Tarb im Fegefeuer

I

Als ich zu Taunton, Gatchweiler & Schocken ging, um zu fragen, ob ich meinen alten Job zurückhaben könnte, befürchtete ich, daß Val Dambois mich nicht einmal empfangen würde. Darin lag ich falsch. Er empfing mich. Er freute sich sogar. Er lachte während des ganzen Gesprächs. »Sie armer Narr«, sagte er, »Sie ames, zitterndes, demoralisiertes Wrack. Was läßt Sie glauben, daß wir Pedicab-Strampler dringend genug brauchen, um Sie zu nehmen?«

Ich sagte: »Mein Kündigungsschutz...«

»Ihr Kündigungsschutz, Tarb«, sagte er vergnüglich, »ist mit Ihrer unehrenhaften Entlassung erloschen. Aufgrund einer schwerwiegenden Verfehlung, wie es juristisch heißt. Verschwinden Sie. Oder noch besser, bringen Sie sich um.« Und als ich die dreiundvierzig Treppenfluchten zum Hinterausgang hinuntermarschierte - Dambois hatte es nicht für angebracht gehalten, mir einen Liftpaß auszustellen -, fragte ich mich, wie lange es dauern würde, bis das eine logische Möglichkeit war.

Es gab manches, was dafür sprach, daß es genau das war, was ich jetzt schon tat, denn bei meiner abschließenden Entlassungsuntersuchung aus der Armee hatte die Ärztin ihre Skalen und Meßgeräte mit zunehmend besorgtem Blick abgelesen, bis sie schließlich mit einem Knopfdruck meine Entlassungspapiere auf den Schirm holte und sah, daß ich ein UE war. »Na ja«, meinte sie daraufhin, »ich nehme an, es ist wohl egal. Aber ich würde sagen, Sie sind auf dem besten Wege zu einem vollständigen körperlichen und seelischen Zusammenbruch innerhalb der nächsten sechs Monate.« Und sie schrieb in großen roten Buchstaben über die lange Liste meiner verfallenden körperlichen Eigenschaften "Nicht dienstbedingt", so daß sich wahrscheinlich nicht einmal die Veteranenbehörde dafür interessieren würde, was aus Tennison Tarb wurde. Würde Mitzi das? Mein Stolz hielt mich davon ab, zu fragen - fünf Tage lang. Dann schickte ich ihr eine Nachricht, heiter und positiv, wie war's mit einem Drink um der alten Zeiten willen? Die beantwortete sie nicht. Sie beantwortete auch nicht die wenigen heiteren und alles andere als positiven Nachrichten des zehnten Tages, des zwölften, des fünfzehnten...

Tennison Tarb hatte keine Freunde mehr, schien es.

Tennison Tarb hatte auch nicht mehr gerade besonders viel Geld. Unehrenhafte Entlassung schloß den Verlust aller Bezüge und gewährten Zuwendungen ein, was unter anderem bedeutete, daß alle meine Barrechnungen aus dem Offizierskasino in Urumqi an ein Inkassobüro weitergeleitet wurden. Die übrige Welt hatte vergessen, daß ich am Leben war, aber die Kniebrecher hatten keine Schwierigkeiten, mich und das, was von meinem Bankkonto noch übriggeblieben war, aufzuspüren. Als sie mit dem Schuldenbetrag plus Zinsen plus Inkassogebühren plus Steuern - plus Trinkgeld! - denn sie erklärten, daß die Kunden den Eintreibern immer Trinkgeld gaben, und sie schwenkten ihre Hartgummiknüppel, während sie das erklärten -, wieder weggingen, war auch in finanzieller Hinsicht von Tennison Tarb nicht viel mehr übrig als sonst auch.

Und doch hatte ich immer noch meinen hellen, originellen, kreativen Verstand! (Oder war mein Verstand zusammen mit dem Rest von mir so heruntergekommen, daß triviale Einsichten und dumme Ideen brillant erschienen?) Ich las jedesmal die Werbezeit, wenn ich Gelegenheit hatte, einen Omni-V-Kanal zu wählen, während ich in Einstellungssälen auf Vorstellungsgespräche für Jobs wartete, die ich nie bekam. Angesichts mancher Werbefeldzüge nickte ich zustimmend, runzelte angewidert die Stirn bei anderen - ich hätte sie so viel besser machen können!

Aber niemand wollte mir die Chance geben. Es hatte sich herumgesprochen: ich stand auf der Schwarzen Liste.

Sogar die billigste Teilzeitmiete war mehr, als ich mir leisten konnte, also nahm ich eine Schlafstelle bei einer Verbraucherfamilie in Bensonhurst. Sie hatten annonciert, daß sie noch Platz hatten, und der Preis war richtig. Ich machte die lange U-Bahn-Fahrt, fand das Gebäude, stieg die Stufen zum dritten Untergeschoß hinunter und klopfte an die Tür. »Hallo«, sage ich zu der müden, sorgenvoll aussehenden Frau, die aufmachte, »ich bin Tennison Tarb«, und am Ende des Satzes holte ich erst einmal Luft. O Mann, ich hatte vergessen! Ich hatte vergessen, wie Verbraucher lebten, und vor allem hatte ich vergessen, in was sich Verbrauchemahrung im Verdauungstrakt verwandelte. Es ist wahr, strukturiertes pflanzliches Protein ähnelt wohl Fleisch - ist ein bißchen wie Fleisch - wie das ÄchtFlaisch aus den Zellkulturen jedenfalls-, aber selbst wenn sich die Geschmacksknospen täuschen lassen, die Darmflora nicht. Sie weiß, was sie mit dem Zeug machen muß. Es nur ja wieder loswerden - viel davon als Gas. Die beste Art, wie ich die Atmosphäre dieses vorstädtischen Verbraucherhaushalts beschreiben kann, ist, wie wenn Sie in einer Nachbarschaft der untersten Klasse hängengeblieben sind und den Gemeinschaftsabtritt benutzen müssen und es die letzte halbe Stunde vor der morgendlichen oder abendlichen Spülung ist. Nur mußte ich jetzt darin leben.

