Tarbs Heimkehr

I

Zu meiner Überraschung befanden sich die beiden abgeschobenen Marineinfanteristen auf demselben Schiff. Das war auch gut so. Hätten sie mir nicht geholfen, mich dahinzuschleppen, hätte ich es wohl kaum geschafft. Mitzi, total bandagiert und zerschlagen, ging es prima, aber mir nicht. Mir war kotzspeiübel, und wenn ich kotzspeiübel sage, meine ich auch genau das. Ich war immer anfällig für Bewegungskrankheit gewesen, aber mir war nie in den Sinn gekommen, daß es genauso schlimm sein würde, sich auf dem Mond aufzuhalten.

Die Venus ist schrecklich, gewiß, aber wenigstens wiegt man auf der Venus das, was man zu wiegen erwartet. Der Mond ist nicht so freundlich. Es heißt, daß man nach den ersten sechs Wochen aufhört, seinen Kaffee quer durch den Raum zu schleudern, wenn man ihn eigentlich nur an die Lippen setzen will, aber ich werde es nie selbst herausfinden - mir gefällt der Ort nicht. Wenn wir mit einer regulären irdischen Rakete gekommen wären, hätte man uns geradewegs mit einem Shuttle zur Oberfläche gebracht, aber es handelte sich um einen Veenie-Raumer, und wir mußten im Quarantänehafen Zwischenstation machen.

Und das, das muß ich schon sagen, war eine Farce! Ich sage nichts gegen die Agenturen. Sie verwalten die Erde sehr gut. Aber die ganze Idee bei der Quarantäne ist, Veenie-Krankheiten draußen zu halten, stimmt's? Das schließt die schlimmste Veenie-Krankheit ein, die politische Seuche des Konservationismus. Also sollte man erwarten, daß sie auf dem Mond den Veenies beim Zoll und bei der Einwanderung schwere Zeiten bereiteten. Statt dessen winkte die Einwanderungsstelle sie ohne mehr als einen flüchtigen Blick auf ihre Pässe vorbei. Ich meine nicht nur die Besatzung, die sowieso nirgendwohin als bis zur nächsten Penne ging. Sogar die Handvoll Veenie-Geschäftsleute und -Diplomaten, die auf der Durchreise zur Erde waren, ließ man in Nullkommanichts durchflutschen.

Aber wir Erdbewohner - Mann! Sie forderten Mitzi und mich auf, uns hinzusetzen, magnetocheckten unsere Papiere und durchwühlten unsere Reisetaschen, und dann ging die Fragerei los. Berichten Sie alle Kontakte mit Personen venusischer Nationalität in Ausübung Ihres Dienstes während der letzten achtzehn Monate; geben Sie Zweck des Kontakts und Natur der weitergegebenen Information an. Berichten Sie alle derartigen Kontakte außerhalb der Dienstausübung - einschließlich Zweck und Informationen. Wir waren drei Stunden in diesem versiegelten Kabuff, füllten Formulare aus und beantworteten Fragen, und dann wurde der Vernehmungsbeamte ernst. »Es ist festgestellt worden«, sagte er - grammatisch gesprochen passiv, aber die Stimme selbst hallte von Abscheu und Verachtung wider, »daß gewisse irdische Staatsangehörige sich, um leichteren Zutritt zur Venus zu erhalten, rituelle Entweihungsakte haben zuschulden kommen lassen.«

Na ja, das stimmte allerdings. Es war wieder so ein typischer lausiger Veenie-Trick, wie vor Jahrhunderten bei den Japanern, die Europäer zwangen, auf Bibeln herumzutrampeln. Wenn Sie zur Veenie-Einwanderungskontrolle kamen, hatten Sie die Wahl. Sie konnten vier oder fünf Stunden eingehender Befragung über sich ergehen lassen, bei der alle Ihre Besitztümer geöffnet wurden, und höchstwahrscheinlich eine Leibesvisitation. Oder Sie konnten einen Eid ablegen, mit dem Sie »der Werbung, den Public Relations, der medialen Überredung oder jeder anderen Form von Manipulation der öffentlichen Meinung« abschworen; ein paar Verleumdungen über Ihre Agentur loslassen; und dann, je nachdem, wie gut Sie als Schauspieler waren, glatt durchrauschen. Natürlich war es ein einziger großer Witz. Ich lachte in mich hinein und setzte an, ihm das zu erklären, aber Mitzi mischte sich vor mir ein. »Ach ja«, sagte sie mit ernsthaftem Nicken und einem Gesichtsausdruck, der so mißbilligend war wie seiner, »davon haben wir auch gehört.« Sie warf mir einen warnenden Blick zu. »Wissen Sie zufällig, ob das wahr ist?«

Der Mann von der Einwanderungsstelle legte seinen Schreibstift hin, um ihr prüfend ins Gesicht zu blicken. »Sie wollen sagen, Sie wissen nicht, ob so etwas vorkommt oder nicht?«

Unbekümmert meinte sie: »Man hört Geschichten, sicher. Aber wenn man versucht, den Finger darauf zu legen, kann man einfach keinen einzigen konkreten Beweis finden. Immer heißt es, nein, mir ist das nicht passiert, aber ich kenne da jemanden, der sagt, er habe einen Freund, der - jedenfalls kann ich nicht glauben, daß ein anständiger Erdbewohner so etwas tun würde. Ich würde es jedenfalls nicht, und Tennison auch nicht. Ganz abgesehen davon, daß es offensichtlich unmoralisch wäre, wissen wir, daß wir bei unserer Rückkehr die Folgen dafür tragen müßten!«

So ließ uns der Mann denn widerwillig passieren, und sobald wir draußen waren, flüsterte ich Mitzi zu: »Du hast mir den Hintern gerettet - danke!«

»Sie haben erst vor ein paar Jahren damit angefangen«, sagte sie. »Wenn wir zugegeben hätten, einen falschen Eid abgelegt zu haben, wäre das in unsere Akten gekommen - dann säßen wir in der Scheiße.«

»Ulkig, daß du davon gehört hast und ich nicht.«

»Freut mich, daß du das Komische daran sehen kannst«, sagte sie mit beißender Schärfe, und ich stellte fest, daß sie aus irgendeinem Grund wütend war. Dann fuhr sie fort: »Tut mir leid. Ich bin schlecht aufgelegt. Ich glaube, ich werde versuchen, noch ein paar von diesen Bandagen loszuwerden - und dann ist es Zeit für das Shuttle!«

Die Erde! Der Geburtsort des Homo sapiens! Die Heimat wahren Menschentums! Die Blüte der Zivilisation! Als wir das Shuttle in seiner Schleusenkammer erreichten und ich einen flüchtigen Blick auf seine Graffiti erhaschte, wußte ich, daß ich daheim war. »Everett liebt Alice.« »Tiny Miljiewicz hat Herpes in den Ohren.« »Die Rams sind die Größten!« Auf der Venus gibt es nichts wie unsere einheimische irdische Volkskunst!

So stiegen wir aus dem Himmel herab, rüttelnd und schlagend; ich machte mir Sorgen wegen Mitzis verheilender Narben, aber sie murmelte nur etwas und drehte sich um, um zu schlafen. Hinaus über den weiten, vor Schleim grünlich-blauen Ozean... geradewegs über den ausgedehnten, uns willkommen heißenden nordamerikanischen Kontinent mit seinem Flickenteppich aus Städten, die grüßend durch den Smog heraufleuchteten... dann die Sonne, die wir hinter uns gelassen hatten und die nun wieder vor uns aufstieg, als wir über den Atlantik dahinglitten, unsere Kehre flogen, um den Rest unserer Höhe und Geschwindigkeit loszuwerden, und zu guter Letzt auf den breiten Landebahnen des Shuttlehafens von New York aufsetzten. Das kleine alte New York! Die Nabe des Universums rotiert weiter! Ich spürte, wie mein Herz vor Stolz und vor Freude angesichts der Heimkehr pochte... und Mitzi, neben mir angeschnallt, hatte das Ganze verschlafen.

Sie setzte sich schlaftrunken auf, während wir darauf warteten, daß der Schlepper sich ankoppelte und uns zum Terminal bugsierte. Sie zog ein Gesicht. »Na, ist es nicht toll, wieder daheim zu sein?« fragte ich und grinste sie an.

Sie beugte sich über mich, um aus dem Fenster zu starren. »Klar doch«, sagte sie, aber ihr Tonfall war weit von jeder Begeisterung entfernt. »Ich wünschte...«

Aber ich fand nie heraus, was sie wünschte, weil sie in einen heftigen Hustenanfall ausbrach. »Mein Gott!« keuchte sie, »was ist denn das für ein Zeug?«

»Das ist die gute alte New Yorker Stadtluft!« erklärte ich ihr. »Du bist zu lange weg gewesen - du hast vergessen, wie sie ist!«

»Wenigstens könnten sie sie filtern«, beklagte sie sich. Nun, natürlich war sie gefiltert, aber ich machte mir nicht die Mühe, sie zu korrigieren. Ich war zu sehr damit beschäftigt, unsere Sachen aus den Gepäcknetzen zu holen und mich zum Aussteigen anzustellen. Es war sieben Uhr vormittags Ortszeit. Noch waren nicht allzu viele Leute im Terminal, was ein Plus war, aber das Minus, das das in der Gleichung wieder aufwog, war der Mangel an Gepäckträgern. Mitzi zottelte mürrisch hinter mir drein zur Gepäckausgabe, wo ich eine Überraschung erlebte. Die Überraschung hieß Valentine Dambois, Senior-Vizepräsident und Assoziierter Generalmanager, rosige Wangen, blinzelnde blaue Augen, die rundliche Figur in wackelnder Bewegung, als er herübergeeilt kam, um uns zu begrüßen.

Ich sagte mir, daß ich nicht hätte überrascht sein müssen - ich hatte gute Arbeit auf der Venus geleistet, und ich hatte nie bezweifelt, daß die Agentur mich zuvorkommend behandeln würde, wenn ich zurückkam. Aber nicht so zuvorkommend! Man wurde nicht morgens um diese Uhrzeit von einem Direktor der Starklasse willkommen geheißen, wenn man nicht etwas ganz Besonderes war. Voller guten Mutes und großer Hoffnung streckte ich also die Hand aus. »Schön, Sie zu sehen, Val«, begann ich...

Und er lief einfach an mir vorbei. Direkt zu Mitzi.

Val Dambois war ein tonnenförmiger kleiner Mann, und das fetteste an ihm war sein Gesicht; wenn er lächelte, sah es aus wie ein Halloween-Kürbis. Das Lächeln, das er Mitzi schenkte, war wie ein Kürbis, der gerade dabei war, in zwei Hälften zu zerplatzern. »Mitzi-Witzi!« schrie er, obwohl er nur einen halben Meter von ihr entfernt war und rasch näher kam. »Ich hab' dich vermißt, du süßer kleiner Furz!« Er schlang die Arme um sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihr einen dicken Kuß zu geben.

Sie erwiderte den Kuß nicht. Sie zog den Kopf zurück, so daß der Kuß nur bis zu ihrem Kinn gelangte.

»Hallo«, sagte sie, »Val.«

Sein Gesicht verfiel. Einen Augenblick lang glaubte ich, Mitzi hätte sich jede Beförderungschance, die sie jemals gehabt harte, zunichte gemacht, aber Dambois leistete großartige Restaurierungsarbeiten an seinem Lächeln. Als er es wieder aufsetzte, war es so gut wie neu, und er tätschelte liebevoll, aber hastig ihr Hinterteil. Mit einem leisen Lachen trat er zurück. »Du hast einen ganz schönen Schnitt gemacht«, sagte er voller Wärme. »Ich ziehe den Hut vor dir, Mitzi!«

Natürlich wußte ich nicht, wovon er sprach. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, daß auch Mitzi es nicht wußte, weil ein flüchtiger Schatten ihre Augen umwölkte und ihr Kinn sich spannte, aber Dambois sah bereits mich an. »Hab' wohl das Boot verpaßt«, sagte er freundlich - mit wehmütiger Freundlichkeit, hieß das, und einer winzigen Spur von Verachtung.

Nun war ich nicht allzu überrascht von der Art und Weise, wie Dambois Mitzi begrüßte. Hier und da hatte es ein paar Gerüchte über Mitzi und ein oder zwei Direktoren der Starebene gegeben, Val Dambois eingeschlossen. Es bedeutete mir nichts. Zum Teufel, es ist ein rauher Weg, den man zurücklegen muß, wenn man im Werbegeschäft an die Spitze will. Wenn man vorankommen kann, indem man den richtigen Parteien ein bißchen Freude spendet, warum nicht? Aber sie hatte nichts von irgendeinem Schnitt zu mir gesagt. »Wovon reden Sie eigentlich, Val?« fragte ich.

»Sie hat es Ihnen nicht erzählt?« Er schürzte seine dicken Lippen und grinste. »Ihre Schadenersatzklage gegen die Bahngesellschaft. Sie haben sich außergerichtlich geeinigt - sechs Millionen Dollar und ein paar zerquetschte - es wartet in diesem Augenblick schon alles auf der Agenturbank auf sie!«

Ich brauchte zwei Anläufe, bevor ich herausbrachte: »Sechs... sechs Mill...«

»Sechs Millionen Dollar, steuerfrei und zur freien Verfügung, genau!« freute er sich. Der Mann war so glücklich, als sei das Geld sein eigenes - vielleicht harte er ja irgendeine Absicht, es dazu zu machen. Ich räusperte mich.

»Diese Schadenersatzklage...«, setzte ich an, aber Mitzi lehnte sich an mir vorbei, um auf etwas zu zeigen.

»Da, das ist meine«, sagte sie, als die Reisetaschen vom Fließband zu kommen begannen. Val sprang vor, wuchtete sie schnaufend herunter und stellte sie neben ihr ab.

»Was ich sagen wollte...« setzte ich an. Keiner hörte zu.

Während er einen dicklichen Arm um Mitzis Hüfte schlang - so weit jedenfalls, wie er ihn herum bekam, sagte Dambois jovial: »Tja, das wäre die erste Tasche, 's kommen vielleicht nicht mehr als noch zwanzig oder so, wie?«

»Nein, das ist die einzige. Ich reise gern mit leichtem Gepäck«, sagte sie und wand sich aus seinem Arm.

Dambois blickte sie vorwurfsvoll an. »Du hast dich sehr verändert«, beklagte er sich. »Ich glaube, du bist sogar größer geworden.«

»Kommt davon, wenn man auf einem leichteren Planeten ist.« Das war natürlich ein Scherz. Die Venus ist nur eine Winzigkeit kleiner als die Erde. Aber ich lachte nicht, weil ich darüber nachdachte, wieso Mitzi sich so einen tüchtigen Batzen Kleingeld an Land gezogen hatte und ich nicht - dann wurde das aus meinen Gedanken verdrängt, als ich sah, was das Fließband entlangkam.

»Oh, Scheiße«, schrie ich. Es war das Gepäckstück, das ich mit »Vorsicht - nicht werfen - nicht stürzen« gekennzeichnet hatte - der Schiffskoffer mit den stabilen Seiten und dem Doppelschloß. Es hatte nicht ausgereicht, um ihn zu retten. Der Koffer sah aus, als sei irgendwer mit einem der Raumfahrzeugschlepper über eine Ecke davon gefahren. Eine Seite war zerdrückt wie ein eingefallenes Souffle und ließ einen aromatischen Labber aus Schnaps, Kölnischwasser, Zahnpasta und weiß-Gott-was durchsickern. Natürlich hatte ich alles, was zerbrechlich war, hineingepackt.

»Was für eine Schweinerei«, beklagte sich Dambois. Er machte ein paarmal ungeduldig "tsk" und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich wollte Ihnen eigentlich anbieten. Sie mitzunehmen«, sagte er. »Aber wirklich - das Zeug in meinem Wagen würde ihn wochenlang vollstinken - und ich nehme an, Sie haben noch mehr Gepäck...«

Ich kannte mein Verslein. »Fahrt nur zusammen vor«, sagte ich düster. »Ich nehme ein Taxi.« Ich sah ihnen nach, wie sie weggingen, und grübelte eine Menge darüber nach, warum man mir nicht gestattet hatte, mich der Schadensersatzklage anzuschließen, aber noch mehr grübelte ich eigentlich in diesem Augenblick, ob ich zur Gepäckreklamationsstelle flitzen oder auf den Rest meiner Sachen warfen sollte.

Ich traf die falsche Entscheidung, ich entschloß mich zu warten. Nachdem das letzte Gepäckstück schon lange abgeholt worden war und das Fließband zu laufen aufgehört hatte, begriff ich, daß ich ein Problem hatte.

Als ich das Problem darlegte, bot mir der Aufsichtsbeamte, der dafür zuständig war, alle Verantwortung für alles, was je geschah, abzulehnen, an, daß er die fehlenden Stücke suchen werde, falls ich das wollte, während ich die Schadensmeldung ausfüllte, falls ich glaubte, das sei der Mühe wert - obwohl es ihm sehr so erschien, sagte er, als sei der Schaden an meinem Koffer eine alte Sache.

Er hatte jede Menge Zeit zum Suchen, weil es jede Menge auszufüllen gab. Als ich die Schadensmeldungen abgab, ließ er mich nur noch mal eine halbe Stunde oder so warten. Ich rief die Agentur an, um mitzuteilen, daß ich aufgehalten worden sei. Es schien sie nicht zu bekümmern. Sie gaben mir die Adresse der Unterkunft, die sie für mich organisiert hatten, rieten mir, mich häuslich einzurichten, und sagten, ich würde sowieso nicht vor morgen früh erwartet. Es ist schön, vermißt zu werden. Dann berichtete der Schadensmeldungsaufsichtsbeamte, daß der Rest meiner Koffer entweder nach Paris oder Rio de Janeiro gegangen sei und ich sie wohl in keinem von beiden Fällen so schnell wiedersehen würde. So, ohne Koffer, schloß ich mich der mürrischen Schlange an, die auf die nächste Stadt-U-Bahn wartete.

Eine halbe Stunde später, endlich am Ende der Reihe, stellte ich fest, daß ich keinerlei Veenie-Währung eingetauscht hatte und darum nicht genug Geld für die Fahrkahrte besaß - fand einen Wechselautomaten, hackte mein ID ein, aber alles, was kam, war eine körperlose Stimme, die säuselte: »Bedaure außerordentlich, Sir oder Madam, aber dieser Schnellservice-Bargeld rund um die Uhr-Ausgabeautomat ist vorübergehend außer Betrieb. Bitte sehen Sie auf der Karte nach, wo sich der nächste Alternativstandort befindet.« Aber als ich mich in der Zelle umschaute, hing keine Karte da.

Willkommen daheim, Tenn!

II

New York, New York. Was für eine wunderbare Stadt! Alle meine ärgerlichen Kümmernisse waren wie weggeblasen, sogar die Frage, warum Mitzi mich um meinen Anteil am unverhofften Gewinn betrogen hatte. Zehn Jahre schienen die hohen Gebäude, die in der grauen, flockigen Luft verschwanden, nicht verändert zu haben. Der kalten, grauen, flockigen Luft. Es war wieder Winter geworden; man sah Flecken schmutzigen Schnees in Ecken und hin und wieder einen vereinzelten Verbraucher, der sie heimlich zusammenschaufelte, um sie mit nach Hause zu nehmen und so die Frischwassersteuer zu umgehen. Nach der Venus war es der Himmel! Ich glotzte wie ein Tourist aus Wichita im Big Apple. Ich ging auch wie einer, denn ich rannte ständig in dahinhastende Fußgänger und schlimmere Dinge hinein. Mein ganzes Verkehrsgeschick war weg. Nach den Jahren auf der Venus war ich nicht mehr an das zivilisierte Leben gewöhnt. Da gab es einen Zwölf-Treter-Pedibus hier, drei Pedicabs, die sich um Lücken im Verkehrsfluß stritten, dort Fußgänger, die verzweifelt zwischen den Fahrzeugen umhersprangen, überall - die Straßen waren verstopft, die Bürgersteige brechend voll, jedes Gebäude pumpte ein paar hundert Leute mehr hinein und hinaus, während ich vorüberkam - ach, es war wunderbar! Für mich, meine ich. Für die Leute, die ich anrempelte oder ins Stolpern brachte oder zum um mich herum Ausweichen zwang, mag es vielleicht nicht so herrlich gewesen sein, nehme ich an. Aber das war mir schnuppe! Sie schrien hinter mir her, und ich zweifle nicht daran, daß das, was sie schrien, Beleidigungen waren, aber ich schwebte in rußiger, würgender, fröstelnder Wonne dahin. Werbeslogans flackerten in Flüssigkeitskristallanzeigen an jeder Wand, die neuesten so strahlend wie der Sonnenaufgang, die älteren verschmiert und schließlich unter Graffiti begraben. Probenverteiler standen längs der Bordsteine, um kostenlosen Frohschmauch- und Coffiest-Hits und Discount-Coupons für tausend Produkte an den Mann zu bringen. In der smogigen Luft schwebten Hologrammbilder von wundersamen Küchengeräten und phantastischen exotischen Drei-Tages-Reisen, und Verkaufsmelodien ertönten von überall her - ich war daheim. Wie mir das guttat! Aber zugegebenermaßen war es ein bißchen schwierig, durch die Straßen voranzukommen, und als ich ein wundersam freies Stück Bürgersteig sah, wählte ich es.

Zu der Zeit wunderte ich mich, warum der ältliche Mann, den ich beiseite stieß, um auf den Bürgersteig zu gelangen, mir so einen merkwürdigen Blick zuwarf. »Paß doch auf, Kerl!« rief er. Er fuchtelte zu einem Schild hinüber, aber natürlich war es graffitiübersät. Ich war nicht in der Stimmung, mich um irgendeine unbedeutende amtliche Verordnung zu kümmern. Ich marschierte vorbei...

Und WUMPF erschütterte eine Geräuschexplosion meinen Schädel, und FLUPP verbrannte ein gewaltiger Supernovaausbruch von Licht meine Augen, und ich kam ins Stolpern und Taumeln, als winzige, winzige Elfenstimmen wie Nadeln in meinem Ohr Mokie-Koke, Mokie-Koke, MokieMokieMokie-Koke! riefen. Und damit so lange weitermachten, mit Variationen, daß es hundert Jahre oder länger zu dauern schien. Gerüche stürmten auf meine Nase ein. Niederfrequente Schauer erschütterten meinen Körper. Und ein paar Jahrhunderte später, während meine Ohren immer noch klingelten und meine Augen immer noch brannten von diesem entsetzlichen Ausbruch von Licht und Lärm, rappelte ich mich von dort auf, wo ich lang auf dem Boden hingestreckt gelegen hatte.

»Ich habe Sie gewarnt«, schrie der kleine alte Mann aus sicherer Distanz.

Es waren keine Jahrhunderte gewesen. Er stand immer noch da, immer noch mit demselben eigentümlichen Gesichtsausdruck - halb Begierde, halb Mitleid, »Ich habse gewarnt! Se wollten ja nich hören, aber ich habse gewarnt!«

Er fuchtelte immer noch zu dem Schild hinüber, also wankte ich näher heran und schaffte es verschwommen, die Aufschrift unter dem Graffiti zu entziffern:

Warnung!

KOMMERZIELLE ZONE

Betreten auf eigene Gefahr


Anscheinend hatte es doch ein paar Veränderungen gegeben, während ich weg gewesen war. Der Mann langte vorsichtig an dem Schild vorbei und zog mich fort. So alt war er gar nicht, erkannte ich; hauptsächlich war er verbraucht. »Was ist eine "Mokie-Koke"?« fragte ich.

Er sagte prompt: »Mokie-Koke ist eine erfrischende, geschmacksanregende Mischung der feinsten schokoladigen Aromen, synthetischem Kaffee-Extrakt und ausgewählten Kokain-Analogen. Wollense welche?« Das tat ich. »Hamse Geld bei sich?« Das hatte ich - ein bißchen jedenfalls -, das Wechselgeld, das von dem Geldautomaten übriggeblieben war, den ich schließlich ausfindig gemacht hatte. »Würdense mir eine spendieren, wenn ich Ihnen zeige, wose welche kriegen können?« beschwatzte er mich.

Tja, wer hätte ihn dazu wohl schon gebraucht? Aber ich konnte nicht anders, mir tat der heruntergekommene kleine Bursche leid, also ließ ich zu, daß er mich um die Ecke führte. Dort stand ein Verkaufsautomat genau wie die anderen Mokie-Koke-Automaten, die ich überall gesehen hatte, auf dem Mond, im Raumhafen, längs der Straßen der Stadt. »Gebense sich gar nicht erst mit den Einzelflaschen ab«, riet er mir besorgt. »Schnappense sich gleich das Sechserpack, okay?« Und als ich ihm die erste Flasche aus dem Satz gab, zog er an der Lasche und hob sie an die Lippen und trank sie herunter, wo er stand. Dann seufzte er lautstark. »Heiße Ernie, Mister«, sagte er. »Willkommen im Verein.«

Ich hatte neugierig meine eigene Mokie-Koke getrunken. Sie schien ganz angenehm, aber nichts Außergewöhnliches, so daß ich mich fragte, wozu das ganze Tamtam. »Von was für einem Verein sprechen Sie?« fragte ich, während ich aus Neugier noch eine Flasche öffnete.

