Ian McDonald Gardenien



Tod liegt heute abend über dem Barry-O[7], trotzdem kommen sie immer noch herunter aus dem Neon- und Laserlicht von Hy Brazyl, die fünf. Sie haben sich Namen gegeben wie jene, die noch herunterkommen werden: Namen wie Zed und Obi und Cassaday und Würger und Yoni. Kinder aus gutem Hause, schöne Menschen: ihre Väter sind Männer der Company, verbunden durch Blutsverwandtschaft und Vertrag; ihre Mütter sind Frauen der Company, hineingeboren in das Leben in vornehmer Höhe zwischen den Kristalltürmen von Hy Brazyl. Also: Warum haben sie ihre Modellbehausungen und Corporadas eingetauscht gegen die Elendshütten aus Teerpappe und Plastikplanen des Barry-O, wo die Gesichter keinen Zusammenhalt und keinen Bestand haben und der Regen die Namen von den Straßen wäscht?

Weil sie auf der Suche sind: die Dunkle, die Helle, die Schweigende, der Finstere, der Lachende; sie suchen nach einem Ort, den sie noch nie gesehen haben, den sie jedoch so gut kennen wie die glitzernden Türme ihrer Corporadas. Besser, denn seit dem Augenblick, als sie davon in einem finstern Flüstern unter den Arkaden und in den Bodegas, wo die jungen Leute verkehren, gehört haben, glüht er wie ein Stern in ihrer Phantasie. Die Strahlen ihrer Taschenlampen bohren sich durch die Nadeln des Regens, der immer immer immer in Strömen fällt, in Strömen auf das Barry-O und auf lichtscheue Gestalten, die, eingehüllt in Plastikplanen, hinter aufgetürmte Müllsäcke treiben, um sich zu schützen. Hier unten liegt Krankheit in der Luft. Ein schneller blitzender Tod lauert auf den Schneiden der Barry-O-Klingen, die aus alten Bierdosen gehämmert wurden, zusammengefaltet und gehämmert und wieder zusammengefaltet und wieder gehämmert. Die Leute des Barry-O bleiben in ihren Elendshütten und starren durch die Fenster; sie überlassen die Nacht und den Regen den Müllverkäufern und Messerstechern und den schillernden Figuren der Company. Deren Taschenlampenstrahlen bohren sich als Vorhut in das Elend, während sie spritzend durch die knöcheltiefen, reißenden Regenbäche waten, die den Hügel hinunter ins Barry-O stürzen. Und dort, aus dem Schattenland aufragend, ist der Ort, nach dem ihre Phantasie glühend verlangt.

In den Tagen, als die Straßen noch Fahrzeuge kannten, war es ein mehrstöckiges Parkhaus; zweiundzwanzig Etagen vermietbaren Raums. Jetzt, mit Streifen und Flecken vom sauren Regen, ist seine frühere Identität überwuchert von einem Dschungel aus Stromkabeln und Röhren und Leitungen und selbstgebastelten Parabolantennen aus Maschendraht. Das Netz der Kabel läßt krampfartig dicke blaue Funken auf das Straßenpflaster hinunterzucken.

Einen Moment lang zögern sie, diese Kinder des Lichts. Einen Moment lang spielen vielleicht einige mit dem Gedanken an Umkehr. Doch eins schritt voran durch die Kaskade des blauen Lichtbogens: das dunkle Mädchen, dasjenige, das sich Zed nennt, und die Energie, die es aus der Nacht und dem warmen Regen gewinnt, zieht die anderen hinterher; die Helle, die Schweigende, den Finsteren, den Lachenden. Die unteren Etagen sind bis zur Decke mit schwarzen Müllsäcken angefüllt. Ein Geflecht von Taschenlampenstrahlen enthüllt verstohlene Bewegungen von Schwarz auf Schwarz. Dinge, die die schwarzen Plastikschultern den sie streifenden Lichtstrahlen zuwenden.

»Ich weiß nichts über dieses …« Die Atemmaske verfälscht seine Stimme, seine Identität; nur die Augen des Jungen, der sich Yoni nennt, sind zu sehen, und sie lachen jetzt nicht.

Der endlose Regen hat kleine Kalkstalagtiten durch die Deckenverbindungen sickern lassen: die Scheinwerfer verwandeln die Wassertropfen an ihren Spitzen zu Perlen. Das dunkle Mädchen, dasjenige, das sich Zed nennt, streift sich die Atemmaske ab und schleudert sie weg. Sie rutscht klappernd über den von Tropfen fleckigen Beton. Sie atmet die Fäulnis und den Gestank und den Eiter ein.

»Dann kehr um. Mach nur! Kehr um!« Sie geht zu dem Jungen und streicht ihm mit dem Handrücken übers Haar. »Geh nur! Es ist schon in Ordnung. Das ist keine Schande. Es ist einfach nichts für dich. Wir machen dir deswegen keinen Vorwurf.« Seine Finger fahren über ihre streichende, streichelnde Hand. Wut, Demütigung flammen in den Augen über der Maske auf. Zed lächelt.

»Ich komme mit euch. Sieh mal …« Er nimmt sich die Atemmaske ab, wirft sie weg. Er füllt seine Lungen mit dem Abfallgestank des Barry-O.

»Ich freue mich.«

Und die Helle und die Schweigende und der Finstere werfen ihre Atemmasken weg und atmen den Gestank und die Verderbnis ein, und sie alle lächeln, alle Freunde alle Pilger alle Mitglieder der Company zusammen. Sie drängen weiter, und bei der Berührung des Scheins ihrer Taschenlampen fliehen und verschwinden die versammelten Schatten: Stockwerk um Stockwerk um Stockwerk voll schallender, tropfender Dunkelheit, erleuchtet von zuckenden blauen Blitzen; das Energienetz ist ruhelos. Erwartung. Zed bleibt stehen, mit erhobenen Händen, psst, seid still! Ihre Augen, ihre Nasenflügel sind weit geöffnet, sie schnuppert etwas, eine Ahnung, eine Erinnerung an Gardenien.

»Aurelian?«

Der Name jagt um die baufälligen viereckigen Betonpfosten.

»Aurelian?«

Sie hält einen kleinen Plastikzylinder hoch in die Luft. Sie schüttelt ihn, und die darin schwebenden Dinge fangen den blauen Lichtbogen ein. »Ich habe dir etwas mitgebracht, Aurelian! Eine Wohltat für dein brandiges Fleisch, alter humpeliger, schrumpeliger Mann, damit hat die Verwesung ein Ende. Gutes Zeug, Aurelian, Company-Qualität, hörst du mich, Aurelian?«

Ein Seufzen in der Dunkelheit. Verstärkt durch die uralte Akustik des Parkhauses. Taschenlampenstrahlen wirbeln zu einem Lichtrand herum: nichts. Nur ein Seufzen.

»Du bist auch nichts anderes. Na ja. Kühner als die meisten, vermute ich, aber nicht weniger dumm. Oder weniger eitel. Also gut, gib mir das Zeug!«

Zeds Hand schließt sich schnappend wie Rattenkiefer um das blaue Plastikfläschchen mit dem synthetischen Todeshormon-Stopper. »Gib uns Reinheit!«

»Reinheit.« Brummel-Grummel von der Hellen, der Schweigenden, dem Finsteren, dem Lachenden. Wie ein Gebet.

»Reinheit. Reinheit Reinheit Reinheit.« Natürlich. Das Energienetz zittert und knistert, und Aurelian ist da, aus dem Nichts, aus dem Überall. Er ist groß und stattlich wie ein Sohn der Corporadas. Er trägt einen weißen Leinenanzug und einen Panamahut und geflochtene Schuhe. In seinem Knopfloch steckt eine schwarze Nelke, seine Hand ruht lässig auf dem vergoldeten Knauf eines Malakkaspazierstocks. Er hat schöne Hände. Zed hat noch niemals so schöne Hände geschehen wie die Hände von Aurelian. Der Duft nach Gardenien überdeckt selbst den Gestank des Barry-O.

