Carter Scholz Amadeus



Meine Mutter erzählte mir schon früh, als ich noch ein kleiner Junge war und gerade anfing, Klavier zu spielen, daß ich mit Mozart verwandt sei. Unser Hausname war Schwartz, und mein voller Name wirkte durch den Anspruch, der in ihm steckte, noch lächerlicher: Gregor Corso Amadeus Schwartz. Erst später erfuhr ich, daß ›Amadeus‹ gar nicht auf der Geburtsurkunde stand, sondern eine der typischen Ausschmückungen meiner Mutter war, mit denen sie die Vergangenheit zu verschönen suchte. Sie bestand jedoch darauf, daß die Großmutter ihrer Mutter ein uneheliches Kind von Franz Xaver Mozart, dem Sohn des großen Wolfgang, gewesen sei. Ich fand diese Geschichte ziemlich unangenehm, da ich das traurige Schicksal von Franz Xaver kannte. Außerdem pflegte meine Mutter mir, wenn ich mit einer besonders schwierigen Sonate kämpfte, vorzuwerfen, daß ich meines großen Erbes nicht würdig sei.

Während meiner Studienzeit entdeckte ich, daß meine Mutter mit ihrer ganzen Sprechweise Filmstars nachahmte. Wenn ich in einem uralten Film mit Katharine Hepburn oder Jean Arthur oder Rosalind Russell saß, der schon für die Generation meiner Mutter (kurz vor der Jahrtausendwende) ein Oldie gewesen sein mußte, hörte ich durch das Rauschen und Knistern der abgeleierten Kopie den Tonfall meiner Mutter oder sah eine ihrer charakteristischen Handbewegungen. Mit Haß im Herzen lachte ich bei der Erinnerung an sie; sie wußte nie, wann eine Szene zu Ende war. Sie hatte nie verstanden, daß das Leben weniger zuvorkommend war als Drehbuchautoren, und geriet in Verlegenheit, wenn nicht alle Szenen so nahtlos aufeinanderfolgten wie im Film.

Dachte sie, das könnte sie retten? Charme könnte erkauft werden? Nein. Im nachhinein verstand ich ihre Ausflüchte, ihr Besitzstreben, ihre Betrügereien und fand meine eigene Methode, klarzukommen und dem unsagbaren Grauen im Kern meines Wesens standzuhalten. Ich schaffte nie, es wirklich zu meistern, aber ich lernte die nötigen Kunstgriffe, um es in Schach zu halten.

Im Jahre 2007 schloß ich die Musikhochschule mit dem Konzertexamen ab und ergriff den einzigen Beruf, der sich bot: ich hielt den Studenten Vorlesungen über Mozart. Ich spielte hervorragend Klavier und konnte in allen Stilrichtungen der westlichen Tradition fachkundig komponieren, außer in der zeitgenössischen: Es gab keinen zeitgenössischen Musikstil, nur die öden, neurotischen Refrains der populären Schlager, die aus ständig wiederholten Tonfolgen in verschiedenen Metren bestanden und exakt 4 Minuten dauerten, so daß sie sich ideal zum Tanzen eigneten. Außerdem gab es liturgische Musik, die genauso aufgebaut war, nur daß statt der amerikanischen Schlagerlyrik armseliges Latein gesungen wurde – als ob ein Baß-Refrain dadurch Würde erhalten könnte, daß man ihn ›Cantus firmus‹ nannte! Ein Freund von mir schrieb diese neue Kirchenmusik und hatte ein schlechtes Gewissen dabei.


Aber in den Kompositionsklassen ging es nur um Analyse. Kunst war eine unfruchtbare Leere. Mir brauchte das niemand mehr zu erzählen – meine Mutter war eine Tänzerin, die nie tanzte, aber zweimal im Jahr eine Diät machte und Tai Chi übte, und mein Vater Gerald war ein Dichter, der nach seinem ersten Buch, für dessen Erscheinen er im Alter von 27 Jahren zweitausend Dollar gezahlt hatte, keine Zeile mehr dichtete. Tausend Exemplare des Werkes lagern, soweit ich weiß, immer noch in einem Wandschrank des Hauses, in dem ich wohnte, bis ich 21 war und meine Eltern fast fünfzig. Er hatte mich nach einem Dichter genannt, der doppelt so alt war wie er, Vorlesungen über Sozialtheorie hielt und revolutionäre Ideen zu allem und jedem hervorbrachte – ausgenommen sein eigenes Leben. Meine Eltern waren typisch für ihre Generation – die bedeutendste, die dieser Planet je beherbergen würde, die hervorragendste und die durch und durch beklagenswerteste. Keine Familie schien mir auf originelle Weise unglücklich zu sein, sondern alle nahmen teil an einer statistisch verteilten Unzufriedenheit, die herzzerreißender war als jede Tragödie. Ich lernte viele Menschen kennen, da meine Eltern gern Gesellschaften gaben, mit üppigen Dinners und Marihuana oder Videofilmen als Dessert, und die Politiker erschienen mir in keiner Weise besser als die Künstler.

Mit meiner Ausbildung blieb mir also nur, ein Interesse an meinem ererbten Fluch namens Mozart zu heucheln und mein geliehenes Wissen an eine neue Generation weiterzugeben, der Niederlage, Scheitern und Hochstapelei schon ins Gesicht geschrieben standen. Das tat ich auch, bis ich eines Tages das Angebot erhielt, für die – scherzhaft so genannte – Kunst-Gestapo zu arbeiten.

Der Name entstammte der Verzweiflung, Verachtung und dem bissigen Zynismus von Männern, die aus einer miesen Sache das Beste machen. Die Mitarbeiter waren die Stars des Ministeriums. Sie hatten es nicht geschafft, ihr eigenes Leben zu gestalten und zogen sich daher in die Geschichte zurück. Sie haßten die Vergangenheit (keiner von ihnen hatte Kinder), wagten aber nicht, sie zu ignorieren, weil sie wußten, wie sehr sie aus ihr lebten. Ihre Aufgabe war Zeitbetrug: sie woben in das Muster der Vergangenheit kleine Änderungen ein. Da die Betreiber der Maschinerie Kunst für den unwichtigsten Zeitvertreib hielten, wurden die ersten Experimente mit der Vergangenheit auf dem Gebiet der Kunstgeschichte durchgeführt. Sie gaben mir ihr Anliegen sehr durch die Blume zu verstehen, wie Freimaurer, eifrig und doch zurückhaltend, um die Geheimnisse ihres vornehmen, eleganten Scheiterns zu bewahren.

Das Leben der Behörde bestand aus Klatsch und sensationellen Geschichten. Ein Herr, der einen Kurs über Wagner hielt, behauptete, er habe 1945 Anton Webern erschossen, um der Welt weiteres ›jämmerliches Gequietsche‹ dieses Avantgardisten zu ersparen; außerdem habe er die Hälfte von Weberns Manuskripten vernichtet, Bachs Musikalisches Opfer komponiert und eine Bombe im Bauhaus gelegt. Dann beschwor er mich, niemandem etwas davon zu erzählen, und ich versprach es ihm, obwohl ich dieselbe Geschichte schon zweimal von anderen Leuten gehört hatte.