»Man hatse gecampbellt. Se hätten auf mich hören sollen«, sagte er tugendhaft, »aber dases nunmal nicht getan ham, hättense was dagegen, wenn ichse begleite, egal, wose hingehen?«

Der arme alte Mann! Er tat mir so leid, daß ich das Sechserpack mit ihm teilte, während wir auf die Adresse lossteuerten, die die Agentur mir gegeben hatte. Drei Schlückchen pro Person. Er dankte mir mit Tränen in den Augen, aber von dem zweiten Sechserpack gab ich ihm trotzdem nur eine ab.

Die Agentur hatte gut für mich gesorgt. Als wir mein neues Heim erreichten, schüttelte ich Ernie ab und stürmte hinein. Es war ein neues See-Condo, gerade hereingeschleppt vom Persischen Golf - ein früherer Öltanker -, fast neun Quadratmeter Bodenfläche mit Küchennutzungsrecht ganz für mich allein, und es lag so günstig zum Agenturgebäude, wie man es sich nur wünschen konnte, da es direkt vor Kip's Bay vertäut war, nur drei Schiffe tief in den Fluß hinaus.

Die unangenehme Seite dabei war natürlich der Preis. Alle Ersparnisse, die ich auf der Venus angesammelt hatte, gingen für die Anzahlung drauf, und ich mußte eine Schuldverschreibung für drei Jahre Miete im voraus unterschreiben. Aber das war nicht so schlimm. Ich hatte der Agentur auf der Venus gut gedient. Deshalb zweifelte ich in Gedanken kaum daran, daß ich reif für eine Gehaltserhöhung war - nicht nur eine Gehaltserhöhung, sondern eine Beförderung - nicht nur eine Beförderung, sondern vielleicht ein Eckbüro! Alles in allem war ich überaus zufrieden mit der Welt (nicht eingerechnet ein paar kleine Fragen, die mich plagten, wie etwa jene verdammte Klage, der beizutreten ich nicht eingeladen worden war), während ich eine Mokie-Koke genoß und mich in meinem neuen Domizil umblickte.

Aber an die Arbeit! Es gab so viel zu tun! Bis sie meine Koffer ausfindig machten, falls das jemals eintrat, benötigte ich Kleider und Essen und all die anderen zum Leben notwendigen Dinge. Also verbrachte ich den Rest des Tages damit, einzukaufen und Päckchen zum See-Condo zurückzuschleppen, und zur Abendessenszeit hatte ich mich gerade halbwegs eingerichtet. Bild von G. Washington Hill über das Wegklappbett. Bild von Fowler Schocken auf die Einschiebekomode. Kleider an einen Platz, Toilettenartikel in mein persönliches Abschließschränkchen im Bad - es nahm den ganzen Tag in Anspruch, und ermüdend war es außerdem, weil die Heizung in meinem Zimmer auf Hochtouren lief und es keine Möglichkeit zu geben schien, sie abzudrehen. Ich genehmigte mir eine Moke und setzte mich hin, um darüber nachzudenken, während ich die Geräumigkeit und den unaufdringlichen Luxus genoß. Auf dem Vid lief ein besonderes Condo-Intern-Band, und ich sah zu, wie es die vielen Attraktionen abspulte, die uns glücklichen Mietern zur Verfügung standen. Das Condo hatte seinen eigenen Pool mit Sitzgelegenheiten für sechs Personen gleichzeitig und ein Einlochfeld. Ich machte mir eine Notiz, mich dafür anzumelden, sobald ich mein eigenes Queue hatte. Die Zukunft sah vielversprechend aus. Ich schaltete zurück zum Pool - Liter und Liter glitzernden, sauberen Wassers, beinahe achseltief -, und sentimentale Gedanken begannen sich in meinen Geist zu stehlen: Ich und Mitzi Seite an Seite im Pool... ich und Mitzi, wie wir uns das große Ausklappbett teilten... ich und Mitzi - aber selbst, wenn Mitzi sich doch entschiede, mein Leben mit mir zu teilen, würde sie es jetzt, wo sie sechs Millionen Dollar ihr eigen nannte, mit denen sie um sich werfen konnte, vielleicht an irgendeinem luxuriöseren Ort teilen wollen, als selbst das See-Condo es war...

Also den Tagtraum noch einmal von vorne, leicht verändert. Laß Mitzi für einen Augenblick aus: die Zukunft war immer noch vielversprechend. Obwohl ich erhebliche finanzielle Verpflichtungen eingegangen war, um das Condo zu bekommen, sollte ich immer noch überschüssige Kaufkraft übrig haben. Ein neuer Wagen? Warum nicht? Und welche Art von Wagen - ein Direktantrieb-Modell, bei dem man mit einem Bein im Sitz kniet und mit dem anderen schiebt, oder irgendein luxuriöser Kombi mit Zahnradantrieb, der etwas hermachte?

Langsam wurde es schrecklich heiß. Ich versuchte wieder, die Heizung abzudrehen, und wieder scheiterte ich.

Ich ertappte mich dabei, wie ich eine Moke nach der anderen trank. Und einen Augenblick dachte ich sogar ernsthaft darüber nach, das Bett auszuziehen und mir eine tüchtige Mütze Schlaf zu holen.

Müde oder nicht, so konnte ich meine erste Nacht daheim doch nicht verbringen! Sie verlangte nach einer Feier.

Eine Feier verlangte nach jemandem, mit dem man feiern konnte. Mitzi? Aber als ich in der Personalabteilung der Agentur ahrief, hatten sie noch keine Privatnummer für sie, und sie hatte bereits das Büro verlassen. Und all die anderen Freundinnen, die mir einfielen, waren entweder Jahre her oder Millionen Meilen entfernt. Ich wußte nicht einmal, welches die Lokale waren, wo man feierte!

Das jedenfalls ließ sich beheben. Ich hatte eine tadellose Omni-V-Konsole, die zur Einrichtung des Apartments gehörte, zweihundertundvierzig Kanäle. Ich ging das Programmangebot durch: Haushaltswarenwerbespots, Floristenwerbespots, Oberbekleidungswerbespots (Herren), Oberbekleidungswerbespots (Damen), Nachrichten, Restaurantwerbespots - ja, das war der Kanal, den ich suchte. Ich wählte ein hübsches Lokal nur zwei Blocks vom See-Condo entfernt, und es erwies sich als genau das, was ich wollte. Weil ich vorbestellt hatte, mußte ich nur rund eine Stunde an der Bar warten, während ich Gin und Moke trank und mit meinen Nachbarn schwatzte; das Abendessen bestand aus den besten Markenartikel-Sojakoteletts mit wiederaufbereitetem Gemüsepüree; es gab Brandy zum Kaffee und zwei Kellner, die diensteifrig um mich herumtanzten, um meine Portionen auszupacken und die Deckel von meinen Drinks abzuziehen. Eine komische kleine Sache passierte allerdings. Als die Rechnung kam, sah ich sie mir flüchtig an, dann bedächtiger, dann rief ich den Kellner noch einmal zu mir. »Was ist das?« sagte ich, indem ich auf die Spalte von Ausdrucken deutete, die besagte

Mokie-Koke, $2.75

Mokie-Koke, $2.75

Mokie-Koke, $2.75

Mokie-Koke, $2.75


»Das sind Mokie-Kokes, Sir«, erklärte er, »eine erfrischende, geschmacksanregende Mischung der feinsten schokoladigen...«

»Ich weiß, was eine Mokie-Koke ist«, unterbrach ich ihn. »ich kann mich bloß nicht erinnern, weiche bestellt zu haben.«

»Tut mir leid, Sir«, sagte er, ganz Ehrerbietung. »Das haben Sie. Ich spiele Ihnen gern die Stimmaufzeichnung vor, wenn Sie wünschen.«

»Lassen Sie die Stimmaufzeichnung«, sagte ich. »Ich will sie jetzt nicht mehr. Ich werde einfach so gehen.«

Er wirkte schockiert. »Aber, Sir - Sie haben sie doch schon getrunken!«

Neun Uhr früh; Morgenstund hat Gold im Mund. Ich bezahlte mein Pedicab, zog die Anti-Ruß-Stöpsel aus den Nasenlöchern und stolzierte in die Haupteingangshalle des gewaltigen Taunton, Gatchweiler und Schocken-Agenturturms.

Wir werden älter, wir werden zynisch, aber nach den Jahren der Abwesenheit war es fast ein religiöser Gefühlsüberschwang, der mich erschütterte, als ich eintrat. Stellen Sie sich vor, vor zweitausend Jahren den Hof von Augustus Caeser zu betreten, im Wissen, daß hier, an diesem Ort, die Geschäfte der ganzen Welt ihr Kontrollzentrum und ihre Inspiration hatten. Genauso bei der Agentur. Gewiß, es gab andere Agenturen - aber die Welt war ja auch größer geworden. Hier lag die Macht.

Das ganze riesige Gebäude war einer göttlichen Mission gewidmet: der Verbesserung der Menschheit durch die Inspiration zum Kaufen. Mehr als achtzehntausend Menschen arbeiteten in diesem Gebäude. Werbetexter und Wortspiellehrlinge; Medienfachleute, die aus der umgebenden Luft einen Werbespot ertönen lassen oder Ihrem Augapfel eine Werbebotschaft aufprägen konnten; Produktforscher, die sich jeden Tag neue und besser verkäufliche Getränke, Speisen, Geräte, Laster, Besitztümer aller Art einfallen ließen; bildende Künstler; Musiker; Schauspieler; Regisseure; Werberaum- und Werbezeitverkäufer - die Liste ließ sich beliebig lang fortsetzen -, und über ihnen allen, im vierzigsten Stockwerk und höher, lagen die Chefetagen, wo die Genies, die das alles lenkten, brüteten und ihre göttergleichen Pläne ersannen. Oh, sicher. Ich habe hinsichtlich der zivilisatorischen Mission von uns, die wir unser Leben der Werbung geweiht haben, gescherzt - aber unter der Witzelei lag dieselbe echte Ehrfurcht und Hingabe, die ich als Wölfling bei den Junior-Werbetextern empfunden hatte, als ich um meine ersten Verdienstabzeichen stritt und gerade eben zu begreifen begann, wohin mein Leben führen konnte...

Na ja. Wie dem auch sei. Da war ich, im Herzen des Universums. Eines allerdings war komisch. Ich hatte es als ein weiträumiges Gewölbe in Erinnerung. Ein Gewölbe war es - aber weiträumig? Tatsächlich kam es mir winziger und überlaufener vor als die Tramstation von Russian Hills; also hatten diese Jahre auf der Venus mein Empfindungsvermögen verfälscht. Die Leute sahen sogar heruntergekommener aus, und die Wächterin am Waffendetektor warf mir einen säuerlichen und argwöhnischen Blick zu, als ich näherkam.

Kein Problem dort. Ich schob mein Handgelenk in die Abtaster, und der Datenspeicher erkannte meine Sozialversicherungsnummer auf der Stelle, obwohl doch wenigstens zehn Jahre vergangen waren, seit ich sie das letzte Mal gebraucht hatte. »Oh«, sagte die Wächterin, die meinen Status musterte, als das Erkennungslicht grün aufleuchtete, »Sie sind Mr. Tarb. Schon, Sie wieder bei uns zu sehen!« Natürlich hatte das einen falschen Unterton. Nach ihrem Aussehen zu urteilen, war sie noch zur Schule gegangen, als ich das letzte Mal das Agenturgebäude betreten hatte, aber sie hatte das Herz am rechten Fleck. Ich gab ihr einen freundlichen Klaps aufs Hinterteil und stolzierte zum Lift. Und die erste Person, die ich im Fünfundvierzigsten sah, als ich den Handgriff losließ, war Mitzi Ku.

Ich hatte vierundzwanzig Stunden Zeit gehabt, um über meinen Unmut wegen der Sache mit der Klage hinwegzukommen. Eigentlich hatte das nicht gereicht, aber wenigstens waren die scharfen Kanten des Neids ein wenig stumpfer geworden, und sie sah wirklich gut aus. Nicht perfekt. Obwohl sie aus ihren Bandagen heraus war, verriet einem jene komische Unscharfe rings um Augen und Mund, daß sie Plastifleisch trug, wo der Heilungsprozeß noch nicht ganz abgeschlossen war. Aber sie lächelte mich vorsichtig an, als sie mich begrüßte. »Mitzi«, sagte ich, und die Worte platzten unerwartet aus meinem Mund - ich hatte nicht gewußt, daß ich sie gedacht hatte, »sollte ich die Leute von der Bahn nicht auch verklagen?«

Sie wirkte verlegen. Was sie geantwortet hätte, weiß ich nicht, weil hinter ihr plötzlich Val Dambois auftauchte. »Zu spät, Tarb«, sagte er. Es waren nicht die Worte, die mich störten. Es war der verächtliche Tonfall und das Grinsen. »Die Verjährungsfrist, wissen Sie? Wie ich Ihnen sagte, Sie haben das Boot verpaßt. Komm, Mitzi, wir können den Alten nicht warten lassen...«

Der Morgen brachte einen Schock nach dem anderen; der Alte war derjenige, zu dem ich eigentlich wollte. Mitzi gestattete Dambois, ihren Arm zu nehmen, aber sie zögerte, um mich genau zu betrachten. »Geht es dir gut, Tenny?« fragte sie.

»Mir geht's prima...« Na ja, im Großen und Ganzen, nicht mitgerechnet ein leicht angeschlagenes Ego. »Vielleicht bin ich ein bißchen durstig, weil es hier drinnen so heiß ist. Weißt du zufällig, ob es in diesem Stockwerk einen Mokie-Koke-Automaten gibt?«

Dambois bedachte mich mit einem giftigen Blick. »Manche Scherze«, knirschte er, »zeugen ganz einfach von schlechtem Geschmack.«

Ich sah zu, wie er davonstürzte, Mitzi hinter sich herziehend zum Heiligtum des Alten. Ich setzte mich hin und versuchte so auszusehen, als hätte ich mich nur entschlossen, meine Füße hier einen Augenblick auszuruhen.

Der Augenblick erwies sich als mehr als eine Stunde.

Natürlich dachte sich niemand etwas dabei. Drüben in ihrer eigenen Ecke der Zelle beschäftigte sich die Sek³ des Alten angelegentlich mit ihrem Kommunikator und ihrem Datensichtschirm und blickte nur dann und wann auf, um mich auf die Art anzulächeln, für die man sie bezahlte. Leute, die nur eine Stunde warten, um den Alten zu sehen, dankten normalerweise dem Himmel für diese Gnade, da die meisten Menschen ihn überhaupt nie zu sehen bekamen. Der alte Gatchweiler war eine lebende Legende, ein armer Junge von Verbraucherherkunft, der aus unbedeutenden Anfängen aufgestiegen war, um einen so grandiosen Coup abzuziehen, daß darüber immer noch in den Bars der Chefetagen geflüstert wurde. Zwei der größten alteingesessenen Agenturen hatten in flammenden Skandalen Schiffbruch erlitten, der alte B. J. Taunton wegen Vertragsbruch geschnappt, Fowler Schocken tot und seine Agentur in Trümmern. Ihre Agenturen hatten eine geisterhafte Existenz als leere Rümpfe weitergeführt, von den Neunmalklugen für immer abgeschrieben. Dann war Horatio Gatchweiler aus dem Nichts erschienen, um die Wrackteile zu schlucken und sie in T., G. & S. zu verwandeln. Niemand schrieb Taunton, Gatchweiler und Schocken ab! Wir waren Spitze beim Verkauf von Dienstleistung. Unsere Klienten führten die Verkaufshitparaden an, und was Dienstleistungen anbetraf, nun kein Tausend-Dollar-pro-Schuß-Hengst hatte seine Stuten jemals so gründlich bedient wie wir die Verbraucher. Ein Name, der Wunder wirkte, Horatio Gatchweiler! Es war fast buchstäblich ein Name, der Wunder wirkte, denn er war wie der unaussprechliche Name Gottes. Niemand sprach ihn je aus. Hinter seinem Rücken war er »der Alte«, vor seinem Angesicht nichts als »Sir«.

Also war es nichts neues für mich, in dem winzigen Vorzimmer seiner Sek³ zu sitzen, während ich vorgab die stündlichen Ausgaben der Werbezeit auf dem Tischbildschirm zu studieren. Es war sogar eine Ehre. Wenigstens wäre es das gewesen... bis auf den mürrischen, nagenden Ärger angesichts der Tatsache, daß er Mitzi und Val Dambois den Vorrang gegeben harte.

Als die Sek³ des Alten mich endlich an die Sek² weiterleitete, die mich zur Sekretärin führte, die mich in sein eigenes Privatbüro einließ, gab er sich aufrichtig Mühe, mich herzlich zu empfangen. Er stand zwar nicht auf oder so etwas, dröhnte aber jovial ein »Immer nur rein mit Ihnen, Färb«, aus seinem Sessel. »Gut, Sie wieder bei uns zu haben, Junge!«

Ich hatte fast vergessen, wie großartig sein Büro war - zwei Fenster! Natürlich waren bei beiden die Rouleaus heruntergezogen; man kann nicht riskieren, daß jemand einen Bündelstrahl gegen das Glas richtet, um die Schwingungen geheimer Gespräche im Inneren aufzufangen. »Tarb ist mein Name«, äußerte ich.

»Natürlich ist er das! Und Sie sind wieder da nach einer Dienstzeit auf der Venus - gute Arbeit. Natürlich«, fügte er hinzu, während er pfiffig zu mir aufblickte, »war nicht alles daran gut, nicht wahr? Auf Ihrem Personalbogen befindet sich ein kleiner Vermerk, den dorthinzusetzen Sie wahrscheinlich niemanden bestochen haben...«

»Das mit der Agenturparty kann ich erklären, Sir...«

»Natürlich können Sie das! Und ich werde Ihnen nicht im Wege stehen. Ihr jungen Leute, die ihr euch freiwillig für eine Dienstzeit auf der Venus meldet, macht euch um uns verdient - niemand erwartet von euch, diese Art von Leben ohne ein bißchen, äh, nervliche Belastung auszuhalten.« Er lehnte sich verträumt zurück. »Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, Färb«, sagte er zur Decke, »aber vor langer Zeit war ich selbst einmal auf der Venus. Bin nicht da geblieben. Ich habe ihre Lotterie gewonnen, wissen Sie.«

Ich war verblüfft. »Lotterie? Ich hatte keine Ahnung, daß die Veenies jemals eine Lotterie veranstaltet haben. Es scheint so gar nicht zu ihrem Charakter zu passen.«

»Haben sie auch nie wieder«, lachte er schallend, »weil ein Werbefritze den ersten Preis gemacht hat! Danach gaben sie die Idee sofort wieder auf - außerdem erklärten sie mich zur Persona non grata, also machte ich mich auf die Socken nach Hause!« Er gluckste einige Sekunden stillvergnügt angesichts der Leichtfertigkeit der Veenies in sich hinein. »Natürlich«, sagte er, wieder nüchtern werdend, »habe ich meine Fähigkeiten auf dem neueren Stand gehalten, während ich auf der Venus war.« Nach der Art zu urteilen, wie er mich ansah, wußte ich, daß es eine Frage war.

Ich hatte auch die richtige Antwort parat. »Ich auch, Sir«, sagte ich eifrig. »Bei jeder nur möglichen Gelegenheit! Die ganze Zeit! Zum Beispiel - nun, ich weiß nicht, ob Sie jemals das Innere eines dieser Läden gesehen haben, die die Veenies Lebensmittelgeschäfte nennen...«

»Hab' hunderte davon gesehen, Junge«, dröhnte er jovial.

»Tja, dann wissen Sie, wie inkompetent sie sind. Schilder wie "Diese Tomaten gehen, wenn Sie sie heute essen, andernfalls verderben sie" und Fertiggerichte kosten das Doppelte wie die Zubereitung der gleichen Speise aus Grundzutaten" - solche Sachen.«

Er lachte lauthals und wischte sich die Augen. »Haben sich kein bißchen geändert, scheint mir«, meinte er.

»Nein, Sir. Nun, ich bin oft durch den Laden gegangen und dann zur Botschaft zurückgekommen und habe richtige Werbesprüche für sie geschrieben. Wissen Sie? Zum Beispiel für die Tomaten "Saftig, reif, geschmackvoll - auf dem Gipfel der Vollendung" oder »Sparen! Sparen Sie kostbare Zeit mit diesen vom Küchenchef vorbereiteten, kochfertigen Meisterwerken!" In dieser Art. Und dann habe ich alle neuen Werbespots von der Erde für die Belegschaft besprochen - wenigstens zwei Stunden lange Anfeuerungstreffen jede Woche -, und wir haben Wettbewerbe veranstaltet, um festzustellen, wer mit besseren Varianten der grundlegenden Verkaufsthemen aufwarten könnte...«

Er sah mich mit aufrichtiger Zuneigung an. »Wissen Sie, Tarb«, sagte er mit einer Freundlichkeit, die an Sentimentalität grenzte, »Sie erinnern mich an mich selbst, als ich in Ihrem Alter war. Ein wenig. Ach, hören Sie, machen wir es uns doch gemütlich, während wir entscheiden, was Sie gerne für uns tun möchten, nun, da Sie wieder da sind. Was wollen Sie trinken?«

»Oh, ich denke, eine Mokie-Koke, Sir«, sagte ich zerstreut.

Die Atmosphäre im Raum durchlief eine rasche Veränderung zum schlechteren. Der Finger des Alten verhielt über dem Rufknopf, der seine Sek² herbeibeordert hätte, die dafür zuständig war, Kaffee und Erfrischungen hereinzubringen. »Was haben Sie gesagt. Tarb?« knirschte er.

Ich öffnete den Mund, aber es war zu spät. Er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Eine Moke? Hier in meinem Büro?« der Tonfall durchlief einmal die ganze Skala von Wohlwollen über Schock bis hin zu Zorn. Blaß geworden, hieb er auf einen ganz anderen Knopf. »Notdienst!« röhrte er. »Schicken Sie auf der Stelle einen Arzt hier herein - ich habe einen Moke-Kopf in meinem Büro!«

Sie schafften mich so schnell aus dem Büro des Alten wie einen Leprakranken, der aus den Augen Ludwigs XIV. entfernt wurde. Und so behandelten sie mich auch. Während ich auf die Ergebnisse meiner Tests wartete, saß ich im Wartezimmer der Gemeinschaftsklinik in Untergeschoß Drei, aber obwohl es brechend voll war, waren rechts und links von mir Plätze frei.

Endlich prasselte die Stimme aus dem Lautsprecher über Kopf: »Mr. Tennison Tarb.« Ich erhob mich und stolperte durch das Unterholz hastig bewegter Beine und zur Seite gezogener Knöchel zum Sprechzimmer. Es war wie der Weg zum Schafott in diesen alten Cefängnisfilmen, nur daß es keine gemurmelten Worte von meinen Mitganoven gab. Auf jedem Gesicht stand der gleiche Ausdruck, und der besagte: Gott sei Dank, daß du es bist, nicht ich!

Ich rechnete damit, daß hinter der Schiebetür der Doktor warten würde, der mir mein weiteres Schicksal verschrieb. Zu meiner Überraschung hielten sich dort zwei Personen auf; die eine die Ärztin - man konnte es an ihrem rituellen Stethoskop um den Hals erkennen - und die andere, ausgerechnet, der kleine Dan Dixmeister, der ganz lang und dürr und düster geworden war. »Hey, Danny«, begrüßte ich ihn, indem ich ihm um der alten Zeiten willen die Hand entgegenstreckte.

Und um derselben alten Zeiten willen, nehme ich an - seine Version davon -, musterte er meine Hand einen Augenblick lang, bevor er zögernd seine eigene hinhielt. Es war kein Händeschütteln. Es war mehr, als böte er mir seine Hand zum Kuß - kein Zupacken, nur ein schlaffes Berühren und Zurückziehen.

Nun war Danny Dixmeister vor einem halben Dutzend Jahren als Werbetexterwölfling mein Praktikant gewesen. Ich war zur Venus gegangen. Er war hiergeblieben. Ganz offensichtlich hatte er seine Zeit nicht vergeudet. Er trug die Epauletten eines stellvertretenden Abteilungsleiters und auf dem Ärmel Fünfzigtausend-pro-Jahr-Streifen, und er sah mich an, als wäre ich der neue Lehrling und er der leitende Angestellte. »Sie haben wirklich Mist gebaut, Tarb«, schnarrte er freudlos. »Dr. Mosskristal wird Ihnen einen Überblick über ihr medizinisches Problem geben.« Und der Tonfall verhieß schlechte Nachrichten.

