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Runei lehnte sich zurück, ein entspanntes Lächeln auf dem hageren, blaßgrünen Gesicht. „Sie kennen den Standpunkt meiner Regierung, Graf Hauksberg“, sagte er. „Das Seevolk ist souveräner Herr über die starkadische Hochsee. Günstigstenfalls könnte man den Schiffen des Landvolks das Recht auf einen begrenzten Transitverkehr zubilligen — vorausgesetzt, die Führer des Seevolks stimmen einer solchen Regelung zu. Wenn Flugmaschinen fremder Herkunft ohne Einwilligung des Seevolks in seinen Luftraum eindringen, so handeln sie damit auf eigene Gefahr. Sie klagen uns der Eskalation an? Offen gestanden glaube ich, bemerkenswerte Zurückhaltung gezeigt zu haben, als ich meiner Luftflotte nach Ihrem Angriff auf ein U-Boot Merseias keinen Einsatzbefehl gab.“

Hauksberg erwiderte das Lächeln. „Ich hoffe, Sie nehmen mir ein offenes Wort nicht übel, Kommandant“, sagte er. „Vermutlich hat die Tatsache, daß unsere Luftstreitkräfte in einem solchen Fall in den Kampf eingegriffen hätten, zu Ihrer Zurückhaltung beigetragen.“

Runei zuckte die Achseln. „Wer hätte in einem solchen Fall Eskalation betrieben?“

„Sie, weil Sie ein Unterseeboot samt Besatzung gegen eine Stadt des Landvolks eingesetzt haben. Durch diese Tat haben Sie Ihren Planeten direkt in die Auseinandersetzungen eingeschaltet.“

„Es war eine Vergeltungsaktion, verehrter Graf Hauksberg, und nicht von Seiten Merseias, sondern von Seiten des Sechspunkts von Zletovar, der ausländische Freiwillige einsetzte, die vorübergehend vom Dienst in ihren regulären Einheiten beurlaubt waren. Ihre Vertreter, Graf Hauksberg, sind es, die seit langem die Doktrin verkünden, daß begrenzte Vergeltung kein casus belli sei.“

Hauksberg blickte düster auf seine Fingernägel. Weil er für das Imperium sprach, konnte er nicht gut seine entschiedene Mißbilligung dieser Doktrin zum Ausdruck bringen. „Das reicht weit in unsere Geschichte zurück“, sagte er. „Bis in die Ära der internationalen Kriege. Heutzutage wenden wir diese Doktrin nur noch an, um unseren Leuten in abgelegenen Teilen des Raumes im Falle von Konflikten einige Handlungsfreiheit zu geben. Vielleicht ließe sich ihre Abschaffung arrangieren, wenigstens zwischen Ihrer Regierung und meiner. Aber das setzte als Gegenleistung entsprechende Garantien voraus.“

„Über solche Fragen kann ich leider nicht befinden, aber Sie werden in Merseia Gelegenheit haben, eine Vereinbarung vorzuschlagen, wenn Sie dies wünschen. Was mich angeht, so möchte ich in erster Linie die Freilassung aller Gefangenen erreichen, die sich in Ihrem Gewahrsam befinden.“

„Ich weiß nicht, ob es Überlebende gegeben hat“, sagte Hauksberg. Er wußte recht gut, daß es Gefangene gab und daß Abrams eher seinen Dienst quittieren würde als diese Gefangenen ohne Befragung einfach freizulassen. Und er vermutete, daß Runei es ebenfalls wußte. Eine peinliche Situation. „Ich werde mich erkundigen, wenn Sie es wünschen, und die Freilassung anordnen.“

„Danke“, sagte Runei trocken. „Ich möchte keine militärischen Geheimnisse von Ihnen erfahren, aber was wird die nächste Aktion Ihrer Verbündeten sein?“

„Es sind nicht unsere Verbündeten. Das Imperium führt keinen Krieg.“

„Ersparen Sie mir Ihre Sophistik“, schnaubte Runei. „Ich warne Sie, wie ich schon Admiral Enriques gewarnt habe, daß Merseia nicht müßig zusehen wird, wie die Aggressoren zerstören, was Merseia geschaffen hat, um das Los des Seevolkes zu verbessern.“

