»Hätte es frische Luft gegeben«, erklärte sie, »wäre Daddy vielleicht nicht auf diese Art gestorben, oder?« Sie streckte mit einem süßen Klein-Mädchen-Lächeln ihr Glas aus. »Könnte ich wohl noch ein bißchen haben, bitte?« fragte sie.

Gott segne den alten Zivilisten. Binnen eines Augenblicks hatte er die Kellnerin mit einer neuen Runde da, und das Gesicht des Whangpu-Matrosen entspannte sich, als er seine Nachfüllung bekam.

Ich war weit davon entfernt, nüchtern zu sein, aber nicht so weit, um nicht zu bemerken, daß Gert in schlechterer Verfassung war als ich. Ich unternahm eine Anstrengung, das Thema zu wechseln. »Also mögen Sie die Missionare, ja?« meinte ich herzlich zu unserem Wohltäter.

»Oh, veldammt gute Jungs, ja! Schulden ihnen viel gloße Menge.«

»Weil sie das Christentum nach China gebracht haben, meinen Sie?«

Er wirkte verblüfft. »Wieso Chlistentum? Für Chlistfest -Weihnachten, Wißt ihl, was Weihnachten bedeuten? Ich Ihnen sagen. Mein Geschäft - Gloßhandel mit Kleidelwalen allel Alt - Weihnachsvelkäufe bedeuten finfzig Plozent von Velkaufsvolumen jählich, beinahe finfundachtzig Plozent von Netto. Das Weihnachten bedeuten! Buddha, Mao, sie uns nie so etwas gegeben!«

Unglücklicherweise hatte er Gert wieder in Gang gesetzt. »Weihnachten«, sagte sie verträumt, »war nicht mehr so wie früher, nachdem Daddy gestorben war. Zum Glück hatte er ein altes Gewehr. Also fuhr ich raus zu den Müllabladeplätzen - wir wohnten damals in Baltimor, unten am Hafen - und schoß Seemöven und schmuggelte sie nach Hause. Natürlich waren sie nicht wie TruThan, aber Mutti...«

Ich verschüttete beinahe meinen Drink. »Gert«, rief ich, »ich glaube, wir gehen jetzt besser?« Aber es war zu spät.

»...Mutti bereitete diese Seemöven so zu, daß man hätte glauben können, sie wären ÄchtFlaisch, und wir aßen, bis uns schlecht wurde und...«

Sie führte es nie zu Ende. Der Whangpu-Matrose sprang auf, das Gesicht vor Zorn und Ekel arbeitend. Ich verstand die Worte nicht, die er sagte, aber die Bedeutung war klar genug. Tierfresser. Und dann brach die Hölle los.

Ich erinnere mich nicht mehr sehr deutlich an den Kampf, nur daran, wie die MPs hereinströmten, als ich mich zum zweiten Mal unter dem Tisch hervorzog. Adrenalin und Panik hatten viel von dem Schnaps aus mir herausgekocht, aber ich dachte, ich sei immer noch betrunken, halluzinatorisch betrunken. Delirium tremens-betrunken, als ich sah, wer sie anführte. »Ach, Frau Oberst Heckscher!« murmelte ich. »Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen.«

Und dann verlor ich das Bewußtsein.

Nun ja, es war auch eine Art, nach Hause zu kommen. Beinahe nach Hause. Bis Arizona jedenfalls. Dorthin ging Oberst Heckscher, und da wir immer noch nominell Mitglieder ihres Stabes waren, hatte sie keine Mühe, uns mit ihr zusammen für die Kriegsgerichtsverhandlung überstellen zu lassen.

Also wechselte ich von einer staubigen Wüste in eine andere. Es schien, als seien die Hälfte der Sturmtruppen von Urumqi bereits vor mir dort angekommen. Von meinem einsamen Zimmer in den Stabsoffiziersquartieren aus - Gert war im Militärgefängnis, aber da ich Offizier war, stand ich nur unter Hausarrest - konnte ich ihre Schaumstoffiglus sehen, die sich in ordentlichen Reihen bis zum Horizont erstreckten, und ganz am Rande des Lagers eine lange Reihe von Shuttles. Ich verbrachte nicht viel Zeit damit, sie mir anzuschauen. Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit der Wehranwältin, die das Gericht zu meiner Verteidigung bestellt hatte. Verteidigung! Sie war höchstens zwanzig, und ihre Hauptreferenz war, daß sie in der Copyright & Warenzeichen-Abteilung einer unbedeutenden Houstoner Agentur gearbeitet hatte, während sie darauf wartete, zur Rechtsakademie zugelassen zu werden.

Aber ich hatte einen mächtigen Freund. Der chinesische Zivilist vergaß seine alten Saufkumpane nicht. Er weigerte sich, gegen uns auszusagen, und es schien, als hätte er die gesamte Whangpu-Flotte bestochen, denn als sie via Satellitenvideo zur persönlichen Aussage aufgerufen wurden, bezeugten sie allesamt, daß sie kein Englisch sprächen, nicht wüßten, was -wenn überhaupt etwas - Gert und ich gesagt hatten, ja, sich nicht einmal sicher wären, ob es sich bei uns um die Leute aus dem Westen handelte, die an jenem Abend in der Bar gewesen waren. Alles, wofür sie mich drankriegen konnten, war also ungebührliches Verhalten für einen Offizier, und das bedeutete nicht mehr als eine unehrenhafte Entlassung.

Es bedeutete aber auch nicht weniger. Dafür sorgte Oberst Heckscher. Aber ich hatte Glück. Gert Martels bekam die gleiche UE, aber da sie aus den Mannschaftsdienstgraden kam und Berufsunteroffizier war, hatten sie eine lange Akte über sie; und nur, um in ihrer Erinnerung die unehrenhafte Entlassung ein bißchen unangenehmer zu machen, gaben sie ihr zuerst sechzig Tage verschärften Arrest.

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