Tennison Tarb

I

Die Frau war eine Nulpe. Auf rührend komische Weise hatte sie versucht, sich für die Befragung hübsch zu machen. Es war Zeitverschwendung. Sie war ein bläßliches, krank aussehendes kleines Geschöpf, und sie leckte sich die Lippen, während sie sich mit erstauntem Blick in meinem Büro umsah. Es ist kein Zufall, daß die Wände des Befragungsbüros mit Voll-D-, Voll-Geh-Werbepostern für Markenartikel gepflastert sind. »Mann«, seufzte sie, »ich würde fast alles für ein Täßchen gutes altes Coffiest tun!«

Ich bedachte sie mit meinem unehrlichsten Blick ehrlichen Erstaunens. Ich berührte ihr Dossier-Display. »Das ist merkwürdig. Hier heißt es, Sie hätten Venusier davor gewarnt, daß Coffiest suchtbindend und gesundheitsgefährdend sei.«

»Mr. Tarb, das kann ich erklären!«

»Und dann ist da noch das, was auf Ihrem Visumsantrag steht.« Ich schüttelte den Kopf. »Kann das denn stimmen? "Der Planet Erde ist durch und durch korrupt, vergewaltigt von unmoralischen Werbekampagnen, die Bürger sind bloße Tiere und das Eigentum der räuberischen Werbeagenturen"?«

Sie keuchte. »Woher haben Sie das bekommen? Man hat mir gesagt, daß die Visumsunterlagen geheim sind!« Ich zuckte unverbindlich die Achseln. »Aber ich muß das sagen! Sie verlangen, daß man der Werbung abschwört, sonst lassen sie einen nicht hinein«, jammerte sie.

Ich behielt meinen gleichgültigen Gesichtsausdruck bei - fünfundsiebzig Prozent "Ich würde Ihnen ja gerne helfen", fünfundzwanzig Prozent "Aber Sie sind wirklich widerlich". Die ganze Vorstellung war inzwischen Routine. Ich hatte Leute von der Art dieser Nulpe während der vier Jahre meiner Dienstzeit auf der Venus wenigstens einmal in der Woche gesehen, und die Gewöhnung machte sie kein bißchen anziehender. »Ich weiß, ich habe einen großen Fehler gemacht, Mr. Tarb«, winselte sie, die Stimme voller Aufrichtigkeit, während sie mich mit aufgerissenen Augen aus einem ausgemergelten Gesicht anstarrte. Na ja, die Aufrichtigkeit war falsch, wenn auch gut gespielt. Aber die Augen waren schrecklich verängstigt. Die schreckliche Angst war echt, denn sie wollte zweifellos nicht länger auf der Venus bleiben. Man konnte die verzweifelten Fälle immer erkennen. Die Auszehrung war der entscheidende Hinweis. Die Ärzte nannten es »Anorexia ignatua«. Das ist das, was eintritt, wenn ein anständiger, wohlerzogener irdischer Verbraucher sich Tag um Tag in einem Veenie-Laden wiederfindet und sich partout nicht entscheiden kann, was er zum Mittagessen kaufen soll, weil er nicht die kluge und hilfreiche Beratung der Markenartikelwerbung erfahren hat, um ihn zu leiten. »Also bitte, ich flehe Sie an - kann ich ein Heimkehrvisum haben?« schloß sie mit etwas, das sie wohl für ein charmant bittendes Lächeln hielt.

Ich blinzelte dem Hologramm von Fowler Schocken an der Wand zu. Normalerweise hätte ich die Kreatur zehn Minuten oder so in dem Raum mit der Werbung schmoren lassen, während ich irgendeine vorgetäusche Besorgung erledigte. Aber mein Instinkt sagte mir, daß sie nicht noch länger weichgeklopft werden mußte - und außerdem erinnerte mich ein kleines Kribbeln in meinen Drüsen daran, daß ich nicht nur zu der Nulpe sprach.

Ich ließ den Hammer niedersausen; die Zeit für Nettigkeiten war vorüber. »Elsa Dyckman Hoeniger«, bellte ich, indem ich ihren Namen von dem Visumsantrag ablas, »Sie sind eine Verräterin!« Ihr knochiger Unterkiefer fiel entgeistert herunter. Die großen Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. »Laut Ihrem Dossier entstammen Sie einer guten Verbraucherfamilie. Als Kind Mitglied der Junior-Werbetexter. Eine gute Erziehung an der G. Washington Hill-Universität in New Haven. Ein verantwortungsvoller Job in der Abteilung für Kundenbeziehungen bei einer der größten Kredit-Juwelier-Ketten - und, wie ich sehe, mit einer lebenslangen Rückerstattungsquote von weniger als einem Zehntelprozent, eine Leistung, die Ihnen eine "Vorzüglich"-Benotung in Ihrer Personalakte einbrachte! Und doch haben Sie all dem den Rücken gekehrt. Sie denunzierten das System, das Sie hervorgebracht hat, und flüchteten in diese handelsverlassene Einöde!«

»Ich bin irregeleitet worden«, wimmerte sie, während die Tränen ihr über das Gesicht rannen.

»Natürlich sind Sie irregeleitet worden«, schnarrte ich, »aber Sie hätten genug normalen Anstand haben müssen, es gar nicht erst dazu kommen zu lassen!«

»O bitte! Ich - ich tue alles! Lassen Sie mich nur rasch nach Hause zurück!«

Es war der Augenblick der Wahrheit. Ich schürzte einen Augenblick lang schweigend die Lippen. »Alles«, wiederholte ich, als hätte ich ein solches Wort noch nie von einem Überläufer gehört, der Angst vor seiner eigenen Courage bekommen hatte. Ich ließ sie sich trockenschluchzen, während sie mir ängstlich und verzweifelt ins Gesicht starrte. Als der erste Anflug von Hoffnung sich zeigte, warf ich den Köder aus.

»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit«, sagte ich. Und hielt dann inne.

»Ja, ja! Bitte!«

Ich tat so als studierte ich ihr Dossier noch einmal ganz neu. »Nicht sofort«, warnte ich schließlich.

»Das ist schon in Ordnung«, rief sie eifrig. »Ich warte -Wochen, wenn es sein muß!«

Ich lachte verächtlich. »Wochen, ja?« Ich schüttelte den Kopf. »Elsa«, sagte ich, »ich glaube nicht, daß Sie es ernst meinen. Was Sie getan haben, läßt sich nicht mit ein paar lausigen Wochen bezahlen - oder auch Monaten. Sie haben die falsche Einstellung. Vergessen Sie, was ich gesagt habe. Antrag abgelehnt.« Und ich stempelte ihr Formular und gab es ihr mit einer großen roten Beschriftung zurück, einem glitzernden Abgewiesen.

Ich lehnte mich zurück und wartete auf den Rest der Vorstellung. Er entwickelte sich genauso wie immer. Zuerst kam der Schock. Dann ein sengender Blick des Zorns. Dann erhob sie sich langsam und stolperte blindlings aus meinem Büro. Das Drehbuch änderte sich nie, und ich war wirklich gut in meiner Rolle.

Sobald sich die Tür geschlossen hatte, grinste ich hinauf zu Fowler Schockens Bild und sagte: »Wie war's?« Das Bild verschwand. Mitzi Ku erwiderte mein Grinsen.

»Spitzenmäßig, Tenny«, rief sie. »Komm runter zum Feiern.« Es war die angemessene Antwort, und ich hielt mich nur gerade lange genug auf, um bei der Verpflegungsausgabestelle vorbeizuschauen und etwas mitzunehmen, womit wir feiern konnten.

Als die irdische Botschaft in Courtenay Center erbaut wurde -oder, präziser gesagt, als sie ausgehoben wurde-, mußten wir einheimische Arbeitskräfte verwenden. Das war eine Bestimmung des Staatsvertrags. Andererseits läßt sich das bröckelige, verbrannte venusische Gestein leicht ausheben. Als also die erste Ladung Diplomaten anrückte, bekamen ihre Marineinfanterie-Wachmannschaften ein Jahr lang doppelten Dienst zugeteilt. Vier Stunden in schicken Uniformen draußen vor der Botschaftsschleuse stehen; weitere vier Stunden drunten in den Tiefen der Botschaft zusätzlichen Platz graben und ihn als unseren Kriegsraum auskleiden. Die Veenies kamen nie darauf, daß wir ihn hatten, trotz der Tatsache, daß während der Geschäftszeiten die halbe Botschaft von Veenie-Arbeitern wimmelte - sie hatten keinen Zutritt zu den Waschräumen der Dips, und der geheime Eingang zu dem, was vor allem der Ort war, wo Kulturattache Mitsui Ku ihre nicht-kulturellen Aufzeichnungen aufbewahrte, führte durch die letzte Kabine in jeder Toilette.

Als ich dort ankam, atemlos und die Flasche echten irdischen Trink-Whisky und Eis auf einem Tablett balancierend, war Mitzi gerade dabei, Daten über die Nulpe in ihren Speicher einzugeben. Sie hob eine Hand, um zu verhindern, daß ich sie unterbrach, und deutete auf einen Sessel, also mixte ich ein paar Drinks und wartete. Ich fühlte mich gut.

Mitzi Ku ist eine Messinglady - das beginnt mit ihrer Hautfarbe, die von jener cremefarbenen orientalischen Tönung ist, und setzt sich in ihrer Sprache und ihrem Handeln fort. Genau der Typ, den ich mag. Sie hat das verblüffend schwarze orientalische Haar, aber ihre Augen sind blau. Sie ist so groß wie ich, aber viel besser gebaut. Alles in allem genommen - etwas, worauf ich schon immer scharf war - war sie so ungefähr der bestaussehende Agentenwerber, den wir je in der Botschaft gehabt hatten. »Ich wünschte, ich würde nicht nach Hause zurückkehren«, äußerte ich, als sie so etwas wie eine Unterbrechung in ihrer Tätigkeit erreichte.

»Sicher, Tenny«, sagte sie geistesabwesend und griff nach ihrem Drink. »Wirklich verdammt schade.«

»Du könntest auch rotieren«, schlug ich - nicht zum ersten Mal - vor, und sie antwortete nicht einmal. Ich hatte auch nicht damit gerechnet. Sie würde das nicht tun, und ich wußte warum. Mitzi hatte nur achtzehn Monate auf der Venus, und man kriegt von seiner Agentur keine Brownie-Punkte für weniger als drei Jahre harter Pflichterfüllung. Überflieger bringen nicht mal ihre Reisekosten wieder ein. Ich versuchte einen anderen Kurs: »Denkst du, du kannst sie umdrehen?«

»Sie? Die Nulpe? Gott, ja«, sagte Mitzi verächtlich. »Ich habe über das interne Fernsehen zugesehen, wie sie die Botschaft verließ. Sie hat Gift und Galle gespuckt. Bald wird sie all ihren Freunden erzählen, daß die Erde noch korrupter sei, als sie bei ihrem Übertritt geglaubt habe. Dann wird es ihr langsam aufgehen. Ich werde ihr noch ein paar Tage geben und sie dann herrufen wegen - mal sehen - ja, um irgendeine Kreditforderung noch von der Erde in Ordnung zu bringen. Dann werfe ich ihr den Köder hin. Sie wird umschwenken.«

Ich lehnte mich zurück und genoß meinen Drink. »Du könntest ein bißchen mehr sagen«, ermutigte ich sie.

Die blauen Augen verengten sich alarmierend, aber gehorsam sagte sie: »Du hast gute Arbeit bei ihr geleistet, Tenny.«

»Sogar noch mehr als das vielleicht«, beharrte ich. »Etwa: "Du hast gute Arbeit bei der Nulpe geleistet, Tenny-Liebling, und warum sind wir nicht wieder mal zusammen?"«

Die zusammengekniffenen Augen wurden zu einem echten Stirnrunzeln - die ernstzunehmende Sorte. »Zum Teufel, Tenny! Es war wunderbar mit uns beiden, aber es ist vorbei. Ich verlängere, und du fliegst zurück, und das ist das Ende.«

Ich war nicht klug genug, um aufzugeben. »Ich bin immer noch eine Woche hier«, machte ich sie aufmerksam, und da explodierte sie wirklich.

»Hör auf damit, verdammich!«

Also hörte ich auf damit. Und ich verdammte sie. Insbesondere aber verdammte ich Hay Lopez - Jesus Maria Lopez auf der Gehaltsliste -, der nicht so gutaussehend war wie ich oder (das hoffte ich jedenfalls) so gut im Bett, mir gegenüber jedoch einen großen Vorteil hatte. Hay Lopez blieb, und ich flog nach Hause, und darum machte sich Mitzi Gedanken über das Morgen.

»Du kannst einem ganz schön auf die Nerven gehen, Tenny«, beklagte sie sich. Das Stirnrunzeln hatte sich jetzt verfestigt. Wenn Mitzi die Stirn runzelte, dann merkte man es auch. Sogar schon vorher, während der Sturm sich noch am Horizont zusammenbraute, konnte man die Wolken sehen, zwei schmale, senkrechte Falten über ihrer Nase zwischen ihren bleistiftstrichdünnen Brauen. Sie verkündeten: Achtung! Sturm im Anzug! Und dann wurden die blauen Augen starr, und die Blitze zuckten auf...

Oder auch nicht. Diesmal jedenfalls nicht. »Tenny«, sagte sie, während sie sich ein wenig entspannte, »ich habe da eine Idee hinsichtlich der Nulpe. Glaubst du, wir könnten sie in das Veenie-Spionagesystem einschleusen?«

»Warum die Mühe?« grunzte ich. Die Veenies hatten einfach nicht genug Verstand, um gute Spione zu sein. Sie waren Abschaum. Die Hälfte der verrückten Konservationisten, die zur Venus auswanderten, wünschten sich binnen der ersten sechs Monate, daß sie niemals gekommen wären, und die Hälfte davon wiederum bettelte darum, zur Erde zurückgelassen zu werden. Ich war derjenige, der dafür verantwortlich war, ihnen zu sagen, daß sie nicht die geringste Chance hatten - mein Haupttitel in der Botschaft war Stellvertretender Leiter des konsularischen Dienstes. Mitzi war diejenige, die sie ein wenig später auslas und sie zu ihren Agenten machte. Ihr Titel lautete Beigeordneter Manager für kulturelle Beziehungen, aber die hauptsächlichen kulturellen Beziehungen, die sie mit den Veenies unterhielt, bestanden aus einer Bombe in einem Flugplatzschließfach oder einem Feuer in einem Lagerhaus.