»Reinheit. Übermütige Jugend!« Er lächelt. Man stelle sich einen Engel vor, der vor langer Zeit durch Gottes Finger gerutscht ist und sich seiner früheren Schönheit erinnert. Man stelle sich vor, wie er lächeln würde. »Dann kommt!«

Frage: Was verkauft Aurelian, das halb soviel wert ist wie das, was er kauft?

Dieses.

Einen siebeneckigen Metallrahmen. So groß wie ein Mann der Company. Reich bestückt mit Kabeln und Leitungen und laienhaft zusammengeschusterten Computermodulen. Die Ahnung einer Tür. Die Ahnung eines Spiegels. In gewissem Sinne beides. Die vollständige oberste Etage von Aurelians kleinem Königreich muß der Unterbringung dieses Dings dienen. Während das Klick, Tapp, Klick, Tapp des Spazierstocks auf dem Beton den Pilgern den Weg weist, erzittern die Kabel vor Energie, und für den kürzest wahrnehmbaren Moment füllt sich das Siebeneck mit einer Fläche blauen Lichts. Lernet das Fürchten, Fremde! Legt ein wenig von eurer Oberstadt-Arroganz ab, von dieser Hy Brazyl-Großspurigkeit, die euch glauben läßt, ihr seiet die Erben der ganzen Erde.

Zed berührt den glatten Metallrahmen, streicht über die summenden Kabel, gafft in das zuckende blaue Licht, als ob sie ergründen wollte, ob es ein Jenseits davon gäbe und wie dieses Jenseits wohl gestaltet sein mochte.

»Nichts«, sagte Aurelian. »Das ist der Gag daran, nicht wahr? Nichts und alles. Sag mal, bin ich jetzt fromm? Ich müßte es eigentlich sein.«

Ungeduldig, seelenhungrig, zieht sich Zed bereits die Kleider aus. Feine Corporada-Seide und Leder liegen wie leere Häute auf dem rostgefärbten Beton. Aurelian fährt sich mit der kleinen Leguanzunge über die Lippen. Es ist nicht Zed, nach der er lechzt. Es ist das Fläschchen in ihrer Hand.

»Ich nehme an, da du über den Materieformer Bescheid weißt, bist du sicher auch vertraut mit DaCostas Gesetz der All-Position, auf dessen Grundlage er funktioniert und nach dem, in einer bestimmten mathematischen Ebene, die Wahrscheinlichkeit der Existenz eines Gegenstands an jedem beliebigen Punkt im Universum die gleiche …«

»Aurelian …« Zed streift sich die Ringe von den Fingern, die afrikanischen Reifen aus Messing und Bein von den Gelenken. Sie schüttelt ihr Haar, um es aus der Lederspange zu befreien. »Keine Theorien, alter Mann. Keine Gesetze. Tu es einfach! Tu es jetzt!« Sie drückt ihren weichen Körper gegen den harten Metallrahmen. Blau in dem vergänglichen Ewigkeitslicht. Ein vollkommenes Kind der Company. Aurelian schüttelte den Kopf, in trockener, spöttischer Sorge. Er schnipst zweimal mit den Fingern, öffnet die schöne Hand. Das Gläschen mit den glitzernden Dingen fliegt im Bogen durch die Luft. Schwarzmarkt-Unsterblichkeit. Aurelians Hand schnappt es mit pfeilschnellem Klammergriff, und schon ist es sicher in der Brusttasche seiner Leinenweste verstaut. Seine Hände, seine schönen, schönen Hände fahren über die häßlichen, zusammengeschusterten Computermodule.

Und das Betonskelett des seit langem toten Parkhauses summt bei einem sich immer weiter steigernden Anschwellen der Energie. Das Summen wird zu einem migränehaften Dröhnen; einen Augenblick lang beben und knirschen die Böden, die Decken und die Säulen, als das Energienetz ihre schwingenden Frequenzen auffängt und wieder abgibt. Das Metallsiebeneck ist eine massive Fläche aus blauem Licht.

»Hesus«, flüstert jemand.

Das Mädchen, das sich Zed nennt, wirft das schwarze Haar zurück und schreitet in das Feld des Teleporters.

Sie kann nicht einmal schreien.

Sie stirbt, ausgelöscht, zerfetzt, zersetzt, verstreut bis in den hintersten Winkel dieses isotropischen Universums, über die Zeit verbreitet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Sie ist nichts. Sie ist alles, eins geworden mit dem Universum im Augenblick eines allgegenwärtigen Nirwanas, das andauert, ewig und ewig und ewig und ewig und ewig und ewig und ewig, und doch ist kein einziger Moment auf der Uhr der Unendlichkeit verronnen.

Es ist der Himmel.

Es ist die Hölle.

Und in demselben Augenblick, da sie zerfetzt, zersetzt und verstreut wird, wird sie aus der Unendlichkeit wieder zusammengefügt und neu geschaffen. Sie lebt wieder.

Sie tritt aus dem Teleporter. Sie leuchtet. Hände, Gesicht, Körper – alles leuchtet. Alle menschliche Schlacke wurde in dieser kurzen Vereinigung mit dem Universum verbrannt. Sie ist gereinigt. Sie ist erleuchtet. Sie ist heilig. Ihre Freunde haben Angst: was ist das? Nicht Zed. Ganz bestimmt nicht Zed. Das kann nicht ihre Zed sein. Doch sie steht mitten unter ihnen, fordert sie auf, ihren leuchtenden Körper zu berühren, und sie strecken die Hände aus, um sie zu berühren, sie gaffen sie durch das Leuchten an. Sie sehen. Dann streifen auch sie ihre edle edle Company-Kleidung ab und treten nackt in den Materietransmitter, um ausgelöscht zu werden, zerfetzt und zersetzt und verstreut durchs ganze Universum, um zu sterben, um wieder zu leben, als gereinigte, geheiligte Gestalten im warmen Tropfen eines verlassenen Parkhauses drunten im Barry-O: die Helle, die Schweigende, der Finstere, der Lachende.

Der Lachende? Der Junge, der sich Yoni nennt, versteckt sich vor den heiteren, strahlenden Geschöpfen, die Sekunden zuvor noch seine Freunde gewesen waren. Er verbirgt sich in den Schatten, die sie werfen. Er lacht nicht. Er hat Angst gehabt. Er hat Angst gehabt, sich im Feld des Materietransmitters aufzulösen, und er schleicht weg von der Gesellschaft der Heiligen hinunter durch die schallenden, tropfenden Stockwerke, verfolgt vom Duft der Gardenien, hinaus in den warmen Regen und die strömenden Straßen, wieder zurück durch die Gassen und über Treppen, hinauf zu den schimmernden Türmen von Hy Brazyl, der lachende Junge, der nie mehr lachen wird.

Von fünfen sind vier geblieben …


Jetzt haben sie sich neue Namen gegeben. Neue Namen für neue Orte. Neue Namen, geformt wie die Glasflügel der Corporadas oder die schillernden Gewölbe der Arkaden und Galerien oder der wolkenwandlerischen Terrassen und Simse. Sie alle nennen sich die Herren der Neuen Kirche.

Das Flüstern vertraulicher Gespräche füllt die Nischen der Neon- und Chrom-Cafes. Spritzer roter Farbe, hingesprüht über eine Wand im Korridor unten in der Wohnebene. Der Schlüssel für ein bestimmtes Datennetz mit Bleistift hingekritzelt auf eine öffentliche Fernkommunikationszelle. Papierschnipsel rutschen in tiefe Ausschnitte bis hinunter in Strumpfbänder, an Hosenknöpfen vorbei, hinter Gürteln hindurch, zu afrikanischen Ohrreifen, in Brustbeutel. Die Herren der Neuen Kirche. Meistens ziehen sie so schnell dahin wie Septemberwolken und scheiden sich an der Frage des Wölbungsgrads der Rundbogen. Diejenigen, die sagen que? Was für ein Schrott (in doppeldeutiger Anlehnung an die alten Automobile in Aurelians zweiundzwanzigstöckigem Reich). Und sie sagen qui, neh! Keine Zeit für diesen Schrott muß arbeiten muß spielen muß leben muß lieben, muß das Leben in luftiger Höhe leben, man geht diesen Weg nur einmal, Compadre, laß uns feiern! Nimm dir einen Drink einen Joint einen Schuß einen Kaustengel einen Tanz. Wir sind die Leute der Company.