Und schlechte Nachrichten waren es. »Was Sie haben«, sagte die Ärztin, »ist eine Campbellsche Sucht.« Ihr Tonfall war weder freundlich noch unfreundlich. Es war ein Tonfall, in dem ein Doktor das Ergebnis einer Weiße-Blutkörperchen-Zählung bei einem Labortier verkündet, und der Blick, mit dem sie mich bedachte, war exakt der gleiche, wie ihn Mitzi einem Möchtegern-Heimkehrer zuzuwerfen pflegte, der sich vielleicht für ihren Spionagering rekrutieren lassen mochte. »Vermutlich können Sie reprogrammiert werden«, sagte sie, während sie die Ergebnisse auf der Anzeige vor sich studierte. »Kaum der Anstrengung wert, würde ich sagen. Eine sehr uninteressante Kurve.«

Ich schluckte. Es fiel mir schwer, zu begreifen, daß es mein Leben war, über das sie sprach. »Sagen Sie mir, was mit mir los ist«, flehte ich. »Wenn ich wüßte, was nicht in Ordnung ist, könnte ich es vielleicht wieder richten.«

»Es richten? Es richten? Sie meinen, eine Programmierung von alleine überwinden? A-ha-ha-ha«, lachte sie, wobei sie Dixmeister einen flüchtigen Blick zuwarf und heiter den Kopf schüttelte. »Was für seltsame Vorstellungen Sie Laien haben.«

»Aber sie sagten, es gäbe eine Kur...«

»Sie meinen Reprogrammieren und Entgiften«, korrigierte sie. »Ich glaube nicht, daß Sie das durchmachen möchten. In vielleicht zehn Jahren mag es einen Versuch wert sein, obwohl die Sterblichkeitsrate ungefähr vierzig Prozent beträgt. Aber in den frühen Stadien, direkt nach der Bestrahlung - n-n.« Sie lehnte sich zurück, die Fingerspitzen zusammenpressend, und ich machte mich für die Vorlesung bereit. »Was Sie haben«, erläuterte sie, »ist ein Campbellscher Reflex. Benannt nach Dr. H. J. Campbell. Ein berühmter bahnbrechender Psychologe in den alten Tagen, Erfinder der limbischen Lusttherapie.«

»Ich habe noch nie etwas von der limbischen Lusttherapie gehört«, sagte ich.

»Nein«, gestand sie ein, »das Geheimnis war viele Jahre lang verloren.« Sie beugte sich vor, drückte einen Gegensprechknopf und rief: »Maggie, bringen Sie den Campbell herein. - Nach Dr. Campbell«, fuhr sie wieder zu mir gewandt fort, »ist Lust der Name, den wir jener Empfindung geben, die wir verspüren, wenn die limbischen Regionen unseres Gehirns elektrisch aktiv sind. Was ihn zuerst zu diesen Forschungen veranlaßte, war, glaube ich, die Entdeckung, daß viele seiner Studenten großen Lustgewinn aus etwas zogen, das Rockmusik genannt wurde. Die Sinne auf diese Weise zu sättigen, stimulierte die limbischen Regionen - somit Lustgefühle -, und somit entdeckte er eine billige und einfache Methode, um Versuchspersonen auf wünschenswerte Arten zu konditionieren. Ah, da haben wir es ja.« Die Sek² hatte ein transparentes Plastikkästchen hereingebracht, das - ausgerechnet! - ein Buch enthielt. Verblichen, zerfetzt, im Inneren seiner Plastikumhüllung verborgen, war es immer noch so ungefähr das beste Exemplar, das ich jemals von dieser kuriosen alten Kunstform zu Gesicht bekommen hatte. Unwillkürlich griff ich danach, und Dr. Mosskristal riß es weg. »Seien Sie nicht kindisch«, rügte sie.

Aber ich vermochte den Titel zu lesen: Die Lustregionen, von Dr. H. J. Campbell. »Wenn ich es mir nur ausborgen könnte«, flehte ich. »Ich würde es binnen einer Woche zurückbringen...«

»Klar würden Sie das. Sie werden es hier lesen, wenn Sie es überhaupt lesen, während meine Sek³ Sie im Auge behält und darauf achtet, daß sie den Stickstoff wieder hineinpumpen, wenn Sie es in den Behälter zurücklegen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist. Laien sollten nicht versuchen, medizinische Probleme zu verstehen, dafür sind sie einfach nicht ausgerüstet. Lassen Sie uns einfach sagen, daß Ihre limbischen Regionen stimuliert worden sind; unter dem Einfluß dieses großen Aufwallens von Lust sind Sie darauf konditioniert worden, Mokie-Koke mit Freude gleichzusetzen, und es gibt nichts, was man dagegen unternehmen könnte.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und erhob sich. »Dixmeister, Sie können diesen Raum für das Gespräch mit dem Patienten benutzen, wenn Sie möchten - nur daß Sie in zwanzig Minuten wieder draußen sind.« Und sie stürzte davon, ihr Buch umklammernd.

Und ließ mich mit Danny Dixmeister zurück. »Schade«, sagte er, während er den Kopf in Richtung des Schirms schüttelte, der immer noch meine Untersuchungsergebnisse zeigte. »Sie hätten vielleicht einmal eine ganz gute Zukunft vor sich gehabt, Tarb, wenn Sie nicht süchtig geworden wären.«

»Aber das ist nicht fair, Danny! Ich wußte doch nicht...«

Er wirkte ehrlich überrascht. »Fair? Sicher, campbellen ist etwas Neues - ich glaube nicht, daß Sie wachsam genug waren. Aber die Zonen für limbische Reklame sind deutlich gekennzeichnet.«

»Deutlich!« höhnte ich. »Es ist ein schmutziger, gemeiner Trick, und Sie wissen es! Bestimmt würde Ihre eigene Agentur so etwas nie tun, um Waren abzusetzen!«

Dixmeister schürzte die Lippen. »Die Frage«, sagte er, »hat sich bisher nicht gestellt, weil die Konkurrenz über die Patente verfügt. Nun, prechen wir über Sie. Sie begreifen wohl, Tarb, daß irgendeine Art von Spitzenposition jetzt nicht mehr für Sie in Frage kommt.«

»Nun machen Sie aber mal einen Punkt, Danny! Das sehe ich überhaupt nicht. Ich habe gerade ein paar lausige Jahre auf der Venus für die Agentur eingelegt!«

»Es ist einfach eine Frage der Sicherheit«, erläuterte er. »Sie sind ein Moke-Kopf. Für eine Mokie-Koke würden Sie alles tun, einschließlich Ihre Großmutter verraten - oder sogar die Agentur. Also können wir ganz einfach nicht das Risiko eingehen, Sie in irgendeinem Hochsicherheitsbereich arbeiten zu lassen - ganz zu schweigen davon«, fügte er gemein hinzu, »daß Sie einen gewissen Mangel an moralischem Rückgrat gezeigt haben, indem Sie sich überhaupt süchtig haben machen lassen.«

»Aber mein Dienstalter! Mein Kündigungsschutz! Meine Leistungen...«

Er schüttelte ungeduldig den Kopf. »Oh, wir werden natürlich etwas für Sie finden. Aber nichts Kreatives. Wie sind Ihre Schreibmaschinenkenntnisse, Tarb? Nein? Das ist bedauerlich - nun, das ist schließlich ein Problem für die Personalabteilung.«

Ich richtete einen Augenblick lang einen Blick auf ihn. »Danny«, sagte ich, »ich muß Ihnen das Leben schwerer gemacht haben, als ich dachte, als Sie mein Handlanger waren.«

Er antwortete nicht. Er bedachte mich nur mit einem Blick, der ebenso kryptisch wie lang war. Ich war aus dem Raum hinaus, den Lift hinauf zur Personalabteilung - Allgemeine Dienste im fünften Stock und wartete mit den frischen, jungen Collegeabsolventen und den Semiverwendbaren mittleren Alters, bevor ich diesen Blick richtig deuten konnte. Es war keine Abneigung oder auch nur Triumph. Es war Mitleid.

Wovon Dr. Mosskristal mir nichts gesagt hatte, war einer der Nebeneffekte der Campbellisierung. Depressionen. Sie hatte mich nicht gewarnt, und als sie kamen, erkannte ich sie nicht als das, was sie waren. Ich vermute, gerade das macht Depressionen aus. Wenn man sie hat, scheinen sie einfach die Verfassung zu sein, in der sich die Welt befindet. Man denkt nie als Problem von ihnen, nur als Seinzustand.

Und ich hatte eine Menge Grund, deprimiert zu sein. Sicher, sie fanden Arbeit für mich. Werbegraphiken austragen, den Stars unserer Werbespots Blumen zu bringen, auf die Straße hinauslaufen, um für jemanden aus den Chefetagen ein Pedicab herbeizuwinken und anzuhalten, Sojaburger und Coffiest für die Sekretärinnen holen - oh, ich hatte eine Million Dinge zu tun! Als Mädchen für alles, das nach Belieben herumkommandiert wurde, arbeitete ich härter, als ich es jemals als Werbetexter der Starklasse getan hatte, aber natürlich bezahlten sie mir für diese Art von Arbeit kein Starklassengehalt. Ich mußte das See-Condo aufgeben. Es machte mir nichts aus. Wozu brauchte ich einen solchen Luxus, außer um Gäste zu bewirten, und wen gab es denn noch zum Bewirten? Mitzi hatte sich in eine vornehmere Sphäre hinaufbegeben. Alle meine alten Freundinnen waren versetzt oder verheiratet oder befördert, und die neue Ernte wollte anscheinend nicht mit jemandem anbändeln, der auf Eis lag.

Da wir gerade von Eis sprechen, das, was ich am meisten von daheim vergessen hatte, war, wie es war, zu frieren. Ich meine FRIEREN, kursiv und in Großbuchstaben. Es war so kalt, daß der Atem der Pedicab-Kulis wie Dampf um ihre Gesichter stand und sie auf den vereisten Straßen schlidderten und stolperten. So kalt, daß ich mir manchmal beinahe wünschte, wegen der Bewegung mit ihnen zu tauschen, statt in dem harten, nackten Sitz zu hocken, während meine Zähne von der winterlichen New Yorker Luft wehtaten - na ja, ich sagte »beinahe«. Sogar ein Botenjunge zu sein, war immer noch besser, als ein Cab zu ziehen.

Besonders jetzt, da es kalt wurde. Jene sechs Jahre auf der Venus hatten mein Blut dünner werden lassen. Selbst wenn ich es mir hätte leisten können, sehr oft auszugehen, war das Bedürfnis dazu einfach nicht da. Also verbrachte ich meine Tage im Botenwarteraum und meine Abende zu Hause, während ich mir Werbespots im Omni-V ansah oder mich mit meinen neuen Zimmergenossen unterhielt, wenn sie anwesend waren - herumsitzend. Meistens einfach bloß herumsitzend. Und es war eine ziemliche Überraschung, als der Summer ertönte und ich Besuch bekam - und dieser Besuch Mitzi war.

Wenn sie gekommen war, um nett zu sein, hatte sie eine merkwürdige Vorstellung davon, wie man das macht. Sie sah sich mit gerümpfter Nase und fest zusammengepreßten Lippen um, als röche die Wohnung nach Fäulnis. Sie schien die Zwillings-Stirnrunzelfalten zwischen ihren Brauen jetzt die ganze Zeit zu tragen. »Tenn«, sagte sie streng, »du mußt dich wieder aus dem hier heraushieven! Schau dich an! Schau dir diesen Müllhaufen an! Schau dir an, was für ein Trümmerfeld du aus deinem Leben gemacht hast!«

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und versuchte zu sehen, was sie meinte. Natürlich, als ich mir die See-Condo-Zahlungen nicht länger erlauben konnte, hatte ich mich anders arrangieren müssen. Es war nicht einfach gewesen. Aus dem Vertrag herauszukommen, hatte mich den Großteil meines angesparten Lohns gekostet, und dieses Teilzeit-Condo war so ungefähr alles, was ich mir leisten konnte. Es stimmte, daß meine Zimmerkameraden ziemlich schlampig waren. Einer war auf Junk-Food, der andere hatte sich auf eine dieser endlosen Sammlungen von Fastsilber-Miniatur-Präsidentenbüsten aus der San Jacinto-Münze eingelassen. Aber trotzdem! »So schlimm ist es auch wieder nicht«, verteidigte ich mich.

»Es ist dreckig. Wirfst du denn nie diese alten Moke-Flaschen hinaus? Tenn, ich weiß, es ist schwierig, aber es gibt Leute, die jedes Jahr erfolgreich den harten Entzug mitmachen...«

Ich lachte. Sie tat mir aufrichtig leid, weil sie einfach nicht begriff, wie es war, da sie niemals selbst süchtig gewesen war. »Mitzi«, sagte ich, »bist du darum hergekommen - um mir zu sagen, was für ein Trümmerfeld ich aus meinem Leben gemacht habe?«

Sie blickte mich einen Augenblick lang schweigend an. »Nun, ich nehme an, die Kur ist ziemlich gefährlich«, gab sie zu, während sie nach einem Platz zum Sitzen Ausschau hielt. Ich räumte ein paar von Nelson Rockwells hethitischen Kaisern und ein paar von Charlie Bergholms Taco-Verpackungen vom zweiten Stuhl. »Ich bin mir selbst nicht ganz sicher, warum ich hierhergekommen bin«, sagte sie. Sie nahm sorgfältig den Sitz in Augenschein, bevor sie sich setzte.

Ich sagte bitter: »Wenn du dich nur eine Runde mit mir im Heu wälzen willst, vergiß es.« Ich deutete auf die geschlossene Bettbox, wo sich gerade Rockwell, mein Zwei-bis-zehn-Zimmerkamerad, seinen Anteil an Pennzeit holte.

Sie - ich hätte beinahe gesagt, errötete, aber ich vermute, färbte sich dunkler ist ein besseres Wort. »Ich glaube, irgendwie fühle ich mich verantwortlich«, sagte sie.

»Weil du mir nicht von der Schadenersatzklage erzählt hast? Weil du mich hast pleite gehen lassen, während du Millionen eingeheimst hast? Wegen so ein paar Kleinigkeiten?«

Sie zuckte die Achseln. »Etwas in der Art vielleicht. Tenny? Na gut, ich sehe ein, daß du nicht wieder sehr hoch in der Agentur aufsteigen kannst, solange du ein Moke-Kopf bist, aber es gibt eine Menge anderer Dinge, die du machen kannst! Warum gehst du nicht wieder zur Schule? Lern ein neues Fach, fang in irgendeinem anderen Beruf noch einmal von vorne an. Ich weiß nicht, Arzt, Rechtsanwalt...«

Ich starrte sie erstaunt an. »Und die Werbung aufgeben?«

»O Gott! Was ist denn so heilig an der Werbung?«

Diese Bemerkung warf mich um. Alles, was mir einfallen wollte, war: »Du hast dich wirklich sehr verändert, Mitzi.« Und ich meinte es als Tadel.

Verdrießlich sagte sie: »Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht, als ich hergekommen bin.« Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ich hab's! Was würdest du zu Immaterielle Aktiva sagen? Ich denke, ich könnte dich dort unterbringen - nicht sofort natürlich, aber sobald es dort eine freie Stelle gibt...«

»Immaterielle Aktiva«, höhnte ich. »Mitzi, ich bin ein Produktmensch. Ich verkaufe Waren. Immaterielle Aktiva ist etwas für die Wareinmals und Niegekonnts - und, im übrigen, was läßt dich glauben, daß du dazu in der Lage wärst?«

Sie zögerte, dann sagte sie: »Ach ich denke bloß, daß ich es könnte. Ich meine - ach was, du kannst es genausogut wissen, obwohl es eine Zeitlang ein Geschäftsgeheimnis ist. Ich habe meine Entschädigung genommen, und sie haben mir erlaubt, mich in die Agentur einzukaufen.«

»Einzukaufen! Du meinst als Aktionär?«

»Klar, als Aktionär.« Es schien ihr beinahe peinlich zu sein - als ob es dafür irgendeinen Grund gegegeben hätte! Aktionär der Agentur zu sein, kam so ungefähr gleich danach, Gott zu sein. Es war mir ganz einfach nie in den Sinn gekommen, daß jemand, den ich kannte, jemals das Kapital haben würde, so etwas zu tun.

Aber ich schüttelte den Kopf. »Ich bin Produkt«, sagte ich stolz.

»Nun mach aber mal einen Punkt«, explodierte sie. »Hast du denn irgendwelche besseren Angebote?«

Und natürlich hatte ich keine.

Ich kapitulierte. »Nimm 'ne Mokie-Koke«, sagte ich, »und laß es uns mal durchsprechen.«

Also ging ich an diesem Abend zwar allein zu Bett, aber trotzdem mit etwas, das ich vorher nicht gehabt hatte: Hoffnung. Als ich in den Schlaf hinüberglitt, ließ ich mir unmögliche Traumbilder durch den Kopf gehen: zurück zur Schule, jenen Magister in Werbephilosophie machen, den ich geplant hatte, als ich noch ein junger Bursche war, ein paar zusätzliche Fertigkeiten erlernen, ein paar Forschungen in Immaterielle Aktiva anstellen... und die Moke-Sucht überwinden.

Das schienen alles großartige Ideen zu sein. Ob im kalten Licht des Morgengrauens irgend etwas davon übriggeblieben wäre, weiß ich nicht, aber ich erhielt eine kraftvolle Verstärkung. Ich erwachte von einem Schlagen auf den Bettrand und der knurrigen, grummelnden Stimme Nelson Rockwells, meines Zwei-bis-zehn-Zimmerkameraden, der mir erklärte, daß er mit Bergholm gewechselt habe und es jetzt Zeit für seine Schicht sei.

Schläfrig wie ich war, sah ich sofort, daß er echt schlimm aussah, eine Schwellung wie ein Fleck einer zequetschten Traube über dem rechten Wangenknochen, humpelnd, als er zurücktrat, um mich aus der Bettbox klettern zu lassen. »Was ist passiert, Nelson?«

Er schaute drein, als hätte ich ihn eines Verbrechens bezichtigt. »Kleines Mißverständnis«, murmelte er.

»Für mich sieht das wie ein verdammt großes Mißverständnis aus. Man hat dich zusammengeschlagen, Mann!«

Er zuckte die Achseln und fuhr zusammen, als seine Muskeln gegen die Bewegung protestierten. »Ich bin ein bißchen mit meinen Zahlungen in Verzug geraten, also hat San Jacinto ein paar Eintreiber in die Ösenfabrik geschickt. Sag mal, Tenn, du könntest mir nicht fünfzig bis zum Zahltag pumpen, oder? Weil, sie sagen, beim nächstenmal wären meine Kniescheiben dran.«

»Ich habe keine fünfzig«, sagte ich - was auch beinahe stimmte. »Warum verkaufst du nicht ein paar deiner Figürchen?«

»Sie verkaufen? Etwas von meinem Zeug verkaufen? Na, hör mal, Tenn«, jammerte er, »das ist das Dümmste, was ich je gehört habe! Das sind doch Sammlerstücke der Investmentklasse! Alles, was ich tun muß, ist, sie zu behalten, bis ihr Marktwert steigt - und dann, mein Junge, wart mal ab! Es sind alles limitierte Auflagen! In zwanzig Jahren hab' ich ein Haus in den Everglades und laß es mir gutgehen, und sie sind es, die mir das nötige Kleingeld dafür bringen werden... nur«, fügte er traurig hinzu, »wenn ich nicht mit den Zahlungen auf die Reihe komme, nehmen sie sie mir wieder ab. Und schlagen mir die Kniescheiben kaputt.«

Ich floh durch den Flur ins Badezimmer, weil ich es nicht ertragen konnte, noch mehr davon zu hören. Sammlerstücke mit limitierter Auflage! Herr im Himmel, das war einer der ersten Aufträge, die ich je bearbeitet hatte - limitierte Auflagen von so vielen Exemplaren, wie wir verkaufen konnten, fünfzigtausend mindestens; Sammlerstück bedeutete, daß, wenn man sie erst einmal hatte, man nichts tun konnte, als sie zu sammeln.

Also richtete ich mich rasch her und sah zu, daß ich schnell aus dem Raum herauskam, und um sieben Uhr morgens war ich auf dem Campus der Columbia A & P-Universität, hockte über dem elektronischen Vorlesungsverzeichnis und belegte Kurse. Es gab jede Menge Wahlveranstaltungen, die Anrechnungspunkte für den Magister brachten; ich wählte ein Sample der interessantesten. Geschichte, Mathematik - das ist in der Hauptsache Erhebungskunde. Sogar kreatives Schreiben. Vor allem rechnete ich mir aus, daß das ein einfacher Anrechnungspunkt sein würde, aber ich hatte auch im Hinterkopf, daß, wenn es mit dem Werbetexterjob bei Immaterielle Aktiva nichts wurde, es mir irgendwie von Nutzen sein mochte. Wenn man mir nicht gestattete, etwas Richtiges zu schreiben, dann konnte ich wenigstens ein paar Romane herunter hämmern. Zugegebenermaßen gibt's da nicht das große Geld. Aber es existiert immer ein Markt dafür, weil es immer ein paar unangepaßte auf der Welt gibt, die nicht gut genug auf die Reihe kommen können, um Sportsendungen anzuschauen oder die Geschichten des Ornni-V zu verfolgen, also fällt ihnen nichts besseres ein, als zu lesen. Ich hatte es selbst versucht, ein- oder zweimal, und mir ein paar der alten Klassiker auf die Röhre geholt. Es ist ein bißchen ausgefreakt, aber der Markt ist da, und es ist keine Schande, ein bißchen schnelles Geld mitzunehmen, indem man ihn bedient.

Das ist die andere komische Sache an Depressionen. Wenn man mitten in ihnen drinsteckt, sieht alles so schwierig aus, und es gibt so viele Dinge, über die man sich Sorgen macht, daß es nahezu unmöglich ist, sich von der Stelle zu rühren. Aber sobald man den ersten Schritt unternimmt, wird der zweite schon einfacher, und der dritte - tatsächlich entschloß ich mich noch am selben Tag, daß ich etwas wegen der Mokes unternehmen mußte, die ich andauernd soff. Nicht gerade harter Entzug. Nicht einmal sofort drastisch reduzieren. Das erste, was ich tun mußte, war, das Problem zu analysieren. Also begann ich, den Zeitpunkt jeder Moke zu notieren. Das behielt ich eine Woche lang bei, und, mein Gott, ich kam im Schnitt auf vierzig der verdammten Dinger am Tag! Und so gut schmeckten sie mir nun auch wieder nicht.

Ich beschloß, dagegen anzugehen. Ich wollte die Gewohnheit nicht ganz ablegen, weil jede Mokie-Koke für sich genommen eigentlich etwas sehr gutes war. Eigentlich sind sie eine ziemlich geschmacksanregende Mischung wirklich guter schokoladiger Aromen, zusammen mit synthetischem Kaffee-Extrakt und ein paar von diesen Kokain-Analogen, um ihnen Pep zu geben. Alles in allem ein nettes Getränk. Es galt also nicht aufzuhören, sondern zu reduzieren. So betrachtet, war es eine einfache Frage von Zeitplanmachen und Logistik, wie wenn man einen optimalen Verbraucherwirkungsmix seiner Werbespots plant. Vierzig Mokes am Tag waren lächerlich. Ungefähr acht, schätze ich, würden gerade reichen. Ich würde den kleinen Kick mitnehmen, den man jedesmal kriegte, aber ich würde nicht meine Geschmacksknospen abstumpfen.

Eine Moke alle zwei Stunden, kalkulierte ich, wäre gerade richtig dafür. Also entwarf ich eine kleine Tabelle:

6:00 morgens

8:00 morgens

10:00 morgens

- und so weiter den Tag hindurch bis zehn Uhr abends, wenn ich Nelson Rockwell aus unserer Bettbox werfen, mir die letzte als Schlummertrunk genehmigen und so einschlafen konnte.

Als ich sie zusammenzählte, stellte sich heraus, daß eine Moke alle zwei Stunden für die sechzehn wachen Stunden eines jeden Tages unter dem Strich neun statt acht ergaben - außer, ich wollte entweder die zum Aufwachen oder die zum Einschlafen aufgeben. Das hatte ich nicht vor. Und überhaupt, was zum Teufel, neun waren doch nicht zu viel! Ich war sehr zufrieden mit meiner kleinen Tabelle. Sie war ein solch wirksames und effektives kleines Schema, daß ich nicht begreifen konnte, warum anscheinend noch keiner vor mir daran gedacht hatte.

