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Sobald außerhalb der Stadt ein Kuppelzelt errichtet und alle für einen längeren Aufenthalt nötigen Geräte und Versorgungseinrichtungen installiert waren, machten sich Ridenour und seine wissenschaftlichen Assistenten an die Arbeit. Flandry dagegen sah sich auf einmal ohne Beschäftigung. Zuerst hoffte er mit den vier Marinesoldaten auf baldige Rückberufung ins Hauptquartier, aber dann, als er seine Umgebung ein wenig besser kennenlernte, begann er seinen Aufenthalt zu genießen.

Für die Seebewohner waren die Menschen genauso interessant wie sie für die Menschen. Ridenour und seine Leute verbrachten den größten Teil ihrer Zeit im Tempel des Himmels, wo sie endlose Gespräche mit den Herrschern der sechs Städte führten. Flandry und seine wenig beschäftigten Gefährten waren oft viele Stunden lang sich selbst überlassen. Weil niemand von ihnen die Sprache der Einheimischen beherrschte, wurde Isinglas zu ihrem Fremdenführer und Dolmetscher. Isinglas verfügte über einige Kenntnisse der kursovikischen Sprache und war von den Merseiern im Gebrauch von Funksprechgeräten unterwiesen worden. Durch ihn lernte Flandry mehrere andere kennen und machte die Erfahrung, daß jeder von ihnen eine völlig selbständige Individualität hatte; sie mit einem Satz zu charakterisieren, war genauso unmöglich wie der Versuch, das Wesen eines Menschen in ein paar Worte zu fassen.

„Wir sind froh, daß ihr diesen Besuch gemacht habt“, sagte Isinglas beim ersten Zusammentreffen. „So froh, daß wir die Merseier trotz ihrer Freundschaft mit unserem Volk gebeten haben, während eures Aufenthalts die Stadt zu meiden. Ich habe schon vermutet, daß wir und das Landvolk zu Figuren in einem größeren Spiel gemacht worden sind. Es ist ein großes Glück, daß ihr euch daraus zurückziehen wollt.“

Flandrys Wangen brannten. Er wußte nur zu gut, wie wenig Selbstlosigkeit im Spiel war. Admiral Enriques hatte offen gegen Hauksbergs Vorschlag protestiert und erst nachgegeben, als dieser gedroht hatte, er werde für seine Versetzung auf den Planeten Pluto sorgen. Abrams hatte zugestimmt, weil er auf neue Fakten und Informationen erpicht war, nicht aus Friedensliebe oder innerer Überzeugung.

Einer von Isinglas' Freunden, der Basko genannt wurde, war ebenfalls skeptisch. „Friede mit den Jägern ist ein Widerspruch in sich selbst, solange sie uns die Nahrung wegnehmen und unsere Städte bombardieren. Und solange die grüngesichtigen Freunde uns ihre Hilfe anbieten, müssen wir sie annehmen. Das ist unsere Pflicht.“

„Wenn sie uns helfen, helfen ihre Gegenspieler den Jägern“, wandte ein anderer ein. „Am besten wäre es, wenn alle Fremden sich zurückzögen und das alte Gleichgewicht wiederhergestellt würde.“

„Ich weiß nicht“, meinte Basko. „Wenn wir einen endgültigen Sieg erringen könnten…“

„Sei nicht dumm“, schalt ihn Isinglas. „Du übersiehst das Risiko einer endgültigen Niederlage.“

„In die Tiefe mit eurer Politik!“ rief Zombo, der jüngste der Gruppe. „Wir kommen noch zu spät ins Theater.“ Und er schoß in einer übermütigen Kurve davon.

Flandry vermochte dem Drama nicht zu folgen, das in einer riesigen Korallengrotte aufgeführt wurde. Er ließ sich erklären, daß es eine moderne Tragödie im klassischen Stil sei, was ihm nicht viel sagte, aber die graziösen Bewegungen, die feierliche Musik der Stimmen, Saiteninstrumente und Trommeln, die Ausgeglichenheit aller Elemente nahmen ihn gefangen. Und zum Schluß reagierte das Publikum mit einem seltsam schwebenden Tanz zu Ehren des Autors und der Darsteller.