Doch für ein paar wenige ist das Flüstern unvergeßlich. Die roten Slogans tröpfeln in die Phantasie ein und sagen Geh den Weg, der nicht der Weg ist. Den Weg, den nur wenige vor dir gegangen sind, heraus aus deinen Corporadas, aus dem Licht in die Schatten unter den Wolken, wo das hellere Licht wartet. Und sie betrachten ihre Traum-Schau-Türme, und sie sagen – Hesus, ist das alles? Arbeiten für etwas zum Spielen zum Beißen zum Bumsen zum Feilschen zum Fälschen zum Leben zum Sterben, für die (von der Wiege bis ins Grab) ruhmreiche die großzügige die wundervolle Company? Und sie sagen – ich gehe den Weg, der nicht der Weg ist, ich werde diesen Schlüssel benutzen, ich werde diese Adresse besuchen, ich werde über den schmalen und gewundenen Pfad gehen zwischen den Todestropfen und den GIGO-Datenblöcken und den blinden Korridoren, die in der Luft enden, die in eine Dunkelheit führen, die besser als jedes Licht ist.

Und dann finden sie dort draußen die Herren der Neuen Kirche. Hingelümmelt auf weichen Sitzkissen. Im Lotussitz beim Kaffee auf Glasgalerien, die Wolken gute zwei Kilometer unter sich. Schattenkämpfer im ewigen Schatten der Industriezentren. Und dieses ist die Lehre, die sie predigen:

Alles ist nichts.

Nichts ist alles.

Wenn du alles Gut der Oberstadt von Hy Brazyl besitzt, bist du immer noch ärmer als der ärmste Noncontractado drunten im Barry-O. Werde zum Nichts, dann wirst du alles empfangen. Nirwana. Nihilismus. Die seligmachende Auflösung. Nichts gewesen zu sein und dann wieder etwas zu werden. Die Reinigung, die eintritt, wenn die Schlacke des bloßen Menschseins weggebrannt wird durch jenen Augenblick des Nichts-und-Alles. Und die innere Kraft (man nenne es Mut, Glaube oder Einfalt) zu diesem einen Schritt, der einen durch den Teleporter bringt, in den Tod und wieder heraus. Es ist eine finstere und verzweifelte Lehre, die sie predigen, aber diese Herren der Neuen Kirche strahlen etwas aus, das die, die sie suchen, anzieht, eine Kraft, ein Magnetismus, ein Licht. Sie würden es Heiligkeit nennen, wenn sie wüßten, was dieses Wort bedeutet. Sie wissen nur, daß es eine Reinheit des Lebens ist, die in ihrem eigenen Leben fehlt.

»Werde nichts, dann wirst du alles werden«, sagt diejenige, die sich Zed nennt. Sie blickt in die Augen ihrer Schüler, die sich lässig auf den weichen Sitzkissen der Gesprächsmulde ausgestreckt haben. In einigen sieht sie Zweifel. In einigen sieht sie Angst. In einigen sieht sie eine Leere, die einst auch in ihr gewesen war. In einigen sieht sie Hunger. In einigen die Flamme des Verlangens. »Heiligt euch selbst! Sterbt und lebt aufs neue!«

Gott schütze uns vor jenen, die jede unserer Äußerungen als Lehre auffassen.

Sie kam vor dem Morgengrauen, die Schweigende, Cassaday, diejenige der vier, die sich nach ihrer Neuerschaffung am wenigsten behaglich fühlte, und sie ruft und ruft und ruft von der Tür her.

»Zed …«

»Ruhe. Bitte.«

Fünf Uhr zwanzig, und das Morgengrauen quillt über den Rand der Wolkenschicht. Ein Lichtkeil schiebt sich langsam an den gebogenen Fassaden der Corporadas hoch: rotes Licht, Morgendämmerlicht ergießt sich durch das Fenster, überspült das Mädchen, das an der Scheibe steht, fließt über den Lebensfellboden und die verstreuten Sitzkissen in die Gesprächsmulde. Er erwischt Cassaday, die Schweigende, in ihrer Ecke neben der Tür.

»Zed …« Etwas hat sie aus ihrem Schweigen herausgetrieben, etwas Schreckliches und Beängstigendes.

Eine Hand erhebt sich, der Befehl zu schweigen. Zeds Stirn ist gefurcht, intensive Konzentration, die Vortäuschung von Besinnung. Ausgestreckte Hände. Das Licht erfüllt die Welt wie der verrücktgewordene Dotter eines Eies, das in einen Becher aus Glimmerglas aufgeschlagen wurde. Der untere Saum der Sonne berührt den Wolkensockel.

Fünf Uhr einundzwanzig.

Dank der Company genießt Hy Brazyl so ziemlich die spektakulärsten Sonnenauf- und -untergänge auf dieser Seite des Jupiters. Atmosphärische Verunreinigung offenbar.

»Ich denke immer, es ist falsch, den Sonnenaufgang für sich selbst zu behalten. Man sollte ihn mit einem Seelenbruder oder einer Seelenschwester teilen, meint ihr nicht? Kaffee?«

»Zed?«

Doch sie hastete zur Kanne und den Tassen und dem Ritual.

»Cass, du bist eine meiner ältesten und liebsten Freundinnen. Ich habe das Gefühl, ich kann dir alles erzählen, was für mich wichtig ist. Ich habe das Gefühl, ich kann dir auch das erzählen. Ich habe Angst. Angst, daß ich es verliere. Verstehst du, was ich sage? Hier, in mir. Es ist einfach nicht mehr dasselbe. Ich habe das Gefühl, Schmutz ist in meinen Adern. Ich habe das Gefühl, Scheiße ist in meinem Mund. Ich habe das Gefühl, das Feuer in mir ist nur noch … Glut.«

Zed hat ihren Wasserkessel mit kleinen Metallglocken ausgestattet. Wenn das Wasser kocht, dann singen und klingen und zirpen die Glöckchen.

»Sie sind es. Die anderen. Es gibt zu viele von ihnen. Sie brauchen zuviel. Sie ersäufen mich, einfach weil sie um mich herum sind, sie ersäufen mich. Sie beschmutzen mich, verstehst du das?«

»Zed, Jorge Garcia-Lorca ist tot.«

»Man kann sagen, weil ich so rein bin, befleckt mich die flüchtigste Berührung mit jemandem, der nicht so rein ist. Schmutz hebt sich vor Weiß deutlicher ab als vor Schwarz. Ich habe das Gefühl, von Fingerabdrücken bedeckt zu sein. Und jedesmal kommen sie zu mir mit ihren törichten Anliegen: ›Lehre mich‹, ›Leite mich‹, ›Wie soll ich, wie kann ich, was meinst du dazu, Zed? Sag uns, was wir tun sollen, Zed!‹ – das Feuer in mir erlischt. Cassaday, ich kann mich nicht bewegen, meine Haut ist überkrustet. Würger und Obi haben das gleiche Gefühl. Wir verlieren es. Wir werden vom Staub geschluckt.«