Und, bei Gott, ich hielt mich daran. Fast einen ganzen Tag.

Es kostete ein bißchen Willenskraft, die ersten beiden Stunden bis acht Uhr abzuwarten, aber ich trödelte beim Frühstück und hing unter der Brause herum, bis die anderen Mieter gegen die Tür zu hämmern begannen. Dann war es noch lange hin bis zehn, aber ich ließ mir Zeit, als ich zum Agenturgebäude ging, und danach arbeitete ich mir ein kleines Hilfsschema aus. Man schickte mich sofort zu Botengängen los. Ich sah gar nicht auf die Uhr, während ich von einer Station zur anderen strampelte - na ja, meistens jedenfalls nicht; was ich vielmehr tat, war, abzuwarten, bis ich zu einem Haltepunkt kam, bevor ich einen Blick auf die Uhr warf und mir ausrechnete, wie viele Haltepunkte es noch dauern würde, bevor die nächste Moke fällig war. So pflegte ich zu mir selbst zu sagen: »Nicht am Graphikstudio, nicht an der Bank, nicht an der Theaterkasse für Audrey Wixons Karten - wenn ich zum Restaurant komme, um Mr. Xens Brille abzuholen, die er gestern abend dort vergessen hat, dann dürfte so ungefähr die nächste fällig sein.« Es klappte gut. Na ja - nahezu gut. Nach dem Mittagessen gab es ein kleines Mißgeschick, als ich meine Uhr falsch ablas und die Zwei-Uhr-Mokie-Koke irrtümlich um eins trank. Das war nicht weiter schlimm. Ich entschloß mich halt, mich für den Rest des Tages an die ungeraden Stunden zu halten statt an die geraden. Am Nachmittag war es eine Zeitlang schlimm, als man mich am Empfangstisch bis 3:14 auf ein Päckchen warten ließ, das sich verspätet hatte, aber ich kam prima über den Tag.

Dafür aber weniger prima über den Abend. Die Moke um fünf war dafür gedacht, das Ende des Arbeitstages zu feiern; das war okay. Sieben war schon schwieriger abzuwarten, aber ich zog mein Abendessen in die Länge, so gut es ging. Und dann zurück ins Zimmer, und dann, du lieber Himmel, war neun Uhr noch so lange hin! Etwa um viertel nach acht nahm ich eine Moke aus dem Sechserpack und hielt sie in meinen Händen. Ich hatte den Omni-V an, und er zeigte eines dieser gewaltigen alten historischen Epen über die Frühzeit der Postversandwerbung, aber ich folgte ihm nicht mit der rechten Aufmerksamkeit. Der Ort, wo meine Augen klebten, war die Uhr. Acht Uhr achtzehn. Acht Uhr zwanzig. Acht Uhr zweiundzwanzig... um acht Uhr fünfzig verschleierten sich meine Augen, aber ich hielt bis Punkt neun Uhr aus, bevor ich den Verschluß aufriß.

Ich süffelte sie mit Genuß leer, stolz auf die Tatsache, daß ich durchgehalten hatte.

Und dann sah ich mich der Tatsache gegenüber, daß es sechs Uhr morgens werden würde - neun lange Stunden! -, bevor ich mir wieder eine genehmigen konnte.

Das war mehr, als ich bewältigen konnte. Bis Charlie Bergholm sich seinen Weg aus der Bettbox kratzte und gähnte, um mir Platz zu machen, hatte ich ein ganz neues Sechserpack gekillt.

Die Vorlesungen begannen. Ich unternahm hin und wieder Versuche, die Mokes zu reduzieren, entschied aber, daß es das wichtigste sei, sich mit dem Rest meines Lebens zu beschäftigen. Und ein Teil meines Lebens nahm größere Bedeutung an, als ich vorhergesehen hatte.

Es ist komisch. Es scheint, als könne eine Person gerade soundsoviel Liebe und Zärtlichkeit aufbringen. Ich sagte mir, daß die Moke-Sucht eigentlich gar nicht so schlimm sei; eigentlich meine Arbeit nicht beeinträchtige; eigentlich mich bestimmt nicht weniger wert mache... und glaubte mir nicht. Je tiefer ich in meinen eigenen Augen sank, desto mehr Achtung hatte ich übrig, ohne zu wissen, wo ich sie investieren sollte. Jedenfalls nicht mehr.

Das Leben eines Diplomaten ist voller komplizierter Tabus und Leerräume. Da hockten wir auf der Venus, umgeben von achthunderttausend unversöhnlichen Gegnern. Von uns Diplomaten gab es nur hundertundacht. Was macht man unter solchen Umständen wegen Freundschaften? Mehr als das, was macht man hinsichtlich - na ja - der Liebe? Insgesamt hat man vielleicht fünfzig Kandidaten des anderen Geschlechts zur Auswahl. Vielleicht ein Dutzend davon ist verheiratet - ich meine treu verheiratet -, und ein Dutzend oder mehr ist zu alt, und ungefähr die gleiche Anzahl zu jung. Wenn man Glück hat, befinden sich gerade zehn wirklich in Frage kommende Liebhaber in der gesamten Gruppe, und wie stehen die Chancen, daß auch nur einer von diesen dich anmacht und umgekehrt von dir angemacht wird? Nicht gut. Dips leiden so sehr unter Inzucht wie die Überlebenden der Bounty auf der Insel Pitcairn. Als Mitzi Ku des Weges kam, nutzte ich mein Glück. Wir mochten einander. Wir hatten die gleichen Vorstellungen hinsichtlich Sex. Sie war eine immense Annehmlichkeit für mich und ich für sie - nicht einfach nur für den körperlichen Liebesakt, sondern für all die Paarbindungssachen, die damit einhergehen, wie Kopfkissengeplauder und daß man sich an den Geburtstag des anderen erinnerte. Es war angenehm, Mitzi für solche Dinge dazuhaben. Sie war vielleicht das wertvollste Accessoire, das die Botschaft mir bot. Ich wußte diese Annehmlichkeit zu schätzen. Wir waren höchst freimütig und unverblümt miteinander, aber es gab ein unanständiges Wort, das keiner von uns jemals dem anderen gegenüber aussprach. Das Wort war »Liebe«.

Und nun bestand keinerlei wirkliche Möglichkeit mehr für mich, es ihr zu sagen. Mitzi war so schnell aufgestiegen, wie ich gefallen war. Von einer Woche auf die andere sah ich sie nicht einmal mehr, bis auf flüchtige Blicke. Ich hatte nicht vergessen, daß sie versprochen hatte, mir einen Job als Werbetexterpraktikant bei Immaterielle Aktiva zu verschaffen. Aber ich glaubte schon, sie hätte das - bis ich Val Dambois' Mittagessen zu ihm hochbrachte und Mitzi in seinem Büro vorfand. Nicht einfach bloß dort. Kopf an Kopf mit ihm; und als ich die Tür öffnete, fuhren sie auseinander. »Verdammt, Tarb«, brüllte Dambois, »können Sie denn nicht anklopfen?«

»'tschuldigung«, zuckte ich die Achseln. Ich stellte seinen Sojaburger auf den Schreibtisch und wandte mich zum Gehen. Ich hatte kein Bedürfnis, ihr kleines Tete-a-tete zu unterbrechen... oder wenn doch, dann wollte ich es ganz bestimmt nicht zeigen. Mitzi streckte eine Hand aus, um mich aufzuhatten. Sie blickte mich mit jenem eigentümlichen, vogelartigen Interesse in ihren hellen Augen an und nickte dann.

»Val«, sagte sie, »wir können das später zu Ende bringen. Tenny? Ich denke, vielleicht sind sie jetzt bereit, bei Immaterielle Aktiva etwas für dich zu tun. Komm, ich gehe mit dir runter und sehe, was wir in die Wege leiten können.«

Es war Mittagspause, und darum mußten wir auf den Lift warten. Ich fühlte mich nervös, da ich mich nicht eben glücklich fragte, warum sie mich nicht angerufen hatte, wenn der Job sich aufgetan hatte, und ob sie sich jemals wieder daran erinnert hätte, wenn ich nicht gerade in diesem Augenblick aufgetaucht wäre. Es waren keine Gedanken, die das Ich anschwellen ließen. Ich versuchte, Konversation zu machen. »Na, wegen was habt ihr beide denn da gerade konspiriert?« fragte ich scherzhaft. Die Art, wie sie mich anblickte, ließ mich denken, daß mein Ton eine Spur zu scharf gewesen sei. Ich versuchte, es zu bemänteln. »Wahrscheinlich bin ich ein wenig angespannt«, entschuldigte ich mich, in der Annahme, daß sie das als natürlich bei einem Moke-Kopf ansehen würde. Aber das war es keineswegs. Es mag sogar Eifersucht gewesen sein. »Es kommt mir solange her vor, seit du deinen Spionagering auf der Venus geleitet hast«, sagte ich wehmütig. Was ich damit meinte, war, daß sich meine Wahrnehmungen von Mitzi seit damals erheblich verändert hatten. Sie wirkte - ich weiß auch nicht wie. Nüchterner? Freundlicher? Natürlich konnte es nicht daran liegen, daß sie sich verändert hatte. Was anders war, war, daß ich sie höher schätzte, seitdem ich sie verloren hatte.

Und weil ich sie verloren hatte, stand ich mit offenem Mund da und starrte sie an, als sie, nachdem sie von dem abwärts fahrenden Lift getreten war und auf mich wartete, hinaufrief: »Wenn du heute abend nichts vorhast, Tenny, wie wäre es mit einem Abendessen bei mir zu Hause?«

Ich weiß nicht, was für einen Ausdruck mein Gesicht hatte, aber was immer es war, sie mußte darüber lachen. »Ich hole dich nach der Arbeit ab«, sagte sie. »Nun aber, der Mann, dem ich dich vorstellen möchte, ist Desmond Haseldyne, und das da vorne ist sein Büro. Komm mit!«

Wenn Mitzi mich mit unerwarteter Wärme überrascht hatte, war Haseldyne ein Schock in die andere Richtung. Während Mitzi uns einander vorstellte, starrte er mich unverwandt an, und die einzige Deutung, die ich seinem Gesichtsausdruck beilegen konnte, war Widerwille.

Warum? Ich vermochte es nicht zu erraten. Natürlich hatte ich den Mann von Zeit zu Zeit in der Agentur gesehen. Aber mir wollte partout nichts einfallen, was ich getan hatte, um ihn zu beleidigen. Und Desmond Haseldyne war kein Mann, von dem man sich besonders gewünscht hätte, daß er einen nicht mochte. Er war riesig. Er war mindestens zwei Meter groß, mit Schultern wie ein Hengst und Fäusten, die meine Hand ohne eine Spur verschluckten, als er sich herabließ, sie zu schütteln. Haseldyne war eines dieser freakigen Talente, die die Werbung an sonderbaren Stellen in ihre große Maschinerie einpaßte - ein Mathematiker, hieß es; außerdem ein Dichter; außerdem hatte er kurioserweise eine sehr erfolgreiche Karriere im Import-Export-Geschäft hinter sich gebracht, bevor er sie aufgab, um sich der Werbung zu widmen. Ich erhielt einen ersten Einblick in den Grund für seinen Gesichtsausdruck, als er knurrte: »Zum Teufel, Mitzi! Das ist der Spinner, der die ganze Zeit auf seine Uhr starrt!«

»Er ist aber auch mein Freund«, sagte Mitzi bestimmt, »und ein Werbetexter der Starklasse, der für einen unglücklichen Zufall büßen muß, der nicht seine Schuld war. Ich möchte, daß du ihm eine Chance gibst. Du kannst doch nicht jemandem zum Vorwurf machen, ein Opfer unethischer Werbung geworden zu sein, oder?«

Er lenkte ein. »Vermutlich nicht«, gab er zu - und sicherte sich nicht einmal dadurch ab, daß er hinzufügte, und Gottseidank lassen wir in dieser Agentur uns nicht zu solchen Praktiken herab, wie jeder andere so klug gewesen wäre, es zu tun. Man weiß schließlich nie, wer mithört. Er stand auf und kam schwerfällig um den Schreibtisch herum, um mich besser betrachten zu können. »Ich nehme an«, räumte er ein, »wir können es mal mit ihm versuchen. Du kannst dich ruhig wieder trollen, Mitzi. Sehen wir uns heute abend?«

»Nein, ich habe eine Verabredung. Ein anderes Mal, Des«, sagte sie und blinzelte mir zu, als sie die Tür schloß.

Haseldyne seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück. »Setzen Sie sich, Tarb«, dröhnte er. »Sie wissen, warum Sie hier sind?«

»Ich glaube schon, Mr. Ha-... Des«, stellte ich fest.

Ich hatte beschlossen, daß ich als das behandelt werden würde, was ich war, nicht einfach bloß als ein weiterer Praktikant. Es bewirkte, daß er mich scharf ansah, aber alles, was er sagte, war:

»Dies ist die Abteilung Immaterielle Aktiva. Wir beschäftigen uns mit ungefähr dreißig Hauptwerbungsbereichen, aber es gibt zwei Tätigkeitsfelder, die alle anderen bei weitem überwiegen. Das eine ist die Politik. Das andere ist die Religion. Wissen Sie etwas über eines davon?«

Ich zuckte die Achseln. »Was ich auf dem College gelernt habe«, sagte ich. »Persönlich war ich immer ein Markenartikelmann. Ich habe Waren verkauft, keine Larifari-Ideen.«

Er sah mich auf eine Art an, die mich denken ließ, daß es eigentlich gar nicht so schlimm sein würde, wieder Pakete auszutragen, aber er hatte sich entschieden, mir den Job zu geben, und das würde er auch. »Wenn es Ihnen egal ist welches«, meinte er, »dann wäre wohl der Ort, wo wir im Augenblick am dringendsten Hilfe brauchen, Religion. Vielleicht haben Sie sich noch nie klargemacht, was für ein wertvoller Aktivposten die Religion ist?« Na ja, das hatte ich nicht, aber ich sagte nichts. »Sie reden von Markenartikeln. Waren. Schön, Tarb, jetzt spitzen Sie mal die Ohren. Wenn Sie jemandem ein Glas Coffiest verkaufen, bezahlt er Ihnen vielleicht einen Dollar dafür. Vierzig Cents davon gehen an den Einzel- und den Großhändler. Das Etikett und das Glas kosten einen Nickel, und für den Inhalt müssen Sie vielleicht drei Cents aufwenden.«

»Hübsche Gewinnspanne«, meinte ich beifällig.

»Genau da täuschen Sie sich! Rechnen Sie mal zusammen. Fast die Hälfte Ihres Geldes geht in das verdammte Produkt. Genauso ist es bei den Haushaltswaren, bei Kleidern, bei all diesen materiellen Dingen. Aber Religion! Ach, Religion«, sagte er weich, während sein Gesicht in einem ehrfürchtigen Glühen erstrahlte. »Bei der Religion kostet das Produkt keinen verdammten Cent. Vielleicht geben wir ein paar Dollar für Grundstücke und Baumaßnahmen aus - es sieht natürlich echt Spitze aus, wenn man irgendeine Kathedrale oder einen Tempel oder so etwas vorweisen kann, auch wenn wir in der Hauptsache einfach Modelle und Trickaufnahmen verwenden. Vielleicht drucken wir einige Broschüren. Manchmal ein paar Bücher. Aber werfen Sie nur einen Blick auf die Bilanzen, Tenny, und Sie werden sehen, daß unter dem Strich sechzig Prozent Gewinn übrigbleiben. Und der Rest ist zum Großteil Werbekosten, die, vergessen Sie das nicht, auch unser Geld sind.«

Ich schüttelte erstaunt den Kopf. »Ich hatte keine Ahnung«, sagte ich.

»Natürlich hatten Sie keine Ahnung! Ihr Produktleute seid alle gleich. Und das ist nur die Religion. Bei der Politik das gleiche - sie wirft sogar noch mehr Bargeld ab, weil wir keine Kirchen bauen müssen... obwohl«, fügte er hinzu, »es heutzutage schwer ist, Leute dazu zu bringen, sich für Politik zu interessieren. Früher einmal dachte ich, das könnte das größte von allem sein, aber...« Er schüttelte den Kopf. »Nun«, sagte er, »jetzt haben Sie eine erste Vorstellung von dem, was sie erwartet. Möchten Sie's mal versuchen?«

Na, und ob ich das wollte! Voll überschießenden Adrenalins stürmte ich in den Raum mit den Texterkonsolen, bereit, mich der Herausforderung zu stellen - nur hatte ich vergessen, daß ich immer noch ein Praktikant war. Das bedeutete, daß sie mich immer noch ziehen konnten, wenn sie ein Paket abzuliefern hatten und Mr. Dambois' Anzüge aus der Reinigung abgeholt werden mußten, und da war noch dieses Muster für eine neue Verpackung für Algomars, den Knuspersnack, das in die Produktion mußte... es war Geschäftsschluß, als ich zu meiner Konsole zurückkam. Und ich bekam Mitzi an diesem Abend schließlich doch nicht zu sehen. Statt meiner Verabredungspartnerin fand ich nur eine Nachricht auf meiner Maschine: Mir ist etwas dazwischengekommen. Bedauere. Neuer Termin morgen?

Das war ein schwerer Schlag. Ich hatte mich innerlich auf einen erfreulichen Abend vorbereitet, und jetzt wurde er mir weggenommen.

Auf dem Weg nach Hause soff ich mir mächtig die Hucke mit Mokes voll, und als ich schließlich meine Schicht in der Bettbox antrat und einschlief, waren meine Gedanken alles andere als fröhlich, trotz des neuen Jobs, Es hatte sich eine Menge geändert! Damals auf der Venus war Mitzi froh genug gewesen, sich mit einem Sektionsleiter verabreden zu können. Sogar geschmeichelt! jetzt hatte sich die Welt für uns zwei auf den Kopf gestellt. Ich konnte pfeifen, aber wenn ihr gerade nicht danach war, würde sie nicht kommen. Schlimmer noch, jemand anderes hatte vielleicht ein lauteres und unwiderstehlicheres Pfeifen. Das jedoch, womit ich mich am schwersten abfinden konnte, war, daß es noch zwei weitere Truthähne gab, die das Gefieder in ihre Richtung spreitzten. Offenbar erwartete sie von mir, daß ich eine Nummer zog und darauf wartete, aufgerufen zu werden. Und mir gefiel der ganze Wettstreit nicht. Konkurrenz von Val Dambois konnte ich noch verstehen - ich habe nicht gesagt mögen. Haseldyne war etwas anderes. Wer war dieser Sumo-Fettfleck mit all den Muskeln, der plötzlich in Mitzis Leben aufgetaucht war?

Andererseits hatte sich auch bei anderen Dingen eine Menge geändert. Als ich am nächsten Morgen endlich an die Arbeit kam - nach nur einer Stunde Kaffee- und Krapfen-Holen für die Sekretärinnen und Fotomodelle -, begriff ich, daß der Stand der Technik, den ich hinter mir gelassen hatte, als ich das Shuttle zur Venus bestieg, verglichen mit dem, was jetzt Sache war, wie Steinschloßgewehr und Mainframecomputer anmutete. Das wurde mir zum ersten Mal vor Augen geführt, als ich mich an meine Konsole setzte und die Hand ausstreckte, um das Gitterauflösungsinterlock einzuschalten. Es gab keins.

Es kostete mich den ganzen restlichen Vormittag, herauszufinden, wie man die Konsole bediente, und dabei mußte ich mir noch von der Bürogehilfin helfen lassen.

Aber man wird nicht für nichts und wieder nichts Werbetexter der Starklasse, und ich hatte nicht alle meine Begabungen verloren, während ich auf der Venus war. Ich durchforstete rasch die Unterlagen und stellte fest, daß es, genau wie ich mir gedacht hatte, Bereiche gab, die die Abteilung für Immaterielle Aktiva noch nicht sondiert hatte. Ich konnte nicht aus dem Stand in der neuesten Technik konkurrieren. Was ich tun konnte, war, auf einige erprobte und bewährte Methoden in der Vergangenheit zurückzugehen - immer gut, von neuen Leuten manchmal übersehen -, und bis um vier Uhr an diesem Nachmittag hatte ich mein Konzept vollendet. Ich zog die Spule aus der Konsole und stürmte in Haseldynes Büro. »Werfen Sie mal einen Blick darauf. Des«, befahl ich, während ich sie in sein Lesegerät schob. »Natürlich ist das hier nur vorläufig. Es ist noch nicht vollständig interaktiv, also stellen Sie keine zu schwierigen Fragen, und vielleicht ist das von mir verwendete Modell nicht das beste für den Zweck...«

»Tarb«, grollte er bedrohlich, »wovon, zum Teufel, reden Sie?«

»Haus zu Haus!« rief ich. »Die älteste Werbetechnik, die existiert! Eine vollständig neue Kampagne, basierend auf der Grundlage der solidesten, bestgetesteten Vorgehensweise, die es gibt!«

Ich hieb auf den Schalter, und sofort erschien das dreidimensionale Bild, eine ernste, würdevolle, hagere Gestalt in einer Mönchskutte, das Gesicht verschattet, aber gütig. Sie starrte Haseldyne direkt in die Augen. Unglücklicherweise war sie nur ungefähr sechzig Zentimeter groß, und um ihre Ränder spielte ein Halo aus blauen Funken.

»Anscheinend habe ich die Größenanpassung nicht genau hingekriegt«, entschuldigte ich mich, »und die Interferenzen müßte man auch noch beseitigen...«

»Tarb«, knurrte er, »halten Sie den Mund, ja?« Aber er war interessiert, als die Gestalt auf ihn zuschritt und zu sprechen begann:

»Religion, mein Herr! Ja, das ist es, was ich anzubieten habe! Erlösung! Seelenfrieden! Das Wegwaschen der Sünden, oder einfach die Annahme des Willens eines höchsten Wesens. Ich habe ein komplettes Sortiment vorrätig, römisch-katholisch, Church of England, zweiundzwanzig Arten von Baptisten, Vereinigungskirche, Scientology, Methodisten...«

»Die hat doch schon jeder«, schnauzte Haseldyne und starrte mich gereizt an. Ich frohlockte; das war genau die Reaktion, die ich vorprogrammiert hatte. Das kleine Abbild warf einen raschen Blick über die Schulter, wie um sicherzugehen, daß niemand anderes zuhörte, und beugte sich dann vertraulich vor.

»Recht haben Sie, Sir! Ich hätte gleich sehen sollen, daß Sie nicht die Sorte Mensch sind, die das übernimmt, was alle anderen haben. Wie wäre es also mit einer echten Antike? Ich spreche nicht von ihrem Buddha oder Ihrem Konfuzius. Nein, wovon ich spreche, ist Zoroaster. Ahura Mazda und Ahriman! Die Mächte von Licht und Dunkelheit! Nicht wahr, die Hälfte aller Religionen, die man heutzutage bekommt, sind doch nur schäbige Plagiate von Zoroaster - und, hören Sie, es gibt kein Fasten, keine Ernährungsvorschriften, kein Tu-dies-nicht oder Tu-das-nicht. Zoroaster ist eine Religion für Leute mit Niveau. Und - Sie werden es nicht glauben - ich kann Ihnen das Ganze, Bekehrung und Übertritt eingeschlossen, für weniger als den Preis gewöhnlicher Exerzitien oder einer gewöhnlichen Bar-Mizwa überlassen...«

Ich konnte sehen, daß er tatsächlich am Haken zappelte. Er sah zu, wie die Gestalt bis zum Ende durchlief. Als sie in einem weiteren Schauer dieser blauen Funken verblaßte - diese automatischen Gitterauflösungsvorrichtungen waren auch nicht all das, wofür sie immer angepriesen wurden -, nickte er langsam. »Könnte funktionieren«, sagte er.

