Falls du gelogen hast, verprügle ich dich wie einen Hund!«
»Ich habe nicht gelogen, Gebieter, ich würde nie lügen …«
»Wenn du gelogen hast, hetze ich die Doggen auf dich …«
Als die Hunde spürten, daß ihr Herr von ihnen redete, wurden sie munter. Sie tänzelten japsend an seiner Seite, und ihre Zungen hechelten gefährlicher als gewöhnlich aus den offenen Schnauzen.
»Ich lüge nicht, Gebieter«, wiederholte der Bauer traurig enttäuscht, aber der Reiter hörte ihm schon nicht mehr zu.
»Verdammte Hitze«, schimpfte er, nahm den wunderlich hohen Helm ab, zog ein rotes Seidentuch aus der Rüstung und wischte sich die Stirn.
Sicher ein kostbares Stück aus Ephesus, dachte der Alte, diese Ordensherren beschaffen sich all solch wollüstiges Zeug von den muslimischen Ketzern, aber wenn unsereiner bloß die Nase nach dem Orient dreht, wollen sie ihn schon auf den Scheiterhaufen schleppen. Er seufzte.
»Wir sind da, Herr.«
Deodatus de Gozon, Ritter des Ordens des heiligen Johannes, auch Rhodiser-Orden genannt, hängte den Helm an den Knauf und tätschelte sein Roß am Nacken. Die Hufe des Tieres stampften Staubkaskaden aus dem Wegebett. Vor ihnen tauchten die weißen Mauern eines verfallenen Kirchleins auf. Gott der Herr schien diese Stelle verlassen zu haben; und die die Kapelle einst gebaut hatten, waren ebenso verschwunden wie ihre Weinberge und Felder. Geblieben waren kahle Hänge; der Wind strich über sie und durchfächerte die dürren Gräser.
Auf der anderen Seite ragte ein Felsenriff empor wie ein Knochenfinger, und das Meerwasser, das ihn von drei Seiten umfing, platschte um seine Flanken.
Die Stute bockte, warf ihren Kopf hoch und schnaubte beunruhigt.
»Was hast du denn?« fragte Deodat sie freundschaftlich und streichelte ihre fast weiße Mähne.
Der Dörfler drehte sich um. Sein sonnengebräuntes Gesicht glich einer Gemme oder Kamee; Sommerhitze und beständige Not hatten es tief zerfurcht. Doch die Augen waren klar.
»Das war eine dem heiligen Stephan, dem Märtyrer zu Jerusalem geweihte Kapelle, Gebieter!«
»Und wieso fürchtet sich der Drache nicht vor dem Heiligen?« fragte der Ritter, hörbar mit Hohn in der Stimme.
Der Alte bekreuzigte sich. »Das ist weiter weg – dort hinten«, antwortete er hastig.
Mit furchtsamer Hand wies er auf den Felsen rechts in der Ferne, eine dem Meere abgewandte Berglehne.
Das Tal, das sich hinter der Kapelle absenkte, lag ganz im Mittagsschatten jenes Bergrückens. Mit der Meeresbrise zog eine trübe Kühle vom Meer herauf.
Der Reiter gab seinem Pferd die Sporen, so daß es sich bäumte und losgaloppierte. Lachend brachte er es wieder in seine Gewalt. Die beiden von der Hitze des Weges geplagten Hunde betrachteten die Prachtmähne mit müdem Staunen und folgten ihr schleppend.
Der Ritter hielt inne und versetzte dem keuchend herangekommenen Greis, tief sich hinunterbeugend, einen Puff in die Seite.
»Hör zu Alter – hast du ihn wirklich gesehen?«
Der Bauer schlug sich auf die Brust.
»Wie ich dich jetzt sehe, Gebieter.«
»Erzähle!«
Der Mann schüttelte sich.