»Hörst du mir zu? Hörst du mir zu?« Cassadays Stimme erhebt sich zu einem Schreien. Bevor sie Zed kennengelernt hat, bevor sie rein und heilig geworden ist, hat sie niemals geschrien. »Er ist von der Sonnenterrasse im vierhundertundelften Stock gesprungen. Hesus!« Kaffee fällt in einem kleinen, gezielten Bogen aus dem Schnabel der Kanne in Porzellanschalen. »Er gehörte zu meiner Gruppe, er war erst seit kurzem zu den Zusammenkünften gekommen. Er hatte Schwierigkeiten mit seinen Eltern, mit seiner Freundin, mit seinem Lehrer; es paßte ihnen nicht, daß er sich der Gruppe anschloß – sie sprachen von Gehirnwäsche. Ich habe versucht, ihm zu helfen, mit sich ins reine zu kommen. Letzte Nacht hat er angerufen, übers öffentliche Kommunikationsnetz, gegen zwei. Er hatte großen Zoff mit seinen Leuten. Dauernd sagte er was davon, daß alles kaputt sei, alles türmte sich rings um ihn auf, höher und höher und höher, und er könne überhaupt nicht mehr darüber hinaussehen. Herrje, Zed, es war zwei Uhr morgens, und ich war ziemlich weggetreten, also gab ich ihm ein paar der üblichen Ratschläge, den Wird-schon-gut-werden-Quatsch: ›versuch in solchen Situationen zum Nichts zu werden, werde nichts, und alles wird einfach durch dich hindurchgehen, und wenn es vorüber ist, wirst du siegreich und neugeboren aus der Situation hervorgehen.‹ Dieses Zeug. Und dann. O Gott. O mein Gott.« Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Zed beobachtete mit leidenschaftsloser Neugier, wie sie weint, so wie sie ein geologisches Anschauungsstück betrachten würde. Sie nippt an ihrem Kaffee und schaut zu. »Dann habe ich gehört, daß er gesprungen ist. Aus dem vierhundertundelften Stock. Einer seiner Freunde hat es mir erzählt. Er hat noch versucht, es ihm auszureden, aber er sagte immer wieder und wieder und wieder: ›Dies ist der Ausweg für mich, ich sterbe und werde zum Nichts und erstehe neu als alles.‹ Und es ist meine Schuld, ich bin verantwortlich. Ich bin genauso verantwortlich für seinen Tod, als wenn ich ihn eigenhändig von der Sonnenterrasse gestoßen hätte. Ich habe ihn umgebracht. Ich bin schuldig. Und ich weiß nicht, ob ich damit fertig werden kann. Ich weiß es wirklich nicht.« Durch die Morgendämmerungsfenster sieht sie Jorge Garcia-Lorca, der wie ein menschlicher Stern auf den mondsilbernen Wolkensockel zufliegt, um an den harten Kanten der Industrieebenen darunter zum Nichts zerschmettert zu werden. »Ich weiß nicht. Ich habe so das Gefühl, daß es das beste wäre, wenn ich ihm folgte. Verstehst du?« Sie schnieft. Schwarze Wimperntusche hat Streifen auf ihren Wangen hinterlassen, die Spuren ihrer Tränen.

Zed blickt von ihrem Kaffee auf, lächelt plötzlich.

»Aber begreifst du nicht? Genau das ist das Problem! Du fühlst dich schuldig, weil du dich von den Wertvorstellungen anderer Menschen, unreiner Menschen, hast beflecken lassen. Es ist nicht dein Fehler. Wie könnte es auch dein Fehler sein? Du meinst nur, daß es dein Fehler ist, weil deine Heiligkeit, deine Reinheit, von anderen Menschen überschattet worden ist. Was wir jetzt brauchen, ist eine Wiederweihung. Eine Wiederreinigung: eine Erneuerung des Schrittes durch den Spiegel der Unendlichkeit, um dich von all dem Schmutz und der Dunkelheit säubern zu lassen. Ich habe mit den anderen Verbindung aufgenommen, sie alle sind derselben Ansicht, sie stimmen alle darin überein, daß das der einzige Weg ist, um unser gemeinsames Licht wieder leuchten zu lassen. Wieder hinunter ins Barry-O. Noch einmal der Gang durchs Feuer. Wiedergeboren und noch mal wiedergeboren.«

»Meinst du das ernst? Meinst du das wirklich ernst? Ein Junge ist tot, und dir fällt nichts anderes ein, als von deiner wertvollen Reinheit und Heiligkeit zu reden?«

»Natürlich meine ich es ernst. Das Geschehene ist natürlich ziemlich tragisch, doch das ist um so mehr ein Grund für uns, nach Reinigung zu streben, damit so etwas nie wieder vorkommt. Kommst du jetzt?«

»Nein! Nein!« Sie steht auf. Sie ist nicht mehr die Schweigende. »Nein, ich komme nicht. Ich habe die Nase voll. Ich will nichts mehr damit zu tun haben, nicht mit euch, mit keinem von euch, mit dem Ganzen. Ruft mich nicht an, kommt mich nicht besuchen, laßt mich in Ruhe. Ich will keinen von euch jemals wiedersehen. So, das ist alles.« Hände schneiden durch die Luft. »Ich gehe.«

Fünf Uhr dreißig. Türknallen. Eine halbleere Kaffeetasse auf dem Lebensfellboden. Die Sonne steht hoch über dem Horizont, wieder einmal ein schöner Tag, wie jeder Tag in der vornehmen Höhe der Curporadas.

Und von vieren sind drei geblieben.


»Länger?«

»Länger.« Diesmal nur drei von ihnen. Aurelian denkt über einen seiner trockenen, dunklen kleinen Scherze nach, verscheucht die Überlegung. Sie haben keinen Sinn für Humor. Und sie sind keine ängstlichen, aufgeregten, schuldbewußten Kinder. Sie nehmen lässig und selbstsicher auf seinem Beton verteilt ihre jeweilige Stellung ein, jeder genau im Mittelpunkt seines oder ihres Raums, als Herrscher über diesen Raum, als Befehlshaber in diesem Raum, mit der geschmeidigen, pantherhaften Behendigkeit der Company-Geborenen. Dunkellicht, das die Bilder der Schatten verstärkt, haftet auf ihm, dem Brennpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Keine Scherze mit diesen Leuten! Obwohl Herr in seinem Reich; fühlt sich Aurelian undeutlich bedroht. Die dünne schwarze Leguanzunge huscht über seine Lippen.

»Länger. So. Es gibt, müßt ihr verstehen, gewisse Probleme in dieser Hinsicht. Der Vorgang ist eigentlich als Momentgeschehen gedacht, mit einer Dauer von, sagen wir mal, ein paar Picosekunden. Man müßte die Zeitverschiebungs-Analysegeräte einsetzen, um auf Macrozeit umzuschalten, und, ganz ehrlich, ich kann nicht mit absoluter Sicherheit eine hundertprozentige Reintegration garantieren.«

»Das heißt?« In all dem Leder und schwarzen Nylon sehen sie gleich aus. Durch diese Gier, den Hunger in ihren Stimmen hören sie sich gleich an. Seine abgerichteten Messerstecher sind nur einen Katzensprung entfernt, und doch erkennt Aurelian, wie allein er ist in seiner Burg des Niewann.

»Möglicherweise körperliche oder geistige Schäden, sehr wahrscheinlich verhängnisvoll. Vielleicht wird der Körper vollständig reintegriert, doch ohne Leben. Vielleicht kommt es zum Zufalls-Effekt.«

»Zufalls-Effekt?«

Die Leguanzunge zuckt zurück, vor. Meine Güte, heiß ist es heute abend im Barry-O.

»Soviel ich weiß, besitzt ihr genügend Intelligenz, um es euch selbst auszumalen.«

»Aber es ist möglich.« Das ist ihre Anführerin, dieses Mädchen; sie ist die dunkelste und gierigste der drei.

»Sicher.«

Die Versuchung schimmert in ihrer Hand. Schwenke das Fläschchen, wirble den Lebensschwarm durcheinander.