„Tatsächlich“, sagte Hauksberg beiläufig, „versuchen wir die Leute von Kursoviki zurückzuhalten, seit der Angriff auf Ujanka abgeschlagen worden ist. Sie schreien nach Vergeltung, aber wir haben sie zu Friedensverhandlungen überredet.“

Runeis Backenmuskeln hüpften, und er saß eine halbe Minute lang still. „Tatsächlich?“ fragte er dann mit ausdrucksloser Stimme.

„Tatsächlich“, bestätigte Hauksberg. „Eine Flotte wird in Kürze auslaufen. Man wird Sie noch offiziell verständigen, aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, daß diese Flotte nur kämpfen wird, wenn man sie angreift. Ich vertraue darauf, daß keine Ihrer sogenannten Freiwilligen an Gewalttätigkeiten teilnehmen werden. Wir wollen nichts als über einen Waffenstillstand diskutieren, um so das Fundament für einen dauerhaften Frieden zu legen.“

Runei sagte nichts.

„Unsere Informationen über die Meeresbewohner sind nicht sehr reichhaltig“, fuhr Hauksberg fort, „und natürlich werden wir nicht gleich mit dem kindlichen Vertrauen unserer Verhandlungspartner rechnen können. Darum wäre es sehr hilfreich, wenn Sie den — wie sagten Sie — Sechspunkt von Zletovar drängen würden, daß er unsere Delegation empfängt und sie anhört.“

„Eine gemischte Kommission…“

„Noch nicht, Kommandant, noch nicht, bitte. Es wird sich um nichts als einleitende Gespräche handeln, Gespräche rein informeller Art.“

„Was Sie meinen“, sagte Runei unbewegt, „ist, daß Admiral Enriques keine Leute zu Verhandlungen schicken will, an denen Merseier teilnehmen.“

„Nein, nein. Nichts so Unfreundliches. Nichts als der Wunsch, Komplikationen zu vermeiden. Wir haben nichts dagegen, wenn Sie sich vom Seevolk über unsere Verhandlungen auf dem laufenden halten lassen. Aber wir müssen wissen, woran wir bei ihnen stehen; tatsächlich müssen wir sie viel besser kennenlernen, bevor wir vernünftige Lösungsvorschläge machen können. Und Sie weigern sich bedauerlicherweise, uns in Ihre Unterlagen Einblick zu gewähren.“

„Ich bin an meine Befehle gebunden“, sagte Runei.

„Gewiß. Auf beiden Seiten wird man die Politik ändern müssen, wenn man eine nennenswerte Zusammenarbeit anstrebt oder sogar gemischte Kommissionen einrichten will. Das ist ein grundsätzliches Problem, und es gehört zu den Gründen meiner Reise nach Merseia. Keine der beiden Regierungen kann diesen Konflikt über Nacht aus der Welt schaffen. Aber wir können einen Anfang machen, Sie und wir. Wir halten das Landvolk zurück, Sie das Seevolk. Bis auf weiteres werden in der Zletovarsee und dem dazugehörigen Luftraum keine militärischen Operationen durchgeführt. Ich bin überzeugt, daß soviel in Ihrer Macht steht.“

„Richtig“, erwiderte Runei. „Aber die Eingeborenen könnten anderer Meinung sein. Wenn eine der beiden Parteien sich für militärische Aktionen entscheidet, bin ich dem Seevolk zur Hilfeleistung verpflichtet.“

Hauksberg betrachtete sein Gegenüber aufmerksam. Er mußte von der Annahme ausgehen, daß der andere es ehrlich meinte, daß auch er eine friedliche Regelung suchte, bevor die Entwicklung beiden Parteien aus der Hand geriet und Eigengesetzlichkeit gewann. Er mußte das annehmen. Andernfalls, so gestand er sich ein, täte er besser daran, nach Hause zu fahren und bei der Vorbereitung eines interstellaren Krieges zu helfen.