Früher oder später würden die Veenies sich der Tatsache bewußt werden, daß sie nicht einen Planeten von vierzig Milliarden Menschen besiegen konnten, selbst wenn er sich entfernt im Weltall befand. Dann würden sie auf die Knie niedersinken und darum betteln, zurück in die Gemeinschaft der wohlhabenden, zivilisierten Menschheit geführt zu werden. Inzwischen war es Mitzis Aufgabe, sie daran zu hindern, es sich draußen in der Kälte gemütlich zu machen. Oder, richtiger - eingedenk dessen, was für eine Art von Höllenloch ihr Planet war - draußen in der Hitze. Spione? Wir mußten uns keine Sorgen um Veenie-Spione machen! - »Was?« sagte ich, als ich plötzlich merkte, daß sie immer noch redete.

»Sie führen etwas im Schilde, Tenny«, sagte sie. »Das letzte Mal, als ich nach Port Kathy gefahren bin, hat man mein Hotelzimmer durchsucht.«

»Vergiß es« sagte ich bestimmt. »Hör zu. Was sollen wir mit der Zeit anfangen, die mir noch bleibt?«

Die Zwillingsfalten über ihrer Nase zuckten einen Augenblick, schwanden dann wieder. »Na«, sagte sie, »was stellst du dir denn so vor?«

»Einen kleinen Ausflug«, bot ich an. »Das Shuttle ist jetzt in der PSK, also muß ich rauffliegen zum Gefangenenaustausch - ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mitzukommen...«

»Ach, Tenny!« sagte sie ernsthaft, »du hast die unmöglichsten Ideen! Warum sollte ich Lust haben, dorthinzufliegen?« Es stimmte, daß die Polare Strafkolonie nicht gerade weit oben auf der Liste der touristischen Sehenswürdigkeiten der Venus stand - nicht, daß sonst etwas Nennenswertes auf der Liste gestanden hätte, so, wie die Venus nun einmal war. »Jedenfalls kommt das Shuttle als nächstes hierher, und dann stecke ich bis über beide Ohren in Arbeit. Danke. Aber nein.« Sie zögerte. »Aber dennoch ist es eine Schande, daß du die wirkliche Venus nicht gesehen hast.«

»Die wirkliche Venus?« Jetzt war ich an der Reihe mit Feixen. Die Hitze der wirklichen Venus würde die Füllungen in Ihren Zähnen zum Schmelzen bringen, wenn Sie sich ihr jemals aussetzen - selbst rings um die Städte, wo es beträchtliche Klimaveränderungen gegeben hat, ist die Temperatur immer noch enorm und die Luft außerhalb der Einfriedungen Giftgas. Sie wollen wissen, wie die »wirkliche« Venus ist? Dann schauen Sie sich einen altmodischen Kohleofen an, nachdem das Feuer erloschen ist, er aber immer noch zu heiß zum Anfassen ist.

»Ich meine nicht die Badlands«, sagte sie rasch. »Aber was ist mit Russian Hills? Du hast dir nie die Venera-Raumsonde angesehen, und dabei ist sie nur eine Stunde entfernt - ich meine, wenn wir einen Tag zusammen verbringen wollten.«

»Prima!« Ich konnte mir angenehmere Dinge vorstellen, die man an einem Tag zusammen unternehmen konnte, war aber bereit, auf jedes Angebot einzugehen. »Heute?«

»Verflixt, nein, Tenny, wo hast du nur deinen Verstand? Heute ist ihr Tag der Planetaren Trauer. Da werden alle Freizeiteinrichtungen geschlossen.«

»Wann dann?« drängte ich, aber sie zuckte nur die Achseln. Ich wollte nicht, daß die Stirnrunzelfalten wieder einsetzten, also wechselte ich das Thema. »Was wirst du ihr anbieten?«

Sie wirkte irritiert. »Wem? Ach so, du meinst die Überläuferin. Das Übliche, denke ich. Ich hole fünf Jahre als Agentin aus ihr heraus, dann repatriiere ich sie - aber natürlich nur, wenn sie gute Arbeit geleistet hat.«

Ich sagte: »Vielleicht mußt du gar nicht so hoch gehen. Ich habe sie genau beobachtet, und sie ist reif. Wie wäre es, wenn du ihr nur einmal im Monat Einkaufsprivilegien gibst? Wenn sie erst einmal in den Botschaftsladen kommt und ein paar vom den guten alten irdischen Markenartikeln kriegt, tut sie alles, was du willst.«

Mitzi trank aus und stellte das Glas zurück auf das Tablett, wobei sie mich eigentümlich ansah. »Tenny«, sagte sie, halb lachend, halb kopfschüttelnd, »ich werde dich vermissen, wenn du rotierst. Weißt du, was ich manchmal denke, zum Beispiel, wenn ich nicht sofort einschlafen kann? Ich denke vielleicht, in gewisser Hinsicht, ist es moralisch nicht vertretbar, was ich tue, gewöhnliche Bürger in Spione und Saboteure zu verwandeln...«

»Jetzt wart aber mal einen Augenblick«, brauste ich auf. Es gibt ein paar Dinge, die man nicht einmal im Scherz sagt. Aber sie hob die Hand.

»Und dann schaue ich dich an«, sagte sie, »und ich merke, daß ich, in bestimmter Weise betrachtet, im Vergleich zu dir praktisch eine Heilige bin. Jetzt verschwinde von hier und laß mich wieder an die Arbeit gehen, ja?«

Also verschwand ich und fragte mich dabei, ob ich durch diese kleine Diskussion gewonnen oder verloren hatte. Aber wenigstens hatten wir so eine Art Verabredung, und ich hatte eine Idee, wie sich mehr daraus machen ließ.

Der Tag der Planetaren Trauer war einer der gemeinsten venusischen Feiertage. Es war der Jahrestag des Todes jenes alten Bastards Mitchell Courtenay. Natürlich nahmen die Veenie-Schreibkräfte und -Laufburschen daher den Tag frei, und ich mußte mir mein eigenes Kaffee-Sub holen, um es in den Gesellschaftsraum im zweiten Stock mitzunehmen. Von dort aus hatte ich einen guten Ausblick auf die »Feierlichkeiten« außerhalb der Botschaft.

Ihr durchschnittlicher Veenie ist ein Troglodyt, das heißt ein Höhlenbewohner, das heißt - Hilsch-Röhren oder nicht - sie sind immer noch weit davon entfernt, all die ekligen Gase wegzupusten, die ihre Luft verpesten. Ich gebe zu, sie haben Fortschritte gemacht. Man kann in einem Thermalanzug mit Lufttornister nach draußen gehen, wenn man will, wenigstens in den Randbezirken rund um die Städte - ich persönlich verspüre selten das Bedürfnis dazu. Aber selbst dort ist die Luft immer noch Gift, also haben die Veenies die steilsten, tiefsten Täler auf der geborstenen, schroffen Oberfläche des Planeten ausgewählt und sie überdacht. Langgestreckt und schmal und gewunden, ist ihre typische Veenie-Stadt das, was Mitzi einen "Aal-Bau" nennt. Aber ihre typische Veenie-Stadt ist natürlich auch nicht annähernd eine richtige Stadt. Die größte von ihnen zählt vielleicht klägliche hunderttausend Menschen, und das nur, wenn sie an einem ihrer widerlichen Nationalfeiertage mit Touristen vollgepumpt ist. Stellen Sie sich vor: den Verräter Mitch Courtenay zu feiern! Natürlich kennen die Veenies nicht die Insidergeschichte Mitch Courtenays, so wie ich. Der Vater meiner Großmama war Hamilton Harns, ein Seniorvizepräsident bei der Fowler Schocken AG, ebenjener Agentur, die Courtenay verriet und entehrte. Als ich klein war, pflegte Großmama mir zu erzählen, wie ihr Vater Courtenay sofort als Unruhestifter erkannt hatte - Courtenay hatte ihn sogar gefeuert, dazu eine Reihe anderer loyaler, handelsfürchtiger leitender Angestellter in der San Diego-Zweigniederlassung, um seine Verruchtheit zu bemänteln. Natürlich sind die Veenies so verrückt, daß sie das einen Sieg für Recht und Gerechtigkeit nennen würden.

Die Botschaft liegt an der Hauptpiste der Stadt, dem O'Shea Boulevard, und natürlich sind an einem Tag wie diesem die Veenies sehr eifrig dabei, ihrem liebsten Zeitvertreib zu frönen - dem Demonstrieren. Es gab Schilder mit der Aufschrift "Keine Werbung!" und Schilder mit der Aufschrift "Erdlinge raus!" Das übliche Zeug. Es belustigte mich, zu sehen, wie die Nulpe von heute morgen erschien, einem Mann mit roten Haaren und grünen Augen ein Spruchband entwand und anfing, vor der Botschaft auf und ab zu marschieren und Slogans zu rufen. Ganz nach Programm. Das Fieber in der Nulpe stieg, und wenn es fiel, würde sie schwach und widerstandslos sein.

Der Gesellschaftsraum begann sich mit leitenden Mitarbeitern für die Elf-Uhr-Besprechung zu füllen, und einer der ersten, der eintraf, war mein Zimmergefährte und Rivale Hay Lopez, Ich sprang auf und holte sein Kaffee-Sub für ihn, und er musterte mich mißtrauisch. Hay und ich waren keine Freunde. Wir teilten uns eine Duplex-Suite: ich hatte die obere Koje. Es gab gewichtige Gründe dafür, uns nicht zu mögen. Ich konnte mir vorstellen, wie er sich all diese Monate über gefühlt hatte, wenn er mir und Mitzi in der Koje über sich zuhörte. Eigentlich mußte ich es mir nicht einmal vorstellen, weil ich inzwischen erlebt hatte, wie es war, Geräusche von unten zu hören.

Aber es gab eine Möglichkeit, mit Hay Lopez fertigzuwerden, weil er einen schwarzen Fleck in seiner Personalakte hatte. Er hatte irgendwie Mist gebaut, als er zweiter Mediendirektor bei seiner Agentur gewesen war. Also beurlaubten sie ihn natürlich für beinahe ein Jahr zum Militär, im Reservatsdienst, wo er versuchte, die Eskimos von Port Barrow auf ein zivilisiertes Niveau zu bringen. Ich wußte nicht genau, was er angestellt hatte. Aber Hay wußte nicht, daß ich es nicht wußte, und darum hatten ein paar wohlüberlegte Andeutungen seine Besorgnis wachgehalten. Er war sowieso ständig in Panik, weil er versuchte, jenen alten Makel auszutilgen, indem er härter arbeitete als jeder andere in der Botschaft. Was er nicht wollte, war eine weitere Dienstzeit nördlich des Polarkreises; nach dem See-Eis und der Tundra war er der einzige unter uns, der sich nie über das venusische Klima beklagte. »Hay«, sagte ich darum, »ich werde die alte Gegend hier vermissen, wenn ich zurück in die Agentur gehe.«

Das verdoppelte das Mißtrauen in seinen Augen, weil er wußte, daß es eine Lüge war. Was er nicht wußte, war, warum ich sie erzähte. »Wir werden dich auch vermissen, Tenny«, log er zurück. »Irgendeine Ahnung, wo du eingesetzt werden wirst?«

Das war die Eröffnung, die ich mir wünschte. »Ich denke daran, mich bei der Personalabteilung zu bewerben«, log ich. »Ich glaube, das ist nur natürlich, oder? Das erste, was sie haben wollen werden, sind doch bestimmt aktuelle Berichte über die Leistungen hier - sag mal«, sagte ich, als fiele es mir plötzlich wieder ein, »wir sind ja von derselben Agentur! Du und ich und Mitzi. Tja, ich werde eine Menge über euch beide zu erzählen haben! Echte Starklasse, was ihr zusammen so bringt.« Wenn Lopez darüber nachdachte, würde er natürlich erkennen, daß das letzte, wofür ich mich bewerben - oder angenommen werden - würde, die Personalabteilung war, weil meine ganze Ausbildung in Richtung Texten und Produktion ging. Aber ich habe nur gesagt, daß Hay hart arbeitete, nicht, daß er intelligent war; und bevor er wußte, wie ihm geschah, hatte ich ihm das Versprechen abgeluchst, meinen Trip zur Polaren Strafkolonie zu übernehmen - »um sich für den Fall einzuarbeiten, daß er diese Aufgabe übertragen bekam, wenn ich weg war.« Ich ließ ihn stehen, während er immer noch grübelte, und ging hinüber, um mich an einer Unterhaltung über die verschiedenen Wagentypen zu beteiligen, die wir daheim auf der Erde gehabt hatten.

Die Botschaft hatte einhundertundacht Mitarbeiter auf dem Dienstplan - die Veenies drängten uns dauernd, die Anzahl zu halbieren, aber der Botschafter wies sie ab. Er wußte, wozu diese zusätzlichen Leute da waren - die Veenies natürlich auch. Ich war vielleicht der zehnte oder elfte in der Hierarchie, sowohl aufgrund meiner konsularischen Pflichten als auch aufgrund meiner Nebentätigkeit als Moralbeauftragter. Das bedeutete, daß ich derjenige war, der die Werbespots für die hausinternen Fernsehkanäle aussuchte und - nun ja - ein Auge auf die anderen einhundertundsieben wegen möglicher konservationistischer Neigungen hielt. Das nahm jedoch nicht viel von meiner Zeit in Anspruch. Wir waren eine sorgfältig ausgesuchte Mannschaft. Mehr als die Hälfte von uns war früheres Agenturpersonal, und sogar die Verbraucher waren ein achtbarer Haufen - für Verbraucher. Wenn überhaupt, dann waren ein paar der Jüngeren zu loyal. Es hatte Zwischenfälle gegeben. Erst vor ein paar Wochen hatten ein paar der Marineinfanterie-Wachen ein bißchen zuviel Hirnbrause getankt und mit ihren Handwaffen drei der Einheimischen mit augenresonanten Werbespots geblitzt. Die Veenies fanden das gar nicht komisch, und wir hatten die Marineinfanteristen zwecks Deportation unter Hausarrest stellen müssen. Jetzt waren sie natürlich nicht anwesend; die Elf-Uhr-Besprechung war nur für uns rund fünfundzwanzig Vorgesetzte. Ich sorgte dafür, daß ein Platz neben mir frei war, als Mitzi hereinkam, wie gewöhnlich zu spät; sie warf Hay Lopez, der am Fenster schmollte, einen kurzen Blick zu, zuckte dann die Achseln und setzte sich, um sich an der Unterhaltung zu beteiligen.