»Guter Stoff. Aurelian. Neues Zeug. Erzähl’s ihm, Würger.«

»Mit dem Wachstumsfaktor APFE versetzt. Neu neu, Aurelian. Wir sprechen nicht nur über eine Lebensverlängerung, wir sprechen über eine Verjüngung. Der Quell der Jugend, alter Mann. Bin ein ganz schönes Risiko eingegangen, das Zeug aus meiner Firma zu schmuggeln. Mach, daß es sich für mich gelohnt hat.«

Ein Luftzug, ein Hauch von Gardenien; der Duft, den Aurelian benutzt, um den Gestank von hundertundfünfzig Jahre altem Fleisch zu verbergen. Das Fleisch, das nach dem schreit und wimmert, was das dunkle Mädchen in der Hand hält. Wachstumsfaktor. Nicht nur das bloße Hinausschieben des Todes, sondern ein neuer Griff ins Leben. Das wirkliche Leben. Das Leben ist die Droge, und Aurelian ist ihr verfallen.

»Nur unter der Voraussetzung, daß ihr euch der Gefahren bewußt seid.«

»Ich glaube, du hast sie sehr einleuchtend dargelegt.«

»Und daß ich nicht verantwortlich gemacht werde für irgendwelche … unvorhergesehenen Begleitumstände.«

»Ja.«

»Dann sind wir uns einig.«

Sie grinsen einander an, diese Corporada-Kinder in ihrem glatten Leder und dem schlüpfrigen schwarzen Nylon. Fäuste werden geballt zum Ausdruck des Sieges, der Solidarität. Donner rüttelt am Barry-O, Blitze fangen sich in den metallenen Monolithen des industriellen Herzens von Hy Brazyl. Unten, dort wo die Automobile einst brummten und sich durch die Straßen schlängelten, fangen schwarze Plastikdinge an zu winseln und drücken sich trostsuchend aneinander.


Man soll sich nicht vorstellen, daß sie die einzigen sind. Man soll sich nicht vorstellen, daß außer ihnen niemand die Pilgerreise hinunter unternommen hat in das Schattenland unter den Wolken und mit zuckenden, blitzenden Strahlen ins Rutschen gekommen ist; hinunter durch die ausgetretenen, matschigen Straßen auf der Suche nach Aurelian. Die Herren der Neuen Kirche haben ihre Schüler. So wie die Herren der Neuen Kirche selbst einst Schüler waren. Also soll man sich nicht vorstellen, daß sie die ersten sind. Aurelians Körper wehrt jetzt seit einem halben Jahrhundert das Sterben ab; in den letzten fünfzig Jahren gab es viele kleine Plastikfläschchen mit dem synthetischen Todeshormon-Stopper. Die Nachwuchsführungskräfte der Company brennen vor Nachwuchsführungskräfte-Ehrgeiz und -Eifer, Suchende auf der Spur des Spirituellen, die des Sternenscheins und Neonlichts müde sind und eine hellere Erleuchtung suchen, hier unten, wo die Straßen keine Namen haben; unausgeglichene Seelen, die etwas beweisen müssen (sie hätten niemals genau zu sagen vermocht, was), sich selbst, anderen, der Welt; die hohlen Menschen, die in der Leere eine Erfüllung suchen, im Nichtsein eine allumfassende Erfahrung. Künstler. Draufgänger. Narren. Sensationsgeier. Nichts, aber im Trend. Sie alle haben dann und wann in diesen anderthalb Jahrhunderten Aurelian bezahlt, um durch den Teleporter zu schreiten. Und nicht immer nur mit synthetischem THS. Es gab andere Währungen, andere Gattungen, andere Drogen: Aurelian wurde nicht hundertundfünfzig Jahre alt, und das im Barry-O, ohne teure Verbündete.

Es waren nie viele. Aurelian macht keine Werbung. Von-Mund-zu-Mund-Reklame ist die beste Reklame. Etwas, an das sich die Yuppie-Werbemanager erinnern würden. Aber genug. Er verdient genug daran. Genug, um ihm am Leben zu erhalten und ungefähr bis in alle Ewigkeit weiterticken zu lassen. Die Ewigkeit dürfte wahrscheinlich gerade lange genug sein, damit er die Schulden, die er für seinen Materietransmitter gemacht hat, abbezahlen kann. Das war keine Investition, die die Manager des Oberstadt-Projekts verstanden hätten; Schmerz und Verlust und Enttäuschung erscheinen nicht in irgendeiner Soll-Haben-Aufstellung.

Er ist Ingenieur gewesen in jenen frühen, wilden Tagen, als der Traum von gemeinsamer Größe die Industriezentren veranlaßt hat, nach den Wolken zu greifen, den Wolken über dem, was einmal Sao Paulo war. Sie ist Mathematikerin gewesen, eine DaCosta, Sproß einer der Gründungsfamilien, deren Glas- und Stahltürme in die Stratosphäre wuchsen, so anmutig und elegant wie ihresgleichen. Sie waren Freunde, Seelenfreunde, eine Beziehung, die tiefer und bindender war, als es irgendeine äußere Form nur jemals ausdrücken konnte. Und aus diesem Geist, der zwischen ihnen herrschte, war die Idee entsprungen. Eine überragende, gewaltige, unglaubliche, unmögliche, wundervolle Idee. Die Transmission von Materie. Augenblicklich. Über unbegrenzte Entfernungen. Teleportation. Sie erarbeiteten Pläne und zeichneten Skizzen und erstellten Pilotprojekte. Und es funktionierte herrlich. Die Aufhebung der Entfernung. Das würde die Geschäftswelt revolutionieren. Sie legten es den Managern des Oberstadt-Projektes vor. Und die Direktoren der Company schnitten dem Plan den Kopf ab. Die Füße. Die Hände. Denn die Seelenfreunde hatten nicht erkannt, welchen Einfluß die Aufhebung der Entfernung auf die Gesetze von Angebot und Nachfrage in den Mächten der freien Marktwirtschaft hätte. Nahtransport und Fernverkehr, Gebiete für Herstellung und Verkauf, das ganze Konzept von Markt und Produktion, letztendlich die Corporadas und die Company an sich – alles war bedroht. Kein Mensch investiert in die Rasierklinge, die ihm selbst eines Tages den Hals durchschneiden würde.

Träume und Seelenfreundschaft verwehen und vergehen nicht so schnell. Die Corporadas ließen sie im Stich, nun gut, sie würden ihrerseits die Corporadas im Stich lassen und ihre revolutionäre, weltbewegende Idee zu jenen tragen, die dankbar dafür waren, zu den Armen und Besitzlosen, die sich in ihren Favelas am Fuße der glänzenden Türme zusammendrängten. Und vielleicht würden die Armen und Besitzlosen diese glänzenden Türme eines Tages zum Einsturz bringen. Jahrzehntelang widmeten sie jede freie Minute der Konstruktion eines alles umfassenden Materietransmitter-Systems. Alles wurde diesem Traum geopfert, mit Ausnahme ihrer Seelenfreundschaft, denn die gab dem Traum Nahrung. Und dann, als der Prototyp fertig war und auf den Probelauf wartete, schnappte DaCosta eine blödsinnige kleine Infektion auf und starb, weil sie sich Antibiotika auf dem Schwarzen Markt nicht leisten konnten. Und ohne den treibenden Geist, der sie verbunden hatte, versank der Traum in Ernüchterung und Zynismus und wurde letztendlich durch eine erbärmliche kleine Mühle gedreht, die Plastikklümpchen der Unsterblichkeit ausspuckte in der müßigen Hoffnung, eines Tages, auf irgendeine Weise, diese arroganten Wolkenkratzer zu überleben. Er war immer ein Feigling gewesen, Aurelian mit den schönen Händen.

Und immer noch kommen sie. Nur sehr wenige kehren für einen zweiten Gang durch das Fenster zurück. Nur die außerordentlich vergeistigten, die außerordentlich gierigen, kommen immer wieder und wieder und wieder. Nur die gierigen Vergeistigten stoßen und stoßen immer wieder an die Grenzen der Erfahrung; zwei, fünf, zehn Sekunden der Auflösung, während Körper und Geist durch den Materietransmitter preschen, bis eine Schlinge des Nichts um jedes Molekül einer jeden Zelle ihrer Körper gewunden ist.