Isinglas zeigte ihm Skulpturen und Ölgemälde, Kunstwerke, die für ihn abstrakt waren; aber als solche gefielen sie ihm besser als alles, was auf Erden seit Jahrhunderten hervorgebracht worden war. Er betrachtete Schriftrollen aus Fischhaut und staunte, als Isinglas ihm zeigte, wie das Material mit einer stark fettigen Tinte beschriftet wurde und welche Ausmaße die örtliche Bibliothek hatte. Er konnte nur ahnen, wieviel gesammeltes Wissen hier zusammengetragen war.

Die Gesellschaft Zletovras war praktisch ungegliedert. Jede Stadt verwaltete sich selbst und glich einer einzigen großen Genossenschaft, an der alle zu gleichen Teilen beteiligt waren und die von der Feldbestellung bis zum Handel mit Fertigwaren das gesamte Erwerbsleben beherrschte. Für alle gab es dieselben Rechte und Pflichten. Geld war unbekannt, weil unnötig. Nur im Handel mit anderen Städten wurde nach einem Wertsystem abgerechnet, dessen Maßeinheit Edelmetalle waren.

Die Erde hatte in ihrer Entwicklung ähnliche Formen gekannt, wenigstens in der Theorie. In der Praxis hatte es nie funktioniert. Die Menschen waren zu gierig und selbstsüchtig, zu träge. Aber bei diesen Leuten schien es keine Schwierigkeiten zu geben. Jedenfalls behauptete Isinglas, daß das System seit vielen Generationen stabil sei, und Flandry sah keine Zeichen von Unzufriedenheit.

An einem anderen Tag besuchte er mit Isinglas die Nachbarstadt. Hier waren die Häuser aus Stein und Korallen, klebten wie eng verschachtelte Schwalbennester an den Steilabstürzen dunkler Klippen oder bildeten übereinandergestaffelte Höhlensysteme. Ihre Bewohner waren, wie Isinglas abschätzig vermerkte, unternehmender und weniger kontemplativ als ihre ebenen Boden bewohnenden Vettern. „Aber ich muß zugeben, daß sie am meisten unter den Jägern zu leiden haben und ihr Los mit großer Tapferkeit tragen“, fügte er hinzu. „Sie haben bei unserem letzten Angriff die Vorhut gebildet, was sehr viel Mut erforderte, denn niemand wußte, daß die Merseier ein Boot zur Unterstützung schicken würden.“

„Niemand?“ fragte Flandry überrascht.

„Ich vermute, daß unsere Flottenführer Bescheid wußten. Aber wir anderen wußten nur, daß unsere mit Landanzügen ausgerüsteten Truppen auf ein Signal hin an Land gehen und zerstören sollten, was sie könnten, während unsere Schwimmer und Katapultboote die feindlichen Schiffe vernichteten.“

„Oh.“ Flandry verzichtete darauf, seine Rolle bei der Vereitelung dieses Vorhabens zu erwähnen. Sie umschwammen die Riffe der Stadt, Felswände, die in bodenloses Dunkel hinabtauchten, und ließen sich zur Oberfläche hinauftragen, wo die Brandung azurblau und smaragdgrün leuchtend gegen die Korallenbänke eines Atolls donnerten.

„Das nächstemal führe ich dich nach Outlier“, versprach Isinglas auf dem Rückweg. „Das ist eine einzigartige Stadt, anders als dieses Riffburg hier, und auch anders als meine Heimatstadt Muschelglanz. In ihrer Mitte gähnt ein schwarzer Abgrund, in dessen Tiefe Fische und Wälder glühen. Die Riffe sind zernagt und ausgehöhlt und mit seltsamen Farben getönt. Das Wasser schmeckt nach Vulkan und wird wärmer, je tiefer man sinkt. Und die Stille — die Stille!“

„Ich freue mich darauf“, sagte Flandry, und er meinte es.