»Morgen, Mitzi«, grunzte der Protokollchef direkt vor uns und fuhr sogleich fort: »Ich hatte auch mal einen Puffotter, aber wenn Sie so mit den Händen pumpen, können Sie nicht die Beschleunigung kriegen...«

»Sie können, wenn Sie Ihre Muskeln einsetzen, Roger«, erklärte ich ihm. »Und, schauen Sie, die halbe Zeit stecken Sie doch sowieso im Verkehr fest, stimmt's? Also ist eine Hand reichlich als Antrieb. Sie haben die andere frei zum, na ja, Zeichengeben oder so.«

»Zeichengeben«, sagte er und starrte mich an. »Wie lange fahren Sie eigentlich schon, Tenny?« Und unsere Chefkodiererin lehnte sich an Mitzi vorbei, um einzuwerfen: »Sie sollten einen Viper ausprobieren, mit diesem Leichtgewichts-Direktantrieb. Keine Pedale, einfach nur den Fuß runter auf die Fahrbahn und abstoßen. Da kommt man ganz schön in Gang!«

Roger blickte sie verächtlich an. »So, und was ist mit dem Bremsen? Bei einem Nothalt können Sie sich das Bein brechen. Nein, ich sage, Fußpedal und Kettenantrieb sind die einzige Art, zu fahren...« Sein Gesichtsausdruck änderte sich. »Da kommen Sie«, grunzte er und drehte sich um, um nach vorne zu sehen, während die großen Tiere hereinkamen.

Der Botschafter war ein wirklich eindrucksvoller Mann, Abtl. Medien daheim auf der Erde, mit Pfeffer-und-Salz-Locken und einem grundsoliden, humorvollen, dunkelhäutigen Gesicht. Wie es sich ergab, kam er nicht aus unserer Agentur - die Großen benannten abwechselnd die Leute an der Spitze, und diesmal waren wir nicht an der Reihe gewesen -, aber ich konnte ihn als handwerklichen Könner respektieren. Und er wußte, wie man eine Versammlung leitete. Der erste Punkt der Tagesordnung war der Politische Beauftragte, der ängstlich durch eine weitere der Krisen flatterte, die seine Tage heimsuchten. »Wir haben schon wieder eine Note von den Veenies erhalten«, sagte er händeringend. »Es geht um Hyperion. Sie behaupten, wir hätten grundlegende Menschenrechte verletzt, als wir den Bergarbeitern in den Gasgruben nicht die Freiheit zugestanden haben, ihre eigenen Kommunikationsmedien zu wählen - Sie wissen, was das bedeutet.«

Das taten wir, und sofort regte sich Gemurmel wie »Die haben vielleicht Nerven!« »Typische Veenie-Arroganz!« Die Helium-3-Bergarbeiter auf dem Mond Hyperion beliefen sich gerade auf fünftausend Personen, und als Markt hätten wir sie nicht im geringsten vermißt. Aber es war eine Frage des Prinzips, sie gut mit Werbung zu versorgen - eine Venus im Sonnensystem war genug.

Der Botschafter wollte davon nichts wissen. »Weisen Sie die Note zurück«, rügte er frostig. »Es geht sie einen Dreck an, und Sie hätten gar nicht erst zulassen dürfen, daß sie sie Ihnen überhaupt aushändigten, Howard.«

»Aber wie sollte ich das wissen, bevor ich sie gelesen hatte?« jammerte der Politische Beauftragte, und der Botschafter bedachte ihn mit dem Wir-sprechen-uns-noch-Blick, bevor er sich zu einem Lächeln entspannte.

»Wie Sie alle wissen«, sagte er, »ist das Erdschiff jetzt seit zehn Tagen in der Umlaufbahn, es sollte jeden Augenblick das Shuttle herunterschicken. Ich habe Verbindung mit dem Kapitän gehabt, und es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, daß sie was ganz Feines für uns haben -eine ethnische Tanzgruppe, Disco und Black Bottom, als Kulturaustausch, Mitzi, Sie werden sie natürlich betreuen. Außerdem haben sie zehn Tonnen Vorräte - Coffiest, ÄchtFlaisch, Bänder mit den neuesten Werbespots, all die schönen Sachen, auf die Sie alle gewartet haben!« Allgemeine Äußerungen der Freude und Befriedigung. Ich nutzte die Gelegenheit, um nach Mitzis Hand zu greifen, und sie zog sie nicht zurück. Der Botschafter fuhr fort: »Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, wie Sie alle wissen, daß das Shuttle, wenn es wieder abhebt, eines unserer beliebtesten Mitglieder unserer glücklichen Familie hier mitnimmt. Wir werden am Abend vor seiner Abreise noch auf bessere Art von ihm Abschied nehmen - aber in der Zwischenzeit, Tennison Tarb, möchten Sie nicht aufstehen, so daß wir Ihnen zeigen können, wie sehr wir Sie vermissen werden?«

Tja, das hatte ich nicht erwartet. Es war einer der großen Augenblicke meines Lebens. Es gibt keinen Applaus wie den Beifall von seinesgleichen, und sie spendeten ihn reichlich - sogar Hay Lopez, obwohl er finster blickte, während er klatschte.

Ich weiß nicht, was ich sagte, aber als es vorüber war und ich wieder auf meinem Stuhl saß, stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß ich nicht wieder nach Mitzis Hand greifen mußte. Sie hatte meine genommen.

Immer noch auf rosa Wolken schwebend, lehnte ich mich hinüber, um ihr ins Ohr zu flüstern, daß ich den Ausflug in die Polare Strafkolonie auf Hay abgewälzt hatte und wir darum heute abend die ganze Suite für uns allein haben konnten. Aber das blieb ungesagt. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, weil der Botschafter die neuen Werbebänder vorab in der Diplomatentasche heruntergeschmuggelt hatte und wir natürlich alle still sein wollten, während wir sie uns ansahen.

Es blieb für immer ungesagt. Ich saß da, benommen und glücklich, den Arm über Mitzis Schulter, und es stieß mir nicht einmal als beunruhigend auf, als ich Hays auf uns gerichteten Blick bemerkte, finster und voller Groll - nicht, bis er sich hinüber zum Botschafter schob und ihm etwas ins Ohr zu flüstern begann, kaum daß die Filme vorüber waren. Und dann war es zu spät. Der Mistkerl hatte alles wohl durchdacht. Sobald die Lichter angingen, kam er grinsend und nickend auf uns zu, ganz Fröhlichkeit und gute Kameradschaft, und ich wußte was er sagen würde: »Verdammt, Tenny, mein Junge! So ein verflixtes Pech! Ich kann diesen PSK-Einsatz nicht für dich übernehmen. Großes Palaver mit dem Botschafter morgen - weiß, daß du das verstehen wirst - Riesensauerei, daß man dich so was an deinem letzten Tag hier machen läßt...« Den Rest hörte ich mir nicht mehr an. Er hatte recht. Es war eine Riesensauerei, mich so etwas machen zu lassen, und ich verstand. Ich verstand es sehr nachdrücklich an jenem Abend, als ich verdrossen versuchte, meinen Kopf auf den unbequemen Rücksitz des Überschallflugzeugs zur Polaren Strafkolonie zu betten. Es wäre ein ganzes Stück einfacher gewesen, eine bequeme Lage für meinen Kopf zu finden, wäre ich mir nicht so elend sicher gewesen, daß ich genau wußte, wo Hay Lopez seinen bettete.


II

Um acht Uhr am nächsten Morgen saß ich im Konferenzraum des Gefängnisses dem für Einwanderung und Paßkontrolle zuständigen Veenie gegenüber. »Nett, Sie mal wieder zu sehen, Tarb«, sagte er, ohne zu lächeln.

»Immer ein Vergnügen, mit Ihnen zusammenzutreffen, Harriman«, antwortete ich. Keiner von uns beiden meinte es ernst. Wir hatten einander alle paar Monate gegenübergesessen, jedesmal, wenn ein Gefängnisschiff von der Erde hereinkam, vier Jahre lang, und wir wußten, daß es nichts Nettes oder Angenehmes zu erwarten gab.

Die Polare Strafkolonie war eigentlich nicht gerade »polar«, weil sie sich oben in den Akna Montes befand, ungefähr da, wo in der Arktis der nördliche Polarkreis gewesen wäre, hätte die Venus einen gehabt. Natürlich war es hier nicht arktisch. Es war nicht einmal spürbar weniger heiß als auf dem Rest des Planeten, aber vermutlich hatten die ersten Vermessungsschiffe der Agenturen das wohl bedacht. Warum sonst hätten sie etwas von dem am wenigsten begehrenswerten Land auf der Venus für sich beanspruchen sollen? Es war Erdeigentum, widerruflich begründet, bevor die Veenie-Kolonisten stark genug gewesen waren, etwas dagegen zu unternehmen, und dann aus Gewohnheit behalten, wie die Ausländerareale in Shanghai vor dem Boxeraufstand. Im Augenblick befanden wir uns auf Veenie-Territorium, in einem der wenigen oberirdischen Gebäude am Rande der PSK selbst. Die Veenies hatten starre Dächer über Tälern. Die Gefangenen - Knackis nannten wir sie - hatten Höhlen. Die gesamte Polare Strafkolonie lag direkt vor unserem Fenster, aber sehen konnte man sie nicht. Da sich das wie in einem Öfen gedörrte Gestein leicht ausheben ließ, war das Gefängnis auch hier gegraben worden.

»Ich sollte Ihnen wohl sagen, Tarb«, meinte Harriman lächelnd, aber der Tonfall war unheilverkündend, »daß seit unserem letzten Treffen einige Kritiken gegen mich laut geworden sind. Es heißt, ich sei zu nachgiebig gewesen. Ich glaube nicht, daß ich diesmal so entgegenkommend sein kann.«

Ich reagierte sofort auf diese Masche: »Merkwürdig, daß Sie das sagen, Harriman, weil mir das gleiche passiert ist. Der Botschafter war erzürnt darüber, daß ich Ihnen diese beiden Kreditverbrecher überlassen habe.« In Wirklichkeit hatte der Botschafter kein Wort gesagt, aber das hatten Harrimans Bosse auch nicht. Er nickte, um das Ende der ersten Runde ohne eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung anzuzeigen, und begann, die Dossiers durchlaufen zu lassen.

Harriman war ein knallharter Verhandlungspartner und gerissen. Ich auch. Wir wußten beide, daß der andere es darauf anlegte, peu à peu Siege zu erringen, mit dem einzigen Unterschied, daß die besten Siege jene waren, bei denen der andere nie herausfand, was er verloren hatte. Die Erde hatte ihre Gefängnisse geleert und den schlimmsten Abschaum hier abgeladen. Mörder, Vergewaltiger, Kreditkartenbetrüger und Brandstifter waren die unbedeutendsten davon. Oder die Schlimmsten, je nach Sichtweise. Wir wollten zum Beispiel nicht die Gelegenheitsganoven - wollten nicht die Unkosten, sie zu füttern, wollten nicht die Aufgabe, sie in der Reihe zu halten. Die Veenies auch nicht. Was die Veenies aus jedem Gefangenenkontingent wollten, waren die übelsten der Verräter. Konservationisten. Vertragsbruchkriminelle. Anti-Werbungs-Fanatiker, die Sorte, die Reklameflächen verunstaltet und Hologramme kurzschließt. Sie wollten sie zu venusischen Vollbürgern machen. Wir wollten sie nicht gehen lassen. Es war die Sorte, denen wir früher das Gehirn ausgebrannt hätten, was wir manchmal noch heute tun, und wenn sie das Glück hatten, durch einen weichherzigen Richter mit fünf Oder zehn Jahren PSK davonzukommen, sollten sie diese, so fanden wir, auch ganz absitzen. Diese Leute hatten ihre Strafen verdient. Sie in die venusische Bevölkerung freizulassen, war überhaupt keine Strafe. In der Praxis lief es auf einen Kuhhandel hinaus. Beide gaben und nahmen wir ein bißchen; die Kunst des Handelns bestand darin, zögernd das zu »geben«, von dem man unbedingt wollte, daß es der andere nahm.

Ich tippte auf den Einschalter des Sichtschirms und fuhr mit dem Cursor die obersten sechs Namen ab. »Moskowicz, McCastry, Bliven, die Familie Farnell - ich nehme an, die wollen Sie, aber Sie können sie nicht haben, bevor sie nicht wenigstens sechs Monate verbüßt haben.«

»Drei Monate«, handelte er. Sie waren alle als KKs registriert - kriminelle Konservationisten -, genau die Sorte von Unangepaßten, die die Veenies mit offenen Armen willkommen hießen.

Ich sagte bestimmt: »Sechs Monate, und ich müßte eigentlich auf ein Jahr hin verhandeln. Auf der Erde sind das die schlimmsten Kriminellen, und sie müssen eine Lektion erhalten.«

Voller Abneigung gegen mich zuckte er die Achseln. »Was ist mit diesem nächsten Gefangenen, Hamid?«

»Der schlimmste von der ganzen Bande«, erklärte ich. »Den können Sie nicht haben. Er ist wegen Kreditkartendiebstahls verurteilt, und obendrein ist er ein Konsie.«

Er spannte sich bei der Bezeichnung, musterte aber den Text auf dem Schirm. »Hamid wurde nicht wegen, äh, Konservationismus verurteilt«, betonte er.

»Nun ja, nein. Wir konnten kein Geständnis erhalten.« Ich lächelte vertraulich, von einem Gesetzeshüter zum anderen. »Wir hatten auch keine unmittelbaren Zeugen, weil, soweit ich informiert bin, seine gesamte Zelle vor einiger Zeit ausgehoben und liquidiert wurde und er es nie wieder schaffte, einen Kontakt herzustellen. Ach, und es spricht einiges dafür, daß "Hamid" nicht sein richtiger Name ist - die Fachleute glauben, seine Sozialversicherungstätowierung sei abgeändert worden.«

»Sie haben ihn deswegen nicht unter Anklage gestellt«, sagte Harriman nachdenklich.