»Meine Söhne weideten die Schafe da unten, dort wo die Höhle aus dem Felsen kommt. Es war wie jetzt gegen Mittag, ich wollte ihnen gerade das Mahl bringen, da erschrak ich; denn ich erblickte DAS deutlich schon von weitem.«
»Was hast du gesehen?«
»Es war plötzlich aufgetaucht.«
»Wie sah es aus?«
»Schlimmer als die Medusa. Der Kopf wie der einer Schlange und lange Ohren wie ein Maultier. Groß wie ein Stier, und auf dem Rücken hat ES Flügel … wie … ja, wie Flossen … oder nicht, nein, eher wie bei einer Fledermaus. Ein gewaltiger Rachen, und Augen wie die Hölle, möge uns der heilige Stephan beschützen …«
Der Greis bekreuzigte sich abermals.
Herr de Gozon räusperte sich, doch schwieg er. Der Bauer kniff die Augen zusammen.
»Schrecklich anzuschauen! Die Jungen, versteht sich, waren ausgerissen, Hammel da, Hammel hier – beim heiligen Glauben, ich kann ihnen keine Vorwürfe machen. Drei meiner Schafe fraß ES auf!« heulte er, von einem nachträglichen Gefühl der Verzweiflung befallen.
»Drei? Für einen Drachen nicht gerade viel.«
»Du mußt wissen, das Ungeheuer ist flink – das heißt, für die Schafe zu schnell. Es brach unter die Tiere wie der Fuchs in den Hühnerstall, berichteten meine Söhne; nur daß das Untier einfach geradeaus rannte ohne Haken und Ecken. Eine Woche später geschah das gleiche dem Josif Grinaldis und seinen Nachbarn … bei der heiligen Dreieinigkeit! Seitdem meiden wir das Tal wie die Pest – und was für herrliche Wiesen das dort sind!«
»Ihr seid Hasenfüße«, befand der Ritter.
»Da magst du recht haben, Herr!« Der Alte zog die Achseln hoch und verdrehte beide Hände zu einer Geste. »Wir sind keine Leute des Schwertes; obwohl, vor Wölfen fürchten wir uns nicht. Nein, vor denen keineswegs, aber jenes Ungeheuer ist für uns zu schrecklich – eine Gottesstrafe«, folgerte er, schicksalsergeben.
Schweigend zogen sie weiter, ließen die tote Kapelle hinter sich und kamen in das wunderbar kühle, beschattete Tal hinab. Es war eine Labsal, doch nur für eine Weile. Der Ritter setzte den Helm wieder auf. Der Pfad verlor sich in dichtem, hohem Gras, die Felswände hauchten Schimmel und Feuchtigkeit aus, und dazu noch etwas …
Zuerst blieben die Hunde stehen. Sie witterten, hoben ihre stumpfen Schnauzen. Das kurze Nackenhaar sträubte sich ihnen, zwischen den Zähnen beider drang ein mißtrauisches Knurren hervor. Jetzt wurde auch die Stute unruhig und fing an zu tänzeln. Von Westen wehte der salzige Geruch des Meeres.
Doch mischte sich nun ein deutlicher Geruch von Moschus von woanders her bei. Der Wechsel aus der hitzeflimmernden Öde in diese dunkle Ecke war zu jäh, oder …?
»Das, das hier – hier ist die böse Stelle.«
Der Alte lief mit seinen schaukelnden Schritten schnellstmöglich weiter, im Vorbeigehen auf den Felsenvorsprung deutend, der das Tal überragte. Als auch der Junker unschlüssig und langsam weiterritt, hielt sich der Bauer sorgfältig auf der höhlenabgewandten Seite des Pferdes und erklärte: »Da hinten ist das Loch und dort haust ES … Du kannst noch in die Stadt zurückkehren, Gebieter«, ergänzte er verlegen.