Sie waren auch gar nicht so recht glücklich darüber, mich zu sehen, denn meine kleine Schultertasche mit Mokebehältern fügte eine neue Sorge zu den Linien im Gesicht der Frau hinzu. Aber sie brauchten das Geld, und ich brauchte den Platz zum Schlafen. »Sie können auch die Mahlzeiten mit uns einnehmen«, sagte sie gastfreundlich, »essen Sie einfach nur mit der Familie, und es wird Sie nicht viel kosten.«

»Vielleicht später«, sagte ich. Sie hatten die Kinder bereits in ihren Krippen über dem Spülstein schlafen gelegt. Mit ihrer Hilfe schob ich die Möbel beiseite, um Platz für meine Schlafmatte zu machen, und als ich einschlief, fand mein heller, origineller, kreativer Verstand sogar noch im Unglück Inspiration. Ein neues Produkt! Antigas-Deodorant, dem Essen beizugeben. Die Chemiker konnten in Null Komma Nichts etwas zusammenbrauen - ob es tatsächlich funktionierte, war natürlich von untergeordneter Bedeutung, nur daß wir ein starkes Thema für eine Werbekampagne und einen guten Markennamen hatten...

Als ich am Morgen aufwachte, stand mir die Kampagne immer noch klar vor Augen, aber etwas war falsch. Wo war der Gestank? Ich roch ihn nicht mehr! Und ich begriff, daß Verbraucher ihren eigenen Duft nicht wahrnehmen.

Natürlich, sagte ich mir, bedeutete das nur, daß man es ihnen sagen mußte. Das ist die höchste Blüte der Werbung - Bedürfnisse nicht nur zu befriedigen, sondern sie zu schaffen.

An diesem Morgen auf dem Weg zur nächsten Stellenagentur lernte ich etwas. Ich lernte, daß brillante Ideen nicht mal einen Schlangenschneuzer wert sind, wenn die falschen Leute sie haben. Damals bei T., G. & S., als ich leichten Zugang zum Büro des Alten und zum Planungskomitee gehabt hatte, hätte sich mein Brainstorming binnen neunzig Tagen in einen Zehn-Millionen-Etat verwandelt. Aber weil ich im U-Bahn-Wagen auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch ausharrte, arbeitslos, fast pleite, ohne mein ganzes Netzwerk von Mitarbeitern und Verbindungen, war es kein Brainstorming. Es war ein Hirngespinst, und je eher ich mit dem Herumphantasieren aufhörte und mich mit meinem neuen Rang im Leben abfand, desto besser, oder jedenfalls desto weniger schlimm, würde es sein.

Aber ach! Stolz oder kein Stolz, wie vermißte ich meine Messinglady, Mitzi Ku.

An diesem Abend traf ich eine Entscheidung. Ich fuhr nicht zum Abendessen zu meiner Verbraucherfamilie zurück. Ich aß überhaupt nicht zu Abend. Ich setzte mich draußen vor Nelson Rockwells Teilzeit-Condo, trank Mokes und wartete darauf, daß er aufwachte. Ein müder alter Mann mit einem Bauchladen mit Kelpy Krisp-Proben tauschte mit mir einen Imbiß gegen eine Moke; ein ekliger Brinks-Streifenbulle scheuchte mich zweimal weiter; tausend hastende Verbraucher gingen mit finsterern Gesichtsausdruck an mir vorbei und ignorierten mich selbst dann, wenn sie über mich stolperten - ich hatte jede Menge Zeit zum Nachdenken und nicht viel Angenehmes, um darüber nachzudenken. Ich war weit von Mitzi Ku weg.

Als zu guter Letzt Rockwell herauskam und mich entdeckte, wie ich gegen den Müllschlucker lehnte, fiel ihm das Kinn herunter - nicht weit, weil es verdrahtet war. Und sein Kopf war mit Verbänden umwickelt; tatsächlich sah er schrecklich aus. »Tenny!« schrie er. »Mensch, gut dich zu sehen! Aber was hast du bloß mit dir gemacht; du siehst schrecklich aus!« Als ich das Kompliment zurückgab, zuckte er betreten die Achseln.

»Ach, nichts Ernstes, bin nur ein bißchen mit meinen Zahlungen in Verzug geraten. Aber was tust du hier draußen? Warum bist du nicht einfach reingekommen und hast mich geweckt?«

Nun, der Grund dafür war eigentlich, daß ich nicht sehen wollte, wer meine Schicht von zehn bis sechs in der Schlafbox übernommen hatte. Ich überging die Frage. »Nels«, sagte ich, »ich möchte dich noch einmal um einen Gefallen bitten. Na ja, eigentlich meine ich den gleichen Gefallen. Würdest du mich noch einmal zu diesem ConsumAnon-Treff mitnehmen?«

Er öffnete zweimal den Mund und schloß ihn zweimal wieder, ohne etwas zu sagen. Das brauchte er auch nicht. Das erste, was er sagen wollte, war, daß ich alleine hingehen könnte, aber das hatte er bereits gesagt. Das zweite, da war ich mir ziemlich sicher, war, daß ich es vielleicht ein bißchen zu spät drangegeben hatte, als daß ConsumAnon mir noch irgendwas helfen würde; vielleicht war ein Krankenhaus jetzt ein besserer Einfall. Beim dritten Versuch ließ der Zensor durch, was er sagen wollte: »Tja, Mensch, Tenny, ich weiß nicht recht. Die Gruppe ist irgendwie zerfallen - es gibt da dieses neue Selbsthilfe-Vorzugsangebot, verstehts du, und viele der Mitglieder fahren jetzt auf Substitution statt auf Abstinenz ab.« Ich hielt den Mund, und mein Gesicht blieb ausdruckslos. »Ach, zum Teufel, Tenny, wofür sind Freunde schließlich da? Klar bringe ich dich hin!« Und diesmal bestand er auf einem Tandem-Pedicab und bestand darauf, die Kulis selbst zu bezahlen.