Als er sich durch die Luftschleuse pumpen ließ und die glockenförmige Behausung seiner Rassegenossen betrat, fühlte sich Flandry beinahe abgestoßen. Diese enge, stinkende und trostlose Luftblase, vollgestopft mit haarigen, mürrischen Gestalten! Flandry schälte sich die Kleider vom Leib, um eine Dusche zu nehmen.

„Wie war der Ausflug?“ fragte Ridenour.

„Wundervoll!“ rief Flandry aus.

„Ganz hübsch“, meinte Unteroffizier Quarles, der ihn begleitet hatte. „Aber ich bin froh, wieder hier zu sein. Wie wär's mit einem Film, hübsche Mädchen und so?“

Ridenour stellte sein Tonbandgerät auf den Tisch. „Das Wichtige zuerst“, sagte er unwillig. „Was haben Sie zu melden?“

Flandry unterdrückte eine Obszönität. Das schönste Abenteuer wurde verdorben, reduzierte man es auf die reinen Daten. Vielleicht sollte er sich seinen jüngsten Plan, Xenologe zu werden, doch noch einmal überlegen. Widerstrebend begann er zu berichten.

Als er fertig war, schnitt Ridenour eine Grimasse. „Ich wünschte, meine Arbeit wäre genauso befriedigend und unkompliziert.“

„Schwierigkeiten?“ fragte Flandry.

„Festgefahren. Unser Problem ist, daß die Leute von Kursoviki so verdammt gründlich sind. Mit ihrer Jagd, ihrer Fischerei und ihrer Algengewinnung treiben sie tatsächlich Raubbau an den Beständen, die niemals sehr groß waren. Die hiesigen Stadtoberhäupter lehnen jede Vereinbarung ab, in der nicht festgelegt wird, daß das Landvolk seine Ausbeutung einstellt. Darauf will sich das Landvolk natürlich nicht einlassen. Das kann es auch nicht gut tun, ohne die eigene Ernährung zu gefährden. Nun versuche ich die Führer des Seevolks zu überreden, daß sie weitere Hilfeleistungen der Merseier zurückweisen sollen. Auf diese Weise könnten wir die Zletovarsee aus dem Kriegsgeschehen heraushalten. Aber sie weisen mit Recht darauf hin, daß unsere Hilfeleistungen und Lieferungen an das Landvolk das Gleichgewicht der Kräfte gestört haben. Und wie sollten wir unsere Geschenke zurücknehmen? Wir würden sie uns zu Feinden machen, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Runeis Agenten versäumen würden, eine derartige Situation auszunutzen.“ Ridenour seufzte. „Ich habe immer noch Hoffnung, einen Waffenstillstand zu arrangieren, aber sie ist ziemlich trübe geworden.“

„Wir können nicht von neuem anfangen, diese Leute zu töten!“ fuhr Flandry auf.

„Warum nicht?“ sagte Quarles.

„Nach allem, was wir gesehen haben, was sie für uns getan haben…“

„Unsinn. Wir gehören zum Imperium, und was das Imperium von uns verlangt, das machen wir.“

Flandry zeigte ihm einen Vogel, und es wäre zu einer Auseinandersetzung gekommen, hätte Ridenour nicht eingegriffen. „Sie werden wohl ohnehin ausscheiden, Flandry“, sagte er. „Vor ein paar Stunden ist Ihr Marschbefehl durchgekommen.“

„Marschbefehl?“

„Sie haben sich bei Oberst Abrams in Highport zu melden. Eine Amphibienmaschine wird Sie morgen um sieben Uhr dreißig abholen.“

* * *

Abrams lehnte sich mit seinem Stuhl zurück, hielt sein Gewicht mit einem unter die Schreibtischplatte gehobenen Fuß und paffte an seiner Zigarre. „Und Sie wären wirklich lieber unter Wasser geblieben?“

„Für eine Weile, ja.“ Flandry saß bolzengerade auf der Stuhlkante. „Nicht nur, daß es interessant war, ich hatte auch das Gefühl, etwas Nützliches zu tun. Informationen — Freundschaft…“ Seine Stimme verlor sich.