Der Junker folgte dem Finger des Bauern und drehte sich auf dem Sattel nach rechts um. Für eine Weile überkam den Krieger gänzliche Verzagtheit, die starke Furcht vor dem Unbekannten. Aber entschlossen schüttelte er die unedle Angst ab und sprang vom Sattel. Dem Greis warf er den Zügel hin und befahl:
»Warte hier auf mich, Geronimu … für den Drachen wäre das Roß zu schade, wie?« Er lachte etwas gezwungen und fügte hastig und kleinlaut hinzu: »Ich komme ja wieder …«
Die Furchen in dem braunen Antlitz zogen sich zusammen. Sie gaben dem Gesicht das Aussehen einer eingeschrumpften Olive. Er griff nach des Ritters Hand und küßte sie heftig.
»Du bist gütig, Gebieter! Du hilfst dem armen Volk, fürchtest nicht das Verbot des Komturs … aber … wenn du die geringsten Bedenken hegst, laß ab, ja, kehre lieber um, wir können es verstehen! Zu gütig bist du, Gebieter«, scholl es zum wiederholten Mal aus seinem zahnlosen Munde.
Der Gewappnete entriß ihm die Hand und überlegte. Seine Stirn verfinsterte sich. Der Großmeister des Ritterordens, Ellion de Villanova, hatte in einem Edikt befohlen, daß sich niemand, ob Ritter oder Gemeiner, der bösen Stelle auf weniger als zehn Stadien nähere – bei Verlust der Kehle und des Vermögens. Schwer zu sagen, was eigentlich den Großkomtur zu einer solchen Strenge veranlaßt hatte. Vielleicht wollte er das Leben seiner Bevölkerung nicht noch mehr gefährden; jedenfalls haßte er die Jagdleidenschaft seiner Ritter. Erfahrungsgemäß waren die tüchtigen Jäger wenig tüchtige Krieger gegen die Ungläubigen.
Vielleicht hielt der Komtur das Wesen keineswegs für ein Teufelstier, sondern für die Strafe des Herrn … da wäre es gar eine Lästerung, dem schrecklichen Wesen den Garaus zu machen.
De Gozon bekreuzigte sich, genau wie Geronimu und in dieser Geste war – wie schon unsichtbar die Angst beider gezeigt hatte – nichts mehr übrig, was den stolzen, jungen Herrn von dem alten ausgenutzten Bäuerlein unterscheiden mochte.
Es ist schandbar, den Drachen auf der Insel Rhodos sein Wesen treiben zu lassen, und das, obwohl so viele tapfere Ritter untätig herumsitzen – und es ist undenkbar, daß er, ein Edelmann aus dem stolzen Geblüt der Gascogner den Lindwurm nicht herausforderte – er, der keinen Sarazenen fürchtete. Dieses Vieh ist nicht Gottes, sondern des Teufels! Der Edelmann hatte sich entschieden.
Er schloß das Visier am Helm, warf den schwarzen Mantel mit dem weißen Achtkantkreuz über und faßte mit der Linken den Schild mit seinem Wappen.
Das Laufen in der Panzerung gestaltete sich hinderlich, obwohl es nur leichte Rüstung war, die er trug. Zum Glück war es hier kühl. Als er den Steilhang zunächst einmal umging, öffnete sich jedoch das Tal vor ihm, und die mörderische Sonnenglut prasselte wieder voll auf ihn hernieder und begann die eiserne Ausrüstung zu erhitzen. Er mußte schon wieder das Visier lüften.
Er blieb stehen.
So, wie er jetzt verharrte, stieg rechts das andere, fast schwarze Felsmassiv auf, das steil ins Meer abfiel. Er selbst befand sich dicht bei dem ominösen Höhlenhügel. In halber Höhe einer Böschung klaffte das finstere Loch. Er gab sich einen Ruck und lief auf die Wand mit der Höhle zu. Der Moschusgeruch kam von dort und wurde, je mehr sich die Nase der Örtlichkeit näherte, zum Gestank. De Gozon zitterte und konnte diese Schwäche nicht unterdrücken. Er spürte heiße und kalte Schweißtropfen im Nacken. Die Schläge des Herzens hämmerten gegen den Brustpanzer. Nie hatte er so drastisch erfahren, was ihm bisher hauptsächlich als Redensart geläufig war: Die Beine wurden ihm schwer wie Blei. Mühsam klomm er die Böschung hinan, die Lanze aus Eschenholz benutzend. Der schwere, durchdringende Mief schien ihn ertränken zu wollen. Es war nicht nur die Atemnot. In dieser Art Gestank lag etwas Geheimnisvolles, etwas unmenschlich Grausames und Ferneliegendes – aus längst verlorenen Zeiten, als kein Mensch auf der Erde war, als nach des Allmächtigen Willen das Leben noch infernalisch und wild brodelte. Denn es gab noch niemanden, dem es schaden konnte.