Schauen Sie, diese Art von Freundlichkeit hatte ich von Nelson Rockwell gar nicht erwartet. Alles, was ich von ihm wollte, war ein kleiner Gefallen, so klein, daß er nicht einmal genau wissen würde, was es war. Rücksichtnahme, Feingefühl, Großzügigkeit - das war mehr, als ich wollte, und mehr, als ich eigentlich annehmen mochte; wenn man mehr Freundlichkeit annimmt, als der Geber sich leisten kann, entsteht eine Schuld, die ich nicht zurückzahlen wollte. Also ließ ich ihn sein Feingefühl an eine unüberwindliche Mauer verschwenden - lächelnd, freundlich, reserviert, beiläufig; und seine Großzügigkeit wies ich ab. Nein, danke. Ich brauchte keinen Zwanziger, bis ich wieder Fuß gefaßt hatte. Nein, wirklich, ich hatte gerade gegessen, und es war nicht nötig, irgendwo auf einen schnellen Sojaburger anzuhalten. Ich gab höfliche, aber abschlägige Antworten auf seine Angebote, und alles, was ich unaufgefordert zum besten gab, waren Kommentare darüber, wie heruntergekommen die Stadtteile waren, durch die wir kamen, oder wie der rechte Kuli mit dem linken Bein humpelte, als sie sich einen nicht einmal steilen Hügel hinaufmühte. (Und dabei fragte ich mich innerlich, ob sie wohl den Job würde aufgeben müssen, und wenn ja, bei wem ich mich um die offene Stelle bewerben mußte.)

Die Kirche war so trostlos wie zuvor, und die Gemeinde weitaus spärlicher; mein kleines Projekt hatte ihre Mitgliederzahl offenbar reduziert. Aber mein Glück hatte mich noch nicht verlassen. Die eine Person, die zu finden ich gehofft hatte, war da. Nach zehn Minuten Ermahnungen von der Kanzel und fieberhaften Abstinenzschwüren der Nulpen entschuldigte ich mich für einen Augenblick, und als ich zurückkam, hatte ich, was ich brauchte.

Alles, was ich danach noch wollte, war, zu verschwinden. Ich brachte es nicht fertig. Ich hatte die Schuld der Höflichkeit Nelson Rockwell gegenüber nicht willentlich auf mich geladen. Aber nun stand sie einmal in den Büchern.

Also blieb ich bis zum schauerlichen, langweiligen Ende da und ließ sogar zu, daß er die Sojaburger kaufte, als es vorbei war. Das war wohl ein Fehler. Es ermutigte ihn, mir erneut Hilfe anzubieten. »Nein, ehrlich, Nels, ich möchte mir kein Geld leihen«, sagte ich, und dann ließ mich etwas hinzufügen: »Besonders, wenn ich nicht weiß, wann ich es zurückzahlen kann.«

»Jau«, sagte er ernst, während er sich Burgersaft von den Fingern leckte. »Gute Jobs sind heutzutage schwer zu kriegen, nehme ich an.« Ich zuckte die Achseln, als bestünde das Problem darin, mich zu entscheiden, welches Angebot ich annehmen sollte. Dabei hatte ich bisher erst eins gehabt. Aufseher in einer Pflegeanstalt für Gehirnausgebrannte, und es war mir nicht schwergefallen, das abzulehnen - wer will schon einem vierzigjährigen Vertragsbruchkriminellen die Windeln wechseln? »Hör mal«, sagte er, »ich könnte dir vielleicht was in der Ösenfabrik besorgen. Natürlich, die Bezahlung ist nicht besonders, ich meine, für jemanden mit deinem Hintergrund...«

Ich lächelte vergebungsvoll. Er wirkte verlegen. »Vermutlich hast du Agenturaussichten, was, Tenny? Diese Freundin von dir. Ich hörte, sie hat jetzt ihre eigene Agentur. Jetzt, wo du bei CA bist und dieses Problem unter Kontrolle kriegst, bist du wohl sehr bald wieder da oben.«

»Natürlich«, sagte ich, während ich zuschaute, wie er die letzte Kruste seiner Sojaburger-Semmel in sein Coffiest tunkte. »Aber fürs erste... Was bezahlen die denn so bei Ösen?«

Und daher hatte ich, als ich auf meinem Weg zurück nach Bensonhurst in die U-Bahn stieg, Hoffnung auf einen Job. Keinen guten Job. Nicht einmal einen passablen Job. Aber den einzigen Job in Sicht.

Im dämmrigen Licht der U-Bahn-Tunnellampen holte ich die flache Plastikschachtel hervor, die ich dem wieselgesichtigen Mann vor der Kirche abgekauft hatte. Der Wind strömte durch mein Haar, und ich öffnete sie vorsichtig. Der Inhalt hatte mich zu viel gekostet, als daß ich hätte zulassen können, daß er weggeblasen wurde.

Mit denen hatte ich das Problem womöglich wirklich unter Kontrolle, dachte ich. Wenigstens eine Zeitlang.

Ich betrachtete die kleine grüne Tablette eine ganze Weile. Es hieß, daß man in sechs Monaten zum Psycho wurde, und in einem Jahr war man tot.

Ich holte tief Luft und schluckte sie rasch hinunter.

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Eine plötzliche Aufwallung. Ein Gefühl der Befreiung. Eine Anwandlung von Wohlbefinden.

Was ich bekam, war sehr wenig. Am besten kann ich es beschreiben, es war wie Novocain am ganzen Körper. Ein schwaches Kribbeln, dann eine totale Abwesenheit von Empfindung. Obwohl ich drei Stunden über meine letzte Moke hinaus war, wollte ich keine.

Aber ach, was war die Welt grau!