»Mußten wir auch nicht. Es war nicht nötig, den Konservationismus-Vorwurf durchzudrücken - wir hatten ihn doch schon wegen der Kreditkartensache am Wickel. Nun«, sagte ich, indem ich ihn weiterdrängte, »was ist mit diesen dreien? Sie sind alle Medicare-Simulanteh, kein sehr schwerwiegendes Vergehen - ich könnte sie auf der Stelle eintauschen, wenn Sie sie nehmen wollen...«

Wenn es eines gibt, was Veenies hassen, dann ist es, in eine Lage gebracht zu werden, wo ihre »Ideale« ihnen das eine sagen und ihr gesunder Menschenverstand etwas anderes. Er lief rot an und stotterte. Theoretisch waren die Medicare-Schwindler perfekte Kandidaten für die venusische Staatsbürgerschaft. Außerdem waren sie alt und deswegen Belastungen für eine alles in allem immer noch ziemlich ruppige Grenzergesellschaft. Es lenkte ihn völlig von Hamid ab, genau, wie ich es vorgehabt hatte.

Vier Stunden später waren wir am Ende der Liste. Ich hatte ihm vierzehn Knackis überlassen, sechs auf der Stelle, die anderen über einen Zeitraum von Monaten hinweg. Er hatte zwei abgelehnt, und ich hatte an rund zwanzig weiteren festgehalten. Wir hatten immer noch nicht den Fall Hamid entschieden. Er warf einen Blick auf seine Unterlagen. »Ich bin beauftragt«, sagte er, »Sie darüber zu informieren, daß meine Regierung nicht mit Ihrer Einhaltung des Protokolls von '53 zufrieden ist. Ihm zufolge haben wir das Recht, dieses Gefängnis in jährlichen Abständen zu inspizieren.«

»Gegenseitig«, berichtigte ich ihn. Ich kannte das Protokoll auswendig; jede der Mächte hatte mit übertriebener Großmütigkeit zugestimmt, die andere alle Straf-, Besserungs- oder Rehabilitationseinrichtungen inspizieren zu lassen, um ihre Übereinstimmung mit humanitären Maßstäben sicherzustellen. Pustekuchen! Ihr Xeng Wangbo-"Umerziehungszentrum" befand sich inmitten der äquatorialen Anti-Oase, und bisher war uns noch nie auch nur ein flüchtiger Blick auf seine nähere Umgebung gestattet worden. Natürlich ging das, was wir in der PSK machten, sie auch nichts an. Die Veenie-Gesetze forderten, daß jeder Knacki seine eigene Koje mit einem Minimum von 0,7 Kubikmetern Raum erhielt. Das war ja überhaupt keine Bestrafung! Es gab jede Menge handelsfürchtiger Verbraucher daheim, die nie in ihrem Leben so viel Raum zu Besicht bekamen. Es war jedoch nutzlos, sich darüber zu streiten Die Veenie-Bauinspektoren hatten darauf bestanden, daß wir so viel Raum einbauten, aber sobald das Gefängnis fertig war, hatte der Direktor einfach ein paar Abteilungen geschlossen und die Belegung andernorts verdoppelt.

»Das ist eine Frage grundlegender menschlicher Standards«, schnappte er. Ich machte mir nicht die Mühe, zu antworten, sondern lachte ihn nur lautlos an - ich mußte Xeng Wangbo nicht erwähnen. »Na gut«, murrte er, »was ist dann mit der Werbung? Mehrere Haftentlassene haben bezeugt, daß Sie da Übertretungen begehen!«

Ich seufzte. Derselbe alte Streit, jedesmal. Ich sagte: »Gemäß Abschnitt 6-C des Protokolls ist Werbung definiert als "persuasives Angebot von Waren oder Dienstleistungen". Es existiert kein Angebot, nicht wahr? Ich meine, die Sachen können nicht angeboten werden, wenn sie nicht erhältlich sind und die Knackis solche Dinge niemals haben können. Das ist Teil ihrer Strafe.« Der Rest ihrer Strafe freilich war, daß sie ununterbrochen mit Werbung für die Dinge bombardiert wurden, die sie nicht haben konnten. Aber auch das ging ihn nichts an.

Das rasche Aufblitzen in Harrimans Augen warnte mich, daß ich in eine Falle geraten war, »Natürlich«, machte ich flink einen Rückzieher, »gibt es Ausnahmen, die ihrem Wesen nach geringfügig sind, daß man sie nicht einmal zu erwähnen braucht...«

»Ausnahmen«, sagte er schadenfroh. »Ja, Tarb, es gibt Ausnahmen, und ob. Wir haben eidesstattliche Erklärungen von nicht weniger als acht Haftentlassenen, die angeben, daß Gefangene durch Werbespots dazu getrieben worden sind, ihre Familie und Freunde daheim - auf der Erde um einige der angepriesenen Waren anzuschreiben! Insbesondere haben wir Beweise dafür, daß Coffiest, Mokie-Koke und Starrzelius Nick-O-Teen-Chewies aus diesem Grund Rotkreuzpäckchen beigefügt wurden...«

Langsam kamen wir richtig in Gang. Ich ließ alle Hoffnung fahren, den Rückflug heute abend zu erwischen, weil ich wußte, daß wir jetzt bis lange nach Mitternacht feilschen würden.

Und das taten wir, unter vielem Konsultieren von »klärenden Noten« und »Positionserklärungen« und »Berichtigungen ohne Verbindlichkeit«. Ich wußte, daß er es nicht ernst meinte. Er versuchte nur, eine Verhandlungsposition für das zu erreichen, was er wirklich wollte. Aber er argumentierte hartnäckig, bis ich ihm anbot, alle Rotkreuzpakete für die Knackis völlig einzustellen, wenn es ihn glücklich machte. Tja, das wollte er offensichtlich auch wieder nicht, also bot er einen Tauschhandel an. Er ließ die Frage der Werbung fallen - als Gegenleistung für die frühzeitige Freilassung einiger seiner Lieblingsknackis.

Also gab ich ihm symbolische Klaps-auf-die-Hand-Zehntagesstrafen für Moskowicz, McCastry, Bliven, die Farnell-Familie... und Hamid. So, wie ich es die ganze Zeit über geplant hatte.

Harriman war ganz Lächeln und Gastfreundschaft, nachdem ich ihm erst einmal gegeben hatte, was er wollte - oder zu wollen glaubte. Er bestand darauf, daß ich die Nacht in seiner dienstlichen Zweitwohnung in der Polarstadt verbrachte. Ich schlief schlecht, da ich sein Angebot eines Schlummertrunks oder mehrerer abgelehnt hatte - ich beabsichtigte nicht, das Risiko einzugehen und Informationen auszuplaudern, die er nicht haben sollte. Außerdem wachte ich die ganze Nacht über dauernd mit jenen panikartigen Agoraphobie-Gefühlen auf, die man bekommt, wenn man sich an einem Ort aufhält, der zu groß ist. Verrückte Veenies! Sie müssen um jeden Kubikmeter Lebensraum kämpfen, und trotzdem hatte Harriman drei ganze Zimmer! Und das in einer Wohnung, die er nicht mehr als zehn Nächte im Jahr benutzte! Also erhob ich mich am nächsten Morgen in aller Frühe und stand schon um sechs Uhr in der Schlange am Abfertigungsschalter des Flughafens. Vor mir war ein Veenie-Teenager mit einem dieser »patriotischen« T-Shirts, auf deren Vorderseite "Werbefritzen raus" und hinten "KEINE W*RB*NG" draufsteht - als sei »Werbung« ein unanständiges Wort! Ich wollte ihm nicht die Befriedigung verschaffen, ihn anzuschauen, also wandte ich mich ab. Hinter mir war eine kleine, schlanke Schwarze, die vage vertraut aussah. »Hallo, Mr. Tarb«, sagte sie durchaus freundlich, und es stellte sich heraus, daß ich sie tatsächlich kannte - eine örtliche Feuerinspektorin oder so etwas zu Hause am Raumhafen. Sie hatte mehrfach Rundgänge durch die Botschaft unternommen, um etwaige Verstöße festzustellen.

Sie erwies sich auch als meine Sitznachbarin während des Fluges. Ich hatte automatisch angenommen, sie sei eine Veenie-Spionin - alle Einheimischen, die aus irgendeinem Grund überhaupt in die Botschaft kamen, so wußten wir, würden wahrscheinlich Bericht über das erstatten, was sie gesehen hatten. Aber sie war überraschend offen und freundlich. Gar nicht ihr üblicher Veenie-Spinner. Sie sprach nicht über Politik. Worüber sie sprach, war für mich viel interessanter: Mitzi. Sie hatte uns beide zusammen in der Botschaft gesehen und erraten, daß wir ein Liebespaar waren -was damals ja auch stimmte!-, und sie sagte all die richtigen Dinge über Mitzi. Schön. Intelligent. Energisch.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, auf dem Rückflug zu schlafen, aber die Unterhaltung war so angenehm, daß ich die ganze Zeit mit Plaudern zubrachte. Bis wir landeten, schwatzte ich schon über all meine Hoffnungen und Träume. Wie ich selbst zur Erde zurückkehren mußte. Wie sehr ich mir wünschte, Mitzi würde mit mir rotieren, wie entschlossen sie aber war, hierzubleiben. Wie ich von einer längerwährenden Beziehung träumte - vielleicht sogar einer Heirat. Ein Heim in Groß-New York, vielleicht zum morgengroßen Waldschutzpark in Milford hinaus gelegen... vielleicht ein oder zwei Kinder... Es war seltsam. Je mehr ich sagte, desto trauriger und nachdenklicher schien es sie zu machen.

Aber ich war selbst traurig genug, weil ich nicht glauben konnte, daß irgend etwas davon eintreten würde.


III

Aber die Dinge begannen sich erstaunlich aufzuhellen, als ich in die Botschaft zurückkehrte. Zuerst lief mir Hay Lopez über den Weg, der aus der Herrentoilette kam - also aus Mitzis Geheimversteck, da war ich mir ziemlich sicher. Aber er sagte keinen Ton, sondern knurrte nur, als wir aneinander vorbeigingen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, finster und gereizt, war genau das, was ich zu sehen gehofft hatte.

Als ich vermittels der Wasserspülung durch die Geheimtür den Kriegsraum betrat, war die Miene auf Mitzis Gesicht ebenso günstig. Grimmig hackte sie Daten in ihren Speicher ein, erregt und verärgert. Was immer sich in diesen beiden Nächten abgespielt hatte, ein Idyll war es nicht gewesen. »Ich habe Hamid eingeschleust«, berichtete ich stolz und beugte mich vor, um sie zu küssen. Kein Problem! Auch keine Begeisterung, aber sie erwiderte meinen Kuß, lauwarm.

»Ich war sicher, daß du es schaffen würdest, Tenny«, seufzte sie, und die Stirnrunzelfalten begannen zu verschwinden; sie waren nicht gegen mich gerichtet gewesen. »Wann kann er sich zum Dienst melden?«

»Nun, ich habe natürlich nicht mit ihm selbst gesprochen. Aber er wird in zehn Tagen entlassen. Ich würde sagen, zwei Wochen, nachdem er draußen ist.«

Sie wirkte richtig zufrieden. Sie machte sich eine Notiz, dann schob sie ihren Stuhl zurück und starrte ins Leere. »Zwei Wochen«, sagte sie nachdenklich. »Ich wünschte, wir hätten ihn zum Tag der Planetaren Trauer hier gehabt - in der Menge hätte er alles mögliche hören können. Aber es kommen ja noch andere Gelegenheiten - nächsten Monat veranstalten sie eine ihrer Wahlen, also wird es die verschiedensten politischen Versammlungen geben...«

Ich legte meinen Finger auf ihren Mund. »Was jetzt erst einmal kommt«, sagte ich, »und zwar morgen abend, ist meine Abschiedsparty. Möchtest du meine Begleiterin sein?«

Sie schenkte mir ein richtiges Lächeln. »An deinem großen Abend? Aber natürlich.«

»Und vielleicht morgen den Tag freinehmen, damit wir etwas zusammen unternehmen können?«

Ein zaghafter Schatten der Stirnrunzelfalten kehrte zurück. »Tja, ich bin im Augenblick wirklich schrecklich beschäftigt, Tenn...«

Ich riskierte es. »Aber nicht mit Hay Lopez, stimmt's?«

Stirnrunzelfalten tief und wütend. »Nein, danke!« zischte sie gefährlich. »Niemand darf mich so behandeln, wie er - glaubt, er würde mich besitzen!«

Ich ließ mein Gesicht verbindlich und mitfühlend, aber innerlich grinste ich von einem Ohr zum anderen, »Wie steht es also mit morgen?«

»Na ja, warum nicht? Vielleicht könnten wir - ich weiß nicht - nach Russian Hills rausfahren vielleicht. Jedenfalls irgendwas.« Sie beugte sich vor und gab mir ein Küßchen auf die Wange. »Wenn ich mir morgen freinehmen will, habe ich heute einen schweren Tag vor mir, Tenny - also verschwinde bitte, ja?« Aber sie sagte es zärtlich.

Zu meiner Überraschung meinte sie es durchaus ernst mit unserem gemeinsamen Besuch bei der alten russischen Venera-Rakete. Ich ließ ihr ihren Willen. Auf gewisse Weise, nehme ich an, würde ich etwas versäumt haben, wenn ich die Venus wieder verlassen hätte, ohne einen Blick auf eines ihrer berühmten Kulturdenkmäler zu werfen. Wir schlichen uns früh aus der Botschaft und nahmen uns eine Elektrodroschke zur Trambahnstation, bevor die Straßen sich richtig füllten.

Um die größeren Städte herum haben es die Veenies geschafft, etwas Gras und Unkraut und sogar ein paar spindeldürre Dinger wachsen zu lassen, die sie Bäume nennen - natürlich sind sie irgendwie genetisch besonders manipuliert, aber sie zeigen dann und wann tatsächlich ein bißchen Grün. Russian Hills jedoch ist kein bißchen verändert worden. Absichtlich.