Deodat stand wie angewurzelt und schrie, seine ausgetrocknete Kehle vergewaltigend: »Du da, kriech schon raus – komm, wenn du keine Angst hast …«
»HAST, HASt, HAst, Hast, hast …«
Der Widerhall verebbte an den Hängen gegenüber im Gewirr der schütteren Lorbeersträucher zwischen nackten Steinen. Unten erstickte er in dem weichen Wiesenboden, wo der Bach rann. Kein Laut von Geronimu und den Hunden – ringsum Stille. Nur das Wasser murmelte im Kies, und von weitem raunte das Meer.
Die Angst ließ nach, aber der beißende Geruch entfachte in der äußerlichen Ruhe eine andere, innere Unruhe. Gegen das Anstinken kämpfend klomm der Geharnischte sich bis nahe an die Öffnung heran, die Stirn zur Seite nach einer kühlenden Luft gereckt, soweit der Helm diese heranließ. Er stolperte über Gesteinsbrocken, zwischen denen Sand und Kies unter seinen Tritten wegrutschten und träge abwärtsglitten.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes; ich fordere dich zum Kampf! Zeig dich, wir messen im Streit unsere Kräfte!«
»ÄFTE, ÄFte, Äfte, äfte …« verhallte das Echo wie vorher. Der Gestank war nicht zum Aushalten. Die Angst kehrte obendrein zurück und schien ihn eher zu ersticken als die Gase. Er wollte schreien und schreien. Das Grauen abschütteln konnte er aber nicht. Überall herrschte weiterhin Stille, und nichts tat sich.
Unvermittelt ertönte etwas aus dem Tal. Hundegebell, lauter werdendes, sich näherndes Bellen. Die Kläffer waren Geronimu entwichen und hefteten sich an die Fährte ihres Herrn. In ihrem Eifer mißachteten sie den abscheulichen Gestank völlig.
Als ihr Besitzer die trockenen, rauhen Zungen zwischen seinen Wadenblechen und Schuhen fühlte, warf er die Last seiner Angst endgültig ab, schritt auf den Höhlenschlund zu, das Schwert im Griff über die Schulter gelegt und die Lanze mit der Linken im Anschlag.
Er wog sie in der Faust und bemerkte mit Vergnügen das Blinken der Sonne auf der scharfen, blanken Spitze. Noch geblendet, stapfte er los und umging einen großen Stein, die Hunde dicht an seinen Fersen.
Da – die Füße sanken in etwas Matschigem ein; er rutschte aus – und als er auf den Rücken fiel, raubte ihm der Fäulnisgeruch wieder allen Atem. Er drohte jetzt wirklich zu ersticken, dann begann er sich zu erbrechen, dazwischen ohne Geruchsempfinden Luft saugend und schluckend, während das Gestein, die Höhle und der blaue Himmel sich nach oben schoben, höher und höher. Er wand sich in Krämpfen, brach alles heraus, was er vor einigen Stunden in der Hütte bei Geronimu gegessen hatte. Dann gelang es ihm, sich auf den Ellbogen zu stützen – und er sah DAS.
Vor ihm lag ein Haufen schleimiger, stinkender Haut, eine Wirrnis wie von Lederfetzen, ein langgezogener Kopf mit einem großen Horn und starren Augen. Es schien, als ob es ihn noch boshaft beobachtete, aber das war eine Täuschung. Denn das, was hier lag und was ihn zu Fall gebracht hatte, war nur – der Kadaver eines Drachen.