»Wir machen Ösen billig«, sagte Mr. Semmelweiss. »Das heißt keinen Ausschuß. Das heißt, wir können uns in dieser Branche nicht mit Leuten abgeben, die dauernd im Tran sind, dafür steht zu viel auf dem Spiel.« Er starrte mißbilligend meine Personalakte an. Von dort, wo ich stand, konnte ich den Schirm nicht sehen, aber ich wußte, was sie aussagte. »Andererseits«, räumte er ein, »ist Rockwell einer meiner besten Männer, und wenn er sagt. Sie sind in Ordnung...«

Also hatte ich den Job. Aus diesem Grunde und aus zwei anderen. Grund Nummer 1: Die Bezahlung war lausig. Bei den Gehirnausgebrannten hätte ich besser mein Auskommen gehabt, finanziell gesprochen, obwohl ich in der Ösenfabrik natürlich nicht meine Fingerspitzen dabei riskieren mußte, die Patienten mit dem Löffel zu füttern. Grund Nummer 2: Es elektristierte Semmelweiss, Besuchern seinen Mitarbeiter aus der Werbebranche zu zeigen. Manchmal, wenn ich volle Kästen wegschleppte und leere an ihre Stelle schob, sah ich ihn im Innern seines verglasten Kabäuschens am Ende der Halle, wie er auf mich deutete. Und lachte. Und die Leute, die bei ihm waren, Kunden oder Aktionäre oder was auch immer, grinsten ungläubig angesichts dessen, was er sagte.

Es machte mir nichts aus.

Nein, das stimmt nicht, es machte mir etwas aus, eine Menge sogar. Aber nicht so viel, daß ich deswegen meinen Job - irgendeinen Job - aufs Spiel gesetzt hätte, bis ich einen Weg finden konnte, in mein altes Leben zurückzukehren. Die kleinen grünen Pillen waren vielleicht ein erster Schritt. Vielleicht. Zugegeben, ich soff keine Mokes mehr. Aber das war auch alles, was sich sagen ließ. Ich legte weder Gewicht zu, noch wurde ich diese Flitzebogenspannung los, die meine Finger zucken lassen wollte und bewirkte, daß ich mich auf meiner Schlafmatte herumwarf und -drehte, bis ich manchmal einen der Kurzen aufweckte und die Eltern mich anfunkelten und vor sich hin murrten. Aber das meiste davon war innerlich, wo es sich nicht zeigte, und mein Verstand war geschäftiger, flinker denn je. Ich erfand grandiose Slogans, Kampagnen, Produktgruppen, Promotions. Eine nach der anderen klapperte ich die Liste der Agenturen ab, schickte ihnen Lebensläufe, bettelte um Gespräche, rief Personalchefs an. Die Lebensläufe bewirkten keine Antworten. Auf Anrufe hin wurde eingehängt. Die Besuche endeten, wenn man mich hinauswarf. Ich probierte es bei allen, den großen und den kleinen. Bei allen außer einer.

Ich war dicht davor. Ich kam bis zum Bürgersteig vor dem eher unauffälligen kleinen Gebäude in der Nähe des alten Lincoln Center, das die brandneue Agentur Haseldyne & Ku beherbergte...

Aber ich ging nicht hinein.

Ich weiß nicht, was mich weitermachen ließ, denn es war bestimmt nicht Ehrgeiz, und es war ganz bestimmt nicht die Tatsache, daß mein Leben so lebenswert war. Die graue Taubheit hielt Schmerz und Verlangen außen vor, aber sie wirkte ebenso gut gegen Vergnügen und Freunde. Ich schlief. Ich aß. Ich arbeitete an meinen Lebensläufen und Bänden mit Arbeitsproben. Ich riß meinen Job in der Ösenfabrik ab. Ein Tag folgte auf den anderen.

An der Ösenfabrik war bestimmt nichts Anregendes. Die Arbeit war öde, und die Branche schien in den letzten Zügen zu liegen. Wir sahen nie das fertige Produkt. Wir warfen die Ösen aus, und sie wurden nach Orten wie Kalkutta und Kampuchea verschifft, um dazu gebraucht zu werden, wozu auch immer sie gebraucht wurden - es war billiger für die Inder und Kampucheaner, von uns zu kaufen, als sie am Ort herzustellen, aber nicht viel billiger, also florierte das Geschäft nicht. In der ersten Woche, die ich da war, machten sie die Drahtplastik-Abteilung dicht, obwohl stranggepreßtes Aluminium und schmelzlackiertes Messing immer noch ganz gut liefen. In den oberen Etagen der Fabrik gab es jede Menge ungenutzten Raums, und wenn nicht viel zu tun war, stöberte ich dort herum. Man konnte in der Stratigraphie der alten Fabrik die Geschichte der Branche geschrieben sehen. Bolzenlöcher im Boden, wo einmal die Ein-Mann-Stanzpressen gestanden hatten... überlagert von den Narben der Hochgeschwindigkeits-Strangpressen-Straßen... begraben unter den Spuren der mikroprozessorgesteuerten Maßfertigungsmaschinen... und nun wieder überholt von der Ein-Mann-Stanzpresse. Und ganz mit Staub, Rost und Schimmel bedeckt. Es gab Lampen im oberen Stockwerk, aber als ich den Schalter betätigte, gingen nur eine Handvoll an, alte Leuchtstoffröhren, von denen die meisten wild flackerten. Ein Heer von Treppenschläfern hätte hier ein Zuhause finden können, aber Mr. Semmelweiss jagte dem Hirngespinst von »wünschenswerteren« Mietern nach... oder der noch phantastischeren Hoffnung, daß irgendwann Ösen wieder einen Boom erleben würden und die ganze Fabrik wieder emsig sein würde.

Hirngespinste, höhnte ich - neidisch, weil die kleinen grünen Pillen nicht nur meinen Mokehunger weggenommen, sondern auch ein Loch in meine eigenen Träume gepiekst hatten. Es ist schrecklich, am Morgen aufzuwachen und festzustellen, daß der gerade heraufgedämmerte Tag auch nicht besser als der vorige sein wird.


II

Was führte die Veränderung herbei? Ich weiß es nicht. Nichts wahrscheinlich. Ich traf keinen Entschluß, klärte keine unbeantwortbaren Fragen. Aber eines Morgens stand ich in aller Hergottsfrühe auf, stieg in einer anderen U-Bahn-Station um, stieg aus, wo ich sehr, sehr lange nicht mehr gewesen war, und fand mich bei Mitzis Apartmentgebäude ein.