Abrams blies einen Rauchring. „Gewiß, ich verstehe, was Sie sagen wollen. Ich bin da ganz Ihrer Meinung. Wäre die Situation eine andere, hätte ich Sie nicht kommen lassen. Aber so habe ich etwas anderes mit Ihnen im Sinn.“

„Wie bitte?“

„In ein paar Tagen setzt Graf Hauksberg seine Reise nach Merseia fort. Ich werde ihn als Berater begleiten, das steht jedenfalls in meinem Befehl. Ich habe Anspruch auf einen Adjutanten. Wollen Sie mit?“

Flandry machte große Augen. Sein Herz tat einen Sprung, und erst nach einer langen Pause merkte er, daß sein Mund offenstand.

„Natürlich wissen Sie“, fuhr Abrams fort, „daß ich ein wenig Material zu sammeln hoffe. Nichts Melodramatisches, versteht sich. Ich werde Augen und Ohren offenhalten, auch die Nase, wenn es sein muß. Keiner von unseren Diplomaten, Attachés, Handelsbevollmächtigten, keine von unseren Informationsquellen hat jemals etwas wirklich Brauchbares geliefert. Entweder haben diese Leute nicht den Riecher, oder Merseias Abwehr ist besser, als wir glauben. Vielleicht liegt es auch ganz einfach daran, daß Merseia zu weit von der Erde entfernt ist. Bis die Nachrichten zu Hause ankommen, sind sie von den Ereignissen überholt. Dies könnte eine Chance sein, sich relativ unbehelligt umzusehen.“

Abrams warf einen Blick auf seinen zerkratzten, mit Papierwust bedeckten Schreibtisch und seufzte. „Ich müßte einen erfahrenen und erprobten Mann mitnehmen. Aber wir können keinen entbehren. Für ein Greenhorn haben Sie sich als recht umsichtig und tatkräftig erwiesen. Ein bißchen praktische Erfahrung im Nachrichtendienst wird Ihnen weiterhelfen, vorausgesetzt, es gelingt mir, ihre Versetzung durchzudrücken. Ich an Ihrer Stelle würde auch folgendes bedenken: Sie kämen von diesem elenden Planeten weg, könnten in einem Luxusschiff reisen, das exotische Merseia und vielleicht noch andere Orte sehen, würden vermutlich zur Erde zurückgerufen und dann nicht mehr auf Starkad eingesetzt werden. Und Sie hätten Gelegenheit, sehr nützliche Verbindungen zu knüpfen, wie denken Sie darüber?“

„J-j-ja, Herr Oberst!“ stammelte Flandry.

Abrams' Augen lagen plötzlich inmitten zahlloser Fältchen. „Vergessen Sie alle abenteuerlichen Vorstellungen, junger Mann. Dies wird keine Vergnügungsreise. Ich werde von Ihnen verlangen, daß Sie nicht an Schlaf denken und von jetzt an bis zur Abreise von Stimulantia leben, damit Sie lernen, was ein Adjutant von mir wissen muß. Sie werden alles tun müssen, von der Pflege meiner Uniformen bis zu Schreibarbeiten. Unterwegs werden Sie einen Schnellkurs in Eriau nehmen und so viel über Merseia und seine Bewohner lernen, wie Ihr Gehirn fassen kann, ohne zu platzen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß alles das nichts mit Karneval zu tun hat. Wenn wir einmal dort sind und Sie Glück haben, werden Sie sich durch eine Menge eintönige Pflichten quälen. Wenn Sie Pech haben, werden Sie nicht mehr ein stolzer Ritter der Lüfte sein, sondern ein gehetztes Tier; und wenn Sie dann noch das Pech haben, erwischt zu werden, wird Ihnen nach den Verhören keine Persönlichkeit mehr bleiben, die zu besitzen sich lohnt. Denken Sie darüber nach.“

Flandry tat es nicht. Sein einziger Kummer war, daß er Dragoika wahrscheinlich niemals wiedersehen würde, und auch das war nur ein vorübergehender Schmerz. „Herr Oberst“, erklärte er, „Sie haben einen Adjutanten gefunden.“

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