»Es wird funktionieren, Haseldyne! Ich gebe zu, es ist noch im Rohzustand. Ich muß natürlich noch mit der Rechtsabteilung über den Vertragsabschluß am Ende reden, und von der Kutte bin ich auch noch nicht ganz überzeugt - vielleicht statt dessen eine Art indianisches Tanzmädchenkostüm mit einer weiblichen Verkäuferin?«

»Tarb«, sagte er schwer, »machen Sie Ihre eigene Arbeit nicht herunter. Es ist gut. Bereinigen Sie das mit der Größe und der Interferenz, und morgen berufen wir eine Mitarbeiterbesprechung ein und bringen es auf den Weg.« Und ich nahm die Spule aus dem Gerät und ging, während er ins Leere starrte. Es kam mir merkwürdig vor, daß er nicht erfreut wirkte - schließlich hatte er zugegeben, daß es gut war! Aber als ich zu meiner Konsole zurückkam, erwartete mich dort eine Botschaft, die solche Sorgen aus meinen Gedanken vertrieb:

»Ich bin aus dem Büro weggerufen worden, warum also kommst du nicht gleich zu mir nach Hause? Erwarte dich gegen acht.«

Als ich nach Hause ging, um mich herzurichten, wartete Nelson Rockwell auf mich. »Tenny«, beschwatzte er mich, »wenn du mir bis zum Zahltag bloß ein paar Dollar leihen könntest...«

»Kommt nicht in Frage, Nelson! Du wirst dich auf die eine oder andere Weise mit der San Jacinto-Münze einigen müssen.«

»Münze? Wer sagt denn etwas von der Münze?« fragte er. »Das hier ist was Brandneues - sieh's dir mal an!« Und er zog einen kleinen Fetzen von einem Bild in einem billigen Plastikrahmen aus der Tasche. »Die rahmbare Finanzminister-Portraitlithografie-Serie auf Papier von Banknotenqualität!« verkündete er stolz. »Sie sind pures Gold, und alles, was ich brauche, ist ein Hunderter, um mich an der Subskription zu beteiligen. Mach zweihundert daraus, und ich kann in die Vorzugssubskription für Ganzmetallwiedergaben berühmter amerikanischer Hängebrücken im Kabinettformat einsteigen...« Ich ließ ihn stehen, obwohl er immer noch redete, und eilte ins Badezimmer, um mich feinzumachen. Tikli-Talkum auf mein Kinn, LiebMich unter die Achseihölen - es war lange her, seit ich das letzte Rendezvous gehabt hatte. Ich überlegte mir, lieber etwas mitzubringen, also hielt ich unterwegs an, um ein paar Sechserpacks Moke zu besorgen. Natürlich war der Supermarkt brechend voll. Natürlich waren die Schlangen an den Kassen endlos. Ich stellte mich an der kürzesten an, die ich finden konnte, aber sie bewegte sich einfach nicht vorwärts. Ich reckte den Hals und lugte an der wohlbeleibten Dame mit dem vollen Einkaufswägelchen vor mir vorbei und sah, daß der Mensch an der Kasse tief in endlose Abrechnungen von Discount-Coupons, Sonderangeboten, Gutschriften, Rubbellosen und dergleichen versunken war und, schlimmer noch, die Matrone vor mir wenigstens doppelt so viele davon in ihrer dicklichen kleinen Faust umklammert hielt. Ich stöhnte, und sie wandte sich voller Mitgefühl zu mir um. »Hassen Sie es nicht auch so, in diesen Schlangen zu stehen? Mein Gott, ich auch! Darum gehe ich nicht mehr zum Ultramaximarkt.« Sie wies stolz auf die Holoschilder: Fixe Bedienung! Ultraschnelle Kassenabfertigung! Wir tun alles, um das Einkaufen bei uns zu einem Vergnügen zu machen!

»Die Sache ist«, sagte ich, »ich bin mit einer Dame verabredet.«

»Ach«, meinte sie mitfühlend, »dann haben Sie es natürlich eilig. Ich will Ihnen was sagen. Sie helfen mir, diese Coupons zu sortieren, und es geht viel schneller, wenn ich zur Kasse komme. Wissen Sie, ich habe da diesen Dreißig-Cent-Rabatt auf Kelpy-Krisps, aber der Coupon gilt nur, wenn ich eine 175-Milliliter-Tube Strahlzahn doppelt wirksames Dental-Analgetikum kaufe, aber die haben hier nur die mit -zweihundert Millilitern. Glauben Sie, daß sie die auch akzeptieren? Natürlich würden sie das nicht. Das war eine T., G. & S.-Promotion, und ich wußte, daß wir diese Coupons nie ausgegeben hätten, wenn die 175ml-Tube nicht vom Markt genommen worden wäre. Mir blieb jedoch erspart, ihr das zu erklären. Ein rotes Licht leuchtete auf, eine Hupe ertönte, um sie aus dem Weg zu jagen, die Schranke schlug ihr vor der Nase zu, und eine Leuchtanzeige verkündete:

Zu unserem Bedauern ist diese superflinke Schnellservice-Warenkasse jetzt geschlossen. Bitte gehen Sie zwecks zügiger Abfertigung durch unsere freundlichen Kassiererinnen mit Ihrem Wagen zu einem unserer anderen Schalter.

»Oh, verdammt«, stöhnte ich, ungläubig die Schrift anstarrend. Das war ein Fehler. Es hinderte mich daran, rechtzeitig zu reagieren.

Einer der Slogans, auf die ich im Rechenschaftsbericht der Abteilung Religion gestoßen war, lautete »die Letzten werden die Ersten sein«. In diesem Fall ließ mein Zögern das nur allzu wahr werden, die ganze lange Schlange hinter mir löste sich auf und verteilte sich, und ich wurde davon überrascht, während ich noch starrte. Das ist der Augenblick, in dem die feingeschliffenen Konsumfähigkeiten, die man ein Leben lang entwickelt hat, auf die Probe gestellt werden. In Sekundenbruchteilen zu fällende Entscheidungen tauchen vor einem auf: zu welcher Schlange soll man stürzen? Man muß ein Dutzend unabhängiger Variablen abwägen, und nicht nur die, die man auf den ersten Blick sieht. Da gibt es Dinge wie die Anzahl von Personen in einer Schlange, die Anzahl von Waren pro Person, den Faktor für die Anzahl von Coupons pro Ware - das alles lernt man, während man noch am Ende von Muttis Einkaufswägelchen hängt, den Daumen im Mund und die Dose Bonbons, derentwegen man sich die Lunge aus dem Leib gebrüllt hat, in der schmierigen kleinen Faust. Dann muß man lernen, den individuellen Verbraucher einzuschätzen. Man hält Ausschau nach einem nervösen Zucken der Finger, da anzeigt, daß dieser da vielleicht dicht davor steht, seinen Kredit zu überziehen, so daß die ganze Schlange ins Stocken geraten wird, während die Wackerhuts kommen, um ihn abzuführen, Oder jener andere da hat einen Magnetstift durch die Detektoren geschmuggelt, um zu versuchen, ein Bonusangebot abzuändern. Man muß jedem einen Wert zuschreiben und sie integrieren, und dann gibt es da noch den Körpereinsatz, den man trainiert hat, das Antäuschen der falschen Schlange, das So-Tun, als bemerke man einen Einkaufswagen nicht, den jemand stehengelassen hat, um einen Platz freizuhalten, den Gebrauch der Ellbogen - all das ist Standard-Überlebenskram, aber meine Fertigkeiten waren nach den Jahren auf der Venus eingerostet. Ich landete am Schwanzende einer Schlange, die länger war als je zuvor, und selbst Fräulein 250 Millimeter hatte sich noch vor mir hineingequetscht.

Irgend etwas mußte geschehen.

Ich spähte über die Schulter, um die Körbe in der Schlange vor mir zu mustern, und legte mir eine Taktik zurecht. »Oh, verflixt«, sagte ich wie im Selbstgespräch, aber laut genug, daß alle es hören konnten, »jetzt habe ich die Vita-Smax vergessen.« Niemand hatte welche. Das konnten sie auch gar nicht. Die Artikelserie war abgesetzt worden, noch bevor ich zur Venus abflog - irgendwelche Probleme mit Schwermetallvergiftung. Drei Schritte vor mir blickte mich ein alter Mann mit einem Doppeldecker-Einkaufswagen an. Er knabberte schon am Köder.

Ich lächelte ihn an und rief: »Erinnern Sie sich noch an diese wunderbaren alten Vita-Smax-Werbespots? "Die uramerikanische Käse-, Kleie- und Honig-Frühstückswonne"?«

Fräulein 250 Millimeter sah von ihrer hektischen Couponsortiererei auf. »"Regelt Ihre Verdauung - Reizt Ihre Zunge - Schafft Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit mit jedem Biß!"« zitierte sie. »Mensch! Ich habe schon lange keine Vita-Smax mehr gegessen! Wir nannten sie immer die Milch- und Honig-

Haferflocken.« Neben den Schwermetallen hatten die nachgemachten Milchfestbestandteile Leberschäden verursacht, und das synthetische Sucrosesirup hatte die Zähne faulen lassen, aber natürlich würde sich an so etwas keiner erinnern.

»Mutti pflegte sie jeden Morgen zu machen«, sagte eine andere Frau verträumt.

Jetzt hatte ich sie auf der Kippe. Ich lachte wehmütig in mich hinein. »Meine auch. Ich könnte mich dafür treten, daß ich nicht ein oder zwei Schachteln von dem Stapel in der Feinschmeckerabteilung genommen habe.«

Köpfe drehten sich. »Ich habe da keine Vita-Smax gesehen«, widersprach der alte Mann nörgelig.

»Wirklich? Der große Stapel unter dem Schild "1 kaufen, 1 umsonst"?« Die Schlange erzitterte. »Mit dem speziellen Doppelrabatt-Coupon als Wiedereinführungsangebot?« fügte ich hinzu, und das brachte es. Sie spritzten auseinander. Jeder einzelne schob seinen Wagen aus der Schlange und beteiligte sich am Wettlauf zur Feinschmeckerabteilung. Plötzlich stand ich direkt vor der Kassiererin. Sie hatte ebenfalls zugehört, und ich mußte sie anbetteln, mein Geld anzunehmen, bevor sie hinter den anderen herrannte.

Trotzdem war ich zu spät dran. Ich trabte die letzten paar Blocks bis zu Mitzis Wohnung beinahe. Der Smog und die Anstrengung ließen mich keuchen und schwitzen, als ich dort ankam - adieu LiebMich!

Als ich an dem Türding vorüber war, sah ich zu meiner Überraschung, in was für einer Art Bude Mitzi lebte. Ich meine damit nicht, daß sie luxuriös war - das hätte ich ja angesichts ihrer gegenwärtigen Krediteinstufung erwartet. Ganz im Gegenteil, was mir ins Auge fiel, als Mitzi mich einließ, war Kargheit.

Es war gewiß nicht Armut, die sie so sonderbar kahl erscheinen ließ. Man bekommt keine 40-Quadratmeter-Mietwohnung in einem Gebäude mit reflexkonditionierten Rund um die Uhr Angriffswachen, ohne dafür zu bluten - das hatte ich gewußt, selbst wenn ich nicht alles über das Veenie-Schmerzensgeld gewußt hätte. Das Überraschende war, daß das Prassen mit der Bude selbst aufgehört hatte. Kein RotaBad. Kein Becken mit tropischen Fischen. Kein - nun, überhaupt kein irgendwas, um ihren Status anzuzeigen. Sie hatte nicht einmal Nelson Rockwells komische Büsten oder Gedenkmedaillen. Ein paar Möbelstücke, ein kleines Omni-V-Set in einer Ecke - das war es auch schon in etwa. Und die Raumausstattung war merkwürdig. Sie war ganz in feurigen Rot- und Gelbtönen gehalten, und an einer Wand befand sich ein riesengroßes statisches Wandbild - noch nicht einmal Flüssigkristall -, über das ich mir einen Augenblick lang den Kopf zerbrach, bevor ich es erkannte. Klar doch, es war eine Wiedergabe jener berühmten Szene aus der venusischen Geschichte, als man die erste große Hilsch-Röhre auf dem Gipfel des höchsten Berges in der Freysa-Kette plaziert hatte, um die schädlichen Gase in den Orbit hinauszupusten, derweil man anfing, die Atmosphäre in etwas umzuwandeln, das Menschen ertragen konnten.

»Tut mir leid, daß ich zu spät komme«, entschuldigte ich mich, wobei ich das Wandbild anstarrte, »aber im Supermarkt war eine lange Schlange.« Ich hielt die Mokie-Kokes zur Erklärung hoch.

»Ach, Tenrty, wir brauchen das Gesöff nicht.« Dann biß sie sich auf die Lippe. »Komm mit in die Küche, während ich das Abendessen fertigmache, und du kannst mir erzählen, wie's bei dir so läuft.«

Zu meiner Überraschung kriegte sie mich an die Arbeit, während ich redete. Zu meiner noch größeren Überraschung handelte es sich bei der Arbeit um Kartoffelschälen. Ich meine rohe Gemüse-Kartoffeln - an manchen war sogar noch Dreck! »Wo hast du die denn her?« fragte ich und versuchte herauszufinden, was ich wohl tun mußte, um sie zu »schälen«.

»Mit Geld bekommt man alles«, sagte sie. während sie irgendwelche anderen rohen, unveredelten Gemüse in Streifen schnitt, orange und grün gefärbte diesmal. Es war nicht gerade eine Antwort, weil ich mich eigentlich nicht wo gefragt hatte, oder wie, sondern warum?

Aber ich war zur Höflichkeit erzogen. Ich aß tatsächlich eine ganze Menge von ihrem Abendessen, sogar die rohen Stengel und Blätter, die sie Salat nannte, und ich sagte nichts Kritisches. Nun ja, nichts Kritisches. Was ich sie aber nach einer Weile fragte, als die Unterhaltung ein bißchen durchzuhängen schien, war, ob sie dieses Zeug wirklich mochte.

Mitzi mampfte mit einem entrückten Blick in den Augen vor sich hin, aber sie riß sich zusammen, »Ob ich es mag? Natürlich mag ich es. Es ist...« Sie hielt inne, als wäre ihr etwas eingefallen. »Es ist gesund«, sagte sie.

»Das wird es wohl sein«, sagte ich höflich. »Nein, wirklich! Es gibt ein paar neue, äh, noch nicht veröffentlichte Untersuchungen, die das beweisen. Wußtest du zum Beispiel, daß veredelte Nahrungsmittel Gedächtnisschwächen hervorrufen können?«

»Ach, komm, Mitzi«, grinste ich. »Niemand würde Verbrauchern Dinge verkaufen, die ihnen schaden.«

Sie warf mir einen merkwürdigen Blick zu. »Nun, nicht absichtlich«, sagte sie, »vielleicht. Aber es handelt sich um neue Untersuchungen. Ich will dir was sagen. Laß es uns doch einfach austesten!« »Was austesten?«

»Ob deine Ernährung dein Gedächtnis ruiniert hat, verdammt noch mal«, brauste sie auf. »Wir machen ein kleines Experiment, um festzustellen, an wieviel von irgendwas du dich noch erinnern kannst, und wir, äh, zeichnen es auf Band auf, um es zu überprüfen.«

Das klang mir nicht wie ein sehr lustiges Spiel, aber ich versuchte immer noch, höflich zu sein. »Warum nicht?« meinte ich. »Wollen mal schauen. Angenommen, ich nenne dir die jährlichen Budgets der Agentur für die letzten fünfzehn Jahre, aufgegliedert in...«

»Nein, nicht so was Langweiliges«, beklagte sie sich. »Ich weiß! Wollen mal schauen, an wie viel du dich noch von dem erinnerst, was sich in der Botschaft auf der Venus abspielte. Irgendein spezieller Aspekt - ich weiß nicht - sicher! Erzähl mir alles, an was du dich über den Spionagering erinnerst, den ich geleitet habe.«

»Ah, aber das ist nicht fair!« protestierte ich. »Du hattest die eigentliche Leitung, und alles, was ich weiß, sind vereinzelte Bruchstücke.« »Das werden wir berücksichtigen«, versprach sie, und ich zuckte die Achseln.

»Na gut. Nun, um damit anzufangen, du hattest dreiundzwanzig aktive Agenten und ungefähr hundertundfünfzig freie Mitarbeiter und Teilzeitbeschäftigte - die meisten davon waren keine richtigen Agenten, wenigstens wußten sie nicht, für wen sie arbeiteten.«

»Namen, Tenny!«

Ich blickte sie überrascht an - sie nahm das ganz schön ernst. »Nun, da war einmal Glenda Pattison im Parkamt, das war die, die die schadhaften Teile in das neue Kraftwerk eingeschmuggelt hat. Al Tischler aus Learoyd City - ich weiß nicht, was der gemacht hat, aber ich erinnere mich an ihn, weil er so klein für einen Veenie war. Margaret Tucsnak, die Ärztin, die die Anti-Baby-Pillen unter die Aspirin gemischt hat. Mike Vaccaro, der Gefängniswärter vom Pol - sag mal, soll ich Hamid mitrechnen oder nicht?«

»Hamid?«

»Den Knacki«, erklärte ich. »Den, den ich dem alten Harriman als echten politischen Flüchtling aufgeschwatzt habe. Natürlich bist du abgereist, bevor er sich bei dir melden konnte, deshalb weiß ich nicht, ob ich ihn mit auf die Liste setzen soll. Aber ich bin überrascht, daß du dich nicht an ihn erinnerst.« Ich grinste. »Gleich sagst du noch, du erinnerst dich auch nicht an Hay«, wagte ich zu bemerken. Verblüffenderweise wirkte sie auch bei diesem Namen verdutzt. »Jesus Maria Lopez, um Gottes willen«, sagte ich verärgert, und sie schaute mich einen Augenblick lang verständnislos an.

Dann sagte sie: »Das war alles damals auf der Venus, Tenny. Er ist dort. Wir sind hier.«

»So ist es recht, Mädchen.« Ein Silberstreif am Horizont. Ich rückte näher zu ihr, und sie sah mich beinahe einladend an. Aber da war immer noch die Spur eines finsteren Gesichtsausdrucks auf ihrem Gesicht. Ich streckte die Hand aus und berührte die Stirnrunzelfalten; sie wirkten wie in ihre Stirn einmodelliert. »Mitzi«, sagte ich zärtlich, du arbeitest zu hart.«

Sie wich fast ärgerlich vor meiner Hand zurück, aber ich beharrte: »Nein, ehrlich. Du bist... ach, ich weiß nicht. Müder. Sanfter auch.« Das war sie; meine Messinglady war jetzt aus Bronze. Sogar ihre Stimme war tiefer und weicher.

Und, um ehrlich zu sein, ich mochte sie so lieber. Sie sagte: »Mach weiter mit den Namen, bitte.« Aber sie lächelte.

»Warum nicht? Theiller, Weeks, Storz, die Jurkewitsch-Brüder - wie bin ich bisher?«

Sie biß sich auf die Lippen - ärgerlich, dachte ich, weil mein Gedächtnis doch noch ganz gut war. »Mach einfach weiter«, meinte sie. »Es sind noch viel mehr.«

Also machte ich weiter. Tatsächlich erinnerte ich mich an ungefähr ein Dutzend Namen, aber sie erklärte sich bereit, es auch gelten zu lassen, wenn meine Erinnerungen an einige der Agenten nur darin bestanden, wo sie arbeiteten und was sie für sie gemacht hatten, und wenn ich mir bei etwas nicht sicher war, half sie aus, indem sie Fragen stellte, bis ich es wieder auf die Reihe bekam. Aber es zog sich so schrecklich lange hin! »Versuchen wir doch mal was anderes«, schlug ich vor. »Zum Beispiel, wer von uns sich an mehr von der letzten Nacht erinnern kann, die wir zusammen verbracht haben.«

Sie lächelte abwesend. »Gleich, Tenny, aber zuerst diese Person aus Myers-White, die die Weizenernte verderben hat...«

Ich lachte laut auf. »Mitzi, Liebling«, sagte ich, »der Myers-White-Agent baute Reis an; es war in Nevindale, wo sie die Weizenernte verdorben haben! Siehst du? Wenn die Ernährung das Gedächtnis ruiniert, solltest du dich vielleicht auf Kelpy Krisps umstellen!«

Sie biß sich wieder auf die Lippen, und einen Moment lang war ihr Gesichtsausdruck keineswegs freundlich. Seltsam. Ich hatte Mitzi nie für einen schlechten Verlierer gehalten. Dann lächelte sie und kapitulierte, indem sie den Recorder abschaltete. »Ich glaube, du hast deinen Beweis geführt, Liebling«, sagte sie und tätschelte die Couch neben sich. »Warum kommst du nicht hier herüber und kassierst den Gewinn ein?« Und so ergab es sich, daß wir uns doch noch ganz nett amüsierten.


III

Das nette Amüsement wiederholte sich jedoch nicht so rasch. Mitzi hinterließ keine weiteren Nachrichten mehr für mich. Ich rief sie ein paarmal an - sie war durchaus freundlich, gewiß sie war auch, so erklärte sie, wirklich sehr beschäftigt, und vielleicht irgendwann nächste Woche, Tenn, Liebling, oder jedenfalls direkt nach dem Monatsersten...

Natürlich gab es auch viel, was mich auf Trab hielt. Ich kam sehr gut im Religionsgeschäft voran, und sogar Desmond Haseldyne war des Lobes voll. Aber ich wollte Mitzi sehen. Nicht nur wegen, na, Sie wissen schon, der Dinge, derentwegen ich mich überhaupt zuerst für sie zu interessieren begonnen hatte. Es gab auch noch andere Gründe.

Einige Male, als ich in Haseldynes Büro kam, tätigte er gerade mysteriöse Privatgespräche, und ich hatte den komischen Gedanken, daß ein paar davon Mitzi galten. Und ich sah ihn, zusammen mit Val Dambois und Mitzi und dem Alten selbst, bei einer Beratung in einem Schnellimbiß ein ganzes Stück von der Agentur entfernt. Es war kein Lokal, wohin leitende Angestellte zum Mittagessen gingen. Es war nicht einmal ein Lokal, wohin Junior-Werbetexter-Praktikanten wie ich sehr oft zum Mittagessen gingen, aber zufällig lag es nahe bei der Columbia Advertising & Promotion-Universität. Als sie mich erblickten, rüttelte sie das offenbar auf. Sie waren alle gemeinsam an irgend etwas beteiligt. Ich wußte nur nicht, woran. Ging mich vielleicht auch nichts an - aber es schmerzte mich, daß Mitzi mir nicht erzählte, was es war. Ich ging weiter zu meiner Columbia-Vorlesung, - die für Kreatives Schreiben -, aber ich befürchte, ich paßte den ganzen Abend über nicht besonders gut auf.

Das war auch der beste Kurs, an dem ich teilnahm. Kreatives Schreiben ist wirklich - nun ja - eben kreativ. Zu Beginn des Kurses erklärte uns die Professorin, daß dieser Gegenstand erst in unseren Tagen sinnvoll unterrichtet würde. Früher, so sagte sie, erfanden die Studenten einfach selbst irgendwelche Sachen, und die Dozenten mußten dann entscheiden, wie viel von dem, was an einer Hausarbeit gut - oder schlecht - war, die Idee war oder die Art und Weise, wie die Idee ausgedrückt wurde. Dabei, sagte sie, hatten sie doch seit Jahrhunderten das Vorbild der Kunstkurse, die ihnen hätten zeigen können, wie man es richtig machte. Aufstrebende Künstler waren immer darangesetzt worden, die Werke von Cezanne und Rembrandt und Warhol zu kopieren, um ihr Handwerk zu lernen, während alles, was aufstrebende Schriftsteller zu erschaffen gedrängt wurden, ihr eigenes dummes Geschwätz war. Leicht zu handhabende Wortprozessoren hatten das alles geändert, und so war die erste Aufgabe, die sie uns stellte, den Sommernachtstraum in zeitgemäßem Englisch neu zu schreiben. Und ich bekam eine 1.

Nun, von da an war ich Lehrerins Liebling, und sie ließ mich alle möglichen Themen bearbeiten, die Extrapunkte brachten. Es bestand eine gute Chance, sagte sie, daß ich ihren Kurs mit der höchsten je erreichten Punktzahl absolvieren würde, und wie Sie wissen, kann einem das nur guttun, wenn die Zeit kommt, seine Anrechnungspunkte zusammenzuzählen. Also wagte ich mich an einige ziemlich ambitionierte Projekte. Das schwierigste war vermutlich, das ganze Auf der Suche nach der verlorenen Zeit im Stile Ernest Hemingways neu zu schreiben, dabei den Schauplatz ins Deutschland der Hitlerzeit zu verlegen und es als Einakter zu bringen.

So etwas überstieg bei weitem die Kapazität aller Geräte, die ich in meinem kleinen Teilzeit-Condo hatte, ganz davon abgesehen, daß meine Zimmerkameraden mich wahrscheinlich gestört hätten, also ging ich dazu über, nach der Arbeit dazubleiben und dann die großen Maschinen in den Texterkonsolen zu benutzen. Ich hatte die Satzlänge auf nicht mehr als sechs Worte festgelegt, die Introspektion auf fünf Prozent heruntergeregelt und Bühnenmanuskriptformat programmiert, und ich machte mich gerade bereit, das Programm laufen zu lassen, als mir die Mokes ausgingen. Der Automat für alkoholfreie Getränke führte natürlich nichts als unsere eigenen Agenturmarken. Ich hatte sie schon früher ausprobiert; sie stillten meine Begierde nicht. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, einmal eine Mokie-Koke-Flasche im Papierkorb in Desmond Haseldynes Büro gesehen zu haben - ich vermute, es war nur meine Einbildung -, also schlenderte ich in diese Richtung.