„Sie bekommen diese Vorschläge schriftlich in Form eines offiziellen Memorandums“, sagte er. „Dies sollte nur ein Vorgespräch sein. Aber ich werde selbst hierbleiben, bis sich übersehen läßt, welche Aufnahme unsere Friedensfühler finden und wie sich die Kontakte entwickeln werden. Rufen Sie mich jederzeit an, wenn es Ihnen nützlich oder wichtig erscheint.“

„Ich danke Ihnen. Guten Tag, Graf Hauksberg.“

„Guten Tag, Fodaich.“

Auf dem Bildschirm wurde es dunkel. Hauksberg zündete sich eine Zigarette an. Was nun? Nun kannst du sitzen und warten, mein Junge. Du kannst Meldungen sammeln, Interviews geben, Inspektionsrundgänge machen und diese ebenso einseitigen wie dickschädeligen Militaristen ärgern, die dich für einen Störenfried und Schnüffler halten. Du wirst manch leere Stunde erleben. Kein Amüsement hier, und ein scheußliches Klima. Gut, daß du so vorausschauend warst, Persis mitzunehmen.

Er stand auf und schlenderte aus dem Büro ins Wohnzimmer. Sie sah sich wieder einmal den alten Fernsehfilm „Undine“ an. Armes Mädchen. Die hiesige Bibliothek hatte keine große Auswahl. Er setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels und legte ihr seine Hand auf die Schulter. Persis trug eine ausgeschnittene ärmellose Bluse, und ihre Haut fühlte sich glatt und warm an. Er roch den Veilchenduft ihres Parfüms.

„Hast du den Streifen noch nicht satt?“ fragte er.

„Nein.“ Sie wendete ihre Augen nicht vom Gerät ab. „Aber manchmal wünschte ich, es wäre so.“

„Warum?“

„Er ängstigt mich. Er erinnert mich daran, wie weit wir von der Heimat entfernt sind. Wie fremdartig alles ist… Und wir reisen noch weiter.“

„Nun, nun“, murmelte er und strich ihr über die Haare. „Du wirst Gesellschaft haben.“

„Deinen Stab. Deine Diener. Routiniers, Jasager, Karrieristen, die ihre Zukunft auf Schienen ausgelegt haben. Mir bedeuten sie nichts, und ich kann sie nicht mehr sehen.“

„Du hast mich“, sagte er.

Sie lächelte pflichtschuldigst. „Deine Gesellschaft akzeptiere ich. Aber du bist so oft beschäftigt.“

„Wir werden zwei oder drei Marineleute mitnehmen, vielleicht interessieren dich die. Es sind andere Typen als unsere Juristen und Wirtschaftsexperten, rauher, männlicher und so.“

Ihre Miene hellte sich weiter auf. „Wer ist es?“

„Nun, Oberst Abrams und ich haben uns unterhalten, und auf einmal schlug er sich selbst für die Reise vor, als unser Experte für das Seevolk. Ich konnte schlecht nein sagen, denn wir brauchen einen. Ridenour wäre mir natürlich lieber gewesen; er ist Wissenschaftler und eine Autorität auf dem Gebiet, wenn wir überhaupt eine haben, aber er ist hier nicht abkömmlich und will auch nicht weg.“ Hauksberg inhalierte den Rauch und stieß ihn mit einem Seufzer aus. „Abrams würde seinen Posten natürlich nicht verlassen, wenn er hier keine Chance sähe, Informationen zu sammeln, die er auf Starkad nicht bekommt. Sein auf Wühlarbeit gerichteter Ehrgeiz könnte unsere Mission kompromittieren. Ich weiß immer noch nicht, in was ich mich da habe hineinmanövrieren lassen.“

„Der alte Bär und dich manipulieren?“ Persis kicherte.