Ja, das war er – so ein Ungetüm, von dem die Volkserzähler und die Barden berichten – groß und grauenvoll –, obwohl es sich schon nicht mehr bewegte, und die Sonne, die auf den Ort herunterbrannte, aus dem Aas einen Haufen ekelhafter Abfälle gemacht hatte.
Deodatus de Gozon betete. Er stellte sich vor, was das Ungeheuer lebend vermochte – er konnte sich auch denken, welche Chance er allein im Kampf mit dieser Bestie gehabt hätte. Er rang erneut nach Luft, diesmal trotz des Pesthauchs mehr aus Erleichterung. Das Vieh war gewaltig, bizarr – viel größer als ein Stier. Auch so, wie er hier lag, auf die Seite gewälzt, reichte ihm der Drache bis fast zum Gürtel, und die riesenhaften Fledermausflügel, auf denen der Ritter ausgerutscht war, machten den ganzen Boden zu einem rostbraunen Pfuhl.
Er warf den Kopf in den Nacken, bis ihn der Helm bremste, atmete, des Giftgestanks nicht achtend, abermals tief ein, mußte heftig niesen und fing an zu lachen, wild und glücklich. Das Gelächter hallte von den verschiedenen Felsen zurück und scheuchte ein paar Raben auf, so daß sie sich mit empörtem Gekreisch schwerfällig in die Luft erhoben. Er bekam einen längeren Hustenanfall. Dennoch spürte er eine wunderbare Erleichterung. Es war vorbei. Hier lag das Grauen, der Schrecken – ihm zu Füßen. Nicht einmal die Hand hatte er auszustrecken brauchen, und schon war es vorüber, so frohlockte es in ihm.
Mit beiden Fäusten zückte er das Schwert und hieb in zwei Streichen das widerliche Haupt vom Hals. Das war nicht einfach, und Deodatus konnte auch nicht verhindern, daß er wieder am ganzen Leibe zitterte, als er den abgetrennten Kopf noch argwöhnisch mit der eisenbehandschuhten Rechten abtastete. Er schnappte nach Luft und schritt auf die Höhlenpforte zu. Im Eingang stieß er sich an Resten von Skeletten. Das meiste stammte wohl von Schafen, aber dazwischen bemerkte er auch die Überbleibsel eines Esels.
Seine Nase war taub geworden. Er spürte nur, daß es in der Höhle noch angenehmer kühl war als auf dem Talboden, durch den der Bach floß.
Sein betäubtes Geruchsvermögen verhinderte nicht, daß die Stinkluft durch die Nase bis irgendwo in das Gehirn kroch. Der Edelmann mußte schon wieder Vorboten des Erbrechens unterdrücken, wiewohl er nichts mehr im Bauch hatte. Plötzlich stand er wie angefroren.
Es beobachtete ihn ein unbewegtes Auge. Daran war nicht zu zweifeln, an der hinteren Höhlenwand ragte etwas empor wie ein großer, deformierter Schatten. – Lange Minuten vergingen. Stirnschweiß maß ihm perlend die Zeit … – nichts. Grabesruhe, Pest und Moder – nichts weiter. Sein Befreiungsruf gellte ihm selbst in den Ohren in diesem niedrigen Raum. Nur ein Dummkopf fürchtet sich vor einem Aas, und das war das zweite – ein weiterer Drachenkadaver stak also hier und faulte vor sich hin; obwohl die Zersetzung in der kühlen Höhle nicht so weit fortgeschritten war wie bei dem Leichenhaufen in der heißen Sonne. Vorsichtshalber schützte er sich durch den Schild, als er sich dem – hoffentlich – toten Wesen näherte. Rasch stach er mit der Lanze zu. Die Spitze bohrte sich glatt durch die Schuppenhaut. Dies verwunderte ihn, stand es doch in krassem Gegensatz zu der Behauptung, welche die Barden über die undurchdringliche Härte der Drachenschuppen aufzustellen pflegten …
Vorsichtig zog er die Lanze wieder heraus und lief, noch immer nach Atem ringend, aus der Höhle, den Skelettresten und dem Unrat tunlichst ausweichend.