Das Türding öffnete sein Maul, um meine Fingerspitzen zu beschnüffeln und meine Handflächenabdrücke zu lesen. Mittlerer Erfolg. Es ließ mich nicht ein, aber es schlug auch nicht zu, um mich festzuhalten, bis die Bullen kamen. Binnen einer Minute erschien Mitzis schläfriges Gesicht auf dem Schirm. »Du bist es wirklich«, sagte sie, dachte einen Augenblick nach und fügte dann hinzu: »Du kannst genausogut raufkommen.«

Die Tür öffnete sich lange genug, daß ich mich hindurchquetschen konnte, und den ganzen Weg nach oben auf dem Festhaltelift versuchte ich, herauszufinden, was an der Art, wie sie ausgesehen hatte, merkwürdig gewesen war. Haare verwuschelt? Sicher, aber offenbar hatte ich sie direkt aus dem Bett geholt. Gesichtsausdruck komisch? Vielleicht. Es war ganz eindeutig nicht das Aussehen von jemandem, der froh war, mich zu sehen.

Ich schob diese Frage in den Winkel meines Verstandes, wo der wachsende Berg unbeantworteter Fragen und unaufgelöster Zweifel weggeschlossen war. Bis sie mich in ihre eigene Wohnung einließ, hatte sie sich das Gesicht gewaschen und ein Tuch über die Haare geworfen. Der einzige Ausdruck, den sie zeigte, war höfliche Neugier. Höfliche distanzierte Neugier. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin«, sagte ich, »außer, daß ich wirklich nicht wüßte, wo ich sonst hingehen sollte.« Ich hatte nicht geplant, das zu sagen. Ich hatte eigentlich überhaupt nichts geplant, aber als die Worte aus meinem Mund kamen und ich sie hörte, erkannte ich sie als wahr.

Sie schaute meine leeren Hände und meine nicht ausgebeulten Taschen an. »Ich habe keine Mokes hier, Tenny.«

Ich wischte das weg. »Ich trinke keine Mokes mehr. Nein, ich bin nicht davon losgekommen; ich bin bloß auf Ersatz.«

Sie wirkte schockiert. »Pillen, Tenny? Kein Wunder, daß du so schrecklich aussiehst.«

Ich sagte ruhig: »Mitzi, ich bin nicht wütend, und ich glaube nicht, daß du mir irgend etwas schuldest, aber ich dachte, du würdest mich anhören. Ich brauche einen Job. Einen Job, der meine Fähigkeiten verlangt, denn das, was ich jetzt mache, ist dem Totsein so ähnlich, daß ich eines Morgens ganz einfach nicht mehr aufwachen werde, weil ich nicht mehr in der Lage bin, den Unterschied zu erkennen. Ich stehe auf der Schwarzen Liste, das weißt du. Das ist nicht deine Schuld; das will ich damit nicht sagen. Aber du bist meine einzige Hoffnung.«

»Ach, Tenny«, sagte sie. Das Höfliche-Neugier-Gesicht ging entzwei, und einen Augenblick lang dachte ich, sie würde gleich weinen. »Ach, verdammt, Tenny«, sagte sie. »Komm in die Küche und frühstücke.«

Selbst wenn die Welt grau in grau ist, selbst wenn die Umstände auf so verrückte Art anders sind als alles, was du je zuvor getan hast, daß ein Teil deines Verstandes in verwirrten Kreisen seinen Schwanz jagt, helfen dir deine Gewohnheiten und deine Ausbildung weiter. Ich sah zu, wie Mitzi Orangen auspreßte (richtige Obst-Orangen! Sie auspreßte!) des Saftes wegen und Kaffeebohnen (richtige Kaffeebohnen!) mahlte, um Kaffee zu machen, und die ganze Zeit über redete ich so selbstsicher und nachdrücklich auf sie ein, wie ich es nur je beim Alten getan hatte, wenn ich ihm eine Idee verkaufen wollte. »Produktwerbung, Mitzi«, sagte ich. »Darin bin ich gut,

und ich habe große neue Produktkampagnen ausgearbeitet. Wie wär's zum Beispiel mit der: Ist dir je aufgefallen, daß es erhebliche Mühe macht, Einweg-Zellstofftücher, -Rasierapparate, -Kämme, -Zahnbürsten zu verwenden? Du mußt immer einen Vorrat davon zur Hand haben. Wenn du hingegen etwas Permanentes hättest...«

Sie runzelte die Stirn, so daß die Falten sehr tief und sehr auffällig wurden. »Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst, Tenny.«

»Einen permanenten Ersatz für, sagen wir, Einweg-Zellstofftücher. Ich habe Nachforschungen angestellt; früher nannte man das Taschentücher. Ein Luxusgegenstand, verstehst du das nicht? Teuer wegen des damit verbundenen Prestiges.«

Sie sagte zweifelnd: »Es gibt aber doch kein Wiederholungsgeschäft, oder? Ich meine, wenn sie permanent sind...«

Ich schüttelte den Kopf, "»Permanent" heißt doch nur so lange, wie der Verbraucher es behalten will. Der Schlüssel ist die Mode. Im ersten Jahr verkaufen wir viereckige. Im Jahr darauf vielleicht dreieckige - dann in verschiedenen Mustern, Drucken, Farben, vielleicht mit Spitzenbesatz; die Zahlen sagen aus, daß darin ein größerer Profit steckt als in Einwegwaren.«

»Nicht schlecht, Tenny«, gestand sie, während sie eine Tasse dieses eigenartigen Kaffees vor mich hinstellte. Tatsächlich schmeckte er gar nicht mal so übel.

»Das ist nur eine kleine«, sagte ich und schluckte mein erstes Schlückchen hinunter. »Ich habe große. Sehr große. Val Dambois hat versucht, mir meine Selbsthilfe-Ersatzgruppen zu stehlen, aber er hat nur einen Teil davon gekriegt.«

»Gibt's denn noch mehr?« frage sie mit einem raschen Blick auf ihre Uhr.