Wollen Sie wissen, was für Spinner die Venusier sind? Na gut, lassen Sie mich Ihnen eine simple Anekdote erzählen. Verstehen Sie, sie haben diesen riesigen Planeten - fünfmal so viel Landfläche wie der gesamte Planet Erde, wissen Sie, weil es noch keine Ozeane gibt. Um ihn in etwas Passables zu verwandeln, haben sie sich seit mehr als vierzig Jahren krumm und lahm geschuftet bei dem Versuch, etwas Grünes wachsen zu lassen. Aber das ist höllisch schwierig, wenn man bedenkt, was für ein Planet die Venus ist. Pflanzen haben es verdammt schwer. Zum einen gibt es eigentlich nicht genug Licht; zum anderen gibt es fast überhaupt kein Wasser; zum dritten ist es viel zu heiß. Überhaupt etwas zum Wachsen zu bringen, verlangt daher alle möglichen Arten technischer Zauberkunststückchen und gewaltige Anstrengungen. Zuerst mußten sie Atombomben über ein paar tektonischen Verwerfungen zünden, um Vulkane auszulösen - das dient dazu, das, was an Wasserdampf vorhanden ist, aus dem Kern herauszuholen (auf diese Weise, so wird behauptet, hat die Erde vor Milliarden von Jahren ihr Wasser bekommen). Als zweites mußten sie die Vulkane mit Kappen abdecken, um den Wasserdampf einzufangen. Als drittes mußten sie für etwas sorgen, das kalt genug war, um den Dampf zu einer Flüssigkeit zu kondensieren; das ist das kalte Ende der Hilsch-Röhren - Sie sehen sie auf den Berggipfeln überall auf der Venus, riesige Anlagen wie Pikkoloflöten mit nur einem Loch, deren heißes Ende Gase durch die Atmosphäre hinausbläst, so daß sie sich im Weltall verlieren, und deren kaltes Ende die Kühlung der Städte besorgt - und dabei gleichzeitig ein bißchen Elektrizität erzeugt. Als viertes müssen sie jenes Wasserrinnsal durch Rohre dorthin leiten, wo Sachen angepflanzt werden, und sie müssen das unterirdisch machen, damit es nicht auf den ersten zehn Metern verkocht. Als fünftes müssen sie besondere, genetisch maßgeschneiderte Pflanzen haben, die dieses Wasser im Nu durch ihre Stengel und Blätter hochsaugen können, bevor sie es verkochen lassen - es ist ein Wunder, daß sie irgend etwas davon fertiggebracht haben, insbesondere, wenn man bedenkt, daß sie nicht viele Arbeitskräfte haben, die sie für Großprojekte erübrigen können. Alles in allem gibt es nur ungefähr achthunderttausend Veenies.

Und trotzdem - das ist der Witz - ist das erste, was Sie im Park selbst sehen, wenn Sie die Tram hinaus nach Russian Hills nehmen, eine Gruppe von sechs Mann, die rund um die Uhr arbeiten und auf diesen widerlich spitzen Felsen mit Fünzig-Kilo-Rückentornistern mit Pflanzenvertilgungsmitteln herumklettern, um jedes Fleckchen Grün auszurotten, das sie sehen!

Verrückt? Natürlich ist es verrückt. Es ist der Wahnsinn des Konservationismus, fortgeführt bis zu seinem wahnwitzigen Schluß: die Konservationisten wollen den Venera-Landeplatz ganz genauso erhalten, wie er war, als die Sonde landete. Aber der Irrwitz ist eigentlich nicht überraschend. »Wären die Veenies nicht so verückt, wären sie von vornherein auf der Erde geblieben«, sagte ich zu Mitzi, während wir die Bahnlinie entlang ratterten. »Schau dir die Buden an, in denen sieleben!« Wir kamen gerade durch überdachte Stadtrandsiedlungen. Angeblich sollte es sich dabei um erstklassige Wohnbezirke handeln, und trotzdem waren sie voller dürrer Unkräuter und Preßplastik-Wohnhäuser; sie hatten nicht einmal Astro-Turf!

Es kam mir in den Sinn, daß ich vielleicht ein bißchen zu laut redete. Die anderen Fahrgäste, alles durchweg Veenies, drehten sich um, um mich zu mustern. Das war kein besonderes Vergnügen. Veenies sind fast alle übertrieben groß - für gewöhnlich sogar größer als Mitzi -, und sie scheinen auf ihre fischbauchweiße Haut auch noch stolz zu sein. Natürlich kriegen sie nie irgendwelche Sonne. Aber sie könnten schließlich UV-Lampen benutzen, wie wir es tun - wir alle, sogar Mitzi, die keine künstliche Bräunung benötigt, um diese hübsche, samtene Messinghaut zu haben.

»Paß auf, was du sagst«, flüsterte Mitzi nervös. Die Veenie-Familie genau vor uns - Pappi, Mammi und vier (ja, ich sagte vier!) Kinder - drehte schon die Köpfe halb herum, um einen Blick auf uns zu erhaschen, und ihre Mienen waren alles andere als freundlich. Veenies mögen uns nicht besonders. Sie denken, wir seien Stadtfräcke, die versuchten, sie zu verschlingen. Das ist natürlich ein Witz, denn was haben sie schon, das es wert wäre, verschlungen zu werden? Und wenn wir an ihren Angelegenheiten ein Interesse zeigen, dann ist es offensichtlich zu ihrem eigenen Besten - sie sind bloß nicht intelligent genug, das zu begreifen.

Zum Glück waren wir in den Tunnel eingefahren, der durch den Ring von Gipfeln um Russian Hills führt. Jedermann begann, sich zum Aussteigen fertigzumachen. Als ich mich anschickte, mich zu erheben, stieß Mitzi mich verstohlen an, und ich sah einen unanständig großen männlichen Veenie mit grünen Augen und rotem Haar zu dieser häßlichen, totenweißen Haut, der mir einen scheelen Blick zuwarf. Ich verstand Mitzis Wink. Ich schenkte dem Veenie mein nettestes Vergib-mir-meine-Fehler-Lächeln und drückte mich an ihm vorbei zur Tür hinaus. Während ich anhielt, um ein Souvenirbüchlein zu kaufen, stand Mitzi hinter mir und starrte hinter dem Mann mit dem Verkehrsampelkopf her. »Schau dir das an«, sagte ich, indem ich den Führer öffnete, aber Mitzi hörte gar nicht zu.

»Weißt du was«, sagte sie, »ich glaube, den habe ich schon mal gesehen. Vorgestern. Als sie demonstrierten.«

»Nun mal halblang, Mitzi! Es waren fünfhundert Veenies da draußen!« Und so viele - vielleicht mehr - mochten es bestimmt gewesen sein; ich hätte schwören können, daß die halbe Venus schweigend mit ihren albernen Plakaten um unsere Botschaft paradierte - »Keine Werbung!« und »Nehmt euren Schmutz dorthin zurück, wo er hingehört!« Mir machte nicht das Demonstrieren an sich viel aus - aber, ach, der rührende Dilettantismus ihrer Sloganschreiber! »Sie sind verrückt«, sagte ich - ein kompliziertes Kürzel, das nicht bedeutete, es sei »verrückt« zu denken, daß wir Werbetechniken gegen sie einsetzten, sondern meinte, daß sie »verrückt« seien, weil sie sich darüber aufregten - als ob auch nur die geringste Möglichkeit bestanden hätte, daß wir es nicht täten, wenn wir die Chance dazu hatten.

Ich meinte verrückt auch speziell im Zusammenhang mit inkompetenten Werbetexten, und das war es, was ich Mitzi zeigen wollte. Ich blickte mich rasch in dem lärmenden Wagenpark um - gerade kam wieder einer vom Rangierpunkt herangerattert, um die Rückfahrt nach Port Kathy anzutreten. Keine Veenies waren in Hörweite. »Schau mal hier«, sagte ich, während ich die Seite mit der Überschrift Einrichtungen - Essen und Trinken aufschlug. Dort hieß es:


Wenn Sie aus irgendwelchen Gründen bei Ihrem Besuch von Russian Hills nicht Ihre eigenen Erfrischungen mitbringen wollen, können Sie einige Artikel wie Hamburger, Hot Dogs und Soja-Sandwiches im Venera-Salon erhalten. Sie sind einer Überprüfung durch den Planetaren Gesundheitsdienst unterzogen worden, aber die Qualität ist mäßig. Bier und andere Getränke können ebenfalls erworben werden, zu ungefähr dem doppelten Preis der gleichen Waren in der Stadt.


»Rührend«, ächzte ich.

Sie sagte geistesabwesend: »Nun ja, sie sind wenigstens ehrlich.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. Was hatte denn Ehrlichkeit mit Produktabsatz zu tun? Dabei war dieser Ort der Traum eines jeden Werbetexters! Sie hatten einen Kundenkreis, der nicht davonlaufen konnte - Punkt eins. Sie hatten ein Thema, an dem sie die Werbung aufhängen konnten - Punkt zwei. Und sie hatten Verbraucher, die in Ferienstimmung waren, bereit, alles zu kaufen, was zum Verkauf stand - Punkt drei und am allerwichtigsten! Alles, was sie tun mußten, war, ihre Hot Dogs »Echte Odessa-Würstchen« und die Hamburger »Komsomol-Burger« zu nennen, um den Verbrauchern die Entschuldigung zum Kaufen zu geben - aber statt dessen redeten sie es ihnen regelrecht aus! Verbraucher erwarten doch gar nicht, das zu bekommen, was die Werbung versprach. Sie wollten bloß jenen winzigen Moment der Hoffnung, bevor die »Schlafgut-Supersoft«-Matratze ihnen eine Feder in den Hintern piekste und das »Naturfrische Goldene-Tropen-Fruchtelixir« sich als etwas herausstellte, das nach Teer schmeckte. »Na«, sagte ich, »so weit sind wir schon einmal. Dann sollten wir auch einen Blick auf ihre verdammte Raumsonde werfen.«

Venus war im Grunde ein Müllplanet. Die Luft war Gift, und außerdem gab es zu viel davon, also war der Druck entsetzlich. Die Hitze verkochte alles, was sich nur verkochen ließ. Es wuchs nichts, über das zu reden sich gelohnt hätte, als das erste Erdschiff landete, und fünfzig Jahre menschlicher Besiedlung hatten das nicht gutgemacht, nur ein mikroskopisch kleines bißchen weniger gräßlich. Die Versuche der Veenies, die Atmosphäre in etwas umzuwandeln, das ein Mensch ertragen konnte, waren noch nicht abgeschlossen, aber sie waren weit genug gediehen, daß man sich heutzutage an einigen Stellen ohne Druckanzug bewegen konnte... auch wenn man einen Atemtank auf dem Rücken tragen mußte, weil es äußerst wenig Sauerstoff gab.

Dieser Teil, den sie den Venera-Russian-Hills-Planetenpark nannten - so verkündete es das Schild an der Trambahnstation - war eigentlich nicht viel schlimmer als der ganze Rest, egal, wie sehr sich die Veenie-Konservationisten auf die Schultern klopften, weil sie eine »Atmosphäre unverdorbener Wildnis« erhalten hatten. Ich starrte durch das Fenster darauf und verspürte keinen Drang, näher heranzugehen.

»Komm schon, Tenn«, drängte Mitzi.

»Bist du dir sicher, daß du das wirklich möchtest?« Schon in der Bahnstation war es widerwärtig genug angesichts des Lärms der Trambahnwagen und der Veenies mit ihren ständig gicksernden Bälgern. Nach draußen zu gehen, bedeutete eine ganze höhere Stufe der Widerwärtigkeit, Wir würden Lufttanks anlegen und Luft aus Schläuchen in unsere Münder schlürfen müssen, und es würde sogar noch mehr Hitze bedeuten als die Innenöfen, bei denen die Veenies zu gedeihen schienen. »Vielleicht sollten wir zuerst essen«, schlug ich vor, während ich den Erfrischungsstand ins Auge faßte. Unter dem handgemalten Schild »Unser Küchenchef empfiehlt heute« hatte jemand mit Kreide gekritzelt: »Lassen Sie die Finger von den Rühreiern.«

»Na, sag mal, Tenn! Du erzählst mir doch immer, wie sehr du Veenie-Essen haßt. Ich gehe und hole uns ein paar Atmer.«

Wenn du keine Wahl hast, mach mit - das ist das Motto der Tarbs. Es hat unserer Familie gute Dienste geleistet, denn wir sind Mitglieder des Werbeberufs seit den alten Tagen der Madison Avenue und der Pepsi-Cola-Erkennungsmelodie. Also schnallte ich den verdammten Tank auf meinen Rücken und schob mir den verdammten Schlauch in den Mund und flüsterte am Mundstück vorbei: »Ins Tal des Todes, vorwärts marsch!«

Mitzi lachte nicht. Sie war schon den ganzen Tag irgendwie gedrückter Stimmung - vermutlich, weil ich abreiste. Also klopfte ich ihr auf den Rücken, und wir stolperten den Pfad hinunter zur Venera.

Die Venera-Raumsonde ist ein Klumpen toten Metalls, ungefähr von der Größe eines Pedicabs, aus dem stachlige Antennen und Teller hervorstehen. Sie ist nicht in guter Verfassung. Die Zeit ist vorüber, als sie an der Spitze einer Rakete im verschneiten Tyuratam saß und sich ihren Weg durch hundert Millionen Meilen Weltraum sprengte, um durch die Blasen hervorrufende Luft der Venus heruntergeloht zu kommen. Sie muß ein ziemlicher Anblick gewesen sein, aber natürlich war niemand da, um ihn zu genießen. Nach all diesen Mühen und Unkosten hatte sie eine Funktionsdauer von ein paar Stunden. Das reichte ihr, um einige Druck- und Temperaturmessungen zurückzufunken und ein paar unscharfe, verzerrte Bilder von den Felsen zu übermitteln, auf denen sie stand. Das war ihre ganze Karriere. Dann sickerte das Giftgas ein, und alle Schaltkreise und Apparätchen und technischen Raffinessen starben. Ich vermute, man muß wirklich sagen, daß die Venera eine echte Errungenschaft für jene alten, prätechnologischen Tage war. Jene trüben grauen Kameraaugen ermöglichten den ersten Blick auf die Oberfläche der Venus, den irgendein menschliches Wesen je getan hat, und als die Veenies darüber stolperten, in ihren ersten Monaten der Besiedlung des Planeten, hätten Sie doch sicher von ihnen erwartet, es als eine Großtat feiern zu wollen, richtig? Verdammt, nein. Der Grund, warum die Veenies so viel Aufhebens um diesen Klumpen Schrott machten, war wieder einmal bezeichnend für ihre Verrücktheit. Sehen Sie, damals in jenen Tagen waren die Russen etwas, das man Sowjets nannte. Ich bin mir nicht so ganz sicher, was Sowjets waren - ich werfe sie immer mit den Scientologen und den Ghibellinen durcheinander -, aber eines weiß ich, und zwar, daß sie nicht - und jetzt passen Sie auf! - an den Profit glaubten. Genau das. Den Profit. Sie glaubten nicht daran, daß Menschen aus Dingen Geld machten. Und was die wichtigste Gehilfin des Profits angeht, die Werbung, nun, sie hatten einfach gar keine! Ich weiß, das klingt merkwürdig, und als wir damals im College Geschichte I absolvierten, konnte ich es nicht glauben, also prüfte ich es nach. Es stimmt tatsächlich. Außer ein paar lumpigen Kleinigkeiten wie elektrischen Schildern, die mit der Stahlproduktion angaben, und Fernseh-Werbespots, in denen die Fabrikarbeiter angefleht wurden, sich nicht während der Arbeitsstunden zu betrinken, existierte Werbung ganz einfach nicht. Aber bei den Veenies war es jetzt fast genauso, und darum hatten sie ein Heiligtum aus zwei Tonnen Metallabfall gemacht. Der große Unterschied zwischen den Veenles und den Russen ist, daß die Russen nach einer Weile klug wurden und sich der freien Brüderschaft der profitliebenden Völker anschlossen, während die Veenies ihr möglichstes versuchten, um in die andere Richtung zu gehen.