„Ein schlauer Bär. Und rücksichtslos. Beinahe fanatisch. Der Mann geht über Leichen, laß es dir gesagt sein. Und er will den Krieg, was immer er sich davon versprechen mag. Aber er kann auch nützlich sein, und wenn er mit uns geht, wird er keine Gelegenheit haben, hier auf Starkad querzuschießen. Ich behalte ihn im Auge. Vermutlich wird er einen oder zwei von seinen Helfern mitbringen. Wie wäre es mit einem hübschen jungen Offizier, hm?“

„Du bist mir hübsch und jung genug, Markus.“ Persis rieb ihren Kopf an ihm.

Hauksberg drückte seine Zigarette aus. „Und so sehr beschäftigt bin ich auch nicht.“

* * *

Der Tag war bedeckt und windig, mit Schaumkronen auf der schiefergrauen See. Der Wind kreischte in der Takelage. Die „Archer“ stampfte in den schweren Heckseen. Ihre hölzernen Spanten, Planken und Masten ächzten und knarrten, daß Flandry an das Gejammer verdammter Seelen denken mußte. Achteraus lagen die drei Begleitschiffe im Kampf mit den Wellen. Dragoikas Schiff beförderte nur einen großen Wassertank und eine Handvoll Menschen. Sie und ihre Mannschaft sahen mit gemischten Gefühlen zu, wie Ridenour, der für xenologische Forschung zuständige Wissenschaftler, an die Arbeit ging. Er war ein hagerer, leicht gebeugter Mann mit aschblondem Haar. Stockend sprach er in ein Mikrophon, und aus dem Verstärker dröhnten Geräusche, wie sie der Stimmblase eines Meeresbewohners entstammen mochten.

Der lange, dunkle Körper im Wassertank bewegte sich und öffnete die Lippen. Man hörte eine Antwort. Ridenour nickte. „Sehr gut“, sagte er. „Lassen wir ihn frei.“

Flandry half ihm beim Abnehmen der Plexiglashaube. Der Gefangene krümmte seinen Rücken. Mit einem mächtigen Schlag seiner Schwanzflossen sprang er aus dem Becken und in hohem Bogen über Bord. Wasser spritzte umher und durchnäßte die Männer. Ridenour trat an die Reling und blickte ihm nach.

„Wird er sich wieder blicken lassen?“ fragte Flandry.

Der Wissenschaftler richtete sich auf. „Es wird einige Stunden dauern. Halten Sie sich ab fünfzehn Uhr bereit. Ich möchte meine Aufzeichnungen studieren.“

Er ging über das schwankende Deck zu seiner Kajüte. Flandrys Blicke folgten ihm. Wieviel weiß er wirklich? fragte er sich. Jedenfalls mehr, als er sagt und als er vom Gefangenen erfahren haben kann…

Er gesellte sich wieder zu den Männern, die ins Meer hinabtauchen sollten. Zwei von Ridenours Assistenten, ein Ingenieur und vier stämmige Marinesoldaten, die auf Erfahrungen im Tauchsport zurückblicken konnten. Er kannte sie kaum; sie waren ihm fremder als Dragoika und ihre Mannschaft.

Der Ruhm, mit dem er sich auf der Reede von Ujanka bedeckt hatte, war vom kalten Seewind fortgeblasen worden. Das gleiche ließ sich von dem berauschenden Gefühl sagen, das ihn durch die folgenden Tage begleitet hatte: daß er, Dominic Flandry, nicht mehr ein grünschnäbliger Jüngling sei, sondern der Held von Kursoviki, der einzige Mann, der das Landvolk zu Friedensgesprächen überreden konnte. Nach einem kargen Lob des Admirals war von alledem nichts als die vom Marinestab widerwillig akzeptierte Notwendigkeit übriggeblieben, daß er die Abgesandten begleiten mußte, damit ihre Mission die Unterstützung der Einwohner Ujankas finden konnte. Und Ridenour hatte ihm barsch erklärt, er solle sich nicht in ihre Arbeit einmischen.

Flandry gab sich so nonchalant wie möglich und schlenderte zu Dragoika. Sie betrachtete ihn ernst. „Ich möchte nicht, daß du da hinuntertauchst“, sagte sie.