»Mehr? Worauf du dich verlassen kannst! Man hat es mich nie zu Ende ausarbeiten lassen. Schau, nachdem die Gruppen gebildet sind, geht jedes Mitglied los und treibt weitere Mitglieder auf. Er bekommt eine Provision für die neuen. Du wirbst zehn neue Mitglieder zu fünfzig Dollar jährlich pro Person, und du bekommst eine Provision von zehn Prozent für jeden - das bezahlt deinen Mitgliedsbeitrag.«

Sie schürzte die Lippen. »Ich vermute, das ist ein guter Weg, um zu expandieren.«

»Nicht nur, um zu expandieren! Wie rekrutiert man diese neuen Mitglieder? Du veranstaltest eine Party in deinem Condo. Lädst deine Freunde ein. Gibst ihnen zu essen und zu trinken und Partygeschenke - und wir verkaufen ihnen die Geschenke. Und dann -« ich holte tief Luft - »das Allerschönste: Das Mitglied, das neue Mitglieder anwirbt, wird befördert. Es wird Gruppenleiter, und das bedeutet, daß sein Beitrag auf fünfundsiebzig pro Jahr ansteigt. Bei zwanzig Mitgliedern wird es Sektionsleiter - Beitrag hundert. Bei dreißig ist es ein, ich weiß nicht, Erhabener Gruppengroßmeister der Thetaklasse oder so etwas. Verstehst du, wir bleiben ihnen immer einen Schritt voraus. Egal, mit wie vielen Mitgliedschaften er also hausieren geht, er bezahlt immer die Hälfte davon zurück -und wir verkaufen ihm ständig neue Waren.«

Ich lehnte mich mit meinen Kaffee zurück und beobachtete ihren Gesichtsausdruck. Was immer das auch für ein Ausdruck war. Ich hatte geglaubt, es konnte Bewunderung sein, aber sicher vermochte ich das nicht zu sagen. »Tenny«, seufzte sie, »du bist verdammt noch mal durch und durch ein waschechter Werbefritze.«

Und das durchbrach die wohltrainierten Reflexe. Ich stellte die Kaffeetasse so hart ab, daß etwas von dem Kaffee auf die Untertasse überschwappte. Erneut lauschte ich den Worten die aus meinen Mund kamen, und obwohl ich nicht geplant hatte, sie zu sagen, erkannte ich sie als wahr. »Nein«, sagte ich »das bin ich nicht. So weit ich sagen kann, bin ich überhaupt kein waschechter Irgendwas. Der Grund, warum ich ins Werbegeschäft zurück möchte, ist, daß ich ein Gefühl habe, als sollte ich das wollen. Was ich wirklich will, bist nur...«

Und da hielt ich inne, weil ich Angst hatte, den Satz mit dem Wort »du« zu beenden... Und weil das andere, was ich bemerkte, war, daß meine Stimme zitterte.

»Ich wünschte«, sagte ich verzweifelt und dachte einen Augenblick lang nach, bevor ich fortfuhr: »Ich wünschte, dies wäre eine andere Welt.«

Nun, was, nehmen Sie an, meinte ich damit? Das ist keine rhetorische Frage. Ich wußte damals die Antwort darauf nicht und weiß sie auch jetzt noch nicht; mein Herz sagte etwas, über das mein Kopf noch gar nicht nachgedacht hatte. Vermutlich ist die Bedeutung der Frage nicht so wichtig. Das Gefühl war es, was zählte, und ich konnte sehen, daß es zu Mitzi durchgedrungen war. »Ach, verdammt, Tenny«, sagte sie und senkte die Augen.

Als sie sie wieder hob, blickte sie mich einen Augenblick lang forschend an, bevor sie sprach: »Weißt du«, sagte sie - merkwürdig, aber ebensosehr zu sich selbst, dachte ich, wie zu mir: »daß ich deinetwegen nachts wachliege?«

Verblüfft setzte ich an: »Ich hatte keine Ahnung...« Aber sie fuhr rasch fort.

»Es ist närrisch«, sagte sie nachdenklich. »Du bist ein Werbefritze. Sicher, du bist jetzt ganz unten, und du denkst Sachen, die du dir vor ein paar Wochen noch nicht zu denken erlaubt hättest. Aber du bist ein Werbefritze.«

Ich sagte - nicht streitlustig, sondern nur, um meine Sicht der Dinge klarzustellen: »Ich bin ein Werbefachmann, ja.« Es sah ihr gar nicht ähnlich, diese Art von Sprache zu gebrauchen.

Sie hätte es genausogut nicht gehört haben können. »Als ich noch ein kleines Mädchen war, sagte mir Daddy-San immer, ich würde mich verlieben und ich würde nicht anders können, und das beste und einzige, was ich machen könnte, sei, mich von der Sorte Mann fernzuhalten, bei der ich nicht anders könnte. Ich wünschte, ich hätte auf Daddy-San gehört.«

Mein Herz schwoll in mir. Heiser rief ich: »O Mitzi!« Und griff nach ihr. Berührte sie aber nicht. Mühelos, ohne sich ein bißchen zu beeilen, stand sie auf, gerade schnell genug, daß meine hinlangenden Hände sie verfehlten, und wich zurück. »Bleib da, Tenny«, befahl sie ruhig und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Die Tür glitt hinter ihr ins Schloß. Einen Augenblick später begann die Dusche zu laufen, und da saß ich nun, studierte Mitzis komische Vorstellung von Inneneinrichtung und versuchte zu verstehen, was irgend jemand an dem Bild von der Venus an der Wand finden mochte - versuchte, einen Sinn in dem zu entdecken, was sie gesagt hatte.

Sie ließ mir eine Menge Zeit dazu. Trotzdem gelang es mir nicht, und als sie herauskam, war sie vollständig angezogen, ihr Haar war ordentlich, ihr Gesicht war ruhig und gelassen, und sie war jemand vollkommen anderes. »Tenny«, sagte sie direkt, »hör mir zu. Ich glaube, ich bin verrückt, und ich bin mir sicher, daß ich deswegen Schwierigkeiten bekommen werde. Aber trotzdem, drei Dinge:

Erstens bin ich nicht an deinen Produktideen oder deinem ConsumAnon-Schwindel interessiert. Das ist nicht die Art von Agentur, die ich betreibe.

Zweitens kann ich derzeit nicht das geringste für dich tun. Vielleicht sollte ich es nicht einmal, wenn ich könnte. Vielleicht komme ich in ein oder zwei Tagen zu Sinnen und will dich überhaupt nicht mehr sehen. Aber im Augenblick ist kein Platz für einen weiteren Werbefachmann in unserem Büro - und auch keine Zeit dafür in meinem Leben.