Geistiger Stolz ist wirklich.

Geistige Arroganz ist wirklich.

Geistige Gier, die den Herrn vor seinen Schülern zum immerwährenden Dasein treibt, ist wirklich. Die Faust der geistigen Gier umklammert einen mit ebenso festem Griff wie die Faust, die Aurelian mit seinem kleinen Fläschchen verbindet, jeden Süchtigen mit seiner Droge.


Es war unvermeidlich, daß sie Liebende wurden; Zed, die Tochter aus bestem Haus, von einer der Gründungsfamilien abstammend, und der große, stämmige, finstere Junge irgendwo unten aus den Industriezonen, der sich Würger nannte. Der Materietransmitter hatte sie so weit verstreut, so ausgedünnt, daß es keinen möglichen Berührungspunkt zwischen ihnen und ihren Schülern mehr gab. Mit Ausnahme preisgegebener Enthüllungen. Und empfangener Dankesgaben. Würger hatte seinen Job in einer Pharmazeutik-Einheit aufgegeben, wo er ständig Nachschub an dem Zahlungsmittel Droge für die Herren der Neuen Kirche beschafft hatte: er konnte den Umgang mit den Unreinen nicht mehr ertragen. Ganz abgesehen davon, daß sie ihrerseits den Umgang mit ihm ebenso unerträglich fanden. Unvermeidlich war es also, daß in ihrer Isolation der Finstere sich zur Dunklen hingezogen fühlte.

So liegen sie nun beisammen, umeinandergeschlungen auf dem Lebensfellboden, und der Morgen bricht über sie herein. Die Hände der Dunklen erforschen den Körper des Finsteren, die straffen Rundungen der Schenkel und Hinterbacken, die sanftgeschwungene Linie seines Rückens, die gewölbten Neigungen der Schultern, Streicheln Streicheln Streicheln, geistesabwesend, gedankenlos, als ob er aus Stein wäre oder aus Plastik oder ein Schoßtierchen. Sie beobachtet, wie der Tag über Hy Brazyl heraufzieht. Und sie weiß nicht, was sie sieht. Die geometrisch abstrakte Ebene des Wolkensockels. Die Türme, die die Stratosphäre zerteilend und durchdringend in die Höhe stoßen. Der Globus, das Lichtatom am Rand der Welt: die Farben Rot, Purpur, Gold.

Was sind sie? Was ist das? Was bedeutet es?

Etwas? Alles?

Nichts?

Ein Augenblick des Entsetzens, als sie erkennt, daß es – nichts bedeutet. Es ist nicht wichtig. Es hat keine Bedeutung. Es ist nichts. Und dann weicht ihr Entsetzen, als sie erkennt, daß auch dieses nichts ist.

Und dieser Körper, der sie umfängt, diese Ansammlung von Rundungen und Flächen und Winkeln, Glattheit und Weichheit und Härte; dieser Körper, dieser Würger bedeutet nichts.

Bedeutet nichts.

Ist nichts.

Zed lächelt. Sie ist fast angekommen.

Und:

»Was meinst du damit, daß wir uns nicht wiedersehen können?«

Sie seufzt, streicht sich das Haar gereizt zurück.

»Ich wußte, du würdest nicht, ich wußte, du würdest nicht begreifen. Es liegt daran, daß das Körperliche keine Bedeutung hat, merkst du das nicht? Letztendlich hat es keine Bedeutung, und ich glaube, ich fühle, daß du es, daß du mich dazu bestimmst, der Grund für alles zu sein, und so kann es nicht sein, du weißt, daß es so nicht sein kann, das Körperliche kann letztendlich nichts bedeuten.«

»Willst du damit sagen, daß ich dir nichts bedeute?«

»Nein! Nein! Versuche zu begreifen! Es geht um das Körperliche: du mißt ihm zuviel Bedeutung bei; wir benutzen einander wie Gebrauchsgegenstände, körperliche Gebrauchsgegenstände, und darauf kommt es nicht an.«

»Du sagst also, daß ich dir nichts bedeute.«

»Ich sage, daß kein Ding, kein körperliches Ding, mir irgend etwas bedeuten soll. Mir nichts bedeutet. Alles für mich bedeutet. Alles ist nichts, daran glauben wir doch, oder nicht? Nun, jetzt weiß ich es. Ich spüre es. Alles ist nichts. Und das Nichts in uns, die Leere, die geistige Realität, ist alles.«

Pause.

Schweigen.

»Du bist nicht Zed.«

»Doch. Ich bin Zed.«

»Nein, das bist du nicht. Vielleicht warst du einmal Zed, damals, du warst das Mädchen, von dem ich einfach nicht genug bekommen konnte, dem ich unbedingt nah sein wollte, das mich fesselte, mit dem zusammenzusein wie das Leben selbst war. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was du bist. Ich weiß nicht, was aus dir geworden ist … Weißt du, wie lange Zeit ich dich aus der Ferne bewundert habe? Weißt du, wie lange ich auf dieses hier gewartet habe, was ich alles durchgemacht habe, nur um bei dir zu sein, diesen ganzen spirituellen Scheiß? Und jetzt weiß ich nicht, was aus dir geworden ist. Nichts Menschliches.«

»Das ist nicht Würger, der da spricht. Das ist der frühere Würger. Aber darüber bist du doch hinaus, nicht wahr? Darum geht es ja, mehr aus sich zu machen als einfach Würger und Zed, mehr als unser Ich, mehr als menschlich.«

»Das würde ich nicht sagen. Nicht nachdem ich weiß, was ich weiß. Ich würde sagen, weniger als menschlich.«

»Wenn du versuchst, mich zu ködern, dann wirst du Pech haben. Ich bin über all diese Kleinlichkeit hinaus.«

»Und über die Liebe ebenfalls.«

»Du begreifst einfach nicht. Und ich hatte gedacht, du würdest begreifen. Ich dachte, du wärst einer von uns.«

»Nun ja, ich vermute, ich war es nicht.«

»Ich kann dich nicht wiedersehen. Es ist zu wichtig für dich, mich zurückzuhalten. Ich kann dich nicht wiedersehen.«

»Zed! Zed! Zed …«

Und von dreien sind zwei geblieben.


Zehn Sekunden zwanzig Sekunden dreißig Sekunden. Eine halbe Minute, eine Minute, anderthalb Minuten. Zwei Minuten.

Die Uhren des Glaubens führen sie zurück zum Barry-O, die Dunkle und die Helle, wieder und wieder und wieder.

Vier Minuten.

Aurelian ist nicht glücklich.

»Die Aussichten auf eine erfolgreiche Reintegration sind nicht gut.«

»Was heißt nicht gut?« Dieser Ort ist jetzt ebenso ihr Ort wie der Aurelians, seine tropfenden Betonebenen, seine Schattenmenschen mit den Plastikleichentüchern sind für sie ebenso ein Zuhause wie die makellosen Residenzas von Hy Brazyl, bevölkert mit den schönen Kindern der Company.

»Wollt ihr genaue Zahlen hören?« Und Aurelian ist nicht mehr das Zwitterwesen eines Engel-Dämon-Schatzmeisters der Mysterien, er ist nichts anderes mehr als ein weiterer alter Bestandteil der Maschine, die ihre Seelen schrumpfen läßt. »Ich schätze, höchstens eine achtzigprozentige Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Reintegration.«

Zed lacht. »Aus dir sprechen einhundertundfünfzig Jahre. Ich rieche die Gardenien.«

»Ich lebe nur einmal.«

»Wir nicht. Wir haben schon Dutzende von Leben und mehr gelebt.«

Doch Obi, die Helle, der kleine, strahlende Glanz eines Mädchens, ist auch nicht glücklich. Vier Minuten … Zed schlüpft aus Leder und schillerndem schwarzem Nylon, streift sich die Ringe von den Fingern, schüttelt die wallenden Wolken ihres Haars, um sie aus der Lederspange zu befreien. All das ist inzwischen Teil des Rituals. Sie kauert sich vor dem glitzernden Siebeneck zusammen wie ein Wettläufer vor dem Startschuß, sieht es an wie vielleicht einen Freund, der zum Feind geworden ist, oder einen Feind, der zum Freund geworden ist. Sie lacht, schüttelt den Kopf und wirft sich in das Feld des Teleporters.