„Unsinn“, antwortete er. „Das ist ein schönes Abenteuer.“

„Ich verstehe dich nicht. Abenteuer? Dort unten, wo die Gebeine unserer Mütter liegen, die sie ertränkt haben? Wo es keine Sonne und keine Monde gibt, nur Dunkelheit und kalte Strömungen? Zwischen Feinden und Ungeheuern? Der Kampf war besser.“

„Ich werde bald zurück sein. Dieser erste Besuch hat nur den Zweck, sie zu fragen, ob sie uns am Meeresboden ein Kuppelzelt errichten lassen. Ist das geschehen, könnt ihr umkehren.“

„Wie lange wirst du in diesem Kuppelzelt dort unten bleiben?“

„Ich weiß es nicht. Hoffentlich nicht länger als ein paar Tage, wenn sich alles gut anläßt. Man wird mich nicht so sehr brauchen.“

„Dann werde ich nicht mehr in Ujanka sein“, sagte Dragoika. „Die ›Archer‹ muß eine neue Ladung Holz nach Süden bringen, und die Schwesternschaft will den Waffenstillstand ausnützen. Niemand weiß, wie lange er anhalten wird.“

„Aber du wirst zurückkommen, nicht? Du brauchst mich nur zu rufen, und ich besuche dich in Ujanka.“

„Eines Tages wirst du für immer fortgehen.“

„Hm… Dies ist nicht meine Welt, weißt du.“

„Ich würde gerne deine sehen“, sagte sie sehnsüchtig. „Die Geschichten, die wir hören, die Bilder, die wir sehen — es muß wie ein Traum sein. Wie die verlorene Insel. Vielleicht ist sie es wirklich?“

„Ich fürchte nicht.“ Flandry war erstaunt, hier auf Starkad den Mythos vom verlorenen Paradies wiederzufinden. Es wäre interessant, der Sache auf den Grund zu gehen…

Ein wassertriefender blauer Leib durchstieß die Oberfläche. Das Geschöpf stieß drei bellende Laute aus. Ridenour schoß aus seiner Kajüte und winkte zurück.

„Das ist unser Signal!“ rief er seinen Männern zu. „Gehen wir!“

Flandry und die anderen stiegen in die bereitgelegten Taucheranzüge, schwere und ungefüge Umhüllungen, die dem Wasserdruck bis in eine Tiefe von fünfhundert Metern standhalten sollten. Flandry stampfte über das Deck und wartete in der Reihe der Expeditionsteilnehmer, bis er außenbords hinuntergelassen wurde. Er warf einen letzten Blick zurück und sah Dragoika winken, dann brodelte grünes Wasser vor seinem Helm. Er hakte die Leine aus, stieß sich von der Schiffswand ab, startete den Motor auf seinem Rücken und stellte das eingebaute Funksprechgerät auf Empfang ein. Eine Blasenbahn hinter sich herziehend, glitt er durch grünes Dämmerlicht abwärts, den anderen nach.

Ridenours Stimme füllte seinen Helm. „Aufschließen und mir nach. Keiner macht von der Waffe Gebrauch, es sei denn in Notwehr.“

Das Wesen, das wie ein Fisch aussah, aber keiner war, schwamm ihnen voraus. Es wurde dunkler, und das Wasser nahm eine tief blaugrüne Färbung an, dann erreichten sie den Grund des seichten Meeres. Flandry bewegte sich über einem Algenwald dahin, der sich im Umkreis von etwa fünfzig Metern im trüben Zwielicht verlor. Lange grüne und braune Algenwedel entstiegen der Tiefe und schwangen in der leichten Strömung sanft hin und her. Hier und dort kamen die schemenhaften Umrisse massiver Stämme in Sicht, deren Verästelungen sich im undurchdringlichen Netzwerk wehender Tangfäden verloren. Ein Schwarm Seekrebse schnellte mit ruckartigen Schwanzschlägen davon und suchte im Algendickicht Schutz. Über ihren Köpfen schlängelte sich ein armdicker, aalähnlicher Fisch durch die scheinbar grenzenlose Weite. Scharen kleiner Fische mit Regenbogenstreifen flitzten dicht über den unterseeischen Wald, verschwanden zwischen den Pflanzen und tauchten an anderer Stelle wieder auf. Flandry beobachtete alles in stummer Faszination.