Auf dem Schräghang kniete er halb ohnmächtig nieder, betete und dankte inbrünstig. Zwei Drachen liegen hier tot, und die ganze Insel ist von der Gefahr befreit! Ist es keine Tapferkeit, wenn ein Mann die Furcht in seinem Fleisch überwindet? Ist der leere Schrecken, welcher den Helden lähmt und den Gemeinen wahnsinnig macht, nicht noch fürchterlicher und bösartiger als die lebendige Gegenwart solcher Ungeheuer? Ich habe die Feigheit bezwungen, mit Recht gebührt mir der Titel des Drachentöters gleich dem Patron aller heldenhaften Ritter, dem heiligen Georg, der auch einen Drachen schlug – doch um etliches kleiner als die beiden, welche ich, Deodatus, vor mir hatte. Jeder kann sich davon überzeugen, der die Gestalt des heiligen Georgs des Drachentöters und seines Gegners in Stein und Bild gesehen hat …
Nach dem Dankgebet und dem Luftschöpfen stieg er zu der ersten, äußeren Drachenleiche zurück, um die Hunde, die sich um die Leibesfetzen rauften, von ihrem Rasen abzubringen.
»Weg – ihr Aasköter!« schrie er heiser und trat auf sie ein. Niemand will so seltene englische Doggen verlieren, und das Drachenfleisch mag giftig sein, wie der Odem der lebendigen Bestie. Er schlug das Kreuz, spießte das abgehauene Haupt auf die Lanze. So schleifte er die Beute an der Stange nach, bis er bessere Luft erreichte. Er versuchte, den Spieß zu heben. Der elastische Lanzenstiel verbog sich wegen des Gewichts an seiner Spitze, doch er brach nicht. Mit einem Schwung warf Deodat ihn samt Trophäe über die linke Schulter, die rechte Hand mit Siegerpose am Schwertgriff. Stockheiser begann er ein Loblied auf die Heilige Jungfrau zu intonieren und eines auf den heiligen Johannes von Alexandria den Almosengeber, dem Namenspatron seines Ordens. An das vom Großkomtur verhängte Verbot dachte er überhaupt nicht. Er hatte die Drachen besiegt – er glaubte selber schon daran – und begann sich im Geiste am Staunen zu berauschen und an dem Ruhm, der sich auf seine jungen Schultern häufen würde, wenn er den ungeheuren Kopf der Bestie vor dem strengen Villanova niederlegen würde.
Er glitt und schlitterte den sonnendurchglühten Hang hinunter, die Hunde vor sich herscheuchend, bis zu der dunklen Grenze des Schattens, der von der gegenüberliegenden Berglehne fiel. Die Welt war wunderschön, und die Sonne schien noch mehr als vorher, und jetzt milde, ohne zu stechen.
Aber was war denn das? Durch das Tal zog ein vibrierender, in dieser Welt nie gehörter Klang.
Nein, es war kein Flöten- oder Saitenspiel, sondern ein Tönen, unheimlich durchdringend und disharmonisch. Es floß schließlich in einen einzigen, widerlichen Akkord zusammen. Es hing schmerzlich-schrill in der Luft, es schien aber auch aus dem Berginnern zu grollen. Die Felsen bebten und das Meer. Das Pfeifen deuchte die ganze Welt auszufüllen. Die Sonne verdunkelte sich.
Deodatus ließ die Lanze mit der Beute fallen und griff unter den Helm, um sich die Ohren zuzuhalten, doch es half nichts. Tönte es nur in seinem Kopf? Die beiden Hunde heulten augenscheinlich auch, doch er hörte nichts anderes als den Mißton, er sah nur das zuckende Klappen ihrer Schnauzen.