Über die verwendeten Methoden wußte ich nur wenig. Zuerst hatten sie das Bewußtsein eines Forschers in den Geist eines längst verstorbenen Künstlers übertragen. Dabei konnte nicht viel schiefgehen, denn die Kontinuität von Materie wurde nicht gefährdet. Es war eher ein Lauschangriff als Einbruch und Besitzergreifen. Aber manche kehrten ohne Bewußtsein zurück, und andere gerieten in einen seltsamen Zustand. Sie hatten die Fähigkeit des Schlafens verloren, obwohl noch Träume durch ihr waches Bewußtsein huschten wie Halluzinationen. Von einem, der versucht hatte, im alten Griechenland die Existenz von Homer nachzuweisen, wurde erzählt, er sei irrsinnig und blind zurückgekehrt und habe nur noch in griechischen Versen gesprochen. Da die Möglichkeit, sich für einen Tag oder eine Minute in der Vergangenheit in das Bewußtsein eines Freundes oder Feindes zu versetzen, große Gefahren aufwarf, wurde die Technik verboten. Aber von einem ehemaligen Liebhaber, der beim Sex damit experimentierte, weiß ich, daß diese Transfers immer noch durchgeführt werden. In deprimierten Augenblicken beschleicht mich die Furcht, daß unser gesamtes Zeitgebäude zusammenbrechen und die Zeit objektiv enden könnte, weil Millionen aus einer unerträglichen Zukunft in Vergangenheiten flüchten, die Körper hingestreckt auf Transfer-Liegen, die Zukunft unbewohnt und folglich unerschaffen – eine düstere Apokalypse von Möbiustreppen, die in ewigem Aufwärts in sich selbst zurückführen, in der die Menschen ihr jüngeres Ich ermorden, mit ihren Vätern vögeln und alle Arten von Vereinigungen vollziehen, die bisher unter der Tyrannei der linearen Zeit unmöglich waren.

Bei der zweiten Methode wurde auch der Körper durch die Zeit transportiert. Auf diese Weise kam man zwar nicht sehr direkt an die Gedanken des Künstlers heran, aber man konnte historische Fakten prüfen, Umstände ändern oder sonstwie Einfluß nehmen. Das Pikante war, daß diese Eingriffe aufgrund der Wahrscheinlichkeitsgesetze der Zeit im nachhinein als unausweichlich erschienen. Ein Agent lockerte die Halterungen der goldenen Lyra an der großen Außenfassade der Pariser Oper. Sie fiel herab, als der Wagen mit der Leiche des Dichters Verlaine gerade unten vorbeifuhr, wie die Geschichte es uns auch überliefert.

Meine Aufgabe sollte darin bestehen, Mozarts Requiem in Auftrag zu geben, das ja bereits existierte.

Das versetzte mir einen schweren Schlag. Ich liebte die Zeit wie ein Schuljunge, der nur in seiner Phantasie die Angebetete berührt oder mit ihr spricht – deshalb hatte ich das Gefühl, sie besser zu verstehen als jeder andere. Ich kannte ihre Struktur, aus den Augenblicken der Stille, wenn das Vibrieren der Klaviersaiten ganz erstorben war, aus dem Höhepunkt einer Sonaten-Reprise und aus der Tiefe meiner Träume. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß es möglich war, die Zeit derartig zu vergewaltigen. Ich war damals wahrhaftig nicht mehr unschuldig und konnte Betrug akzeptieren, aber vielleicht waren gerade in meiner Vorstellung von der Zeit alle kümmerlichen Reste meiner Unschuld vereint. Manchmal hatte ich den Gedanken, daß ich keine Person war, sondern eine Sammlung von Erinnerungen, Ausdruck einer umfassenden Ökologie der Vergangenheit, deren Weiterentwicklung meine Gegenwart vollständig festlegte. Ich fühlte mich nicht mehr als ein Selbst, das über meiner Geschichte stand und sie steuerte; meistens war ich unsicher, ob ich lebte oder gelebt wurde, welche meiner Worte und Handlungen wirklich zu mir gehörten und welche dem Zeitgeist entsprangen oder Ausdruck der Kräfte waren, die mich geformt hatten. Ich weigerte mich, das Wort Liebe zu benutzen, aus Furcht vor Dantes zehnter Hölle, in der Falschmünzer mit Wahnsinn bestraft werden. Ich hatte mir ein perfektes logisches Gebäude für meine Passivität errichtet. Wie soll ich also erklären, warum ich den Auftrag annahm?


Wir wissen aus der Geschichte, daß ein geheimnisvoller Fremder bei Mozart eine Totenmesse bestellte. Der leidende Komponist kam nach und nach zu der Überzeugung, daß es sein eigenes Requiem sei, das endlich zu beenden er immer wieder gedrängt wurde. Die Arbeitsüberlastung und die ständigen Mahnungen seines gespenstischen Auftraggebers brachten ihn um. Meine Behörde wollte, daß ich mich in diesen geschichtlichen Ablauf einmischte. Ich hatte nicht die Absicht, das jemals zu tun. Ich scheute vor der Verantwortung zurück. Ich mochte Mozarts Musik gar nicht, sie war mir zu sehr an die Konventionen seiner Zeit gebunden (und gleichzeitig zweifellos die Vollendung dieser Konventionen). Sein Geklimpere, seine Zugeständnisse an den Zeitgeschmack, seine Gier nach Beifall oder wenigstens Zustimmung (als Kind fragte er nach seinen Konzerten die verlebten Höflinge und Prinzessinnen: »Hast du mich lieb? Hast du mich auch wirklich lieb?«), seine Bereitschaft, sich zu den miesesten Bedingungen zu verkaufen – Bedingungen, die ich für mich nie akzeptieren konnte. Aber dieselbe Stimme, die mich dazu getrieben hatte, Musik zu studieren, obwohl die Musik tot war, und meine Leidenschaft meinem eigenen Geschlecht zuzuwenden, obwohl ich wußte, daß es mich psychisch fertigmachte, sprach auch jetzt, und ich stimmte zu. Das war eine Perversion, die ich mit den Technikern gemeinsam hatte – in dem Moment, wo sich eine Möglichkeit eröffnete, gab es kein Zurück mehr. Die Idee bohrte in mir wie ein Zahnschmerz. Vielleicht konnte ich ihm Wissen schenken. Und letztlich war die Maschine auch ein Segen. Damit die Zeit nicht in grausamer Weise Menschen mißbrauchen konnte, wurde ihr Fortgang verändert. Revision, Schleife, Lücke, Aufschub – daß es dafür Worte gab mit fester Bedeutung wie für Zeit und Reise (wenn auch aneinandergepreßt wie Ehebrecher), das war ein starkes Argument dafür, sich auf den Zauber der Zeit einzulassen. Auch wenn das ganze Projekt ein Schwindel sein sollte und wir der Vergangenheit nicht näherkamen als in Träumen, Erinnerungen oder Halluzinationen, konnte ich der Versuchung, eine ganz neue Zeiterfahrung zu machen, nicht widerstehen. Und es ging ausgerechnet um Mozart, mit dem die Zeit von allen Menschen am grausamsten umgesprungen war! Wenn ich es nicht tat, dann würde irgendein anderer Streber mit dem Wissen zurückkehren. Ich konnte das besser. Obwohl Ehrgeiz wie Eigenliebe den endgültigen Verzicht des Willens auf Sinn bedeutet, hatte ich das Gefühl, vielleicht doch noch einen Sinn entdecken zu können. Vielleicht war ich auch nur genauso ein mieser Typ wie die anderen. Vielleicht waren wir schon in einem so krankhaften Zustand, daß persönlicher Ehrgeiz noch das vornehmste Leiden war, für das wir uns entscheiden konnten. Die Gründe sind letztlich nicht so wichtig (wenn man im Bewußtsein dieser neuen Bedeutung von Zeit das Wort ›letztlich‹ überhaupt noch benutzen kann) – ich nahm den Auftrag also an.