Drittens -« sie zögerte, zuckte dann die Achseln - »drittens könnte es später einmal etwas geben, worüber wir uns unterhalten könnten. Immaterielle Aktiva, Tenny. Politisch. Ein besonderes Projekt. So geheim, daß ich nicht einmal sagen sollte, daß es existiert. Vielleicht wird es das nie. Vor allem dann nicht, wenn wir nicht eine Menge Dinge auf die Reihe kriegen - wir brauchen sogar noch einen Ort, um es unterzubringen, außer Sicht, weil es wirklich geheim ist. Selbst dann werden wir vielleicht entscheiden, daß die Zeit noch nicht reif ist und wir jetzt sowieso noch nicht damit anfangen sollten. Hörst du, wie unsicher das alles ist, Tenn? Aber wenn es dazu kommt, dann kann ich vielleicht, nur vielleicht, einen Platz für dich darin finden. Ruf mich in einer Woche an.«

Sie schritt forsch auf mich zu. Mein Herz in den Augen, griff ich nach ihr, aber sie machte einen Ausweichschritt zur Seite, beugte sich vor, um mich keusch und bestimmt auf die Wange zu küssen, und ging dann zur Tür. »Komm nicht mit mir«, befahl sie. »Warte zehn Minuten, dann geh.«

Und fort war sie.

Obwohl jene kleinen, flachen grünen Tabletten meine Gedanken zu klären schienen, machten sie das, was ich über Mitzi zu denken versuchte, nicht im geringsten klar. Ich ließ noch einmal jedes Wort unserer Unterhaltung im Geiste Revue passieren, als ich mich auf meiner Schlafmatte herumwarf, während im selben Zimmer die Babys wimmerten und die Eltern schnarchten oder leise miteinander stritten. Ich konnte keinen Sinn darin erkennen. Ich konnte nicht rauskriegen, was Mitzi für mich emfpand (oh, sie hatte das Wort »Liebe« nur nicht ausgesprochen - aber bestimmt hatte sie nicht so gehandelt!). Ich konnte die Mitzi, die ich so zwanglos und intim auf der Venus gekannt hatte und deren einzige Geheimnisse solche der Agentur gewesen waren, nicht mit der zunehmend geheimnisvollen und unberechenbaren auf der Erde in Einklang bringen. Ich konnte gar nichts verstehen - außer einer Sache, die in meinem Gedächtnis widerhallte. Und so beendete ich meine Schicht in der Ösenfabrik, säuberte mich gründlich, kämmte mir die Haare und fand mich in dem Glaskabäuschen am Ende der Halle ein. Semmelweiss war nicht allein. Der Mann bei ihm hielt sich wenigstens einmal in der Woche dort auf; manchmal blieb er für Stunden, ging mit ihm zum Mittagessen und kam mit diesem Drei-Martini-Torkeln zurück. Ich wußte, worüber sie sich unterhielten: nichts. Ich hustete von der Tür her und sagte: »Entschuldigen Sie, Mr. Semmelweiss.«

Er bedachte mich mit einem gereizten Können-Sie-nicht-sehen-daß-ich-gerade-in-einer-Konfererenz-bin Knurren: »In einer Minute, Tarb!« Und wandte sich wieder seinem Freund zu. Die Konferenz drehte sich um ihre PedKWs:

»Beschleunigung? Hör mal, ich hatte einen alten Ford mit Außenabstoßung, mein erster PedKW überhaupt, aus zweiter Hand, eine echte Gurke - aber wenn ich an der Ampel wartete, mußte ich nur den rechten Fuß rausstrecken und wusch! hatte ich die Pedicabs und alle abgehängt!«

Ich hustete erneut. Semmelweiss richtete einen verzweifelten Blick gen Himmel und wandte sich dann an mich: »Warum sind Sie nicht an Ihrer Maschine, Tarb?«

»Meine Schicht ist vorbei, Mr. Semmelweiss. Ich wollte Sie bloß etwas fragen.«

»Tja«, sagte er, indem er seinem Freund einen raschen Blick zuwarf, die Augenbrauen voller Verachtung hochgezogen - Verachtung für mich, der ich einmal ein batteriegetriebenes Fahrrad besessen hatte. Aber er sagte: »Was zum Teufel gibt des denn?«

»Es ist wegen des ungenutzten Raumes, Mr. Semmelweiss.

Ich glaube, ich weiß jemanden, der ihn vielleicht mieten würde. Eine Agentur.«

Die Augen traten ihm aus den Höhlen. »Verdammt, Tarb! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Und dann war plötzlich alles in Ordnung. Es war in Ordnung, daß ich Mitzi und Haseldyne den Raum zeigte. Es war in Ordnung, daß ich den nächsten Tag frei nahm, um sie herzubringen. Es war in Ordnung, ihn zu unterbrechen, zum Teufel, Tarb, sicher doch, jederzeit! Alles in der Welt war in Ordnung... außer vielleicht mir und all den Sorgen und Ängsten und Verwirrungen, die ich nicht einmal benennen konnte.


III

Als ich Mitzi endlich ans Telefon bekam, war sie sehr reizbar, ganz so, als sei sie wütend auf sich selbst, weil sie mich überhaupt ermutigt hatte - und genau das, da war ich mir sicher, war der Fall. Sie machte Einwände und zögerte, aber schließlich gab sie zu, ja, sie hätte gesagt, daß sie Raum für ein Versteck brauchten. Sie würde sich jedoch mit Des Haseldyne besprechen müssen.

Aber als ich sie auf ihre Anweisung hin zehn Minuten später zurückrief, sagte sie: »Wir werden da sein.« Und das waren sie auch.

Als ich sie auf dem schmutzigen Bürgersteig vor der Ösenfabrik traf, sah Haseldyne weitaus gereizter aus, als Mitzi geklungen hatte. Ich streckte die Hand aus. »Hallo, Des«, sagte ich höflich.