Eben hatte sich Deodatus wieder umgedreht, als der Ton abrupt abbrach.
Er stand noch und überlegte, als ein neues Lautgemisch heranhallte, diesmal gedämpfter und räumlich begrenzt. Nichtsdestoweniger begrub es das Blättergezischel des Lorbeers, das Plätschern des Baches, das Krächzen der Raben und das verhaltene Rauschen des Meeres hinter dem hohen Riff unter sich. Da es gar nicht laut war, was die vertrauten Geräusche erstickte, kam der Ritter sich jetzt fast taub vor.
Doch es lag nicht an seinen Ohren. In einiger Entfernung bildete sich aus dem Nichts eine schwarze Wolke, rund, und sich ständig verändernd. Sie quoll nach allen Seiten, um endlich in langsamen, faulen Bewegungen zu pulsieren.
Die formlose Schwärze wich nebligen Konturen, wie man sie in einer Wolke noch nicht gesehen hatte, und den Rand des Gewölks umsäumte eine Art Regenbogen.
Die Konturen verdichteten sich. Ein grünliches Schuppenkleid wurde sichtbar, ein schreckliches Horn zeigte sich auf einem wippenden Hals, mit ihm zusammen ein vogelähnlicher, klaffender Schnabel und zwei Reihen kleiner, doch sehr spitzer Zähne und hinter dem Rachen links und rechts ein blutrotes Auge. Vor Deodatus befand sich der dritte Drache. Diesmal ein lebender, kolossal und fürchterlich.
Der lange Kopf schwenkte auf dem Hals nach beiden Seiten aus, abwechselnd mit dem einen und dem andern Auge nach vorn starrend. Dabei wippte der Kopf jedesmal abwärts und schien im Begriff, auf die schuppige Brust zu kippen. Schwache Hinterbeine konnten das Gewicht des Rumpfes nicht halten, das Monster stützte sich zusätzlich mit seinen großen, lederartigen Flügeln ab, die nach vorn in je drei bewegliche Krallenfinger ausliefen.
Der Drache war genauso perplex, wie der Ritter entsetzt war. Hektisch, doch vergeblich mühte sich der Kopf, etwas Bekanntes und Vertrautes zu sehen, vielleicht auch mit der Luft zu schmecken, doch fand er nichts, was sein Gehirn verstand. Verstört ortete er den unbekannten Eindruck des zweibeinigen Tieres und der komischen kleinen Wesen, deren Gezeter ihm schmerzlich in den Ohrenhäutchen lag.
Wir können nur schwer beschreiben, welches Tohuwabohu von Gefühlen den jungen Ritter jetzt durchfuhr. Bestürzung, ratloses Entsetzen, Gewissensbisse wegen des verfrühten Siegesgejauchzes und stumpfer Fatalismus. Er hatte eine Sünde begangen aus unmäßigem Stolz, altklug handelte er dem Verbot des Großmeisters zuwider – und das ist also die Folge. Das dritte Ungeheuer vernichtete der Herr nicht. Es würde seinerseits nun den Frevler umbringen. Denn wie der Herr weiß, läuft ein de Gozon vor der Gefahr nicht weg.
Ganz nahe vor sich den Drachen, ließ der Edelmann mutlos den Kopf hängen. Das Scheusal hob die Flügel, schwang sie und setzte ungeschickt auf kümmerlichen Beinen zu einem Sprung an. Zuerst besannen sich die Hunde. Als sie sahen, daß ihrem Herrn Gefahr drohte, sprangen sie an dem Feindwesen hoch, umkreisten es und schnappten nach den Hinterfüßen. Daß sie den Flügelschlägen ausweichen mußten, brachte sie zur Raserei. Der eine Rüde verbiß sich in einer Drachenklaue, der andere sprang direkt auf den zugeklappten Rachen zu. Blitzschnell federte der Echsenkopf herab, die Rachenschere schnappte auf und zu, und ein roter Blutstrom sprudelte auf beiden Seiten aus dem Maul. Das Pteranodon schmeckte das warme Blut – sicher, es war ein anderer Saft als das Süßblut der Fischsaurier –, aber warum nicht? Kauend begann es die Beute zu vertilgen. Der erste Rüde vergrub die Zähne noch wilder in den Fuß; da sauste schon der Flügel hernieder, und das unglückliche Tier rollte voll getroffen mit gebrochener Wirbelsäule beiseite.