In meiner Vorbereitungszeit studierte ich das damals gebräuchliche Deutsch, pflasterte meine Wände mit Karten und Computerprojektionen von Wien; ich erhielt stilechte Kleidung sowie einige Impfungen und machte mich vertraut mit Mozarts Tagesablauf an jedem Tag meines geplanten Aufenthaltes. Nach ein paar Wochen war ich soweit. Neben den weißen Apparaten stand ich im Labor – ein lächerlicher Kavalier in meinem schwarzen Umhang, dem breitkrempigen grauen Filzhut und den Lederstiefeln. Der Gürtel um meine Hüften war gefüllt mit Florinen, Dukaten und Gulden.

»Du stinkst nach Scheiße«, sagte ein Assistent.

»Das gehört zum Kostüm«, meinte der Direktor grinsend. »Wir dürfen ihn nicht waschen. Außerdem rochen die Herrschaften damals so.«

Einen Monat lang hatte ich eine strenge Diät eingehalten und nicht geraucht. Gewaschen hatte ich mich nur mit Pottasche. Substanzen, die der Zielzeit fremd waren, konnten die Barriere nicht passieren. Wenn in meinem Körpergewebe Stoffe abgelagert waren, die es erst heute gab, konnten sie mich beim Transfer in Stücke reißen. Meine Kleider waren zwar maschinell genäht, aber mit Baumwollgarn; das Geld war eine Fälschung aus dem Originalmetall, perfekter als echte Münzen.

»Ihr wollt mir keine Identität mitgeben?« fragte ich noch mal. Ich hatte nur meinen eigenen Namen zum Reisen.

»Du brauchst keine. Du hast genug Geld, um dich aus jeder Schwierigkeit freizukaufen.«

»Wieviel kriegt Mozart von dem Geld?«

»Fünfzig Dukaten! Das weißt du oder solltest es wissen. Nicht einen Groschen mehr. Und wenn du dich in zwei Wochen nicht an genau dem Punkt befindest, wo wir dich abgesetzt haben …«

»Ich weiß, dann kann ich vielleicht nie mehr zurück.«

»Das ist kein Witz. Und vergiß nicht, du begegnest ihm nur zweimal! Sei höflich, benimm dich natürlich …«

»Ich weiß!«

»Denk daran«, sagte der Direktor, »wir wollen keine Komplikationen.«

»Komplikationen?«

»Keine Verführungen.«

»Verführungen! Als ob ich jemals der Verführer wäre.«

»Ja, Verführungen. Das ist eine Sache hier und jetzt, aber eine ganz andere, dieses Geschäft durch die Zeit zu tragen.«

»Keine Angst.« Seine Bemerkung hatte mich getroffen. Eine Beleidigung war die kritische Reduzierung der Komplexität eines Menschen auf ein einzelnes Wort oder eine Geste. In diesem Sinne war Sex dann eine Beleidigung, wenn seine Möglichkeiten verschwendet wurden, wenn nicht das volle Ausmaß der Sünde erarbeitet wurde, sondern das Ganze einfach ablief, wenn der Schwanz, eingespannt in den Schraubstock der Lust, nicht führte, sondern einen ohne Aufmerksamkeit hinterherzog – solche Beleidigungen – muß ich es sagen? – versuchte ich immer zu vermeiden. Wie Vico von Odysseus sagte: Ich versuchte stets, in meinen Worten anständig und in meinen Handlungen gelassen zu bleiben, auf daß andere nur aus sich selbst heraus dem Irrtum verfielen und selbst den Grund für ihre Enttäuschung legten. Und er sah mich als einen Verführer. Ich fühlte mich beschimpft.


Damit sandten sie mich zurück. In einem Augenblick freudloser Euphorie war ich weder Teil der Gegenwart noch der Vergangenheit. Ich war von allem abgeschnitten. Ich balancierte an der Grenze zwischen Grauen und Entzücken, fühlte mich betrunken oder erschöpft oder im langen Rausch eines Orgasmus, der all die Stunden der vorbereitenden Anstrengung in einem einzigen unklaren Moment komprimierte, und dieser Moment dauerte fort, dehnte sich, bis in der Stille das Getriebe der Geschichte zu hören war und das Wehklagen der Toten das Schweigen erfüllte. Es war der Moment, in dem man die nahende Änderung wahrnimmt und weiß, daß man keine Kontrolle hat und sich allem Geschehen fügen muß. Plötzlich war ich in Wien.

»No! Wer bist denn du?«

Ich drehte mich um und sah einen fetten Wirt an seinem Hosenknopf fingern. Eine Urinpfütze dampfte in der Gasse. Er sah mich von oben bis unten an und wurde blaß.

»Entschuldigend, gnädiger Herr.« Meine Kleidung bescherte mir diese Höflichkeit.

»Ist schon gut. Sag mir … kennen Sie ein Herr Mozart?«

Er schürzte mißtrauisch die Lippen. Vielleicht hatte ich einen grammatikalischen Fehler gemacht.

»Mozart? Der Musikant?«

Ich lächelte über den herabsetzenden Ausdruck. »Komponist.«

»Ja freilich, der tut hier ab und zu aan Kaffee trinken.« Und er wies dabei mit dem Daumen zur Kneipentür.

»Tausend Dank.« Ich gab ihm eine Münze.

»Is scho recht.« Stolz wandte er sich ab und schlurfte in seine Kneipe zurück.

Ich ging zur Vordertür und hielt einen Moment lang inne. Der Transfer hatte Spuren von Rauch, Ausscheidungen, Ausfluß, Waschmittel und Konservierungsstoffen von meinem Körper entfernt und ihn wie geschält zurückgelassen. Ich fühlte mich sorglos und überlegte, ob auch eine Facette meines Bewußtseins von irgendeiner Chemikalie meiner Zeit reingewaschen worden war. Ich spürte genau die mich umströmende Luft scharf durch meine Kehle rinnen und hörte jedes Geräusch. Seit Jahren waren meine Sinne nicht so wach gewesen. Ich lehnte an einem Eisengeländer und spürte seine Wärme an meinen Händen. Kutschen klapperten, es roch nach Pferden, Staub wirbelte auf. Schwalben schossen am leicht bewölkten Mittagshimmel hin und her. Ein Lied stieg in mir auf. In Los Angeles unterrichtete ich in einem düsteren Klassenraum; die bleierne Luft, das tote graue Licht, das durch alte Glasscheiben hereinfiel, der ununterbrochene Lärm von Bauen und Abriß draußen, das alles waren Hemmnisse für den zerbrechlichen Geist der Musik, die ich lehrte. Wir werden dieser leichten, klaren Musik vielleicht gar nicht mehr gerecht. Sie erregte weder Ekel noch Begehren, die einzigen Energiequellen für uns. Dafür schlug sie, einfach wie ein Vogelherz, einen lebendigen Rhythmus, der anders war als der von Maschinen oder von den Giften in unserem Blut. Aber jetzt umflutete mich die Empfindung dieser Musik, und ich war dankbar.