Nach einer halben Stunde des Herumkletterns um die Venera hatte ich allmählich genug. Der Platz war voller Veenie-Touristen, und ich kann es echt satt bekommen, meine Luft aus einem Strohhalm zu trinken. Während Mitzi sich also vornüberbeugte und ihre Lippen sich bewegten, als sie versuchte, die kyrillische Schrift auf der Namensplakette zu entziffern, griff ich hinter mich zum Ablaßventil meines Lufttanks und versetzte ihm eine leichte Drehung. Es gab ein schrilles Pfeifen, als das Gas ausströmte, aber ich legte in diesem Augenblick einen Hustenanfall ein, und außerdem übertönte das Kreischen der Hilsch-Röhren auf den Hügeln überall um uns herum alle unwichtigeren Geräusche. Dann stupste ich sie an.

»Oh, zur Hölle mit dem ganzen Krempel, sieh dir das an!« rief ich und zeigte ihr meinen Sauerstoffanzeiger. Er war runter bis auf Gelb, ja erreichte fast die rote Gefahrenzone - ich hatte wohl ein bißchen mehr abgelassen, als ich eigentlich vorgehabt hatte. »Diese verdammten Veenies haben mir einen halbleeren Tank verkauft! Tja«, sagte ich in vor Enttäuschung triefendem Ton, »tut mir leid, aber ich muß zurück ins Innere der Station. Dann sollten wir uns vielleicht Gedanken darüber machen, nach Hause zu fahren.«

Mitzi warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Sie sagte nichts, drehte sich bloß um und begann, den Hang hinaufzusteigen. Ich zweifelte nicht daran, daß sie den Tankanzeiger überprüft hatte, als sie dafür bezahlt hatte, aber es war nicht wahrscheinlich, daß sie sich dessen ganz sicher war. Um der Sache die Spitze zu nehmen, schloß ich zu ihr auf, während wir zurückstapften, nahm den Schlauch aus dem Mund und schlug vor: »Wie wäre es mit einem Drink im Salon, bevor wir wieder in die Bahn steigen?« Es ist wahr, daß ich Veenie-Essen nicht ab kann - es liegt am CO² in der Luft, es läßt die Pflanzen so schnell wachsen, und außerdem essen die Veenies alles frisch, darum hat man nie diesen guten schockgefrosteten Geschmack. Aber Schnaps ist Schnaps, überall im Sonnensystem! Und außerdem hatten mich achtzehn Monate Ausgehen mit Mitzi gelehrt, daß sie immer viel lockerer war, wenn sie ein paar Drinks intus hatte. Sofort begann sie lebhafter zu werden, und sobald wir die Tanks losgeworden waren - ich überredete sie, keinen Aufstand wegen der geringen Füllung in meinem anzuzetteln -, steuerten wir auf die Treppe zum Salon zu.

Die Bahn-Station war eine typische Veenie-Konstruktion -bei uns zu Hause wäre sie nicht als Komfortstation der Verbraucherstufe durchgegangen. Keine Verkaufsautomaten, keine Spiele, keine erzieherischen Zurschaustellungen neuer Produkte und Dienstleistungen. Sie war in den massiven Fels getrieben, und so ungefähr alles, was sie getan hatten, um sie zu verschönern, war, ein bißchen Farbe an die Wände zu klatschen und ein paar Blumen und dergleichen zu pflanzen. Die Bahnlinie kam durch einen Tunnel an einem Ende herein. Sie hatten eine Freifläche für die Bahnsteige und einen Wartesaal und so etwas gesprengt und so ausgeschachtet. Sie hatten nicht die "natürliche Schönheit" des Parks zerstören wollen, verstehen Sie, darum hatten sie die Station im Inneren des Hügels versteckt.

Das schlimmste daran, glaubte ich zuerst, sei der Lärm. Wenn eine Bahn in diese mit einem harten Oberflächenbelag versehene Echokammer raste, war es wie ein Demolitionstag in einer Altmetallfabrik. Ich änderte beinahe meine Meinung hinsichtlich der Drinks, aber ich wollte Mitzi nicht enttäuschen. Dann, als wir uns an einem Tisch im oberen Stockwerk des Salons niedergelassen hatten, stellte ich fest, was noch schlimmer war. »Sieh dir das an«, sagte ich angewidert, während ich die Speisekarte herumdrehte, so daß wir sie beide lesen konnten. Sie bot noch mehr von dieser übelkeitserregenden Veenie-»Aufrichtigkeit«, natürlich:

"Alle Cocktails sind fertige Dosenmischungen - und so schmecken sie auch.

Der Rotwein schmeckt nach Kork und ist kein guter Jahrgang. Der Weiße ist ein wenig besser.

Wenn Sie etwas essen möchten, gehen Sie besser nach unten und holen es sich selbst - andernfalls kostet es Sie $2 Bedienung."

Mitzi zuckte die Achseln. »Es ist ihr Planet«, sagte sie, offenbar fest entschlossen, sich gut zu amüsieren, und verdrehte den Hals, um aus dem Fenster zu spähen. Und das war wieder so etwas. Um nur ja nicht den Anblick von draußen zu verderben, hatten sie die Fenster kunstvoll in Felsspalten verborgen. Von draußen war das vielleicht eine gute Idee; aber von drinnen konnte man nicht hinaussehen, ohne sich anzustrengen, und was nützt ein Aussichtsfenster, aus dem man nicht hinaussehen kann?

Gute Miene zum bösen Spiel machen! Ich war sowieso auf dem Weg aus diesem Höllenloch. Gehorsam bestellten wir den Weißwein, und Mitzi kommentierte: »Schau mal, da steht ein Ambulanzhubschrauber neben dem Weg - Ob wohl jemand verletzt wurde?«

»Vielleicht halten sie ihn dort in Bereitschaft für Leute, die sie um den Sauerstoff beschwindeln«, scherzte ich, während ich mich vorbeugte, um hinauszublicken. Der Hubschrauber war schon eine Weile da, denn die Rotoren standen still. Zwei Männer hatten neben ihm eine Art Streit. Ich war ein wenig überrascht, als ich sah, daß einer von ihnen der Mann mit dem Verkehrsampelkopf aus der Bahn war. Das war nicht so verwunderlich, weil es halt nicht so viele Veenies gibt und man es gar nicht vermeiden kann, wieder und wieder über dieselben zu stolpern. Aber dieses besonderen Kerls begann ich allmählich ein bißchen überdrüssig zu werden. »Trinken wir«, sagte ich, während ich ihn wieder vergaß und zugleich den Kellner bezahlte. »Einen Toast! Auf unsere schönen gemeinsamen Zeiten - die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft!«

»Ach, Tenn«, sagte Mitzi und hob ihr Glas. »Ich wünschte, es wäre so. Aber ich habe immer noch vor, zu verlängern.«

Der Wein war gut und kalt - na ja; so gut war er auch wieder nicht, aber wenigstenstens war er kalt. Mir vorzustellen, wie Mitzi sich wenigstens noch einmal anderthalb Jahre auf diesem stinkenden Schlackehaufen vergeudete, verdarb ihn mir. »Es heißt, wenn man zuviel Zeit bei den Veenies verbringt, wird man selber einer.« Ich sprach halb im Scherz - mindestens halb. Und sofort bekam ich wieder ihren abwehrenden Blick.

»Meine Agentur hat keinen Grund zur Unzufriedenheit mit meiner Arbeit«, sagte sie steif. »Die Veenics sind nicht so schlecht! Ein bißchen fehlgeleitet.«

Ein bißchen. Ich schaute mich mit starrem Blick in dem Salon um. Die Tische waren nacktes Plastik. Es gab keine Hintergrundmusik, keine freundlichen Werbeposter, die die Wände dekorierten.

»Es ist einfach ein anderer Lebensstil«, beharrte sie. »Natürlich, verglichen mit dem, was wir auf der Erde haben, ist es kläglich. Aber alles, was sie in Wirklichkeit von uns wollen, ist, in Ruhe gelassen zu werden.«

Die Unterhaltung verlief absolut nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. Manchmal, wenn ich mit Mitzi redete, wenn sie nicht im Dienst und nicht auf der Hut war, fragte ich mich, ob das alte Sprichwort nicht auf sie zutraf. Sie war seit achtzehn Monaten auf der Venus. Sie hatte nahezu den ganzen Planeten bereist, und sie hatte mit seinen erbärmlichsten Bürgern zu tun gehabt, den Überläufern. Wenn es irgend jemanden in der Botschaft gab, der von diesem primitiven Ort hätte angeekelt und angewidert sein sollen, dann war es Mitzi Ku. Aber sie war es nicht. Sie stand im Begriff, für eine weitere Dienstzeit in diesem Ofen zu unterschreiben. Sie verhielt sich manchmal sogar so, als ob es ihr hier gefiele! Es kursierten sogar Geschichten, daß sie manchmal in den Veenie-Läden einkaufen ging statt in den botschaftseigenen. Natürlich glaubte ich sie nicht. Aber manchmal kam ich doch ins Grübeln... Trotzdem war das, was sie sagte, wahr. Ihre Agentur, die dieselbe war wie meine eigene, konnte mit Sicherheit nichts an ihrer Führung auf der Venus auszusetzen finden. Ihre offizielle Bezeichnung in der Botschaft war "Visumsbeamtin", aber ihre tatsächliche Aufgabe war es, ein Netz von Spionen und Saboteuren zu leiten, das sich von Port Kathy bis zur Polaren Strafkolonie erstreckte. Sie machte das großartig. Computeranalysen zeigten, daß das planetare Bruttosozialprodukt der Veenies allein wegen Mitzis Arbeit um gut drei Prozent gefallen war.

Und trotzdem sagte sie so merkwürdige Sachen! Wie »Ach Tenn, kannst du nicht wenigstens ihre Leistungen anerkennen? Sie haben einen Planeten genommen, auf dem eine Arizona-Klapperschlange nicht hätte am Leben bleiben können, und sie haben ihn in weniger als dreißig Jahren bewohnbar gemacht...«

»Bewohnbar!« höhnte ich, während ich bedeutungsvoll aus dem Fenster starrte.

»Sicher ist er bewohnbar! Wenigstens, wo sie ihn überkuppelt haben. Natürlich ist er kein Südseeparadies, aber sie haben anständige Arbeit geleistet, wenn man bedenkt, was ihnen zur Verfügung stand.« Sie warf einen gereizten Blick durch den Raum, wo eine Veenie-Familie versuchte, ein weinendes Kind zu beruhigen. Dann zuckte sie die Achseln. »Oh, sie sind langweilig«, gab sie zu. »Aber sie sind kein so übles Volk. Bedenke, womit sie angefangen haben - die Hälfte von ihnen kam hierher, weil sie auf der Erde Außenseiter waren, und die andere Hälfte wurde als Kriminelle in die Verbannung geschickt.«

»Außenseiter und Kriminelle, richtig! Der Abschaum der Gesellschaft! Und hier sind sie auch nicht viel besser geworden!«

Aber es hatte keinen Sinn, unseren letzten gemeinsamen Tag damit zu verbringen, über Politik zu diskutieren. Ich schluckte und änderte die Richtung. »Ein paar von ihnen sind nicht so übel«, räumte ich ein. »Besonders die Kinder.« Das war ungefährlich genug, jeder mag Kinder, und der arme kleine Windelpisser hatte immer noch nicht aufgehört zu weinen. »Ich wollte, ich könnte ihn aufheitern«, erbot ich mich probeweise, »aber ich fürchte, ich würde ihn zu Tode erschrecken - irgend so ein großer Bursche, der so einfach auf ihn zukommt...«

»Laß ihn brüllen«, sagte Mitzi und starrte wieder aus dem Fenster.

Ich seufzte - aber lautlos. Es gab Gelegenheiten, da fragte ich mich, ob es sich lohnte, zu versuchen, mit Mitzis Launen und Eigenheiten Schritt zu halten. Aber das tat es. Das wichtigste an Mitzi Ku war, daß sie eine Klassefrau war. Sie hatte diese perfekte, seidig-messingne Honig-Mandel-Haut und für jemanden orientalischer Abstammung eine beachtlich weibliche Figur. Ihre Augen waren auch nicht von diesem orientalischen Schuhknopf-Schwarz; sie waren hellblau - zweifellos hatten sich ihre Vorfahren ein bißchen in der Weltgeschichte herumgetrieben. Und sie hatte perfekte Zähne und wußte genau, wann sie sie sehr zartfühlend gebrauchen mußte. O ja, wenn man sie nahm, wie sie war, war sie es wohl wert, genommen zu werden!