Zehn Sekunden. Es ist alles eine Frage der Relativität, wirklich. Subjektivität, Objektivität. Zwanzig Sekunden. Die Zeit bleibt stehen für die Teleportierten und die Toten. Chronos und Äon sind für sie dasselbe. Vier Picosekunden, vier Mikrosekunden, vier Minuten, vier Ewigkeiten, dreißig Sekunden, man weiß es nicht, man ist tot, nach dem Zufalls-Effekt an jedem beliebigen Ort des Universums verteilt. Eine Minute. Ebenso gibt es keine Reinigung; es ist nichts da zum Reinigen. Doch in gewissem Sinne sterben beim Tod eines Menschen seine Sünden mit ihm und werden nicht mit ihm wiedergeboren. Und dennoch hat sich sein Wesen nicht geändert, denn ohne sein Wesen ist er nichts, und also kehrt die Dunkelheit zurück, und er kehrt zum Licht des Materietransmitters zurück. Eine Minute und dreißig Sekunden. Es ist die Wiedererschaffung, die reinigt, dieses erste Glissando der Neuronen durch den cerebralen Cortex, das einem sagt, durch das man weiß: Ich war tot, und jetzt lebe ich wieder. Das ist die Reinigung. Das sieht das Auge des Glaubens. Zwei Minuten. Nach der Bewertung der Uhren des Glaubens sind vier Minuten heiliger als vier Mikrosekunden und verkünden, vier Minuten lang (drei Minuten) warst du nichts, abgetrennt, jenseits der zeitgebundenen Struktur des Universums. Und jetzt bist du wieder.

Das zeigen die Uhren des Glaubens an. Das sehen die Augen des Glaubens.

Vier Minuten.

Sie stürzt aus dem Teleporter, taumelt über den feuchten, glitschigen Beton, prallt gegen einen Betonpfosten. Sie spürt keinen Schmerz. Sie brennt. Sie steht in hellen Flammen, und in ihrem eigenen Licht sieht sie weiter als je zuvor, bis ins Herz aller Dinge. Der verdreckte Betonboden des Parkhauses ist für ihr Auge des Glaubens durchsichtig wie Glas. Obi, die Helle, beugt sich über sie, murmelt Worte der Besorgnis und des Trostes, die sie nicht verstehen kann, und das Auge des Glaubens streift Fleisch und Knochen und Blut ab und enthüllt den Kern ihres Lebens. Zed sieht das Licht ihrer Freundin neben dem ihren, und es gleicht dem Schein einer Kerze neben einem hell lodernden Ofen. Und sie sieht Aurelians Seele, wie verworrener schwarzer Draht.

»Du mußt es machen.«

Ihr Mund ist voll von Sternen und Licht.

»Zed, bist du in Ordnung? Die Art, wie du aus dem Teleporter gekommen bist – bist du sicher, daß alles okay ist? Hast du dir weh getan?«

Was redet sie da? Was redet sie da nur?

»Nein. Nicht weh getan. Alles in Ordnung. Alles okay. Du mußt es machen. Obi, du mußt es auch machen.«

»Hesus, ich weiß nicht so recht, Zed, es hat so wahnsinnig lang gedauert, bis du durch diese Maschine gegangen bist, daß ich richtig Angst bekommen habe; ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr wieder! Du weißt, was Aurelian gesagt hat …«

»Du mußt es tun. Es ist der Weg nach vorn. Der große Sprung in eine neue Ebene der Geistigkeit; zu wissen, daß du die Angst überwinden kannst und nichts dich jemals mehr erschrecken wird.«

»Ich weiß nicht so recht, Zed, die Wahrscheinlichkeit …«

»Wenn du stirbst, stirbt auch deine Furcht und wird nicht wiedergeboren. Das haben wir bisher falsch gemacht, wenn wir durchgegangen sind, wir haben unsere Angst nicht mitgenommen. Doch wenn es länger dauert, kannst du diese Angst gleich beim ersten Schritt mitnehmen, und sie wird aufgelöst. Mach’s, Obi. Du mußt es machen!«

»Meinst du, ich sollte?«

»Du mußt!«

Und das helle Mädchen, das sich Obi nennt, streift alle menschliche Heuchelei von sich ab und wird ganz sie selbst, neunzehn Jahre alt, blond, ein bißchen zu dick, ein bißchen verängstigt in dem blauen Licht.

»Mach’s!« sagt Zed. Das einzige, was sie mit ihrem Auge des Glaubens nicht sehen kann, ist das, was hinter dieser Fläche aus blauem Licht liegt. Erster Schritt zweiter Schritt dritter Schritt vierter. Obi geht durch das Feld und wird nach dem Zufalls-Effekt verteilt. Die Uhren des Glaubens laufen. Zehn Sekunden. Zed läßt ihre Company-Klamotten dort liegen, wo sie sind, zusammengeknüllt am feuchten Boden. Es ist ihr gleichgültig. Alles ist ihr gleichgültig. Zwanzig Sekunden. Sie beobachtet den Transmitter, doch innerlich ist sie vollkommen in Anspruch genommen von der Auswertung ihrer eigenen Erfahrung. Dreißig Sekunden. Eine halbe Minute. Donner knistert, Blitze, die die nadelspitzen Türme der Corporadas aus der Stratosphäre auffangen, setzen sich fort, hinunter durch die Industriezonen bis zur Erde selbst, ins Barry-O. Nichts. Überhaupt nichts. Eine Minute. Ihr Auge des Glaubens durchdringt die dahinziehenden Wolkenschichten, und die mächtigen Corporadas werden zu gläsernen Konfektschalen, gefüllt mit kleinen kreischenden Kristallfigürchen, ängstliche Glaskobolde, die auf den Hammer warten, der sie endgültig zerschmettern wird. Nichts. All die Macht und Hochnäsigkeit der Company und ihrer Oberstadt: nichts. Eine Minute dreißig Sekunden.

»Weiß du, er frißt viel Energie, wenn er so lange läuft«, erklärt Aurelian. Zed sieht durch ihn hindurch bis zu seiner sich schlängelnden Reptilienseele. Nichts.

»Wir bezahlen dich gut für deine Aufwendungen.« Sie haßt es, sprechen zu müssen. »Wir haben dir in den letzten Monaten gute Kundschaft zugeführt.« Zwei Minuten. Endlich weiß sie es. Es ist kein intellektuelles Verstehen, sie weiß es durch ihr Leben, Lebensweisheit, sie ist es. Alles ist schlichtweg … nichts. Verglichen mit ihrer eigenen Erfahrung. Nichts. Drei Minuten. Es gibt nichts mehr außerhalb ihrer eigenen Erfahrung, das ihr etwas bedeutet. Nichts ist wichtig außer ihrer eigenen Geistigkeit.

Vier Minuten.

Vier Minuten.

Vier Minuten.

Aurelians leises sorgenvolles Murmeln durchdringt Zeds Selbstbetrachtung und mahnt sie, daß hier etwas nicht stimmt. Vier Minuten? Obi …

Sie ist nicht zurückgekommen.

»Aurelian, Obi; wo ist sie?«

»Selbst für dich ist das eine einzigartig dämliche Frage.«

Schatten in der allumfassenden Helligkeit.

»Aurelian, tu etwas! Hol sie zurück! Sofort! Hol sie auf der Stelle zurück!«

Seine schönen Hände tanzen über die Computermodule. »Glaubst du, ich versuche es nicht? Umkehrungsphase, möglicherweise …« Das Energienetz zittert vor Spannung, schüttelt das Gebäude wie ein Hund eine Ratte.