Drinnen saß er allein an einem Tisch in der Ecke. Ich verliebte mich sofort in ihn. Seine Züge waren den meinen nicht unähnlich, aber weicher, weniger scharf geschnitten, als wollte die Zeit ihn in keiner Weise kennzeichnen, sondern ihn nur in völliger Gleichgültigkeit benutzen. Er war älter als ich, aber ich fühlte mich väterlich. Er hatte immer noch den traurigen, süßen, verletzlichen Blick, den er mit sechs gehabt haben mußte.

»Herr Mozart?«

»Nein.«

»Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart.«

»Nein! Heiße Amadeus.«

»Amadeus«, sagte ich erfreut. »Was für ein Zufall, das ist auch mein Name.« Ich setzte mich ihm gegenüber und sprach weiter in sorgfältigem Deutsch.

»Ein schöner Name. Meine Mutter gab ihn mir. Ich glaube, er bedeutet Gottlieb. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

»Ja. Aber ich … ich würde lieber Wein trinken.«

Ich bestellte zwei Glas Wein und musterte ihn würdevoll.

»Geehrter Herr Mozart. Ich möchte eine Messe bestellen, eine Totenmesse.«

»Für wen?«

»Mein Auftraggeber möchte anonym bleiben, aber er zahlt Ihnen, was Sie verlangen.«

Es klang, als würde ich einen Text ablesen, was ich ja auch tat. Aber ich mußte der Behörde dafür einstehen, daß er den Preis von 50 Dukaten nennen würde.

»Ich weiß nicht. Ich schreibe gerade an einer Oper, meine Frau ist schwanger, sie mußte nach Baden reisen, also … hm … ich habe viele Ausgaben!«

Schulden, meinte er. Er hatte fürchterliche Schulden. Seine hilflose Bemäntelung rührte mich.


»Fünfzehn Dukaten jetzt? Und 50 bei Lieferung?«

»Ja, abgemacht. Ich langte in meinen Gürtel und zählte in einer plötzlichen Regung hundert ab.«

»Und bei Lieferung dasselbe noch mal.« Er bedeckte die Münzen mit einer Hand und schob sie zur Tischdecke. Ich schämte mich. Er brauchte fünfzigmal so viel.


Ich würde ihn für den Rest meines Aufenthaltes nicht mehr sehen, erst wieder kurz vor meiner Rückkehr. Das waren meine Anweisungen. Aber ruhelos begann ich an seinem Haus in der Rauhensteingasse herumzustreichen. Ich sah ihn an einem dreckigen Fenster im zweiten Stock und wie er bei meinem Anblick zurückfuhr. Das war seine Angst, noch nicht zum Grauen erstarrt: daß ich der Bote einer anderen Welt war und ihm die Nachricht von seinem Tod brachte. Das kam der Wahrheit so nahe, daß ich in einer plötzlichen Sehnsucht, die Macht dieses Bildes zu zerstören, die Treppen hinaufrannte und klopfte. Er antwortete schnell und verängstigt.

»Was ist? Sie kommen wegen des Requiems? Ich habe zu tun, ich hatte noch keine Zeit …«

»Nein, nein, ich wollte nur Guten Tag sagen. Darf ich eintreten?«

Er zögerte einen Moment lang und zog dann die schwere Tür auf. »Störe ich?« Sein Schreibtisch war mit Papieren übersät.

»Nein, wirklich nicht. Eine Oper.«

»Die Zauberflöte?«

»Ja. Woher wissen Sie …«

»Das Titelblatt.«

»Oh, natürlich. Ein lächerliches Stück, nur wegen des Geldes, für Schikaneder, wissen Sie. Aber er will es spätestens nächste Woche, und … und wenn ich es nicht umschreibe, will er nicht zahlen, aber er … er hat die erste Niederschrift und sagt, er zahlt nicht, wenn ich es nicht fertigschreibe, aber er wird es so oder so auf die Bühne bringen, ich habe nicht genug Zeit, ich habe nie genug Zeit, und jetzt, Constanze ist weg … ich schaff’s nicht, ich schaff’s einfach nicht!«

Er fing an zu weinen. Eine ungewohnte Sympathie erfüllte mich: anders als alle, die ich kannte, anders als ich selbst, war er an der Kompliziertheit seines Schicksals unschuldig. Verlegen und in dem Wunsch, es ihm leichter zu machen, nahm ich ein paar Seiten von seinem Schreibtisch und fragte:

»Kann ich Ihnen dabei helfen?«

»Helfen? Entschuldigen Sie, ich wollte das nicht. Aber helfen? Sind Sie Musiker?«

»Ich kenne Ihren Stil. Ich könnte … na ja, Stimmen schreiben, oder ein bißchen etwas einflicken da und dort. Als Beweis meiner Wertschätzung und damit Sie es fertigkriegen.«

»Das ginge.«

So gelangten die Entwürfe für einen Akt der Zauberflöte in meinen Besitz. Meine Arbeit auf diesen wunderbaren Seiten war eine Schulung. Ich verstand die Bemerkung eines Kollegen, daß Mozart zu leicht für Anfänger und zu schwer für Könner sei. Die Melodien waren gefällig und wendig, und ich konnte an einem Abend problemlos drei oder vier Begleitstimmen fertigschreiben, so wunderschön trugen die Melodien die Saat ihres Wachstums in sich. Oft merkte ich erst, wenn die Lampe flackerte, daß nicht erst 10 Minuten vergangen waren, sondern ich ein halbes Dutzend Seiten geschafft hatte und der Docht geschneuzt werden mußte. Ich fand, daß ich diese paar friedlichen Nächte verdient hatte.

Aber ich war nicht frei. Tagsüber war mir bewußt, daß ich unter Toten wandelte, und nachts, nach der Musik, war mir bewußt, daß meine Toten noch nicht einmal geboren waren. Gesichter, die ich sah, erinnerten mich an Menschen, die ich kannte, und ich erntete feindselige Blicke. Zweimal hielt mich die Polizei an, und es kostete fünfzig Gulden, sie dazu zu bringen, über meine fehlenden Ausweispapiere hinwegzusehen. Scharlach grassierte in dem Sommer in Wien, und ich hatte Angst, daß meine Impfungen den Transfer nicht überstanden hatten. Ich hatte ein bedrohliches Gefühl nahen Unheils. Es war elend heiß in der Stadt. Es kam mir so vor, als ob ich keinen Herbst mehr erlebt hätte, seit ich mit neun Jahren New York verlassen hatte. Meine Sinne erinnerten sich an eine Brise kühler, stinkender Luft vom East River im Oktober und an das dürre Gras in dem winzigen Park zwischen Türmen aus Stein, in deren Fenstern sich der graue Himmel spiegelte. Ich spürte in mir die ersten Vorboten von Verlust und das bittere Wissen, daß niemand es schafft, so gut zu sein, wie es nötig wäre.

Und ich schlief nicht gut. Träume voller Schrecken wurden mir wie Nägel ins Hirn gerammt. Sie ließen nicht einfach Depressionen zurück, sondern blieben scharf umrissen und gegenwärtig, bis eine neue Nacht sich über die Straßen senkte und ich in meine Unterkunft zurückkehrte.