Also versuchte ich es noch einmal. Ich griff nach ihrer Hand und sagte gefühlvoll: »An diesem Kleinen ist etwas, Liebling. Ich schaue ihn an und wünsche mir, ich könnte eines Tages auch...«

Sie brauste auf. »Hör auf damit, Tarb!«

»Ich meinte doch nur...«

»Ich weiß genau, was du gemeint hast! Erlaube mir, daß ich dich über ein paar Dinge aufkläre. Erstens, ich mag keine Kinder. Zweitens, ich muß auch keine Kinder mögen, weil ich nämlich keine zu bekommen brauche - es gibt reichlich Verbraucher, um die Bevölkerungszahl zu halten. Drittens, du bist sowieso nicht an einem Kind interessiert, sondern nur an dem, was man tut, um eins anzusetzen, und die Antwort darauf lautet nein!«

Ich ließ das Thema fallen. Aber es war nicht wahr. Nicht mehr als halbwahr, jedenfalls.

Aber dann begannen die Dinge ein bißchen besser zu werden. Ich hatte einen mächtigen Verbündeten in dem Veenie-Weißwein; egal, wie er schmeckte, er hatte es ganz schön in sich. Und der andere Verbündete, den ich hatte, war Mitzi selbst, da die Logik der Situation sie genauso überzeugte, wie sie mich überzeugt hatte: es hatte keinen Sinn, in Streit zu geraten, wenn uns nur noch so wenig Zeit blieb.

Bis wir die Karaffe Wein geleert hatten, war ich zu ihr hinüber gerückt. Als ich meine Hand um ihre Hüfte legte, war es ganz wie in den alten Zeiten, und wie in den alten Zeiten lehnte sie sich in meinen Arm. Mit der freien Hand hob ich mein Glas mit dem letzten Viertelzoll Wein darin und brachte einen Toast aus: »Auf uns, Mitzi, und auf unser letztes Beisammensein.« Merkwürdig, dachte ich, als ich zufällig an ihr vorbeisah - die Kellnerin, die die Tische am anderen Ende des Raumes abräumte: sie sah der Frau erstaunlich ähnlich, neben der ich auf dem Rückflug vom Pol gesessen hatte.

Aber ich dachte nicht länger darüber nach, weil Mitzi ihr eigenes Glas hob, mich darüber hinweg anlächelte und den Toast erwiderte: »Auf unseren letzten gemeinsamen Tag, Tenn, und unsere letzte Nacht.«

Das war eine so deutliche Einladung, wie ich sie nur je gehört hatte. Wir standen auf und strebten auf die Treppe zur Bahnstation zu, die Arme umeinander geschlungen. Wir waren zweifellos benommen von dem Wein, aber dennoch stupste ich Mitzi an, als wir an dem Tisch bei der Tür vorbeikamen. Die Hälfte der Veenies, denen ich je begegnet war, schien heute hier zu sein; das hier war wieder der alte Rothaar Grünauge, Offenbar hatte er seinen Streit draußen beim Ambulanzhubschrauber beigelegt, denn er saß allein und gab vor, die Speisekarte zu lesen - als ob das mehr als zehn Sekunden in Anspruch genommen hatte! Er schaute kurz auf, gerade als wir vorbeikamen. Ach, zum Teufel. Ich würde keines ihrer bleichen, stumpfen Gesichter mehr sehen müssen, nachdem das Shuttle abgehoben hatte, also lächelte ich ihn an. Er lächelte nicht zurück.

Ich hatte es eigentlich auch nicht von ihm erwartet. Also führte ich Mitzi einfach aus der Tür und die Treppe hinunter und vergaß den ganzen Vorfall - für eine Weile.

Hand in Hand schlenderten wir zum nächsten Bahnsteig, wo eine Tram wartete. Ich hatte geglaubt, gesehen zu haben, wie Leute in sie einstiegen, aber als wir gerade in sie hineinklettern wollten, kam ein Veenie-Bahnwärter herangestürzt. »Tut mir leid, Leute«, keuchte er atemlos, »aber die hier ist außer Dienst. Sie hat, äh, einen Maschinenschaden. Die nächste raus -« er deutete - »fährt gleich da drüben an Bahnsteig Drei.«

Am Bahnsteig Drei war kein Wagen, aber ich konnte sehen, daß einer am Rangierpunkt stand. Seine Nase lugte eben aus dem Tunnel, und er schien darauf zu warten, daß das Freizeichen kam, so daß er in den Bahnsteig einfahren konnte.

Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich ein bißchen benommen und allgemein geistesabwesend. Der Wein, nahm ich an. Das hielt mich davon ab, argumentieren zu wollen. Wir machten kehrt, um den Bahnsteig entlang zurückzugehen, aber der Bahnwärter winkte uns über die Schienen. »Sie sparen Zeit, wenn Sie diese Abkürzung nehmen«, sagte er hilfsbereit.

Mitzi wirkte auch ein bißchen verschwommen, aber sie erkundigte sich: »Ist das nicht gefährlich?« Und der Bahnwärter bedachte uns mit einem Na-beim-nächsten-Mal-trinken-wir-aber-nicht-mehr-so-viel-Lächeln und führte uns zu den Schienen. Nein, er führte uns nicht. Er stieß uns... gerade, als vom Ende des Bahnsteigs ein Gerassel ertönte.

Aus einem Augenwinkel sah ich die Tram auf uns zurollen. Wir standen genau in ihrem Weg, mitten im Schwarzen.

»Spring!« brüllte ich, und »Spring, Tenny!« brüllte im gleichen Augenblick Mitzi, und springen taten wir beide. Ich griff nach Mitzi, und sie griff nach mir, und es hätte ganz wunderbar geklappt, wenn wir in die gleiche Richtung gesprungen wären. Das wiederum taten wir nicht. Wir rammten einander. Wäre Mitzi kleiner als ich gewesen statt größer, hätte ich sie vielleicht weggestoßen oder -gezerrt; so wie die Dinge lagen, flog sie in die eine Richtung und ich in eine andere, aber nicht ganz rechtzeitig. Die Tram schmetterte mich hinaus auf den Bahnsteig, unter Schreien und Fluchen und dem Quietschen von Bremsen. Flammen des Schmerzes leckten meine Beine hoch, als ich auf den Knien über rauhen Beton rutschte. Irgendwann während des Ganzen hatte ich mich derb am Kopf gestoßen - oder die Tram.

Das nächste, was ich wußte, war, daß meine Knie und mein Kopf sich darum stritten, festzustellen, wer mir am meisten wehtun konnte, und ich gellende Stimmen hörte:

»...ein paar Werbefritzen haben versucht, die Schienen zu überqueren...«

»...einer tot und einer ziemlich schwer...«

»Schafft den Arzt hier herein!«

Und irgend jemand aus der Tram beugte sich über mich, das rötliche, schnurrbärtige Gesicht glubschäugig vor Überraschung, und zu meinem Erstaunen war es Marty McLeod, die stellvertretende Stützpunktleiterin.

Ich erinnere mich nicht an viel von dem, was in der kurzen Spanne passierte, die darauf folgte. Es gibt nur Blitzlichtaufnahmen: Marty, die verlangte, daß ich sofort zur Botschaft gebracht würde, der Arzt hartnäckig, daß Unfallpatienten ins Hospital gehörten und sonst nirgendwohin, jemand, der über Martys Schulter lugte und herausplatzte: »Jesses! Das ist der männliche Werbefritze, und er lebt noch!« Der Jemand war der Verkehrsampel-Veenie, dann erinnere ich mich an die Zementmischerrucke und -stöße des Ambulanzhubschraubers, während er über die Hügel rings um den Park sprang und ich friedlich einschlief. Dabei dachte ich über Mitzi nach... dachte darüber nach, wie ich mich fühlte... dachte, daß es nicht zutreffend gewesen wäre, zu sagen, daß ich sie liebte, und daß ganz bestimmt nichts von dem, was sie mir jemals gesagt hatte, im Bett oder außerhalb, so klang, als empfände sie irgend etwas Derartiges. Aber hauptsächlich dachte ich, daß es wirklich traurig war, daß sie tot war.

Aber das war sie nicht.

Sie hielten mich eine Stunde lang im Notaufnahmeraum fest - ein paar Verbände und eine Serie von Röntgenaufnahmen -, und als sie mich in Martys Obhut entließen, sagten sie mir, daß Mitzi neun festgestellte Knochenbrüche habe und wenigstens sechs innerliche Gewebsrisse, die auf der Tomographie erkennbar waren. Sie lag auf der Intensivstation, und sie würden uns auf dem laufenden halten.

Gute Nachrichten! Aber sie ließen mein Herz nicht singen. Denn inzwischen wurde ich wieder klarer im Kopf, und je klarer ich wurde, desto sicherer war es für mich, daß der Unfall kein Unfall gewesen war.

Ich will Marty zugute halten, daß sie ernsthaft zuhörte, während ich ihr erzählte, was ich glaubte, als wir uns im Inneren der wanzensicheren Botschaft befanden. »Wir überprüfen das«, versprach sie grimmig, »können aber nichts machen, bis wir wissen, was Mitzi zu sagen hat - und jetzt legst du dich erst einmal schlafen.« Es war kein Vorschlag. Es war nicht einmal ein Befehl. Es war eine Tatsache, weil sie mir nämlich eine Spritze verpaßt hatten, während ich nicht hinguckte, und es deshalb an der Zeit war, dieser schnöden Welt ade zu sagen.

Als ich aufwachte, hatte ich kaum Zeit, mich anzuziehen und nach unten zu der Abschiedsparty mir zu Ehren zu kommen.

Nun, eigentlich ist das mehr so eine Art Scherz. Die Veenies haben nicht viele allgemeine Feiertage, aber die, die sie haben, feiern sie mit einer Menge Begeisterung. Das ist unangenehm für uns Dips. Wir müssen uns an den Festlichkeiten beteiligen, weil es darum in der Diplomatie nun einmal geht, aber bei den meisten ihrer Feiertage können wir uns nicht gestatten, wirklich mitzufeiern - sie haben Namen wie »Tag der Freiheit von der Werbung« und »Anti-Weihnachten«. Trotzdem müssen wir etwas tun, also denken wir uns für jeden Feiertag eine Entschuldigung aus, zu dieser Zeit - aus einem völlig anderen Grund natürlich - eine Party zu veranstalten. Irgendeine Entschuldigung gibt es immer. Manchmal werden die Entschuldigungen schon arrangiert, bevor der Diplomat hierher zugeteilt wird. Der alte Jim Holder zum Beispiel, von Kodes & Chiffren; es heißt, daß man ihn hergeschickt hat, weil er zufällig am gleichen Tag wie der Renegat Courtenay geboren ist.

Die Party heute abend war also - offiziell - eine Abschiedsfeier für mich. Alle Leute, denen ich über den Weg lief, beglückwünschten mich dazu, daß ich endlich von diesem Ort wegkam und, ein paar Stufen weiter unten auf der Prioritätenliste, ach ja, auch zu deinem glücklichen Entrinnen vor der Bahn, Tenny. Das heißt, die Erdleute taten das; mit den Veenies war es wie immer etwas völlig anderes.

Seien wir den Veenies gegenüber fair. Sie mögen diese zeremoniellen Partys nicht mehr als wir, nehme ich an. Wenn sie weit genug oben am Totempfahl sind, werden sie eingeladen. Wenn sie eingeladen werden, kommen sie. Niemand verlangt, daß sie sich amüsieren müssen. Sie benehmen sich höflich - so weit man das von ihnen erwarten kann -, und wenn es sich um weibliche Exemplare handelt, tanzen sie zwei Tänze mit zwei verschiedenen männlichen Erddiplomaten. Ich glaube, wenigstens dieser Teil gefällt ihnen, weil sie fast immer größer als ihre Partner sind. Die Unterhaltung verläuft fast immer gleich:

»Heiß heute.« »Ach wirklich? Hatte ich gar nicht bemerkt.«

»Die neue Hilsch-Anlage macht ja gute Fortschritte.«

»Oh, danke.«

- dann der zweite Pflichttanz mit einem anderen Partner und dann, wenn Sie sich zufällig nach ihnen umsehen - aber warum Sie das machen sollten, kann ich nicht einmal Vennuten -, sind sie verschwunden. Die männlichen Veenies halten es ungefähr genauso, außer daß es bei ihnen zwei Drinks an der Bar statt zweier Tänze sind und die Unterhaltung sich nicht um das Wetter dreht, sondern um die Chancen von Port Kathy gegen North Star in der Rollerhockey-Liga. Genauso furchtbar ist es, wenn wir zu einer ihrer offiziellen Partys gehen müssen. Wir halten uns auch nicht länger auf als nötig. Mitzi sagt, ihre Spione berichten ihr, daß die Veenie-Partys für gewöhnlich rauschende Feste werden, nachdem wir gegangen sind, aber keiner von uns wird je gebeten, doch noch zu bleiben. Diplomatenpartys sollen diplomatisch sein: keine gewichtigen Themen und natürlich nicht zu viel Spaß.

Aber manchmal läuft es nicht so ab. Meinen ersten Pflichttanz absolvierte ich mit einem schlanken jungen Ding vom Veenie-Ministerium für Extraplanetare Angelegenheiten -Fischbauchhaut natürlich, aber es paßte nicht einmal übel zu ihrem fast platinblonden Haar. Wenn mir nicht wegen Mitzi so weh zumute gewesen wäre, hätte ich es vielleicht sogar genießen können, mit ihr zu tanzen, aber sie hätte es sowieso verdorben. »Mr. Tarb«, sagte sie sofort, »finden Sie es anständig, die Bergleute auf Hyperion dazu zu zwingen, sich Ihren Reklameschmutz anzuhören?«

Na ja, sie war noch sehr jung. Ihre Bosse hätten so etwas nie und nimmer gesagt. Das Problem war nur, daß meine Bosse in der Nähe waren und die Unterhaltung schlimmer wurde: Warum umkreisten gelegentlich bewaffnete irdische Raumschiffe die Venus, ohne ihren Auftrag anzugeben? Und warum hatten wir den Veenies die Erlaubnis verweigert, eine wissenschaftliche Expedition zum Mars zu entsenden? Und - und alles andere war so ziemlich das gleiche. Ich gab all die richtigen abwehrenden Antworten, aber sie hatte ziemlich laut gesprochen, und die Leute starrten uns schon an. Hay Lopez war einer davon; er stand bei der Missionschefin, und sie wechselten auf eine Art Blicke, die mir gar nicht gefiel. Als der Tanz endlich vorüber war, war ich froh, mich zur Bar absetzen zu können. Der einzige freie Platz befand sich direkt neben Pavel Borkmann, dem Leiter irgendeiner Abteilung des Veenie-Schwerindustrieministeriums. Ich kannte ihn schon von früher und hatte zehn Minuten nicht bedrohlichen Geplauders darüber im Sinn, wie ihre neue Hilsch-Sperre in der Anti-Oase funktionierte oder ob sie mit dem neuen Raketenwerk zufrieden waren. Leider klappte das auch nicht, weil er ebenfalls Fetzen meines kleinen Dialogs mit Fräulein Außenministerium mitgehört hatte. »Sie sollten sich nicht auf Kämpfe einlassen, wenn Sie so offensichtlich unterlegen sind«, grinste er, sowohl auf meine verflossene Tanzpartnerin als auch auf die deutlich erkennbaren Narben Bezug nehmend, die ich mir von der Tram eingehandelt hatte. Hätte ich auch nur ein bißchen Verstand gehabt, hätte ich die Bedeutung gewählt, die am wenigsten riskant war, und ihm alles über den Trambahnunfall erzählt. Aber ich war verstimmt; ich wählte den anderen Weg. »Sie ist ganz schön übers Ziel hinausgeschossen«, beklagte ich mich, während ich einen Drink bestellte, den ich bestimmt nicht brauchte.