Unhöflich ignorierte er meine Hand. »Sie sehen schrecklich aus«, meinte er ohne Mitgefühl. »Wo ist dieses Rattenloch, das Sie uns anzudrehen versuchen?«

»Hier entlang, bitte«, sagte ich wie ein Platzanweiser und komplimentierte sie hinein. Ich riet ihnen nicht, auf den Schmutz achtzugeben. Sie konnten den Schmutz selber sehen. Ich entschuldigte mich nicht für ihn oder für den hustenden, bellenden, manchmal maschinengewehrartigen Lärm der Maschinen, die ihre Millionen Ösen in der Stunde ausspuckten; oder für Semmelweiss, der uns aus seinem Kabäuschen schmierig zuwinkte; oder für die Gerüche; oder für die Umgebung. Oder für irgend etwas. Es war ihre Entscheidung. Ich würde nicht betteln.

Nachdem wir erst einmal im Obergeschoß waren, wurde es sowieso ein bißchen besser. Diese uralten Gebäude waren solide gebaut; man konnte die Maschinen unten hören, aber nur als fernes, nicht einmal unangenehmes Murmeln. Die Lampen flackerten immer noch wie wild, und der Staub ließ Mitzi schniefen und niesen. Aber sie schienen es nicht zu bemerken. Sie waren mehr interessiert an der Hintertreppe und dem Frachtaufzug und all den unbenutzten, "Ausgang" gekennzeichneten Rattenlöchern, die seit Jahrzehnten niemand mehr geöffnet hatte. »Reichlich Wege rein und raus jedenfalls«, sagte Desmond ungnädig. Ich nickte, aber in Wirklichkeit hatte ich ihn gar nicht gehört. Ich trieb in meinem eigenen Kopf umher. Jetzt, da Mitzi mit mir im selben Raum war, schien ich weiter von ihr entfernt zu sein als je zuvor. Vermutlich war ich einfach nur mit den Nerven fix und fertig. Die Pillen waren nicht ohne ihren Preis, und obwohl sich mein Gewichtsverlust verlangsamt hatte, hatte er doch nicht aufgehört, und meine Schlaflosigkeit hatte ebenfalls nicht geendet. Trotzdem war etwas sehr Merkwürdiges...

»Tarb!« rief Haseldyne mürrisch. »Sie werden uns doch nicht etwa einnicken? Ich fragte Sie nach den Verkehrsverbindungen.«

»Verkehrsverbindungen?« Ich zählte an den Fingern ab. »Mal schauen, da wären zwei U-Bahn-Linien, alle Nord-Süd-Busse, die quer durch die Stadt fahrenden Busse, der quer durch die Stadt führende Pedistrip. Und Pedicabs natürlich.«

»Und die Stromversorgung?« warf Mitzi niesend ein.

»Klar gibt es Strom. So treiben sie nämlich die Ösenmaschinen an«, erklärte ich.

»Nein, verdammt, ich meinte, ist sie zuverlässig? Keine Unterbrechungen?«

Ich zuckte die Achseln. Ich hatte noch keine bemerkt. »Ich vermute nicht«, sagte ich.

Ich hatte nicht gemerkt, daß sie nervöser war als ich. »Du vermutest?« explodierte sie. »Gott, Tenny, selbst für einen Moke-Kopf bist du - ha, ha - bist du ziemlich blöd - ha...« Als das tschi kam, war es gewaltig. Sie schlug die Hände vors Gesicht. »O verdammt«, knurrte sie. Auf Händen und Knien auf dem staubigen Fußboden herumsuchend, blickte sie grimmig auf, und eines von Mitzis blauen Augen war braun.

Wäre ich nicht ein Moke-Kopf gewesen, hätte ich es vermutlich schon lange vorher kapiert. Salat zu essen. Kontaktlinsen, um ihre Augenfarbe zu verbergen. Der Mutter auszuweichen, die verzweifelt ihre Tochter zu sehen wünschte. Mich einen »Werbefritzen« zu nennen, als sie wütend wurde. Ein Dutzend verschiedener Ungereimtheiten.

Und nur eine Erklärung, die für sie alle paßte.

Wäre ich nicht zuerst ein Moke-Kopf gewesen, dann ein Pillenschlucker, hätte ich vermutlich auch auf völlig andere Art reagiert. Die Bullen gerufen, nehme ich an. Oder es wenigstens versucht, obwohl mir das leicht das Leben hätte kosten können. Aber ich war durch die Mangel gedreht worden. Was sie tat, mochte fürchterlich falsch sein. Aber mir war nichts mehr übriggeblieben, von dem ich sicher war, daß es richtig war.

Ich schien alle Zeit der Welt zu haben. Ich zog meinen Notizblock aus der Tasche, schrieb rasch, riß dann die Seite heraus und faltete sie zusammen. »Mitzi«, sagte ich, indem ich vortrat, ohne auf ihre verlorengegangene Kontaktlinse zu achten, »du bist gar nicht Mitzi, oder?«

Standbild. Sie starrte zu mir hoch, mit einem braunen und einem blauen Auge.

»Du bist eine Schwindlerin, nicht wahr?« fragte ich. »Eine Veenie-Agentin. Ein Double für die echte Mitzi Ku.«

Und Haseldyne ließ einen langen, langsamen Atexnzug entweichen. Ich konnte spüren, wie er sich auf mich zubewegte, sich zum Handeln anspannend. »Lesen Sie das!« sagte ich und drängte ihm den Zettel in die Hand.

Beinahe wäre er nicht stehengeblieben, aber dann warf er einen flüchtigen Blick darauf, runzelte die Stirn, schaute verblüfft drein und las ihn laut vor:

"»An alle, die es angeht; ich kann das Leben als Süchtiger nicht länger ertragen. Selbstmord ist der einzige Ausweg." Unterschrieben Tennison Tarb. Was zum Teufel soll das, Tarb?«

Ich sagte: »Benutzen Sie es, wenn Sie mich loswerden wollen. Oder lassen Sie mich Ihnen helfen. Ich werde so gut helfen, wie ich es vermag, auf jede Art, die ich vermag, was immer Sie auch vorhaben. Mir ist egal, was es ist. Ich weiß. Sie sind Veenies. Es macht nichts.«

Und ich fügte hinzu: »Bitte.«

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