Die Toten bleiben nicht im Grab. Das bedeutet, daß sogar die Lebenden nur im Bewußtsein von anderen leben. So war meine Mutter mir Jahre nach ihrem Tod in meinen Träumen erschienen, anklagend, vorwurfsvoll, als ob mein Haß sie vorzeitig getötet und meine Verständnislosigkeit ihre Niederlagen herbeigeführt hätte. Selbst das echteste Selbst ist nicht das Selbst, sondern seine Spiegelung. So stellte ich mir vor, ich sei vergessen, tot und erlebte meine Auferstehung in der Erinnerung der anderen. Ich redete im Schlaf mit den Toten; sie gaben mir Erklärungen, kritisierten und schmähten mich, und ich führte träumend alle Diskussionen, denen ich im Leben ausgewichen war. Ich fürchtete sie und sie waren mir willkommen: willkommen, weil sie mir Dinge über mich mitteilten, gefürchtet, weil ich ihrem genauen Wissen vielleicht nicht standhalten konnte. Am beängstigendsten waren die Begegnungen mit Gott, weil ich nicht an Seine Existenz glaubte. Aber Er schritt durch die Gärten und Alleen und Einöden meines Schlafes, ließ mit einem Blick Pflanzen verdorren, berührte segnend ein Gedankenmuster oder sprach von Gnade, Moral, Kunst, Krankheit und Vollendung. Hier war Er in der ganzen Allmacht Seines Zorns, Seiner Rache und (wie ich mir selbst versicherte) Seiner Gnade, viel großartiger als wenn ich versucht hätte, Ihn einmal wöchentlich im düsteren Schiff einer zeitgenössischen Kirche aufzusuchen. Ich war von Geburt Jude, vom Lebensstil Atheist, aber von meiner Empfindung her war ich Katholik. Denn ich glaubte daran, daß Gott (falls es ihn gab) ein Aristokrat war, weltlich und bourgeois, der nicht mehr von mir forderte, als ich in gutem Glauben selbst von mir fordern würde; ich trug Verantwortung, Schuld und Schrecken in meinem Herzen, und die Hoffnung auf Erlösung durch die Macht des Geistes. Aber ob wir jemandem gehörten, ob wir unseren Geist Gott, Krishna, Kunst, der Zeit, dem Tod, dem Chaos verdankten oder nur uns selbst, unseren Freunden und der Sinneswelt, vermochte ich nicht zu entscheiden. Aber es machte für mich auch keinen Unterschied. Mein Gefühl konnte mit einem lebendigen, toten, abwesenden oder noch ungeborenen Gott leben; vielleicht zog ich die letzte Möglichkeit vor. Sie barg eine ungeheure Verantwortung, denn wenn Gott noch nicht geboren war, hatte jedes große oder kleine Versagen im Geistigen nicht nur die Verdammnis des Einzelnen zur Folge, sondern gefährdete die eventuelle Existenz von Gott. Nur das konnte das ganze Ausmaß meiner Schuld, meines Ekels, Ärgers und schlechten Gewissens erklären. Wenn Gott noch nicht geboren war, wenn er erst durch unsere spirituelle Anstrengung erschaffen werden mußte, dann drohte mit dem Verlust der Geistigkeit nicht weniger als die Abtreibung von Gott, Liebe, Zeit, und jedem Sinn.

Eines Nachts sprach der Direktor zu mir. Im Schlaf konnte ich nicht unterscheiden, ob es ein Traum oder ein Eindringen in mein Bewußtsein war und ob es da überhaupt einen Unterschied gab.

»Sei kein Träumer«, sagte er. Ich suchte in der Dunkelheit, konnte ihn aber nicht sehen.

»Denkst du, ich weiß nicht Bescheid? Ich weiß alles. Ich war hier. Du fühlst dich mächtig und unabhängig. Das ist eine Täuschung, du kannst nichts ändern. Du machst nur die Geschichte, die du schon kennst. Du kannst ihn nicht retten, du kannst noch nicht mal dich selbst retten. Wir tun diese Arbeit, weil wir unsicher sind, weil wir der Zeit nicht trauen. Wir tun sie nicht, um zu verändern, sondern um zu konservieren, um uns vor Änderungen und Betrug zu bewahren. Wir sind nicht mehr so naiv, wie wir einmal waren.«

Aus einem tiefen Wissensgrund würgte ich meine Antwort hervor:

»Es ist naiv, in diesem Zusammenhang von Betrug zu reden.«

»Du hast Ehrgeiz«, sagte er. »Darum haben wir dich ausgesucht. Du denkst, du kannst etwas zurückbringen, es vor uns verbergen und hättest dann die Mittel, uns zu zerstören oder zu verlassen. Das klappt nicht. Der Transfer arbeitet in beide Richtungen: ich habe deine Zukunft gesehen, hm? Was denkst du wohl, warum wir auf dich gesetzt haben? Du bist genauso korrupt wie wir alle …«

»Korruption«, sträubte ich mich, »ist zu frühes Wissen. Aber ich weiß nichts.«

»Dann bewirkst du auch nichts. Unwissenheit ist nicht die Rettung. Du bist unser Agent, du arbeitest nach Anweisungen. Du bist dort noch nicht einmal eine Person, sondern verwirklichst nur den Willen eines Plans, der so groß und kompliziert ist, daß du keine Ahnung von seiner Existenz hast. Du bist lächerlich, komisch wie ein verführter Priester, ein bestochener Richter, du junger Künstler mit reinen Idealen, unbestochen, bestechlich, oh, wir kennen diesen Typ.«

»Wollt ihr die Zeit zerstören? Was wird mit Gott, wenn die Zeit zerstört ist?«

»Wenn die Zeit zerstört ist – wird vielleicht das Chaos heraufbeschworen.«

»Mieser Betrüger!«

»Unschuldslamm.«

Dann kämpfte ich mich frei. Donner und klatschender Regen hallten in der leeren Kathedrale der Straßen wider. Ich rappelte mich hoch und schloß das Fenster, in einer Pfütze von kaltem Wasser stehend. Ich merkte, daß ich nur von einem Traum in einen anderen entkommen war, aus dem ich erst zur vereinbarten Stunde erwachen konnte.

So ging alles seinen Gang. Ich vermied es, Mozart zu sehen. Am letzten Tag ging ich wieder in die Ungarische Krone und gab ihm die von mir ausgearbeiteten Seiten. Ich war barsch, herrisch und falsch. Ich gratulierte ihm zur Geburt von Franz Xaver, sagte, ich würde mich auf die Oper freuen und auf das Requiem, das seine glänzende Laufbahn sicherlich krönen würde. Er trank, während ich redete und schwieg, bis ich mich zuletzt selber schämte. Er bestellte Wein nach, ohne mich zu fragen.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Ich will keine Sau sein, aber Wein ist bei mir nicht oft drin.«

»Ist schon gut«, sagte ich ernüchtert, »das macht gar nichts. Ich habe das Gefühl, Ihnen etwas zu schulden.«

»Sie haben schon so viel für mich getan.«

»Nicht der Rede wert. Ich weiß, wie schwer Sie es haben …«

»Komponieren Sie viel?« Er versuchte freundlich zu sein, aber seine Frage traf mich wie ein Stachel. Ich versuchte, das Gefühl abzuschütteln.

»Sie haben einen Witz gemacht, ohne es zu wissen. Ich bin kein Komponist, ich bin Lehrer. Ich unterrichte junge Menschen in Ihrer Musik.«

»Sie sind Engländer?«

»Amerikaner.«

»Amerikaner! Meine Musik. Denkt man so hoch von mir in Amerika?«

»Die meisten erheben Sie noch über Beethoven.« Ich formulierte das sorgfältig, weil ich nicht zu ihnen gehörte.