Irgend jemand war in seinem Büro. Ich konnte Stimmen hören; die Lampen waren an; die Abdeckungen der Datenverarbeitungsanlagen standen offen, und es lief eine Art Finanzprogramm. Ich hätte mich leise abgewandt und wäre zu meiner Texterkonsole zurückgekehrt, wäre nicht eine der Stimmen die Mitzis gewesen.

Neugier war mein Untergang.

Ich hielt inne, um mir die auf den Maschinen laufenden Programme anzusehen. Zuerst hielt ich sie für eine Fortschreibung irgendeines Investitionsplanes, denn sie drehten sich alle um Aktienbesitze und Prozentsätze von ausgegebenen Gesamtanteilen. Aber es schien ein Muster zu ergeben. Ich stand auf und beschloß, von hier zu verschwinden...

Und beging den Fehler, mich unauffällig durch die verdunkelten Büros auf der anderen Seite der Computer davonstehlen zu wollen. Sie waren für die Nacht gesperrt. Nichts hinderte mich daran, einzutreten, aber die Einbrecherfalle war eingeschaltet. Ich hörte ein mordsmäßig hohles Zischen wie den Klang der Hilsch-Röhren rund um Port Kathy, und eine riesige Wolke von Weiß explodierte rund um mich. Ich war eingeschäumt worden! Ich konnte nichts mehr sehen. Der Schaum gestattete mir zu atmen, aber er gestattete mir nicht, etwas zu sehen, nicht das mindeste. Ich stolperte einen Augenblick lang umher, knallte gegen Stühle, rannte Tische um.

Dann kapitulierte ich vor dem Schaum und blieb einfach wartend stehen. Und während ich wartete, dachte ich nach.

Bis ich jemand kommen hörte, hatte ich es ausgeknobelt.

Es waren Mitzi und Haseldyne, die den Schaum mit einer auflockernden Chemikalie einsprühten, als sie kamen - ich konnte das Zischen hören. »Tenn!« rief Mitzi aus. »Was zum Teufel machst du hier?«

Ich antwortete nicht, jedenfalls nicht sofort. Ich wischte mir den letzten Rest des Schaumes von Gesicht und Schultern und grinste sie an.

»Ich bin euch auf die Schliche gekommen«, behauptete ich.

Was ich sagte, hatte eine seltsame Wirkung auf sie. Natürlich waren sie verblüfft, mich dort zu sehen. Mitzi hielt das Auflockerungsspray wie eine Waffe, und Haseldyne spielte mit einem schweren Bandspender, als hätte er ihn zu dem Zweck mitgebracht, jemandem damit den Kopf einzuschlagen - was wohl nicht so überraschend war, nehme ich an, weil ich ja den Einbrecheralarm und den Schaum ausgelöst hatte. Aber beide wurden sie völlig ausdruckslos. Es war, als seien ihre Gesichter plötzlich abgestorben, und diese sonderbare Unbeweglichkeit behielten sie mehrere Sekunden lang bei.

Dann sagte Mitzi: »Ich weiß nicht, was du meinst, Tennison.«

Ich lachte stillvergnügt. »Es liegt doch ganz klar auf der Hand. Ich habe die Programme gesehen, die ihr laufen laßt. Ihr plant einen Übemahmeversuch, richtig?«

Immer noch kein Ausdruck. »Ich meine«, erläuterte ich, »ihr beide, vielleicht Dambois auch, plant, mit euren Beteiligungen die Kontrolle über die Agentur zu übernehmen. Stimmt das etwa nicht?«

Langsam, gletscherartig, kehrte der Ausdruck auf Haseldynes Gesicht zurück und dann auf Mitzis. »Ich will verdammt sein«, grollte Haseldyne, »Er hat uns mit runtergelassenen Hosen erwischt, Mitzi.«

Sie schluckte und lächelte dann. Es war kein sehr gelungenes Lächeln - zu viel Spannung in den Kinnmuskeln, zu viel Zusammenpressen der Lippen. »Es sieht ganz danach aus«, meinte sie. »Nun, Tenn, was wirst du jetzt unternehmen?«

Ich hatte mich lange nicht mehr so gut gefühlt. Sogar Haseldyne sah für mich wie ein harmloser und freundlicher dicker Mann aus, nicht wie ein raubgieriges Ungeheuer. Ich sagte liebenswürdig: »Wieso, nichts, was ihr nicht wollt, daß ich tue, Mitz. Ich bin euer Freund. Alles, was ich mir wünsche, ist ein bißchen Wohlwollen von euch beiden.«

Haseldyne blickte Mitzi an. Mitzi sah Haseldyne an. Dann wandten sich beide mir zu. »Ich vermute«, sagte Haseldyne, wobei er seine Worte vorsichtig wählte, »was wir jetzt tun sollten, ist, uns darüber zu unterhalten, wie wohlwollend Sie uns denn gerne hätten, Tarb.«

»Mit Freuden«, sagte ich. »Aber zuerst - habt ihr zufällig eine Moke dabei?«


IV

Am nächsten Tag in der Agentur war das Klima aufgetaut. Bis um die Mitte des Nachmittags war es regelrecht tropisch, denn Mitzi Ku hatte mich angelächelt. Was Mitzi Ku plötzlich zu einer so bedeutenden Macht machte, wußte keiner genau, aber der Tratsch am Trinkwasserkühler hatte offensichtlich gemacht, daß sie es war. Niemand sprach mehr davon, mich zurück auf die Pedicab-Tour zu schicken.

Sogar Val Dambois fand mich der Liebe wert. »Tenny, mein Junge«, dröhnte er, nachdem er den langen Weg bis hinunter zu meinem kleinen Kabäuschen bei Immaterielle Aktiva zurückgelegt hatte, »warum haben Sie nur zugelassen, daß man Sie in so ein Loch steckt? Warum zum Teufel haben Sie nicht irgend etwas gesagtl« Ich hatte nichts gesagt, weil ich nicht an seiner Sek³ vorbeikommen konnte, lautete die Antwort, aber es hatte keinen Sinn, ihm etwas zu erzählen, was er längst wußte. Wir konnten das Vergangene ruhen lassen, für jetzt jedenfalls. Vergebung, kein fortlebender Groll, ein wahrhaft handelsfürchtiger Geist, das war Tennison Tarb in diesen Tagen. Ich erwiderte Dambois' Lächeln und ließ zu, daß er den Arm um mich legte, als er mich zurück in die Chefetagen geleitete, die Zeit würde kommen, das wußte ich, wenn seine Kehle meinen Fängen ausgeliefert sein würde - bis dahin hieß es vergeben und vergessen.

Ohne ein Wort darüber zu verlieren, richteten sie es sogar so ein, einen Moke-Automaten in meinem Büro aufzustellen. Es gab keine offizielle Entscheidung. Er tauchte an diesem Nachmittag einfach auf.

Und das veranlaßte mich zu einigem intensiven Nachdenken. Mokes zu saufen, war sicher harmlos genug - zum Teufel, ich harte das bewiesen! -, aber paßte es wirklich zu dem Starklassen-Image, das ich der Welt gegenüber zeigen sollte? Es war mehr etwas für Verbraucher - und überdies Verbraucher auf dem Jahresabschluß einer konkurrierenden Agentur. Ich grübelte auf dem ganzen Nachhauseweg in meinem Dienstwagen darüber nach. Als ich dem Strampler sein Trinkgeld gab, nahm der Gedanke feste Formen an, weil ich einen Blick düsteren Unmuts in seinen Augen auffing, bevor er ihn verbarg und dankend an die Mütze tippte. Vor gerade drei Tagen hatten wir uns die gleiche Pedicab-Tour geteilt. Ich konnte seinen Unmut verstehen. Was dieser Unmut besagte, war, daß, wenn ich wieder in die unteren Abgründe geworfen werden würde, er und die anderen Haie warten würden.

Also marschierte ich nach drinnen und klopfte gegen den Schlaftank. »Rockwell«, rief ich. »Wach auf! Ich möchte dich etwas fragen.«

Er war kein übler Bursche, der alte Nelson Rockwell. Er hatte noch beinahe sechs Stunden im Tank vor sich, bevor ich an der Reihe war, und alles Recht der Welt, mir den Kopf abzubeißen, als ich ihn aus ihm herausholte. Aber als er hörte, was ich wollte, war er die Freundlichkeit selbst. Ein bißchen verblüfft vielleicht. »Du willst trocken werden, Tenny?« wiederholte er, immer noch im Halbschlaf. »Na ja, klar, das ist das Schlaueste, was du machen kannst, du willst dir ja nicht deine große Chance versauen. Aber ich versteh' echt nicht, was das mit mir zu tun hat.«

»Was es mit dir zu tun hat, Nels, ist, hast du mir nicht mal erzählt, du wärst bei ConsumAnon?«

»Ja, sicher. Vor Jahren. Hab's aber aufgegeben, weil ich es nicht mehr brauchte, nachdem ich mich erst mal zusammengerissen und aufs Sammeln verlegt hatte - ach so!« sagte er, und seine Augen leuchteten auf. »Jetzt kapier ich! Du möchtest, daß ich dir von ConsumAnon erzähle, damit du dich entscheiden kannst, ob du's ausprobieren willst.«

»Was ich möchte, Nels, ist zu ConsumAnon gehen. Und ich möchte, daß du mich hinbringst.«

Er warf der warmen, einladenden Schlafbox einen sehnsüchtigen Blick zu. »Gott, Tenny. Es steht alles offen. Du mußt nicht eingeführt werden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich mit jemandem hinginge«, gestand ich. »Bitte? Und bald? Schon morgen abend, wenn dann eine Versammlung ist...«

Das brachte ihm zum Lachen. Als er zu Ende gelacht hatte, klopfte er mir auf den Arm. »Du mußt noch eine Menge lernen, Tenny. Es findet jeden Abend eine Versammlung statt. So funktioniert das nämlich. Tja, wenn du mir mal meine Socken reichen würdest...«

So war Nels Rockwell. Die ganze Zeit, während er sich anzog, dachte ich darüber nach, wie ich ihm diese Gefälligkeit vergelten sollte. Natürlich würde ich bald aus dieser Teilzeitabsteige ausziehen müssen. Was konnte mich davon abhalten, sagen wir, meinen Anteil zwei oder drei Monate im voraus zu bezahlen und ihn ihm zu überlassen, so daß er sich seine Schlafenszeit selbst aussuchen konnte? Ich wußte, daß er wegen seines Schlafplans in der Ösenfabrik den Hummertrick abziehen mußte; womöglich konnte er eine andere Schicht kriegen, vielleicht sogar mehr Geld verdienen...

Aber ich riß mich zusammen. Man tat einem Verbraucher keinen Gefallen, wenn man ihm Flausen in den Kopf setzte, die über seinen Rang hinausgingen. Er kam auch so prima klar. Ich hätte ihn vielleicht nur bös durcheinandergebracht, wenn ich mich einmischte.

Also hielt ich den Mund hinsichtlich der Mietvorauszahlung, aber im Herzen war ich aufrichtig dankbar.

ConsumAnon erwies sich als schlechte Idee. Das erkannte ich innerhalb der ersten zwei Minuten. Der Ort, wohin Rockwell mich gebracht hatte, war eine Kirche.

Nun ist das ja an sich nicht so schlimm. Tatsächlich war es sogar irgendwie interessant - ich hatte noch nie eine von innen gesehen. Außerdem konnte man es als eine Art Feldforschung für meine Arbeit bei Immaterielle Aktiva betrachten, was zugleich bedeutete, daß ich einen Erstattungsantrag für mein und Rockwells Pedicab-Fahrgeld einreichen konnte (auch wenn er darauf bestanden hatte, daß wir den Bus nahmen).

Aber - diese Leute! Ich meine nicht nur, daß sie Verbraucher waren. Sie waren der Abschaum der Verbraucherklasse, vertrocknete kleine alte Männer mit nervösen Gesichtszuckungen; fette, finster dreinblickende Mädchen mit der Art von Teint, den man von Festsoja und nicht allzuviel davon bekam. Da war ein aufgekratzt miteinander flüsterndes junges Paar mit einem kleinen Kind, das unbeachtet auf dem Sitz zwischen ihnen rasend schrie. Da war ein wieselgesichtiger Mann, der an der Tür herumschlich, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er bleiben oder weglaufen sollte - na ja, das konnte ich eigentlich auch nicht. Diese Menschen waren Verlierer. Ein wohlerzogener Konsument ist eine Sache. Sie waren das alles. Sie waren aufgezogen und abgerichtet worden, zu tun, was die Welt von ihnen brauchte: nämlich kaufen, was wir Agenturleute zu verkaufen hatten. Aber ach, was für stumpfe und stupide Gesichter! Was einen guten Verbraucher ausmachte, war Langeweile. Lesen wurde entmutigt, Wohnungen waren nicht so, daß es Freude gemacht hätte, sich in ihnen aufzuhalten - was sonst sollten sie mit ihrem Leben anfangen als zu konsumieren? Aber diese Menschen hatten ein Zerrbild aus dieser edlen - na ja, ziemlich edlen - Berufung gemacht. Sie waren besessen. Ich hätte mich beinahe verdrückt und mir eine Moke besorgt, um die häßlichen Schauer abzumildern, die sie bei mir bewirkten, aber da ich nun einmal so weit gekommen war, beschloß ich, zur Versammlung zu bleiben.

Das war mein zweiter schlimmer Fehler, denn das Treiben wurde rasch widerlich. Zuerst einmal begannen sie mit einem Gebet. Dann fingen sie an, Kirchenlieder zu singen, Rockwell stupste mich an, mitzusingen, während er grinste und aus voller Kehle krächzte, aber ich konnte ihm nicht einmal ins Gesicht sehen.

Dann wurde es noch schlimmer. Einer nach dem anderen standen diese Milieugeschädigten auf und schluchzten ihre billigen Geschichten heraus. Zum Kotzen, sage ich Ihnen! Die da hatte ihr Leben ruiniert, indem sie sich NicoChews reinpfiff, vierzig Päckchen pro Tag, bis ihr die Zähne ausfielen und ihre Bosse sie feuerten, weil sie ihre Arbeit nicht mehr geregelt bekam - sie war Telefonistin. Der andere da fuhr auf Deodorants und Atemfrischmacher ab und hatte so gründlich jede Spur natürlicher Körperabsonderungen verrieben, daß seine Haut aufgesprungen war und seine Schleimhäute ausgetrocknet waren. Das aufgekratzte junge Pärchen - nanu, das waren Moke-Köpfe wie ich selbst! Ich starrte sie verblüfft an. Wie konnten sie sich nur so tief sinken lassen? Sicher, ich hatte ein Moke-Problem. Aber allein mein Hiersein bedeutete, daß ich etwas gegen das Problem unternahm. Auf keinen Fall würde ich zulassen, daß ich mich in solche rot angemalten Wracks wie sie verwandelte! »Los doch, Tenny«, flüsterte Rockwell, indem er mich anstieß. »Willst du denn nicht Zeugnis ablegen?«

Ich weiß nicht, was ich zu ihm sagte, außer daß es die Worte »Auf Wiedersehen« einschloß. Ich zwängte mich an ihm vorbei und zur Tür hinaus, weil ich mich nach frischer Luft sehnte. Als ich im Eingang stand, schnaufend und meine Lunge reinigend, schlich sich der wieselgesichtige Mann hinter mir nach draußen. »Mann!« sagte er verschlagen grinsend, »ich habe gehört, was ihr Freund sagte. Na, ich wünschte, ich hätte ihren Affen statt meines eigenen.«

Niemand hört gern, daß der Kummer, der sein Leben zerstört, weniger schrecklich ist als der irgendeines Fremden. Ich war nicht eben freundlich. Ich sagte steif: »Mein, äh, Problem. ist schlimm genug, um mir zu reichen, danke.« Aus irgendeinem Grund befand sich mein Geist gerade in Aufruhr. Ein halbes Dutzend unterschiedlicher Sehnsüchte und Ekel erfüllten meinen Kopf zugleich - das verzweifelte Verlangen nach einer Moke, die Verachtung für diese ConsumAnon-Blödmänner da drinnen, die heftige Abneigung gegenüber Wieselgesicht selbst, die brennende Sehnsucht nach Mitzi Ku, die mich dann und wann überfiel... und, unter dem allen, etwas anderes, das ich nicht so recht benennen konnte. Eine Erinnerung? Eine Eingebung? Ein Entschluß? Ich konnte den Finger nicht so recht darauf legen. Es hatte etwas mit dem zu tun, was da drinnen vor sich ging - nein, mit etwas davor, etwas, das Rockwell gesagt hatte?

Wieselgesicht, bemerkte ich plötzlich, zischte mir jetzt etwas ins Ohr. »- Was?« bellte ich.

»Ich sagte«, wiederholte er hinter vorgehaltener Hand, während er sich umblickte, »ich weiß einen Typ, der hat, was Sie brauchen. Moke-Frei-Pillen. Nehmen Sie drei täglich, eine zu jeder Mahlzeit, und Sie brauchen nie wieder eine Moke.«

»Mein Gott, Mann!« brüllte ich. »Bieten Sie mir etwa Drogen an? Ich bin kein Verbraucher. Ich bin Agenturmitarbeiter! Wenn ich einen Polizisten finden könnte, würde ich Sie einsperren lassen...« Und ich sah mich tatsächlich nach einer vertrauten Brinks- oder Wackerhut-Uniform um; aber Sie wissen ja, wie das ist, nie ist ein Polizist da, wenn man einen braucht, und als ich wieder zurückschaute, war Wieselgesicht sowieso verschwunden.

Und meine Idee auch. Was immer es gewesen sein mochte.

Die menschliche Niere ist nicht dafür geschaffen, mit vierzig Mokie-Kokes am Tag fertigzuwerden. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden gab es Gelegenheiten, da ich mich fragte, ob Wieselgesicht nicht vielleicht doch eine gute Idee gehabt hatte. Ein paar vorsichtige Erkundigungen bei der Agenturklinik (ach, wie nett sie zu mir waren!) verdichteten die vagen Ahnungen, die ich hatte. Die Pillen waren eine schlimme Geschichte. Sie wirkten, aber nach einiger Zeit - vielleicht sechs Monaten, vielleicht mehr oder weniger - versagte das überlastete Nervensystem und brach endgültig zusammen. Das wollte ich nicht. Sicher, ich verlor an Gewicht, und der Blick in den Spiegel, wenn ich mich enthaarte, zeigte jeden Morgen neue Streßfalten auf meinem Gesicht; aber ich funktionierte immer noch gut genug.

Nein, zum Teufel, sagen wir doch ruhig die Wahrheit: ich funktionierte prächtig. Jede neue Ausgabe der stündlichen Erfolgsmeldungen zeigte, daß Religion im Aufwärtstrend war. Räucherstäbchen 0,03 plus; Gebetskerzen 0,02; Umfragen beim Verlassen von dreihundertundfünfzig zufällig ausgewählten zoroastrischen Tempeln zeigten einen Anstieg von beinahe einem Prozent bei Erstanbetern. Der Alte rief mich persönlich an. »Sie haben einen erheblichen Vertrauensvorschuß beim Planungskomitee erreicht«, dröhnte er. »Tarb, ich ziehe meinen Hut vor Ihnen! Was kann ich tun, um Ihnen die Arbeit zu erleichtern? Noch einen Assistenten?«

»Tolle Idee, Sir!« rief ich und fügte beiläufig hinzu: »Was macht Dixmeister im Augenblick?«

Also war mein alter Praktikant wieder im Team. Ängstlich, versöhnlich, verzweifelt darauf aus, mich zufriedenzustellen - und von Neugier verzehrt. Genauso, wie ich ihn haben wollte.

Er war nicht der einzige, der von Neugier verzehrt wurde, denn jeder in der Agentur wußte, daß etwas Großes vor sich ging, und keiner von ihnen wußte genau, was. Der besondere Clou war, daß auch keiner von ihnen wußte, wie wenig ich selber wußte. Sachbearbeiter für Kundenwerbung und Cheftexter auf dem Weg von Ebene neun nach Ebene fünfzehn entschlossen sich ein dutzendmal am Tag, die Abkürzung durch mein Büro zu nehmen. Alltägliche Höflichkeit veranlaßte sie, bei mir Halt zu machen, um mir auf den Rücken zu klopfen und mir zu erzählen, daß alle wüßten, was für großartige Arbeit ich leistete... und mir zu sagen, daß wir uns wirklich mal zum Essen oder auf einen Drink oder eine Runde Pufferbillard im Sport- und Gesellschaftsclub treffen sollten. Ich lächelte und nahm keine Einladung an. Ich lehnte auch keine ab, denn wenn sie mich zu hart bedrängten, würden sie herausfinden, wie ahnungslos ich in Wirklichkeit war. Also sagte ich »Klar doch« und »So bald wie möglich!« Und wenn sie dann noch länger dablieben, griff ich zum Phon und flüsterte so lange hinein, bis sie lächelnd, aber innerlich vor Neugier platzend weggingen. Derweil Dixmeister, in seinem Kabäuschen außerhalb meines Büros, mich sorgenvoll und finster anzustarren pflegte, bis er merkte, daß ich ihn ansah, und dann sein winseliges Armesünderlächeln aufsetzte.

Ha, wie ich das liebte!

Natürlich gemahnte mich der gesunde Menschenverstand, es nicht zu weit zu treiben. Ich war nur ein winziges Rädchen in der Maschinerie des Übernahmemanövers, die Haseldyne und Mitzi zusammensetzten. Ich wurde mehr geduldet als gebraucht. Nein, ich wurde überhaupt nicht gebraucht, nur daß es einfacher für sie war, mich zu beteiligen als mich zum Schweigen zu bringen.

Alles, was ich tun mußte, war, es auch weiterhin einfacher für sie zu machen, mich zu beteiligen als mir den Mund zu stopfen... und dann... und dann würde die Zeit kommen, da die Übernahme stattfand, und Mitzi und Haseldyne wären Eigentümer. Und mit ein wenig Glück würde auch Tenny Tarb zu ihrer Mannschaft gehören. Sachbearbeiter für Kundenwerbung - nein, dachte ich, während ich eine Moke süffelte, mehr als das. GF! Und das war ein Traum von Glanz und Herrlichkeit. Sie wissen, was ein König ist? Ich will Ihnen sagen, was ein König ist. Verglichen mit einem Geschäftsführer einer der großen Werbeagenturen ist ein König nichts.

Und was, dachte ich, während ich eine weitere Moke öffnete, was ist dann mit der Zukunft? Was, wenn Mitzi und ich wieder auf Vollzeitbasis zusammenkämen? Was, wenn wir sogar heirateten? Was, wenn ich nicht nur Geschäftsführer wäre, sondern aufgrund ehelicher Gütergemeinschaft sogar Miteigentümer der Agentur? Berauschende Träume! Sie ließen mein kleines Moke-Problem wie kleine Fische aussehen. Mit dieser Art von Geld konnte ich mir die beste Entgiftung der Welt leisten. Ich konnte sogar... Augenblick... was war das? Die Idee, die auf der ConsumAnon-Versammlung in meinem Unterbewußtsein herumgewühlt hatte?

Ich setzte mich kerzengerade auf und ließ beinahe die Moke fallen. Dixmeister kam erschrocken hereingestürzt. »Mr. Tarb? Geht es Ihnen nicht gut?«

»Mir geht es prächtig, Dixmeister«, verkündete ich ihm. »Hören Sie, haben Sie nicht auch gerade den Alten den Flur hinuntergehen sehen? Schauen Sie ma! nach, ob Sie ihn finden können - fragen Sie ihn, ob er nicht einen Augenblick hereinkommen möchte.«

Und ich lehnte mich zurück und wartete, während die Idee in meinem Geist ihre endgültige Gestalt annahm.