Er hatte gehört, daß die vaz-Siravo von Zletovar in und in der Umgebung von sechs Städten lebten, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen angelegt waren und einen Kreis bildeten. Die Bewohner Kursovikis kannten sie seit langem; manchmal griffen sie die Städte an und bombardierten sie mit Felsblöcken, und manchmal unternahmen die Meeresbewohner von hier aus Gegenangriffe auf die Schiffe der Getigerten.

Nach einer Stunde hallten dumpfe, trommelnde Geräusche durch das Wasser. Hundert oder mehr Schwimmer in weit auseinandergezogener Formation kamen in Sicht. Sie trugen Knochenhelme und schuppige Lederpanzer und waren mit Obsidianäxten, Speeren und Dolchen bewaffnet. Der Führer wechselte ein paar Worte mit ihren Befehlshabern, dann kreisten sie die Unterhändler ein und geleiteten sie weiter.

Nun sah Flandry bestelltes Land unter sich, gepflegte Felder, Fische in Käfigen, dazwischen zylindrische Häuser aus Flechtwerk, die mittels Felsblöcken verankert waren. Nicht weit vor ihnen kreuzte ein Lastwagen, ein mit Häuten bespanntes und mit Stabilisierungsflossen versehenes torpedoförmiges Gebilde, das von einem elefantengroßen Fisch gezogen wurde.

Sie näherten sich der Stadt. Es war ein unwirklicher Anblick, und Flandry fühlte sich an die zerbrechliche, ätherische Bühnenausstattung eines phantastischen Balletts erinnert. In dieser witterungslosen Welt ohne Temperaturschwankungen und Stürme hatten Dächer und Wände keinen anderen Zweck als den Bewohnern Zurückgezogenheit zu geben; so bestanden sie meistens aus farbigen und lose zwischen Pfosten und Querlatten drapierten Geweben, die sich in den Strömungen bewegten. Die oberen Etagen waren ausladender als die unteren, und manche der höheren Gebäude hatten Ähnlichkeit mit kopfstehenden Pyramiden. An den Ecken schimmerten große Laternen aus Fischblasen, die mit einer stark phosphoreszierenden Masse gefüllt zu sein schienen. Da sich der Verkehr auf allen Ebenen abspielte, gab es keine Straßen am Meeresboden, aber die Flächen zwischen den Häusern waren mit einer dicken Kiesschicht bedeckt, sei es, um einer Verschlammung vorzubeugen, sei es, um Algenbewuchs zu verhindern.

Eine Menge versammelte sich und bestaunte die Fremden. Flandry sah viele Frauen mit Säuglingen und andere, die ihre älteren Sprößlinge an Leinen führten. Sie murmelten durcheinander, ein Geräusch wie leise, ferne Brandung, aber sie waren ruhiger und benahmen sich vernünftiger als Menschen oder ihre getigerten Feinde.

Inmitten der Stadt stand auf einer Bodenerhebung ein Gebäude aus behauenen Steinen. Es war rechteckig und prunkte mit einer stattlichen Säulenfassade, hatte aber, soweit Flandry ausmachen konnte, kein Dach. An seiner Rückseite ragte ein mächtiger Turm in die grüne See hinauf und endete dicht unter der Oberfläche in einer dicken Glaskuppel. Wenn er, wie es den Anschein hatte, weiter unten mit einer ähnlichen Glasdecke versiegelt war und kein Wasser enthielt, konnte er den Zweck haben, das Innere des Gebäudes mit Tageslicht zu erhellen.

Ein Schatten verdunkelte die grüne Helligkeit über ihm. Aufblickend sah er ein fischbespanntes Unterseeboot, eskortiert von mehreren Schwimmern mit Feuerwaffen fremder Herkunft. Ernüchtert erinnerte er sich, daß er von Feinden umgeben war.

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