»Über wen?«

Beethoven war zwanzig. Seine erste Sonate würde in drei Jahren erscheinen.

»Beethoven«, sagte ich streng. »Ein Schüler von Haydn, dem Mann, der Ihrer Art zu komponieren ein Ende setzen wird …«

»Gott sei Dank! Wenn Sie wüßten, wie satt ich es habe. Nie kann ich mich entspannen, immer ist irgendwas. Dieser Schikaneder und seine blöde Freimaureroper! Er schreibt sie jede Woche um, je nach Wendungen im Publikumsgeschmack, dieser verrückte Erfinder mit seinen Bühneneffekten. Sie ahnen nicht, was es heißt, keine Stellung am Hof zu bekommen, Sie müssen mit … mit Unterwürfigkeit, Selbsterniedrigung, Intrigen dafür sorgen …«

»Sie haben nicht genug Ehrgeiz«, sagte ich trocken.

»Das stimmt. Das hat Puchberg auch gesagt. Aber ich verstehe nicht, was er meint. Ich schreibe jedes Stück so gut, wie ich kann …«

»Aber er will keine Vollendung! Eigentlich liegt Ihnen nichts an der Musik, oder? Jedes Stück so vollendet wie möglich, gut, aber da ist keine Qual, keine wirkliche Frage warum, wozu. Sie machen Musik, wie andere Stühle machen, oder …«

»Doch«, sagte er ernst. »Ich bin von Gott gequält. Ich trage eine Schuld.«

»Gott gegenüber?«

»Darum schreibe ich Ihre Messe. Ich habe so wenig für die Kirche komponiert.«

»Die Kirche? Aber was glauben Sie, für wen Sie schreiben? Warum komponieren Sie diese Messe?«

Er zuckte die Achseln. »Für Sie. Oder ist es für einen anderen Amerikaner?«

»Wolfgang«, sagte ich sehr freundlich, »du weißt doch sicher, daß du all deine Musik im Grunde für dich selbst schreibst.«

Er erbleichte. Er faßte meine Worte so auf, daß sie seine Furcht bestätigten.

»Nein, schau her, ich meine … ist es Musik, wenn du sie in dir trägst oder dann, wenn du sie niedergeschrieben hast, oder erst, wenn sie gespielt wird?«

»Wenn ich sie innerlich höre. Hinterher – ist es etwas anderes. Aber niemand bezahlt mich dafür, daß ich sie innerlich höre.«

»Also ist die Musik für dich. Das andere ist für die anderen.«

»Aber es ist noch mehr. Sogar mein Name …«

»Es ist auch mein Name.«

»Vielleicht bedeutet es etwas.«

»Aber kann Gott wollen, daß wir so unglücklich sind? Es gibt auch so etwas wie Lebenskunst. Hast du je daran gedacht, mit dem Schreiben aufzuhören? Wenn du es nicht mehr nötig hättest? Könntest du auskommen, ohne …«

»Musik? Aber Musik ist mein Lebensunterhalt.«

»Dein Lebensunterhalt, aber nicht dein Leben. Willst du nicht leben? Ich könnte dir Geld geben.«

»Um mich zum Schweigen zu bringen?«

»Nein! Um dir den Nutzen des Schweigens zu zeigen. Um dir eine freie Entscheidung zu ermöglichen.«

»Dafür ist es zu spät.«

Ich blickte in sein gehetztes Gesicht und wußte; daß die Biographen unrecht hatten. Er starb nicht an Typhus. Er starb, weil er verbraucht war. Geld konnte ihn nicht retten. Er zog aus seiner Kunst oder aus seinem Leben keinen Trost. Er verdiente etwas Besseres, nicht weil er ein Genie war, nicht weil er unschuldig war, sondern weil er auch nach Täuschungen, Schmerz und Betrug weiter in gutem Glauben handelte. Noch auf dem Totenbett, im Delirium, würde er Anweisungen für die Beendigung des Requiems geben.

Neugierig sah er mich an.

»Du hast meinen Sohn, mein Franzerl erwähnt … Er ist vor einer knappen Woche in Baden geboren, ich bekam gerade erst Constanzes Brief. Woher wußtest du das?«

»Ich … sowas spricht sich herum.«

»Und du sagtest, ich hätte einen Witz über dich gemacht. Was meinst du damit?«

»Es gibt in Amerika keine Musik«, sagte ich kurz.

»Oh. Vielleicht noch nicht. Dein Land ist noch sehr jung.«

Wütend schrie ich: »Mein Land ist zweihundertfünfzig Jahre alt!«

Eine Art Frösteln strich über uns hinweg. Ich merkte, daß ich keine Kraft mehr hatte, ihn zu täuschen.

»Wie meinst du das?«

Also mußte ich ihm alles erzählen … Ich kam nicht darum herum.

»Ich komme aus der Zukunft. Ich bin im Jahr 1984 in der Stadt New York geboren und wurde mit … mit einem Mechanismus hierhergesandt, um dich und dein Leben zu studieren. So meine ich das.«

Er schluckte es. Ich bestellte mehr Wein, während er mich anstarrte.

»Natürlich hätte ich dir das nicht erzählen dürfen. Ich bin verrückt. Ich wollte nicht eingreifen, ich wollte nur …« Aber ich wußte nicht, was ich gewollt hatte.

»Aber hör zu«, fing ich an, und ich versuchte, mich selbst zu erklären, indem ich die Musik erklärte. Musik erklärte – ihm! Ich versuchte Worte zu finden, die nichts ausschlossen. Ich zitierte John Cage, »eine zutiefst zwecklose menschliche Tätigkeit«, aber das umfaßte so viel, daß es keine Bedeutung mehr hatte; ich sagte ihm, Musik sei die Vollendung von Zeit und Raum durch den menschlichen Willen. Ich erwähnte Beethovens Innenräume, die schweigenden Abläufe von Cage, die den Geist, wenn nicht die Seele, von indischen Morgen- und Abend-Ragas in sich trugen. Ich sprach von den Maschinen, die Komponisten und ganze Orchester ersetzen konnten, von den Klangskulpturen, die in Wüsten, auf Bergen und öffentlichen Plätzen tönten und genau auf Regen, Temperatur, Bewegung und Licht reagierten. Diese Instrumente schlossen die Zeit aus und machten den Begriff ›Vorstellung‹ bedeutungslos, denn sie vermittelten nicht Geist, nicht Seele oder Bewegung der menschlichen Hand oder Stimmklang, sondern sie froren die Musik zwischen den Transistoren ein, folgten nur dem Befehl von Lötkolben und Rechteckwelle. Und ich dachte an die Kirchenmusik, deren Melodien ohne Anmut nur Besessenheit ausstrahlten; all das war nur insofern die Vollendung von Zeit und Raum, wie ein Krebsgeschwulst vollendet ist: das schlicht unausweichliche. Also versuchte ich es noch einmal und sagte, daß zu Musik menschliches Handeln gehörte, aber dann fiel mir ein, daß für ihn schon die Musik in seinem Bewußtsein Musik war. Ich sagte, Musik sei ein Weg, das Chaos zu ordnen … und da verhedderte ich mich. Meine Stimme erstarb. Mir wurde klar, daß alle Kunst immer nur in dieser Absicht entstanden war. Wenn Kunst behauptete, die Zeit zu befreien, und verschiedene Zeiten in ihrer Zeit zurückließ, indem sie mit Erinnerung, Wiedererkennen, Anspielung, Wiederholung, Unterbrechung arbeitete, gab es jetzt keinen Bedarf mehr für Kunst, denn alle Zeiten waren verfügbar.