Man bekommt den Alten nicht ohne sein Geschnatter von Hofschranzen, drei oder vier von ihnen, die hinter ihm herlaufen und sich in den Türen drängen, während er seine Besuche abstattet. Sie hatten alle große Titel, und jeder von ihnen verdiente viermal so viel im Jahr wie ich, aber sie waren bloße Stichwortgeber. Ich ignorierte sie. »Danke, daß Sie hereingeschaut haben, Sir«, strahlte ich. »Aber setzen Sie sich doch. Hier. Nehmen Sie meinen Stuhl!«

Man bekommt den Alten auch nicht ohne fünf Minuten einleitenden Smalltalk. Er nahm Platz und fing an, mir von den alten Zeiten zu erzählen und wie er sein Vermögen gemacht hatte, wobei er die Augen von meinem Mokie-Koke-Automaten abwandte, als wären es falsche Zähne, die ich auf dem Ankleidetisch liegengelassen hatte. Ich hörte noch einmal die Saga, wie er mit seinen Glücksmillionen von der Venus zurückgekommen war und alles auf das aussichtslose Unternehmen gesetzt hatte, zwei tote Agenturen in einen maßlosen Erfolg zu verwandeln. »Es funktionierte, Tenn«, krächzte er, »wegen der Produkte! Darauf ist T., G. & S. aufgebaut, auf Produkte. Ich will damit nichts gegen Immaterielle Aktiva sagen, aber es sind Waren, die man den Leuten verkaufen muß, zu ihrem eigenen Besten und zum Besten der Menschheit selbst!«

»Richtig, Chef«, sagte ich, weil keine andere Antwort gestattet ist, wenn die Macht spricht, »aber ich habe da eine kleine Idee, die ich Ihnen vortragen möchte. Sie kennen ConsumAnon?«

Er bedachte mich mit einem Stirnrunzeln wie Gewitterwolken. Seine senkrechten Falten waren so tief wie die Mitzis, und er hatte eine Menge mehr davon. »Wenn ich Leute von ConsumAnon sehe«, erklärte er, »denke ich immer, ich hätte Marionetten der Venusier vor mir. Bestenfalls sind sie Spinner!«

»Natürlich sind sie Spinner, aber es gibt dort ein Marktpotential, das wir, glaube ich, noch nicht angezapft haben. Sehen Sie, diese ConsurnAnon-Leute sind außer Kontrolle geraten. Coffiest fünfzigmal am Tag, eine Erinnerungsstückesucht, die einen Werbezeitaufkäufer der Starklasse in den Ruin treiben würde, jede nur mögliche Megahypertrophie normalen, anständigen Konsumierens. Also gehen sie zu CA. Was passiert dann? Nun, die meisten von ihnen bleiben ungefähr zwei Tage lang sauber. Wenn überhaupt. Dann rutschen sie wieder ab. Nach einer Woche sind sie schlimmer dran als je zuvor. Sehr wahrscheinlich werden sie zu Anstaltsfällen, die dem Konsum für immer verlorengehen. Und die Erfolge sind noch schlimmer. Sie werden einer Gehirnwäsche dahingehend unterzogen, daß sie haushalten. Oder sogar sparen.«

»Ich habe immer gesagt«, verkündete der Alte feierlich, »daß CA gleich nach dem Konservationismus kommt.«

»Richtig! Aber wir müssen diese Leute nicht verlieren. Alles, was wir tun müssen, ist, sie umzustellen. Nicht Abstinenz. Substitution.«

Der Alte schürzte die Lippen. Natürlich machten es ihm sämtliche Hof schranzen auf der Stelle nach. Keiner von ihnen hatte die Idee begriffen, aber nicht einer hätte das zugegeben.

Ich ließ sie jetzt nicht mehr länger zappeln. »Wir richten eine Selbsthilfegruppe für jede Art von Überkonsum ein«, erläuterte ich, »und drillen sie darauf, auf einen Ersatz umzusteigen. Sind sie coffiestsüchtig, polen wir sie auf Nic-O-Chews um. Von Nic-O-Chews auf die San Jacinto-Münze...«

Räuspern vor der Tür. »Die San Jacinto-Münze gehört nicht zu unseren Klienten«, sagte Hofschranze No. 2.

Eisig sagte ich: »Dann auf jemanden, der unser Klient ist, natürlich - wir sind eine Agentur mit breitestmöglichem Spektrum, wir haben etwas für jede Konsuinnische, nicht wahr? Ich würde schätzen, daß ein Konsument, der seit fünf Jahren von, sagen wir, Coffiest abhängig ist und mit dem es so langsam abwärts geht, immer noch Jahre nützlichen Lebens vor sich hart mit, sagen wir, Starrzelius-Diäthilfen.« Der Alte sah seinen Hofschranzen einmal scharf an, und dieser verstummte augenblicklich. Ich drängte weiter. »Meiner Auffassung nach«, sagte ich, »ist es aber der nächste Teil, wo das richtige Geld steckt. Was ist mit diesen Selbsthilfegruppen? Warum sollten sie nicht richtige Clubs sein? Wie Logen. Sie könnten Beiträge verlangen. Sie könnten Insignien und alles mögliche Drum and Dran kaufen müssen - Uhren, Ringe, T-Shirts. Zeremoniengewänder. Verschiedene Ausführungen für jeden Grad, während sie sich nach oben arbeiten, und so ausgelegt, daß sie sich nicht als Second-Hand-Artikel weitergeben lassen...«

»Produkte«, flüsterte der Alte, und seine Augen glänzten.

Es war das Zauberwort; ich hatte ihn überzeugt. Das Gefolge wußte es natürlich noch vor mir, und die Luft war voller Glückwünsche und Pläne. Eine ganz neue Abteilung innerhalb von Immaterielle Aktiva. Zuerst ein zweiwöchiger Crash-Eignungstest, nur um sicherzustellen, daß es keine Hindernisse gab, und die Hauptprofitbereiche festzustellen. Das würde vor den Planungsrat gehen müssen, aber dann... »Wenn es dazu kommt, Tenny«, strahlte der Alte, »ist das alles Ihrs!« Und dann vollzog er den rituellen Akt, den Generationen von leitenden Angestellten vollzogen haben, um ihre rückhaltlose Bewunderung kundzutun. Er nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Tisch.

Es war der Glanzpunkt meiner Laufbahn. Das Herz ging mir über. Und ich konnte kaum erwarten, daß sie das Büro wieder verließen, denn es war ein großartiger Plan, der seinem Erfinder herzlich wenig einbringen würde. Geld, ja. Beförderung und Prestige, ja. Aber kein Ersatz auf der Welt konnte einen Campbellschen limbischen Zwang kurieren... und, mein Gott, was sehnte ich mich nach einer Moke!

Jetzt bekam ich sogar meine Messinglady dann und wann zu sehen, aber nicht sehr oft. Sie erschien allerdings als Antwort auf die Notiz in meinem Büro, die ich ihr über mein neues Projekt hatte zukommen lassen, und schaute sich zerstreut um, während ich mich dafür entschuldigte, damit zum Alten gegangen zu sein, statt bis, äh, nachher, zu warten. »Kein Problem, Tenny«, sagte sie munter - und geistesabwesend. »Das wird unsere, äh, Pläne nicht beeinflussen. Uns mal wieder sehen? Ja, natürlich - bald - wir hören voneinander - tschüß!« Von wegen bald. Sie besuchte mich nicht zu Hause und lud mich auch nicht zu sich ein, und wenn ich versuchte, sie ans Telefon zu bekommen, war sie entweder nicht da oder zu sehr in Eile, um zu reden. Na ja, das war nicht unbillig, Jetzt, da ich wußte, was sie vorhatte, vermochte ich zu begreifen, daß im Augenblick in ihrem Leben keine Zeit für etwas anderes war.

Aber ich wollte sie trotzdem sehen, und als ich einen Überraschungsanruf in meinem Büro erhielt, unmittelbar vor Dienstschluß, stürzte ich geradewegs hinauf in ihr Büro, erwies mich beim Warten hartnäckiger als die Sek³, huschte an der Sek² vorbei und erhielt die Erlaubnis, Mitzi persönlich vom Schreibtisch der Sek¹ anzurufen. »Ich habe gerade mit Honolulu telefoniert«, sagte ich. »Deine Mutter. Ich habe eine Nachricht von ihr.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann: »Gib mir eine Stunde, ja, Tenny? Dann können wir zusammen im Kasino der leitenden Angestellten einen Drink nehmen.«

Nun, es dauerte nicht eine Stunde, sondern erheblich eher zwei, aber das Warten machte mir nichts aus. Obwohl ich auf dem besten Wege war, zu jedermanns Liebling zu werden, hatte sich mein offizieller Status noch nicht bis zu dem Punkt verbessert, daß ich volle Leitende-Angestellten-Privilegien genoß. Ich war froh, dank Mitzis Einladung eingelassen zu werden und mit meinem Drambuie dazusitzen, während ich in Gesellschaft von mir Gleichgestellten - na ja, beinahe Gleichgestellten - über die wolkenverhangene, smogige Stadt mit ihrem ganzen Reichtum und ihrer ganzen Verheißung hinausblickte. Sie behandelten mich auch nicht gerade verächtlich. Als Mitzi endlich erschien und sich finsteren Blicks nach mir umsah, hatte ich tatsächlich Schwierigkeiten, mich loszumachen, um einen ruhigen Tisch für zwei zu suchen.

Sie hatte die Stirn gerunzelt - das hatte sie in diesen Tagen immer -, und sie wirkte nervös. Aber sie wartete, bis ich etwas zu trinken bestellt hatte, ihre Lieblingsdrinks, Mimosas, mit beinahe echtem Champagner und aufgelöstem Orangensaftkonzentrat, bevor sie fragte: »Nun, was ist mit meiner Mutter?«

»Sie hat mich angerufen, Mitz. Sie sagte, sie hätte versucht, dich zu erreichen, seit du zurückgekommen bist, aber vergeblich.«

»Ich habe doch mit ihr gesprochen!«

»Einmal, richtig«, nickte ich, »am Tag nach deiner Landung. Sie sagt, für drei Minuten...«

»Ich war beschäftigt!«

»...und danach hast du nie mehr ihre Anrufe beantwortet.«

Wenigstens ein halbes Dutzend der Stirnfalten warnten mich, und ihre Stimme war eisig. »Tarb«, schnappte sie, »komm zu dir. Ich bin ein großes Mädchen. Was zwischen meiner Mutter und mir ist, geht dich nichts an. Sie ist eine alte Wichtigtuerin, die sich in alles einmischt, und zur Hälfte Schuld daran, daß ich überhaupt zur Venus gegangen bin. Ich will nicht mit ihr reden, wenn ich es nicht unbedingt muß. Kapiert?« Die Drinks kamen, und sie griff hastig nach ihrem. Auf halbem Weg zu den Lippen fügte sie hinzu: »Ich rufe sie nächste Woche an.« Und goß sich den halben Mimosa die Kehle hinunter.

»Gar nicht so übel«, gestand sie widerwillig ein.

»Ich kann sie selber besser mixen«, erbot ich mich. Und dachte dabei: Verdammt noch mal, ich ziehe besser so schnell wie möglich aus diesem Teilzeit-Condo aus, kann ja nicht erwarten, daß Mitzi jedesmal ihre Wohnung zur Verfügung stellt. Es war, als hätte ich laut gesprochen. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, während sie mich nachdenklich betrachtete. Die meisten der Falten waren von ihrer Stirn verschwunden, außer den beiden, die jetzt semipermanent zu sein schienen, aber ihr Blick war analytischer, als ich mir gewünscht hätte.

»Tenny«, sagte sie, »an dir ist etwas, das mich sehr stark anspricht...« »Danke, Mitz.«

»Deine Doofheit, denke ich«, fuhr sie fort, ohne auf das zu achten, was ich gesagt hatte. »Ja. Das ist es. Doof und hilflos. Du erinnerst mich an eine zahme Maus, die sich verlaufen hat.«

Ich versuchte es mit: »Nur eine Maus? Nicht wenigstens ein Katerchen zum Knuddeln?«

»Aus Kätzchen werden Katzen. Katzen sind Raubtiere. Ich glaube, was ich eigentlich am meisten an dir mag, ist, daß du irgendwo unterwegs deine Fangzähne verloren hast.« Sie blickte mich jetzt nicht an, sondern starrte an nur vorbei aus dem Fenster auf die smogigen Lichter der Stadt. Ich hätte eine Menge darum gegeben, zu wissen, welche Sätze sich in diesem Augenblick in ihrem Geist formten, gegen die sie ein Veto eingelegt hatte, bevor sie aus ihrem Mund kamen. Sie machte ein Zeichen. »Ich hätte gerne noch einen davon«, fügte sie hinzu, in die Welt zurückkehrend, in der ich mich befand.

Ich winkte dem Kellner und flüsterte ihm ins Ohr, während sie Lächeln und Nicken mit einem Dutzend anderer aus den Chefetagen austauschte. »Tut mir leid, daß ich meine Nase in die Sache mit deiner Mutter gesteckt habe«, meinte ich.

Sie zuckte zerstreut die Achseln. »Ich sagte ja, ich werde sie anrufen. Vergessen wir's.« Sie wurde lebhafter. »Wie läuft der Job? Ich höre, dein neues Projekt läßt sich gut an.«

Ich zuckte bescheiden die Achseln. »Es wird noch eine Weile dauern, bevor wir wissen, ob etwas daraus wird.«

»Es wird, Tenn. Bis dahin wirst du also bei der Religion bleiben?«

Ich sagte: »Nun, sicher, aber das habe ich ziemlich gut im Griff, Ich dachte, ich könnte vielleicht ein paar Extrakurse belegen, mich darum kümmern, diesen Magisterabschluß zu beschleunigen.«

Sie nickte, als wäre sie mit mir gleicher Meinung, sagte aber: »Hast du jemals darüber nachgedacht, dich der Politik zuzuwenden?«

Das verblüffte mich: »Der Politik!«

Sie sagte nachdenklich: »Ich kann dir jetzt noch nicht viel sagen, aber es könnte nützlich sein, wenn du dir da auch mal den Wind um die Nase wehen ließest.«

Ein leichtes Prickeln lief meinen Rücken hinunter. Sie sprach von nachher! »Warum nicht, Mitz? Ich übergebe Religion morgen an meine Nummer Zwei! Und jetzt - wir haben den ganzen Abend vor uns...«

Sie schüttelte den Kopf. »Du vielleicht, Tenny. Ich muß noch etwas anderes erledigen.« Sie sah, wie ich ein langes Gesicht machte. Es schien sie ebenfalls zu deprimieren. Sie sah zu, wie der Kellner die zweite Runde Drinks brachte, bevor sie sagte; »Tenny, du weißt, daß ich im Augenblick eine Menge im Kopf habe...«

»Ich verstehe vollkommen, Mitz!«

»Tust du das?« Wieder der nachdenkliche Blick, »Jedenfalls verstehst du, daß ich beschäftigt bin. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich für dich empfinde.«

»Gut, hoffe ich.«

»Gut und schlecht, Tenny«, sagte sie melancholisch, »gut und schlecht. Wenn ich nur ein kleines bißchen vernünftig wäre...«

Aber sie sagte nicht, was sie tun würde, wenn sie nur ein kleines bißchen vernünftig wäre, und da ich einen betäubenden Verdacht hatte, daß ich wußte, was es gewesen wäre, ließ ich den Satz in der Luft hängen. »Auf dich«, sagte sie, wobei sie den neuen Mimosa musterte, als wäre es Medizin, bevor sie ihn schlürfte.

»Auf uns«, sagte ich und hob meinen eigenen Drink. Es war kein Mimosa. Es war auch kein Irish Coffee, obwohl es wie einer aussah. Obendrauf war das vorschriftsmäßige Häubchen geschlagener FastSahne, aber was darunter war, war das, das zu holen ich den Kellner hinunter in mein Büro gescheucht hatte: ein Deziliter purer Mokie-Koke.


V

Am nächsten Morgen schnippte ich als erstes mit den Fingern. Sofort materialisierte Dixmeister unter der Tür, entweder auf Befehle oder auf eine Einladung wartend, hereinzukommen und sich zu setzen. Ich sprach keines von beidem aus. »Dixmeister«, sagte ich, »ich habe die Religion jetzt so ziemlich auf der Reihe, also übergebe ich sie an - wie heißt er doch gleich...«

»Wrocjek, Mr. Tarb?«

»Richtig. Ich habe ein paar Tage frei, darum will ich die Politik mal aufs richtige Gleis bringen.«

Dixmeister wechselte unbehaglich seine Haihing in der Tür. »Nun, Sie müssen wissen, Mr. Tarb«, sagte er, »seit der alte Mr. Saims aufgehört hat, habe ich Politik so ziemlich selbst geleitet.«

»Genau das ist es, was wir in Ordnung bringen werden, Dixmeister. Ich möchte, daß alle aktuellen Lageberichte und Pläne zur Absegnung und Ausführung auf meinen Monitor überspielt werden, und ich will sie noch heute nachmittag. Nein, in einer Stunde... nein, wenn ich es recht bedenke, machen wir's jetzt gleich.«

Er stotterte: »Aber... aber...« Ich kannte das Problem; es gab wenigstens fünfzig verschiedene Datenspeicher anzuzapfen und in ein System zu bringen, und die Erstellung einer anständigen Übersicht war eine halbe Tagesarbeit. Darum scherte ich mich wenig oder überhaupt nicht.

»Tun Sie's Dixmeister«, sagte ich freundlich, lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und schloß die Augen. Ach, was für ein angenehmes Gefühl!

Ich hatte fast vergessen, daß ich ein Mokie war.

Es heißt, daß Mokie-Koke einen so aufgedreht macht, daß die Entscheidungen darunter leiden. Es ist nicht, daß sie keine Entscheidungen fällen können. Es ist nicht einmal, daß sie falsch sind, wenn Sie sie fällen. Vielmehr sind sie so hyper, so unter Strom, daß Ihnen eine Entscheidung nicht reicht. Sie treffen eine, und dann noch eine und dann wieder eine, piff-paff-puff, und wenn ein normales menschliches Wesen nicht mit Ihnen Schritt halten kann, was stets der Fall ist, verlieren Sie Ihre Ruhe. Dixmeister mochte vielleicht gedacht haben, daß das mit mir passierte, denn ich gab ihm vermutlich ziemlich oft meine spitze Zunge zu kosten. Aber ich war keineswegs beunruhigt. Ich wußte, was passieren sollte, aber ich hatte keine Angst, daß es mir passierte. Oh, sicher, vielleicht nach einer langen Zeit - zehn Jahre, fünf Jahre - weit genug in der Zukunft jedenfalls, daß ich mir darum keine Sorgen zu machen brauchte, weil ich ja jeden Tag mit dem Zeug aufhören würde. Bei der ersten sich mir bietenden Gelegenheit. Und inzwischen rührte ich kräftig das alte Schlagholz, schnappte mir den Ball und rannte mit einem Lauf um sämtliche Male. Sogar Dixmeister mußte das zugeben. Ich verwandte zwei Tage auf aktuelle Projekte und Pläne, und Mann, was brachte ich den alten Laden zum Summen!

Das erste, womit ich mich beschäftigte, war die PAK-Abteilung. Sie wissen, was ein Politisches Aktions-Komitee ist. Es handelt sich um eine Gruppe von Leuten mit einem besonderen Anliegen, die bereit sind, Geld aufzubringen, um Amtsträger zu bestechen - na ja, streichen Sie das, zu beeinflussen -, damit sie Gesetze und Verordnungen erlassen, die das begünstigen, womit auch immer das PAK sich befaßt. Einstmals gehörten die PAKs vor allem Geschäftsleuten und den sogenannten Gewerkschaften. Ich erinnerte mich, wie ich diese großen alten historischen Epen mit der Amerikanischen Ärztevereinigung und den Gebrauchtwagenhändlern gesehen hatte - eifrige junge Ärzte, die Steuerbefreiung für Tagungen auf Tahiti errangen; Gebrauchtwagenhändler, die für das unveräußerliche Recht kämpften, Sägemehl in ein Getriebe zu hin. Solche Sendungen sind amüsant, wenn man jung ist, aber wenn man älter und zynischer wird, hört man auf, daran zu glauben, daß Menschen so tugendhaft sind... Wie dem auch sei, diese Schlachten sind natürlich längst gewonnen, aber PAKs gibt es immer noch. Sie sind fast so gut wie die Religion. Man gründet sie und sammelt ihr Geld ein, und wofür geben sie es aus? Auf lange Sicht Werbung! Entweder ihre eigene, oder für die Wahlkampfreklame der Kandidaten, die sie mögen. Binnen eines Tages gründete ich also ein Dutzend neuer PAKs. Es gab ein Kunstgegenstände-PAK (die Idee hatte ich von Nelson Rockwell), ein Schweizer Armeemesser-PAK (»Wir brauchen sie, um uns die Nägel sauberzumachen - ist es unsere Schuld, daß Kriminelle sie zu anderen Zwecken benutzen?«), ein Pedicab-Pedaletreter-PAK, ein Mieter-PAK, um durch Gesetzgebung längere Schlafstunden zu bewirken, bevor die Über-Tag-Nutzer des Raumes einzogen - oh, ich machte wirklich Dampf! Es war fast zu leicht. Am Ende eines harten Tages hatte ich noch so viel Energie übrig, daß ich nicht wußte, wohin damit. Ich hätte mit der Uni weitermachen können, aber was hatte das für einen Sinn? Wieviel höher in der Welt würde mich ein Graduiertenabschluß bringen? Ich hätte in eine bessere Wohnung ziehen können, aber der Gedanke, eine aufzuspüren und in sie umzuziehen, deprimierte mich... und da war noch etwas. Ich fühlte mich sicher. So, wie die Dinge Hefen, hatte ich auch jeden Grund, sicher zu sein. Aber ich war schon einmal absolut sicher gewesen, und aus einer Wolke nicht größer als eine Menschenhand hatte das Schicksal nach mir gegriffen, um mich zu zerschmettern... Ich blieb in dem Teilzeit-Condo. Und unterhielt mich mit Nelson Rockwell, wenn wir zufällig zur gleichen Zeit wach waren, und wenn nicht, sah ich bis in die Puppen Omni-V. Ich sah mir Sportveranstaltungen und Seifenopern und Zeichentrickfilme an und den Großteil aller Nachrichtensendungen. Der Sudan war gerade wieder für die Zivilisation zurückgewonnen worden, indem man die gleichen Campbellschen Techniken anwandte, die auch bei mir benutzt worden waren - leidenschaftlicher Stolz angesichts einer Welt, die von Tag zu Tag besser wurde; ein kleines nagendes Jucken des Grolls, weil die Campbellschen Techniken schließlich meine eigene Welt nicht eben mordsmäßig viel besser gemacht hatten. Ein Wal war vor Lahaina gesichtet worden, aber weitere Nachforschungen ergaben, daß es nur ein verlorener Tank mit Jojoba-Öl war. In Tucson fand die Frühlingsolympiade statt, und es hatte einen großen Favoritensturz bei den Einradwettkämpfen gegeben. Miß Mitzi Ku, am Eingang zum T., G. & S.-Turm interviewt, bestritt Berichte, denen zufolge sie die Agentur verlassen würde...

Und sie sah so süß und so müde aus auf dem kleinen Bildschirm; und ich wünschte mir, daß... Nein, ich »wünschte mir nicht, daß«. Ich hoffte bloß. Zwischen mir und Mitzi stand zu viel auf dem Spiel, um sich, etwas Spezielles zu wünschen.

Sie nahm nicht ab, als ich versuchte, sie zu Hause anzurufen.

Der Weg, alle meine Wünsche hinsichtlich Mitzi wahr werden zu lassen, war, bestmögliche Arbeit bei Politik zu leisten; und darum machte ich den nächsten Vormittag für den armen kleinen Dixmeister zur Hölle. »Die Arbeit ist vergeudet«, schrie ich ihn an, »weil die Besetzungsabteilung anscheinend über dem Job eingeschlafen ist!« Natürlich war er direkt für die Besetzungsabteilung verantwortlich.

»Ich tue mein Bestes«, schmollte er, und ich schüttelte nur den Kopf.

»Die Kandidatenauswahl«, erklärte ich, »ist eines der wichtigsten Ereignisse einer politischen Kampagne.« Er schmollte immer noch, gab sich aber den Anschein eines eifrigen Nickens. Nun, natürlich wußte das jeder. Schon in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts war erwiesen worden, daß ein Kandidat nicht viel schwitzen durfte; er mußte wenigstens fünf Prozent größer sein als der Durchschnitt, so daß er keine Kiste brauchte, um bei einer Debatte darauf zu stehen. Sein Haar konnte grau sein, aber er mußte reichlich davon haben. Man wollte nicht, daß er zu fett war (aber auch nicht zu dürr), und vor allem mußte er seine Sprüche aufsagen können, als glaubte er wirklich an sie.

»Unbedingt, Mr. Tarb«, sagte Dixmeister indigniert. »Das sage ich auch immer dem Zentralen Besetzungsbüro, die ganze Liste...«

»Es reicht nicht, Dixmeister. Von jetzt an führe ich die erste Vorauswahl selber durch.«

Sein Kinn fiel ihm herunter. »Aber, Mr. Tarb, Mr. Sarms hat mich das immer machen lassen.«

»Mr. Sarms ist nicht mehr hier. Besetzungsaufruf ist um neun Uhr im Großen Saal. Füllen Sie ihn.« Und ich winkte ihn aus dem Zimmer und schloß die Tür, weil meine nächste Mokie schon eine halbe Stunde überfällig war.