Aber Borkmann hatte auch einen Drink mehr gehabt, als er brauchte, so schien es, denn auch er wählte den Weg mit den Bärenfallen. »Oh, ich weiß nicht«, sagte er. »Sie müssen verstehen, daß wir Freien Venusier moralische Bedenken haben, Menschen dazu zu zwingen, Sachen zu kaufen - besonders mit vorgehaltener Waffe.«

»Auf Hyperion sind keine Waffen gerichtet, Borkmann! Das wissen Sie.«

»Noch nicht«, gab er zu, »aber hat es solche Fälle nicht genau auf Ihrem Heimatplaneten gegeben?«

Ich lachte mitleidig. »Sie sprechen von den Abos, nehme ich an.«

»Ich spreche von den bedauerlich wenigen Winkeln der Erde, die noch nicht von der Werbung korrumpiert worden sind, ja.«

Langsam wurde ich gereizt. »Borkmann«, sagte ich, »Sie müßten es doch besser wissen. Natürlich unterhalten wir Einheiten zur Friedenssicherung. Ich nehme an, ein paar davon haben auch Waffen, aber die sind nur zum Schutz. Ich habe selbst auf dem College meine Reservistenausbildung absolviert; ich weiß, wovon ich spreche. Sie werden nie offensiv eingesetzt, nur, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie müssen begreifen, daß es sogar unter den schlimmsten Aborigines, den Ureinwohnern, eine Menge Leute gibt, die die Segnungen der freien Marktwirtschaft genießen wollen. Natürlich, die alten Knöpfe sträuben sich. Aber wenn die anständigeren Elemente in der Bevölkerung um Hilfe bitten, nun, dann gewähren wir sie natürlich.«

»Sie schicken Truppen«, nickte er.

»Wir schicken Reklameteams«, verbesserte ich ihn. »Es gibt keinen Zwang. Es gibt keine Gewalt.«

»Und«, ahmte er mich nach, »es gibt kein Entkommen - das haben sie in Neuguinea festgestellt.«

»Es stimmt, daß die Dinge in Neuguinea außer Kontrolle geraten sind«, gab ich zu. »Aber eigentlich...«

»Eigentlich«, sagte er, indem er sein Glas auf die Theke knallte, »muß ich jetzt gehen, Tarb. War nett, mit Ihnen zu plaudern.« Und er ließ mich stehen, innerlich kochend vor Wut. Wieso, in Neuguinea war doch alles in bester Ordnung! Alles in allem hatte es weniger als tausend Tote gegeben. Und jetzt war die Insel ein fester Bestandteil der modernen Welt - wir hatten sogar eine Zweigstelle der Agentur in Papua! Ich kippte meinen Drink auf einen Zug und wandte mich ab... und rannte beinahe in Hay Lopez hinein, der mich angrinste. Die Missionschefin war gerade im Begriff, sich zu entfernen, aber nicht, ohne einen Blick über die Schulter auf mich zu werfen. Ich sah, wie sie sich zum Botschafter gesellte und ihm etwas ins Ohr flüsterte, während sie mich immer noch anschaute, und begriff, daß dies sich zu einem ziemlich schlimmen Tag für mich entwickeln würde. Da ich sowieso auf dem Weg nach Hause war, gab es wenig, was die Botschaftsleute mit mir machen konnten, aber ich- nahm mir trotzdem vor, mich für den Rest des Abends wie ein richtiger Diplomat zu benehmen.

Aber auch das klappte nicht. Wie es das Unglück wollte, war die zweite Partnerin, die ich erwischte, Dirty Berthie, die Überläuferin von der Erde. Ich hätte flinker auf den Füßen sein müssen; anscheinend war ich immer noch ein bißchen groggy. Ich drehte mich um, und da war sie, alkoholisierter Atem, Labberfett-Gesicht und hoch auf dem Kopf aufgetürmtes Haar, damit sie größer wirkte. »Mein Tanz, glaube ich, Tenny?« kicherte sie.

Also log ich höflich: »Ich habe mich schon den ganzen Abend darauf gefreut!« Was man Dirty Berthie zugute halten kann, ist, daß sie selbst mit diesen Stöckelabsätzen und dieser Heuschoberfrisur nicht so hoch über einem aufragt wie die Einheimischen. Aber das ist auch schon so ungefähr alles, was für sie spricht. Konvertiten sind immer die schlimmsten, und Bertha, die jetzt stellvertretende Kuratorin für das gesamte planetenweite Bibliothekssystem der Venus ist, war früher einmal Senior-Vizepräsidentin der Forschungsabteilung bei der Taunton, Gatchweiler und Schocken-Agentur gewesen! Sie hat all das aufgegeben, um zur Venus auszuwandern, und jetzt muß sie mit jedem Wort beweisen, daß sie mehr Veenie ist als Venusier. »Nun, Mr. Tennison Tarb«, sagte sie, während sie sich gegen meinen Arm zurücklehnte, um mein Veilchen zu betrachten, »sieht aus als wäre der Ehemann von irgendwem zurückgekommen, als er es nicht sollte.«

Nur ein harmloser Spaß, richtig? Falsch. Dirty Berthtes kleinen Scherze sind immer garstig. Ein »Was macht denn das organisierte Lügen heute?« zur Begrüßung und »Tja, ich darf dich wohl nicht länger davon abhalten, noch ein bißchen vergiftete Babynahrung zu vertreiben«, wenn sie sich verabschiedet.

Wir dürfen so etwas nicht. Um fair zu sein, die meisten der eingeborenen Veenies tun es auch nicht, aber Bertha ist das schlimmste beider Welten, Unsere offizielle Politik Bertha gegenüber heißt Lächeln und nichts sagen. So hatte ich es die ganzen langen Jahre über gehalten, aber genug war genug. Ich sagte...

Na ja, ich habe keine Entschuldigung für das, was ich sagte. Um es zu verstehen, müssen Sie wissen, daß Berthas Ehemann, der, für den sie ihren Starklasse-Job auf der Erde aufgegeben hatte, ein Pilot auf der Fluglinie zwischen Kathy und Discovery war, der einen Teil seines rechten Beines und eine nicht näher spezifizierte Partie angrenzender Teile bei einem Absturz im Jahr nach ihrer Hochzeit verloren hatte. Das ist das einzige, worin sie empfindlich ist. Also bedachte ich sie mit einem zuckersüßen Lächeln und sagte: »Hab' nur versucht, aus Gefälligkeit für ihn Carlos' Arbeit zu tun, aber ich hab' wohl das falsche Haus erwischt.«

Mein Witz war nicht sehr komisch. Bertha versuchte nicht einmal, einen anderen als Antwort drauf zusetzen. Sie schnappte nach Luft. Sie riß sich aus meinen Armen los, stand stocksteif mitten auf dem Tanzboden und schrie laut und deutlich: »Du Bastard!« Sie hatte sogar richtige Tränen in den Augen - vor Wut, nehme ich an.

Mir blieb keine Gelegenheit, ihre Reaktion zu studieren. Ein Bärenfallengriff schloß sich um meine Schulter, und die Missionschefin höchstpersönlich sagte höflich: »Wenn ich mir Tenny einen Moment ausborgen kann, Bertha, es gibt da noch ein paar Dinge in letzter Minute, die wir zu klären haben...« Draußen auf dem Flur ging sie in Boxer Stellung, Kopf an Kopf. »Sie Dummkopf«, zischte sie. Speichelspritzer wie Schlangengift fraßen Löcher in meine Wangen.

Ich versuchte, mich zu verteidigen. »Sie hat damit angefangen! Sie hat gesagt...«

»Ich habe gehört, was sie gesagt hat, und der ganze verdammte Saal hat gehört, was Sie gesagt haben! Jesus, Tarb!« Sie hatte meine Schulter losgelassen, und jetzt blickte sie drein, als wollte sie mich statt dessen am Hals packen.

Ich wich zurück. »Pam, ich weiß, ich hab' mich danebenbenommen, aber ich bin ein bißchen durcheinander. Vergessen Sie nicht, daß mich heute jemand beinahe ermordet hat!«

»Es war ein Unfall. Die Botschaft hat es offiziell als Unfall bezeichnet. Versuchen Sie sich das zu merken. Auf jede andere Weise ergibt es keinen Sinn. Warum würde irgendwer Sie ermorden wollen, wenn Sie auf dem Weg nach Hause sind?« »Nicht mich. Mitzi. Vielleicht befindet sich ein Doppelagent unter den Spionen, die sie angeworben hat, und sie wissen, was sie in Wirklichkeit macht.«

»Tarb.« Diesmal gab es kein Schlangengift und kein Zischen, nicht einmal Zorn. Das hier war nur eine eisige Warnung. Sie sah sich rasch um, um sicherzugehen, daß niemand in der Nähe war. Nun, natürlich hätte ich so etwas nicht sagen sollen, während Veenies im Gebäude waren - das war Regel Nummer Eins. Ich setzte an, etwas zu bemerken, und sie hob die Hand. »Mitsui Ku ist nicht tot«, sagte sie. »Sie wurde operiert. Ich habe sie selbst im Krankenhaus gesehen, vor anderhalb Stunden. Sie hatte das Bewußtsein nocht nicht wiedererlangt, aber die Prognose ist gut. Wenn sie wollten, daß sie stürbe, hätten sie das im Operationssaal bewerkstelligen können, und wir hätten es nie erfahren. Aber das haben sie nicht.« »Trotzdem...«

»Gehen Sie wieder ins Bett, Tarb. Ihre Verletzungen sind ernster, als wir dachten.« Sie ließ nicht zu, daß ich sie unterbrach, sondern wies in Richtung der Privatzimmer. »Sofort. Und ich muß wieder zu meinen Gästen zurück - danach schaue ich bei mir im Büro vorbei, um ein paar Anmerkungen unter einen Leistungsbericht zu setzen. Ihren.« Sie stand da und behielt mich im Auge, bis ich außer Sichtweite war.

Und das war das letzte, was ich von der Missionschefin sah, und beinahe das letzte, was ich für eine ganze Weile - zwei Jahre und ein bißchen - von überhaupt irgend etwas sah, denn am nächsten Morgen wurde ich von zwei Botschaftswachen aus dem Bett gescheucht, in einen Wagen gepackt, zum Raumhafen verfrachtet und in ein Shuttle verladen. Nach drei Stunden war ich in der Umlaufbahn. Nach dreieinhalb Stunden lag ich in einem Gefrierkokon und wartete darauf, daß die Schlafdroge mich das Bewußtsein verlieren ließ. Das Raumschiff würde seinen Hauptantrieb erst in neun weiteren Umkreisungen - mehr als einem halben Tag - zünden, aber der Botschafter hatte Order gegeben, dafür zu sorgen, daß ich aus dem Weg geschafft wurde. Und dafür sorgten sie.

Das nächste, was ich wußte, war, daß ich bei lebendigem Leibe von Feuerameisen aufgefressen wurde, jenes unerträgliche der-Arm-ist-eingeschlafen-Gefühl, das man kriegt, wenn man anfangs auftaut. Ich war immer noch in dem Kokon, aber ich trug einen elektrisch beheizten, hautengen Anzug, der nur meine Augen freiließ, und über mich beugte sich jemand, den ich kannte. »Hallo, Tenn«, sagte Mitzi Ku. »Überrascht, mich zu sehen?«

Und ob ich das war. Ich sagte es ihr auch, aber ich bezweifle, daß es mir gelang, auszudrücken, wie überrascht ich war, denn der letzte Gedanke, an den ich mich noch erinnerte, unmittelbar bevor der wirbelnde Mahlstrom der Schläfrigkeit mich umfangen hatte, war wehmütiges Bedauern darüber, daß ich meinen letzten Abschiedsauftritt in Mitzis Bett nicht gehabt hatte und höchstwahrscheinlich auch nie die Gelegenheit bekommen würde, ihn nachzuholen.

Ihr Aussehen verblüffte mich. Das halbe Gesicht war bandagiert, nur Mund und Kinn lagen frei, dazu kamen zwei kleine Schlitze für die Augen. Klar, eigentlich war das ganz normal.

Wenn man eingefroren ist, findet kein Heilungsprozeß statt. Effektiv war Mitzi nur ein paar Tage wieder aus dem Krankenhaus. »Bist du in Ordnung?« fragte ich.

Sie sagte scharf: »Klar bin ich das. Mir geht's prima! Ich meine«, schränkte sie ein, »mir wird es noch für Wochen nicht toll gehen, aber wenigstens bin ich nur noch ambulant. Wie du siehst...« Sie grinste. Wenigstens glaube ich, daß sie grinste. »Als die Ärzte sagten, ich könne das Hospital verlassen, entschied ich mich, daß die Venus mich zum letzten Mal gesehen hatte. Also zerriß ich meine Weiterverpflichtungspapiere, und sie brachten mich auf dem letzten Shuttle unter. Ich blieb eine Weile uneingefroren, bis sie die Fäden ziehen konnten - und da bin ich!«

Das Brennen war auf beinahe erträgliche Stärke zurückgegangen. Die Welt sah plötzlich vielversprechender aus, und ich begann, mich aus dem Heizanzug zu schälen. Mitzi nickte. »So ist's recht, Tenn! Wir landen in neunzig Minuten auf dem Mond - besser, du ziehst dir die Hosen an!«

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