Aber wie wir schweigend dasaßen, wurden Geschichte, Zeit und Kunst meinen Sinnen zugänglich. Ich lächelte fast, es war so schön, wie es mich aus dem Innersten bis an meine Haut durchdrang, wie eine zärtliche Berührung meines innersten Wesens.

»Hör zu«, sagte ich.

Die Luft war erfüllt von einem zufälligen Konzert aus Gesprächsfetzen, Pferdegetrappel, dem Klirren von Glas und Besteck.

»Es ergibt eine Melodie, hörst du das?«

»Ja. Manchmal denke ich – daß ich gar keine Musik mehr zu schreiben brauche. Sie ist schon in der Luft.«

»Musik ist eine Art des Lauschens«, sagte ich. Das war es, was ich mein ganzes Leben lang hatte sagen wollen. Spalte den Stock, sagten die Gnostiker, und Gott ist da. Öffne die Stille – Musik. Ich schloß die Augen und sah plötzlich meinen Vater vor mir, der verächtlich schwieg. Wir sind an die Geschichte gebunden, Geschöpfe der Umstände, und spiegeln den Augenblick. Meine Worte konnten nicht erklären, was ich meinte, weil zu ihrer Bedeutung zweieinhalb Jahrhunderte Geschichte gehörten, die ich mit aller Beredsamkeit nicht überbrücken konnte. Und er war ebenfalls gebunden.

»Das ist ja alles ganz interessant«, sagte Mozart. »Aber was heißt es für mich? Ich habe meine eigenen Probleme. Amerika, die Zukunft – beides ist unglaubhaft. Für mich bist du nur ein armer Irrer.«

»Was? Du glaubst mir nicht?«

Er stand auf. »Es ist angenehmer sich vorzustellen, daß du diese ›Zukunft‹ nur erfunden hast. Es klingt märchenhaft.«

»Ist es aber nicht!« Wütend hielt ich ihn am Handgelenk fest. Er konnte nicht einfach abtun, was mich so viel gekostet hatte. In meinem Gürtel befand sich eine Kopie des Requiems, die ich in Kalifornien angefertigt hatte. Da ich sowieso schon alle Regeln verletzt hatte, holte ich sie heraus.

»Hast du mit dem Requiem schon angefangen?«

»Nein.«

Ängstlich sah er mir zu, wie ich das Manuskript entfaltete.


Die Notenlinien waren leer. Die Tinte hatte den Transfer nicht überstanden. Nur eine Spur, ein flüchtiger Eindruck von Schrift, als ob meine Schrift von einer mächtigen, aber wohltätigen Chemikalie weggeätzt worden wäre. Ich hatte nicht vermutet, daß sich Tinte in zwei Jahrhunderten so geändert haben würde. Er nahm die leeren Seiten und warf einen Blick darauf. Leise sang er:

»Lacrimosa, dies illa, qua resurrexit ex favilla …«

Ich hatte keine Worte mit abgeschrieben. Ich bezweifelte, daß er die Noten entziffern konnte. Nein, er erinnerte sich an etwas, das er noch nicht geschrieben hatte oder komponierte es beim Singen. Als die leeren Seiten in seiner Hand zitterten – ich hatte das Papier 2016 bei einer Versteigerung von Beethovens Notenpapier in Bonn gekauft, damit es garantiert die Passage überstehen würde, jetzt war es unnützer Tand – fiel mir ein, was ich mit sieben oder acht Jahren in der Lincoln-Zentralbibliothek zwischen meinen Stunden am Juilliard-Konservatorium über die Biographien von Komponisten gelesen hatte. Ich war erschüttert gewesen, wie unbarmherzig die Zeit alles auslöschte. Bachs Grab wurde nie gefunden; ein Gewitter empfing Beethovens Seele; und dieser traurige junge Mann würde mitten in einem nächtlichen Unwetter sterben und am 6. Dezember dieses Jahres in ein Armengrab kommen, seine wenigen Freunde von Regen und Schnee zurückgetrieben, bevor der Friedhof erreicht war – am Grab nur noch die Totengräber. Sogar seine Züge würden der Nachwelt verlorengehen und nur noch in stümperhaften Porträts überliefert werden – seine Totenmaske würde ein paar Jahre später herabfallen und zerbrechen. Wie ein Asket seinen Körper kasteit, um Gott näher zu kommen, wie ich jeden Gedanken und jede Handlung meinem schlechten Gewissen unterwarf, um irgendwie ein wenig persönliche Würde zu erreichen, so schien die Zeit alles spezifisch Menschliche bei jedem Künstler auslöschen zu wollen, als ob sie Mozarts Musik ohne Mozart haben könnte.

»Kennst du mein weiteres Leben? Wann werde ich sterben? Werd ich das Werk fertigstellen?«

Ich konnte nicht sprechen.

»Ich weiß, daß ich nicht viel Zeit habe. Wieviel?«

»Das steht nicht fest. Meine Gegenwart ändert die Dinge.«

Er drehte an seinem leeren Glas. Schließlich sagte er: »Schick mich statt dessen.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Du sagst, deine Zeit sei dir feindlich. Meine mir auch. Bleib hier und laß mich an deiner Stelle zurückkehren.«

»Aber das geht nicht, es gibt Regeln, das ist, als ob du die Tonart von E-Dur nach B modulieren wolltest, das kannst du nicht …«

»Aber ich habe es getan, in einem Quartett. Es gibt immer einen Weg, wenn du wirklich willst und deine Kunst beherrschst.«

»So einfach ist das hierbei nicht«, sagte ich bitter. Ich wollte ihn beleidigen, aber er merkte es gar nicht. – »Meine Zeit ist lebens- und kunstfeindlich; du … du würdest dort nicht überleben.«

»Hier auch nicht.«

Ich senkte den Blick. Eine Fliege war in meinem Weinglas gelandet, und ich sah müßig zu, wie sie um ihr Leben kämpfte. Durch ein Fenster fielen Sonnenstrahlen in das Glas, und die Anstrengungen der Fliege malten ein Tanzmuster auf den Tisch. Auch er sah zu.

»Ich würde dich herausfischen«, sagte ich zu der Fliege, »aber du machst so schöne Muster. Du würdest wahrscheinlich lieber leben als schöne Muster machen. Das ist ein weitverbreiteter Irrtum.«

Er tauchte seinen Finger in meinen Wein und rettete die Fliege.

Ich nahm seine Hand und drückte sie. Mein Herz schlug, und ich rang nach Atem.

»Wolfgang. Wolferl, geliebter Amadeus … Ich möchte mit dir schlafen.«

Er fuhr zurück und starrte mich mit einem wilden Blick an. Dann führte er langsam meine Hand an seine Lippen.

Als wir zur Rauhensteingasse gingen, war ich von heiterer Fröhlichkeit durchströmt.

»Die Liebe, die nicht wagt, ihren Namen zu nennen«, sagte ich. »Ein Ire hat es so genannt.«

»Ein Ire in der Zukunft?« fragte er spielerisch.