Und ob er den Saal füllte, alle neunhundert Sitze bis auf die erste Reihe. Das war meine - meine und die meiner Sekretärin und meines Make-up-Burschen und meines Regisseurs. Ich kam den Mittelgang entlang, ohne nach rechts oder links zu schauen, winkte das Gefolge auf seine Plätze und sprang hinauf auf die Bühne. Sofort kam Dixmeister aus den Seitenkulissen hereingehüpft. »Ruhe!« brüllte er. »Ruhe für Mr. Tarb!« Ich stand da und musterte sie, während ich darauf wartete, daß die Stimmung der Zuhörerschaft mich erreichte. Eigentlich waren sie schon ruhig genug, denn sie wußten, wo sie waren. Dies war der Saal, wo der Alte seine Anfeuerungsversammlungen für alle leitenden Angestellten abhielt, wo wichtige Ernennungen durchgeführt und uns feierlich neue Großaufträge erteilt wurden. Jeder der neunhundert Sitze hatte eigene Rückenlehne, Armstütze, Polster und Phonbuchse - die leitenden Angestellten der Agentur reisten erster Klasse! Und die neunhundert Leute, die das Zentrale Besetzungsbüro uns geschickt hatte, entstammten ihrer Herkunft nach fast alle der Verbraucherklasse.

Darum waren sie stumm vor Ehrfurcht, und als ich ihrer Gefühle gewahr wurde, wußte ich, wie ich sie nehmen mußte. Ich machte eine das ganze Auditorium umfassende Bewegung mit dem Arm. »Gefällt Ihnen, was Sie hier sehen?« fragte ich. »Wollen Sie so etwas auch für Ihr eigenes Leben haben? Nichts leichter als das! Sorgen Sie einfach dafür, daß ich Sie mag. Sie werden jeder einzeln hier auf die Bühne gerufen werden und zehn Sekunden erhalten, um sich darzustellen. Zehn Sekunden! Das ist nicht viel, nicht wahr? Aber mehr Sekunden hat auch ein Blitzspot nicht, und wenn Sie es in diesem Auditorium nicht schaffen, können Sie den Job nicht für T., G. & S. zur Hauptsendezeit machen. Nun, was machen Sie mit Ihren zehn Sekunden? Das bleibt ganz Ihnen überlassen. Sie können singen. Eine Geschichte erzählen. Sagen, was Ihre Lieblingsfarbe ist. Um meine Stimme bitten - alles! Aber was Sie sagen, ist gleichgültig, wenn Sie es nur schaffen, daß ich Sympathie für Sie empfinde und den Wunsch verspüre, Ihnen zu helfen, gewählt zu werden - sorgen Sie dafür, daß ich Sie mag!«

Ich nickte Dixmeister zu. Während der Make-up-Bursche mir hinunter auf meinen Platz half, sprang Dixmeister vor und bellte: »Erste Reihe! Von links beginnen! Sie da am Ende - auf die Bühne!«

Dixmeister sprang hinunter auf den Sitz neben mir, wobei er seine Blicke unruhig zwischen meinem Gesicht und dem Schauspieler vor uns verteilte. Der Schauspieler war groß, mit struppigem Haar und hellen Augen unter struppigen Brauen. Ein sympathisches Gesicht, o ja. Er hatte auch über sein Stückchen nachgedacht. »Ich vertraue Ihnen allen!« dröhnte er, »und Sie können Marty O'Loyre vertrauen, weil Marty O'Loyre Sie liebt. Bitte, helfen Sie Marty O'Loyre mit Ihrer Stimme am Wahltag!«

Dixmeister stach mit dem Finger nach der Zeitmessung, und das Ergebnis blinkte vom Monitor herauf: 10,0 Sekunden. Dixmeister nickte. »Großartiges Timing, und drei Namenswiederholungen.« Er musterte mein Gesicht im Versuch, zur richtigen Zeit in die richtige Richtung zu springen. »Guter Sheriff-Kandidat?« mutmaßte er. »Zuverlässig, stark, herzlich...«

»Sehen Sie sich mal an, wie seine Hände zittern«, sagte ich freundlich. »Keine Chance. Nächster!«

Ein großer Frischluft-Blondie mit den Unterarmmuskeln, die man von langen Stunden Tischpolo bekommt: »Zu sehr Oberklasse. Nächster!«

Eine ältliche Schwarze mit dicken, ununterbrochen geschürzten Lippen: »Vielleicht Richterin, aber lassen Sie sich mal die Haare schneiden. Nächster!«

Zwillingsbrüder mir identischen herzförmigen Muttermalen über dem rechten Auge; »Sensationelle Verstärkung, Dixmeister«:, dozierte ich. »Haben wir zwei Stadtratsplätze? Prima. Nächster!«

Schlank, bleich, geistesabwesender Blick in den Augen, höchstens dreiundzwanzig. »Ich weiß, was es heißt, unglücklich zu sein«, sagte sie - schluchzte sie beinahe. »Wenn Sie mir helfen, werde ich mein Bestes versuchen, mich um Sie zu kümmern...«

»Zu dämlich?« fragte Dixmeister.

»So etwas wie zu dämlich für den Kongreß gibt's nicht, Dixmeister. Notieren Sie ihren Namen. Nächster!«

Die Entdeckung des Tages war ein grüner Junge mit scharfen Gesichtszügen, der seine Zeilen grunzte, während seine Augen ängstlich in alle Richtungen schössen. Der Himmel mag wissen, wie er überhaupt beim Zentralen Besetzungsbüro registriert worden war, denn er war sicher kein Profi, und seine »Selbstdarstellung« bestand aus einem holprigen Bericht über einen Ausflug als Junge zum Prospect Park. Außerdem weit über die Zeit. Dixmeister unterbrach ihn mitten im Satz und warf mir einen raschen Blick zu, die Augenbrauen in belustigter Verachtung hochgezogen. Als er eine Hand hob, um den Jungen wegzuwinken, hinderte ich ihn daran, weil sich irgend etwas in mir regte. »Warten Sie einen Augenblick.« Ich schloß die Augen und versuchte, das launenhafte Bild wieder einzufangen. »Ich sehe... Ja. Ich hab's! Die Einradrennen gestern - einer der Sieger hatte genau diesen Blick begierigen Stumpfsinns. Den Jockey-Blick.«

»Eigentlich, Mr. Tarb«, rief der Junge herunter, »habe ich nicht viel mit Sport zu tun. Ich bin Ausschnitt-Akkordsortierer im Starrzelius-Postzimmer.«

»Jetzt sind Sie Einradfahrer«, erklärte ich ihm. »Melden Sie sich bei der Garderobe wegen der Kostüme, und Mr. Dixmeister hier besorgt Ihnen einen Trainer für das Rad. Dixmeister, notieren Sie sich für das Leitmotiv unserer Kampagne: "Meine Freunde dachten, ich sei irgendwie komisch, weil ich mich auf das Einrad verlegt habe, aber ich sehe es nicht so. Stur vielleicht. Bereit, den Preis zu bezahlen, um eine schwierige Aufgabe zu meistern, auf dem Einrad oder im Amt des - 'Mal überlegen...« »Kongreß, Mr. Tarb?« schlug Dixmeister mit angehaltenem Atem vor.

Ich sagte großzügig: »Richtig, Kongreß. Vielleicht.« Tatsächlich war die Nulpe zu schade für den Kongreß; ich dachte an etwas viel höheres, vielleicht Vizepräsident. Aber ich konnte die Besetzung später immer noch geradebiegen, und inzwischen kostete es nichts, Dixmeister sich für einen Augenblick gut fühlen zu lassen. »Und, ach ja«, sagte ich, mich erinnernd, »rufen Sie den Einradclub an und arrangieren Sie für ihn, daß er ein paar Rennen gewinnt.«

»Tja, Mr. Tarb«, bibberte Dixmeister, »ich weiß nicht, ob sie damit einverstanden sein werden, den Ausgang eines...«

»Erklären Sie es ihnen, Dixmeister. Erklären Sie ihnen, was für eine gute kombinierte Werbung das für den Einradsport sein wird. Verkaufen Sie es ihnen. Verstanden? Gut. Dann der nächste!«

Und der nächste. Und der nächste, und der nächste. Neunhundert nächste. Aber wir benötigten eine Menge Kandidaten. Obwohl es nahezu ein Dutzend Agenturen mit starken politischen Unterabteilungen gab, gab es jede Menge Arbeit für uns alle. Einundsechzig gesetzgebende Körperschaften in den einzelnen Bundesstaaten. Neuntausend Städte und Gemeinden. Dreitausend Landkreise. Und die Bundesregierung. Nehmen Sie das alles zusammen, und Sie haben im Durchschnitt eine Viertelmillion Ämter pro Jahr durch Wahl zu vergeben. (Natürlich war nur ein Bruchteil davon wichtig genug - damit meine ich teuer genug -, um die Zeit von T., G. & S. zu rechtfertigen.) Ungefähr in der Hälfte aller Fälle konnten wir Amtsinhaber wiederverwenden, aber wir mußten immer noch jedes Jahr fünf- oder zehntausend lebenswarme Körper unterweisen und einkleiden und schminken und proben lassen und dirigieren... und vielleicht wählen. Normalenweise wählen. Es machte in keinem realen Sinn besonders etwas aus, wer irgendeine Wahl gewann, aber T., G. & S. hatten einen Ruf als Macheragentur zu bewahren. Darum kämpften wir so hart für unsere Kandidaten, als ob Sieg oder Niederlage einen echten Unterschied gemacht hätte.

Bis wir das Ende der neunhundert erreichten, war die »Kaffee«-Thermosflasche an meiner Armlehne zweimal mit Mokes aufgefüllt worden, und mein Magen begann langsam vor Hunger zu knurren. Wir hatten die neunhundert auf zweiundachtzig mögliche Kandidaten reduziert und die Verlierer nach Hause geschickt. Ich betrat wieder die Bühne, um die Überlebenden heranzuwinken. »Treten Sie vor«, befahl ich. Hurtig gehorchten sie; sie wußten, daß sie auf einer Glückssträhne waren. Ich bestärkte sie in diesem Wissen. »Sprechen wir übers Geld«, sagte ich, und Totenstille zeigte, daß sie aufmerksam zuhörten. »Der Job eines Kongreßabgeordneten wirft so viel ab wie der eines Junior-Werbetexters. Sogar Ratsherr bringt nicht viel weniger.« Es gab ein Geräusch - kein Aufkeuchen, sondern eine Art Luftanhalten, als jeder von ihnen über diese Entlohnung nachdachte, die sie mit einem einzigen Satz schnurstracks über die Verbraucherklasse hinausheben würde. »Ich spreche bisher nur vom Gehalt. Das ist nur der Anfang. Das eigentliche Lukrative sind die Anwaltshonorare und Beraterverträge und Direktorenposten - « ich mußte nicht sagen: die Bestechungsgelder - »die mit dem Amt einhergehen. Es kann sich dabei um große Beträge handeln. Wie groß? Nun, ich weiß zufällig von zwei Senatoren, die so viel Geld kassieren wie ein Sachbearbeiter für Kundenwerbung.« Erregung aus der Menge, und diesmal waren die Keuchlaute echt. »Ich werde Sie nicht fragen, ob Sie das wollen, denn ich glaube nicht, daß heute in diesem Raum irgendwelche Verrückten sind. Ich werde Ihnen sagen, wie Sie darankommen können. Drei Dinge. Lassen Sie sich nicht in unsaubere Angelegenheiten verwickeln. Arbeiten Sie hart. Tun Sie, was Ihnen gesagt wird. Dann, wenn Sie Glück haben...« Ich ließ den Gedanken einen Augenblick in der Luft hängen, bevor ich sie angrinste: »Jetzt gehen Sie erst einmal nach Hause. Melden Sie sich morgen früh um neun Uhr zur weiteren Verwendung.«

Ich warf einen raschen Blick auf die Uhr, während sie einer nach dem anderen hinausgingen. Die ganze Sache hatte vier Stunden und ein bißchen gedauert, und Dixmeister scharwenzelte um mich herum. »Was für eine großartige Tagesarbeit, Chef! Sarms hätte über diesem Haufen eine Woche herumgetrödelt. Nun«, er blinzelte, »wenn ich nicht zu dreist bin, ich kenne da einen Platz, wo es echtes Fleisch und so ungefähr jede Art von Alkohol gibt, die Sie benennen können. Was würden Sie zu einem guten, altmodischen dreistöckigen Martini...«

»Mein Mittagessen«, schloß ich für ihn, »wird aus einem Sandwich in meinem Büro bestehen, und Sie werden sich das gleiche in Ihrem genehmigen. Weil ich diesen Saal nämlich in neunzig Minuten wieder aufgefüllt haben will!«

Tja, er wurde es, oder wenigstens fast, und wir fanden einundsiebzig weitere mögliche Kandidaten. Aber als ich das gleiche noch einmal für den folgenden Morgen anordnete, konnte das Zentrale Besetzungsbüro nur ungefähr hundertundfünfzig herüberschicken. Wir leerten ihr Reservoir schneller, als sie es wieder auffüllen konnten. Und so ging ich hinaus und wanderte durch die Straßen, von einem Mokie-Koke-Automaten zum nächsten, und studierte Gesichter, Gangarten, Gesten. Ich belauschte Unterhaltungen. Ich begann hin und wieder ein Streitgespräch, um zu sehen, wie der potentielle Kandidat reagierte. Dann ging ich heim oder zurück in mein Büro und verfolgte die Omni-V-Nachrichten, hielt Ausschau nach Talent bei einem Verkehrsopfer oder der weinenden Mutter von jemandem, der gerade überfallen worden, war - sogar bei jemandem, der gerade einen Überfall begangen hatte, denn ich entdeckte einen meiner besten potentiellen Kongreßabgeordnetenkandidaten für New Jersey unter den Verdächtigen bei einer polizeilichen Gegenüberstellung nach einem versuchten Schaufenstereinbruch. Und ich setzte Dixmeister hart zu, daß er sich darum kümmerte, alle losen Enden in der Hand zu behalten. Er stellte mir ein Band der gegenwärtigen Amtsinhaber zusammen, und ich fuhr die Szenen mit dem Kursor ab, um ein gutes Stück Mimik und Gestik oder eine manierierte Wendung zu markieren, die sie würden ablegen müssen, wenn sie wollten, daß wir sie erneut aufstellten.

Einer bereitete mir Schwierigkeiten. Es war unser Präsident der Vereinigten Staaten, ein freundlich aussehender alter Mann mit sich von der Kinnspitze bis zum Schlüsselbein spannenden Kehllappen und einer Mumie von Gesicht, mit dem drei Viertel der Wähler aufgewachsen waren. Er hatte den Vati in den Kiddyporno-Remakes von Vater ist der Beste gespielt - Sie wissen schon, der, der immer in die Hundescheiße tritt oder einen gehen läßt, wenn er sich bückt, um ein fallengelassenes Taschentuch aufzuheben. Er war in den Nachrichten gewesen, wie er mit dem neuen Obersten Chefsekretär der Freien Marktrepublik Sudan sprach. Nicht mehr als ein Zwanzig-Sekunden-Clip, aber der Sudanese schaffte es, sich zwei Verily-Zigaretten anzuzünden, eine Tasse Coffiest zu trinken und die Hälfte davon über seinen neuen Starrzelius-Anzug zu verschütten, während er hervorhustete: »O jäh, Mista Präsident, un vieln Dank ooch, dasse uns jerettet ham!« Ich spürte eine warme Aufwallung von Patriotismus in der Magengrube, als ich an diesen kleinen Schwarzarsch und sein ganzes Volk dachte, das nun mit einer wahrhaft merkantilen Gesellschaft gesegnet war... aber ich spürte auch noch etwas anderes. Es war nicht der Sudanese. Es war der Präsident. Er hatte sich nicht schnell genug von der Stelle bewegt, und der halbe Coffiest hatte seinen formellen Tages-Kurzanzug durchnäßt... und da hatte ich den Einfall.

»Dixmeister!« brüllte ich, und binnen drei Sekunden hing er in der Tür und wartete auf Befehle. »Der Einradheini. Wie macht er sich?«

»Heute morgen ist er fünfmal runtergefallen«, sagte Dixmeister düster. »Ich weiß nicht, ob er es jemals packen wird. Wenn Sie weitermachen wollen mit diesem...«

»Und ob ich das will!«

Er schluckte. »Kein Problem, Mr. Tarb. Ich habe das unter Kontrolle. Wir nehmen einfach ein paar andere Einradfahrer und montieren sein Gesicht hinein...«

»Zehn Minuten«, befahl ich, und das reichte gerade. In neun Minuten und dreißig Sekunden war er wieder in meinem Büro, um mir mitzuteilen, daß die Clips fertig seien. »Vorführen!« kommandierte ich, und stolz gab er seine Auswahl von Rennen auf den Schirm.

Sie waren alle gut, mußte ich zugeben. Es waren insgesamt vier. In jedem von ihnen ähnelte der Sieger unserem Heini äußerlich genügend, um auch einer genaueren Überprüfung standzuhalten, und in jedem von ihnen kam der Sieger grinsend und keuchend in Vorderansicht ins Bild, so daß wir das Gesicht unseres Heinis einflicken konnten, wie er seine Wahlwerbung aufsagte. Aber eines war besser als die anderen, weil es genau das war, wonach ich suchte.

»Sehen Sie es?« fragte ich. Natürlich tat er das nicht. Ich drohte ihm mit dem Finger. »Der Zusammenstoß«, sagte ich väterlich. In einem der Clips war der vierte Einradfahrer beim Finish verzweifelt zur Seite ausgewichen, um eine Kollision mit dem dritten zu vermeiden. Wenige Meter vor dem Zielband war er in einem Durcheinander von Armen und Beinen zu Boden gegangen. Die Kamera hatte für einen kurzen Blick auf sein verdrießliches, gedemütigtes Gesicht gezoomt, bevor sie rasch wieder zurückschwenkte, um den Sieger einzufangen.

Und er sah es immer noch nicht. »Wir werden die Nulpe bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren lassen«, verkündete ich.

Das verschlug ihm den Atem. »Aber er hat nicht... Er ist nicht... Es gibt keine Möglichkeit...«

»Genau das werden wir machen«, erklärte ich. »Und da ist noch etwas. Haben Sie den Radfahrer bemerkt, der gestürzt ist? Erinnert er Sie nicht an jemanden?«

Er spulte im Schnellauf zurück, schaltete auf Standbild, glotzte. »Nein«, gestand er. »Eigentlich nicht, außer an...« Er hielt den Atem an. »Den Präsidenten?« Ich nickte. »Aber - aber er ist unserer. Wir wollen doch nicht unserem eigenen Mann eine Niederlage...«

»Was wir nicht wollen, Dixmeister«, schnappte ich, »ist, daß unser eigener Mann verliert - welcher Mann auch immer das ist. Ich sagte "die Vorwahlen". Wenn der Präsident sich durchsetzt, fein, dann kriegt er noch eine Chance. Aber wenn dieser Einradheini es mit ihm aufnehmen kann, warum nicht? Und wir werden dieses Band benutzen! Montieren Sie das Gesicht des Präsidenten auf den, der stürzt - nur für einen Augenblick - gerade lang genug, um anzudeuten, daß er an der Ziellinie scheitert - dann kümmern wir uns um den Werbespot des Jungen.«

Dixmeister starrte mich einen Augenblick lang ungläubig an. Dann begann es durchzudringen, und der Ausdruck ging in Heldenverehrung über. »Unterbewußtseinsmäßig«, strahlte er, »ist das ein Meisterstück, Mr. Tarb.«

Tja, das war es. Langsam bog ich in die Zielkurve ein.

Und trotzdem machte es mich nicht glücklich.

Bis Freitag fühlte ich mich total ausgelaugt. Als Mitzi auf dem Flur an mir vorüberkam, wirkte sie erschrocken. »Du verlierst Gewicht, Tenny! Du solltest mehr schlafen. Iß mehr vernünftige Sachen...« Aber dann zupfte Haseldyne gereizt an ihrem Ellbogen, und sie war im Abwärtslift verschwunden, besorgt zu mir hinauf spähend.

Es stimmte, daß ich Gewicht verlor. Ich bekam auch nicht viel Schlaf. Ich konnte spüren, daß ich immer leichter aufbrauste, und sogar Nelson Rockwell schien sich nicht mehr viel mit mir unterhalten zu wollen.

Ich hätte glücklich sein müssen. Die Tatsache, daß ich es nicht war, verwirrte mich sehr, denn nie zuvor in meinem Leben waren meine Aussichten so glänzend gewesen. Mitzi und Haseldyne machten sich bereit, ihren Coup zu landen. Ich bewies jede Stunde, daß ich der richtige Mann dafür war, bei ihrer Übernahme mitgenommen zu werden. Ich zwang mich dazu, von der Zeit zu tagträumen, da ich droben im 55. Stockwerk sitzen würde, mit einem Fenster in meinem Eckbüro und vielleicht einer Duschkabine... und dann, endlich, schlugen sie los. Sie landeten ihren Coup. Sie taten es an jenem selben Freitag, um Viertel nach vier nachmittags. Ich war draußen in einem Übergangswohnheim für genesende Psychoneurotiker, um nach einem Kandidaten für ein Richteramt am Appellationsgericht Ausschau zu halten, und als ich zum Turm zurückkam, war er in Aufruhr. Jeder flüsterte mit jedem, und alle Gesichter waren wie vom Donner gerührt. Auf dem Weg nach oben hörte ich von den Rungen unter mir den Namen »Mitzi Ku«. Als ich ausstieg, wartete ich auf die Junior-Sachbearbeiterin für Kundenwerbung, die gesprochen hatte, und lächelte sie an: »Mitzi ist der neue Boß hier, richtig?«

Sie lächelte nicht zurück, sondern sah mich nur merkwürdig an. »Neuer Boß, ja. Hier, nein«, sagte sie und schob sich an mir vorbei.

Bebend schaffte ich es schließlich bis zu Val Dambois' Büro. »Val, Baby«, flehte ich, »was geht hier eigentlich vor sich? Hat die Übernahme stattgefunden?«

Er bedachte mich mit einem sehr kühlen Blick. »Die Hände«, sagte er, »Nehmen Sie sie von meinem Schreibtisch. Sie machen die Politur schmutzig.«

Ja, es hatte große Veränderungen gegeben! »Bitte, Val, erzählen Sie es mir!« bettelte ich.

Bitter sagte er: »Es war Ihre Freundin Mitzi und dieses Schwergewicht Haseldyne, ja, aber es war keine Übernahme. Sie haben uns alle zum Narren gehalten. Es war das alte Icahn-Manöver.«

»Icahn!« keuchte ich. Er nickte.

»Ein Fall wie aus dem Lehrbuch, genau wie beim alten Carl Icahn selbst. Haben den Alten so eingeschüchtert, daß er glaubte, es sei eine Übernahmeaktion - haben die Aktionäre dazu gebracht, sie zum Zehnfachen dessen abzufinden, was ihr Aktienanteil wert war - haben das Geld genommen und eine andere Agentur gekauft!«

Und ich hatte nicht den geringsten Verdacht gehegt.

Ich wankte blind auf die Tür zu, mir kaum dessen bewußt, was ich tat, bis Val Dambois hinter mir die magischen Worte aussprach:

»Eines noch. Sie sind gefeuert.«

Das ließ mich auf der Stelle kehrtmachen. Ich schnappte nach Luft. »Das können Sie nicht!« Er grinste höhnisch. »Nein, wirklich! Mein ConsumAnon-Projekt...«

Er zuckte die Achseln. »In guten Händen. Meinen, zufällig.«

»Aber... Aber...« Dann erinnerte ich mich und brachte es vor, wie ein Ertrinkender im Ozean vielleicht nach dem einzigen Rettungsring greift: »Mein Kündigungsschutz! Ich bin in der Starklasse - ich habe Kündigungsschutz - Sie können mich nicht feuern!«

Er funkelte mich gereizt an, schürzte dann die Lippen. »Hmmm«, sagte er und saugte an seinen Zähnen. Er tippte meine persönliche Kennziffer ein und musterte einen Augenblick den Schirm.

Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Nanu, Tarb«, sagte er voller Wärme, »Sie sind ja ein Patriot! Ich wußte gar nicht, daß Sie bei der Reserve sind. Ich kann Sie nicht feuern, nein, aber«, erklärte er, »was ich tun kann, ist, Sie für ein oder zwei Jahre zur Armee zu beurlauben - da ist gerade wieder so eine Art Einberufung im Gange...«

Ich stand auf, ein hohles Gefühl im Magen. »Das ist grotesk! Ich habe trotzdem immer noch Kündigungsschutz, wissen Sie. Wenn diese Einberufung vorüber ist...«

Er zuckte fröhlich die Achseln. »Ich betrachte immer die angenehme Seite, Tarb«, verkündete er mir. »Schließlich kommen Sie ja vielleicht nie zurück.«

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