»Aurelian, was geschieht hier?«

»Halt den Mund! Halt bloß den Mund!« Das Energienetz heult auf, als Aurelian den Befehl eingibt, daß es noch mehr Energie aus dem Nachrichtenstromnetz abziehen soll. Die siebeneckige Fläche aus Überlicht flimmert violett und indigoblau.

»Aurelian, du hast dieses Ding gebaut, du weißt, was es kann.«

»Und. Ich. Weiß. Auch.« Aurelian schreit, während er einen Befehl nach dem anderen in seinen Computer eingibt. »Was. Es. Nicht. Kann.«

Elektrizität wird zischend ausgespuckt. Draußen im Regen blaue und gelbe Blitze. Das Heulen ebbt ab zum dumpfen Dröhnen, einem Summen, einem Brummen von Strom. Der Materietransmitter ist ununterbrochen blau.

»Ein paar Energieschalen sind durchgebrannt«, sagt Aurelian. »Verloren. Ich hab’s dir gesagt, ich habe dir die Wahrscheinlichkeit genannt. Übermütige Jugend. Ich wasche meine Hände von dir rein.« Er läßt sich wieder von seinen Schatten vereinnahmen. Zed verharrt vor dem Teleporter und starrt auf die einzige Stelle, die ihr Auge des Glaubens nicht sehen kann. Nichts. Letztendlich ist es nichts. Obi ist jetzt nichts, und das ist gut so. Zed sind alle gleichgültig. Sie ist frei. Und sie freut sich sehr. Nach einer halben Stunde kommt Aurelian zurück, um den Transmitter auszuschalten.

Und von zweien ist eine geblieben …


Magere Tage im Barry-O. Seit das Mädchen verschwunden ist. Schade. Reintegrations-Versagen. Sie kommen einfach nicht mehr. Schisma, ein Abfallen der Gläubigen; in seiner alten Apathie eines fetten Dämonen ist es Aurelian gleichgültig; es ist zwanzig Jahre her, daß er sich aus seinem kleinen Königreich auf die Straße begeben hat, warum sollte er sich darum scheren, was die Kinder der Privilegierten Meilen über seinem Kopf treiben? Das einzige, was er vermißt, ist das Einkommen, das er durch sie hatte. Seit sie aufgehört haben, durch die Gassen und Straßen zu stürmen, um Erleuchtung nach seiner Art zu finden, haben einhundertundfünfzig Jahre Fleisch wieder ihr volles Gewicht angenommen. Ihm fehlt dieses neue, gute Zeug, Stoff in Company-Qualität, mit dem Wachstumsfaktor versetzt, oder wie sie das nannten. Das Gedächtnis läßt nach. Neuronen sterben ab und werden nicht ersetzt. Über den Verlust einiger Erinnerungen ist er froh. Dieses Mädchen, bei dem die Reintegration versagte, er kann sich nicht an ihren Namen entsinnen, ihr Gesicht, ihren Körper. Es sind kaum noch genügend synthetische THS übrig, nachdem er seine Freunde, die Messerstecher, ausbezahlt hat (und sind sie, werden sie, können sie überhaupt jemals Freunde sein oder nur einwandfrei verkleidete Parasiten?), um ihn am Ticken zu halten. Doch für seine gläubige Lieferantin sind diese schlechten Zeiten die allerschlechtesten.

Gläubige Lieferantin. Sie wird ihn durch diese hungrigen Jahre bringen, bis dort oben eine neue Generation herangewachsen ist, desillusioniert und gleichgültig, und seine Dienste wieder benötigt. Bis dahin wird er auf ihre Stimme lauschen, die von den unteren Ebenen her zu ihm heraufruft: »Einen Augenblick, eine Minute, eine Prise einen Joint einen Schuß deiner Reinheit für eine Seele, die es dringend braucht.« Regelmäßig und gläubig bringt sie ihm ihre kleinen Quentchen Schwarzmarkt-THS. Er fragt sie nicht, wie sie es auftreibt, obwohl er ahnt, wie ein Kind der Corporadas, das aus dem Himmel gefallen ist, seinen Lebensunterhalt drunten im Barry-O verdient. Er zwingt das Leben in die alten ausgetretenen Bahnen; es ist zu lange her, daß er sich das letzte Mal eine gründliche Überholung hat leisten können, und sie schält ihre Schichten von wasserdichter Straßenkleidung ab und steht nackt vor ihm, dem blauen Plastikfläschchen in der zitternden Hand. Früher war sie schön gewesen. Das Leben im Barry-O hat seinen Tribut gefordert und ihr die Schönheit genommen, Gramm für Gramm, Cruzeiro um Cruzeiro. Der äußere Rahmen ist geblieben, das kann niemand wegnehmen, die Flächen und die Rundungen und die Winkel, doch das Licht, das eine gutaussehende Fassade zur Schönheit macht, ist erloschen. Erloschen im strömenden Regen der Gassen, in Elendsschuppen aus Plastikplanen und Bierdosen, zwischen dem Stahl und Chrom der Industrietürme von schuldigen Company-Brüdern, Gramm für Gramm, Cruzeiro um Cruzeiro. Sie verkauft ihre hübsche Fassade, damit sie für einen Augenblick, eine Minute, eine Stunde, einen Nachmittag wieder schön sein darf. Damit sie im Teleporter stirbt, den ausgewaschenen, matschigen Straßen entflieht, dem Gestank menschlicher Verderbnis und den wasserdichten schwarzen Plastikumhängen und dem Moder und den Krankheiten und dem Regen, der die Namen und die Würde von den Straßen wegspült; um zerfetzt und zersetzt und verstreut bis ans Ende des Universums zu werden und für alles tot zu sein. Und wiedergeboren zu werden, neu, rein, heilig und strahlend und schön. Für einen Nachmittag, eine Stunde, eine Minute, einen Augenblick.

»Aurelian! Aurelian! Alter humpeliger, schrumpeliger Mann, eine Wohltat für dein brandiges Fleisch, ein Ende der Verwesung! Sieh nur, gutes Zeug, Stoff in Company-Qualität, hörst du mich, Aurelian?«

Aha, es ist also wieder soweit. Die Erinnerung wirklich, schrecklich. Er kann sich jetzt nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern. Irgend etwas Seltsames, wie ein Name, der sich sozusagen verselbständigt hat, überhaupt kein richtiger Name. Irgend etwas an ihr gemahnt ihn an ihn selbst, eine Nostalgie des Himmels. Er ist sicher, daß sie viele Jahre jünger ist, als sie aussieht. Wenn er sich doch nur erinnern könnte … Vielleicht, wenn sich die Dinge zum Besseren wenden.

Sie zieht sich bereits aus, Schicht um Schicht von Plastik und Papier wird abgeschält. Die Rituale sind für sie beide wichtig.

»Ich hab dir das Zeug mitgebracht, Aurelian. Guter Stoff, Company-Stoff.« Sie wirft ihm das Plastikfläschchen zu. Seine schönen Hände schnappen mit festem Griff nach seiner Bezahlung, bewegen sich dann zu den Computermodulen. Ein Summen von Energie, das alte Gebäude erbebt wieder einmal, alles für sie, nur für sie. Nur für Zed. Sie wirft das Haar zurück, und für einen kurzen Moment ist sie schön, sie ist Feuer und Licht und Dunkelheit und all jene widersprüchlichen Dinge, die eine Frau sein kann. Sie tritt ins Feld des Materietransmitters und wird verschlungen, und nichts bleibt außer dem Duft, die Erinnerung an Gardenien.

Muß Gott jedesmal, wenn sich niemand an seinen Namen erinnert, unbedingt sterben?


Originaltitel: ›Gardenias‹

Copyright © 1988 by Sphere Books

(erstmals erschienen in ›Zenith I‹, hrsg. von D.S. Garnett)

mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Agentur Luserke, Friolzheim

Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Englischen übersetzt von Irene Bonhorst

Illustriert von Jobst Teltschik

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