»Ja, aber nicht so weit wie ich.«


In seiner Wohnung war es nicht das übliche Rein und Raus. Wir bewegten uns sanft, wie in einem Traum. Ich dachte: Sex ist Austausch. Um es kurz und präzise zu formulieren, wird etwas von einem an den anderen weitergegeben, und es wird aufgenommen oder zurückgewiesen. Obwohl ich von meinen Liebhabern diesen Dienst erwartete und fast forderte, konnte ich selbst die Glitschigkeit des Samens und seinen heißen Geschmack auf meiner Zunge kaum ertragen. Das war jetzt anders. Ich war begierig danach und hielt ihn lange, nachdem er zugestoßen und sich zurückgezogen hatte. Ein Raum des Schweigens entstand.

»Ich wollte nicht …«

»Ist schon gut.« Aber er war niedergeschlagen und befangen. In seinen Augen stand Vorwurf.

»Aber hast du mich lieb? Hast du mich auch wirklich lieb?«

Fast hätte ich gelacht. Dann erhob sich eine große Welle von Trauer, meine lange Vergangenheit von schlechtem Gewissen und Schweigen, und ließ mich ernst werden. Ich dachte an all die Jahre, in denen ich diese kurzen Worte, die uns so unglücklich machen, vermieden hatte. Ich dachte daran, wie ich alles Glück damit genauso vermieden hatte, und beteuerte mir innerlich, daß damit jetzt Schluß sein würde.

»Ja. Ich liebe dich. Mehr als mein Leben.«

»Mehr als dein Leben?«

»Mein Leben«, scherzte ich, »ist nicht liebenswert.«

»Dann hilf mir.«

»Du meinst, du willst immer noch …? Mein Gott. Du würdest Constanze und Franzerl verlassen, und deine Arbeit …«

»Ich sterbe sowieso! Ich weiß es! Was kann ich hier schon noch tun. Aber du bist gewandt, gesund, reich, kennst dich mit Musik aus und würdest mit diesen Leuten klarkommen, mit Schikaneder und … und Puchberg, van Swieten, du lieber Gott, was sie verlangen ist widerlich! Nur für ein paar elende Dukaten!«

»Was? Du machst das mit … mit …«

»Bitte!«

»Aber ich, ich bin korrupt genug, mir würde das nichts ausmachen, meinst du das, ich könnte deine Musik fälschen, deine Karriere, erfolgreich sein, wo du es nicht geschafft hast, das denkst du doch?«

»Aber du wärest ich.«

»Und du ich. Könntest du damit leben? Denkst du, du wärst dem gewachsen, was das Leben von mir verlangt?«

»Hier sterbe ich«, sagte er ruhig.

»So. So. In Ordnung. Zieh meine Sachen an.«

»Meinst du wirklich?«

»Zieh dich an!« Ich hätte ihm das Geld dagelassen. Er hätte sich zurückziehen und noch zehn Jahre in Frieden leben können, ohne Ärger mit Rechnungen oder dem angefangenen Quartett auf seinem Schreibtisch. Ich hatte ihm den Schlüssel zu diesem Frieden geben wollen.

Wir eilten zur Taverne und gingen in den Hinterhof.

»Stell dich hierher!« sagte ich und plazierte ihn an die Stelle, wo ich gestanden hatte. Ich trat ein paar Schritte zurück. Es blieben vielleicht noch fünf Minuten. Er konnte nicht für mich gehalten werden. Er war fünf Zentimeter kleiner, der Umhang schleifte im Dreck. Keiner würde ihm auch nur eine Sekunde glauben, es sei denn, die Zeit würde Korrekturen vornehmen, es sei denn, Gedächtnis und Charakter konnten so leicht ausgelöscht werden wie Worte. Es dämmerte, und Zweifel stieg in mir auf. Wenn unser gemeinsamer Name – Gottlieb – von Gottes Vertrauen in uns sprach, betrogen wir Ihn nicht, wenn wir unsere Zeit verließen? Wenn Er noch nicht geboren war, verdammten wir nicht nur uns selbst durch eine solche Veränderung der Geschichte. Wozu brauchte Er die Zeit, wenn nicht zum Wachsen? Und warum hatte Er uns den Zeitsinn gegeben, das Geschenk der Musik, wenn nicht, um unsere Hilfe zu gewinnen? Ich wollte sprechen, aber da griff Mozart sich an die Brust und starrte nach oben.

»Oh«, schrie er.

Ein prickelnder Zukunftssog ergriff mich. Plötzlich wurde ich wieder durch das Sieb des Werdens gepreßt, und alles, was nicht wirklich zu mir gehörte, wurde weggerissen; ich fand mich im Laboratorium auf Knien und Händen, zitternd und schwitzend von dem Verfall und Ekel meiner Zeit. Ich spürte wieder den sicheren stetigen Griff der Zeit nach meinem Herzen wie eine Krankheit und wußte, daß ich wieder zu Hause war. In meinem Innern fühlte ich das vollendetste aller Kunstwerke, eine echte Träne des Mitleids für einen anderen – er war schlimmer dran als ich –, und dieser teuerste aller Edelsteine, das Destillat von all meinem Schmerz, meiner Liebe und meinem Verlust, rann mir über die Wange und tropfte auf eine Kachel.

»Du liebe Zeit! Er ist nackt!«

»Oh …«

»Steh auf! Hör auf, dich selbst zu bemitleiden! Was hast du denn bloß angerichtet?«

»Ich …«

»Ach, ich will’s gar nicht wissen. Wo ist das Geld?«

»Geld …?«

»Das Geld, das Geld! Du hast es ihm doch nicht etwa dagelassen!«

»Doch, er … er muß es haben.«

»Du lieber Himmel. Es ist genug für ein Schloß! Weißt du, was du da getan hast? Er wird keine einzige Note mehr schreiben!«

»Doch, er wird – Schuld an Gott – und es ist mir egal, er verdient mehr als … als diesen billigen Leichenwagen im Regen, am Grab nur die Totengräber, ich … ich … ich will nicht der gewesen sein, der ihn betrügt …«

»Idiot! Du verstehst überhaupt nichts!«

Aber ich hatte schon verstanden. Und tagelang erfreute ich mich an der Vorstellung von ihm, wie er mit Freunden im Café saß, heiter und friedlich, frei von den Ansinnen aller Impresarios. Ich war so sicher, daß ich nicht einmal seine Biographie nachprüfte.

Dann hatte ich einen Traum. – Ich sah Mozart, immer noch in meinem düsteren Kostüm, gebieterisch zur Rauensteingasse schreiten und hart an die Tür klopfen. Der Komponist Herr W. Mozart öffnete bleich und verstört. Mozart forderte das Requiem. »Die Zeit wird knapp«, sagte er. Der Komponist fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres Haar. Bald, bald. Mozart zog eine goldene Uhr heraus und runzelte die Stirn. »Die Zeit wird knapp.«

Als ich erwachte, war mein Gesicht tränenfeucht. Ich akzeptierte. Ich wußte, daß ich die schwerste Lektion des Lebens endlich begriffen hatte.


Originaltitel: ›Amadeus‹

Copyright © 1980 by Robert Silverberg

(erstmals erschienen in ›New Dimensions‹ 10)

mit freundlicher Genehmigung der Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Kreye

Illustriert von Jobst Teltschik

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