Zum zweiten Mal an diesem Tage hatten die vierbeinigen Diener dem jungen Herrn gezeigt, was Todesmut ist.
Die fast lässige Selbstverständlichkeit, mit der das Vieh die klugen und starken Hunde beseitigte, nahm ihm die letzte Hoffnung. An rückwärtige Flucht war nicht mehr zu denken – der Drache würde ihn mit einigen Sätzen erreichen; und an den Seiten ging es bergauf. Es blieb die Ehre, der Kampf auf den Tod.
Er ließ das Visier fallen, hob die Lanze ohne das aufgespießte Beutestück vom Boden und stürzte sich brüllend dem Drachen entgegen. Erstaunlich leicht bohrte sich die Speerspitze in den schluckenden Drachenhals, das lebende Schuppentier war so weich wie die toten. Nichts deutete aber darauf hin, daß die Bestie es spürte. Sie drehte den Hals samt der Lanze zur Seite und musterte aus der Entfernung den Ritter mit ihrem Rubinauge. Kein Schmerz, nur Gier zeichnete den Blick, das lüsterne Verlangen nach der nächsten Beute.
Das ist ein gutes Land, sprach das Auge, ein labsames Land, und ein leichtes Fressen.
Mit einem neuerlichen Schwung des angebohrten Halses, raste der Drachenkopf auf den Ritter zu. Der hatte sein hinterrücks hängendes Schwert ergriffen. Zum letzten Schlag seines Lebens schwang er es empor. Er wußte, er war verloren. Er blickte in den mit Reihen von Zähnen gespickten Schlund, worin noch ein Batzen des Hundefleisches stak – und schlug mit seiner äußersten Kraft, denn es war sein letzter Hieb; alles legte er in ihn, was er vermochte … und fiel vornüber auf den Steinboden mitsamt der Waffe, die krachend zerbrach.
Wo soeben noch die Urbestie tobte, war nichts als Luft. Der Drache war verschwunden. Hätte Deodatus de Gozon seine halbwahnsinnigen Augen jetzt nicht auf die sterbend am Boden sich windende Dogge geheftet und auf die abgequetschten Reste der ersten, die der Saurier aus dem Maul verloren hatte, er würde meinen, er habe alles geträumt. Ihr Anblick verhinderte, daß der junge Recke das letzte Ereignis noch wahrnahm: den vibrierenden Ton beim Verschwinden des Drachen, mit dem dieser auch erschienen war.
Die blutige Sonne durchbohrte mühselig den Dunst. Steil stieg sie aus dem Meer auf, wo über der Weite sich Nebel türmte, unten weiß und oben fast rot. Der Schleier zerriß allmählich, die Schwaden krümmten sich und flochten wundersame Bilder, bevor sie sich zu einer grau gewordenen, undurchdringlichen Masse verwoben, hinter der die für kurze Zeit unverhüllt stechende Sonne wieder verschwand. Es war früher Morgen, bis sich die Nebel endgültig auflösen würden. Die Zeit vor der Jagd.
»Wenn die Dünste weichen, dann kommen sie«, meinte der größere Beobachter.
»Bis sie vergehen, werden wir längst krepiert sein. Und zwar von der Hitze, die wir jetzt schon haben«, keuchte sein dicker Begleiter, »in den dreizehn Tagen, die wir schon hier sind, haben wir doch genug von dem Viehzeug gefangen.«
Der Lange widersprach: »Neun Wasserviecher und keine einzige Flugechse. Zwei Geflügelte sind uns spurlos abhanden gekommen. Sie sind einfach fort … und wir fangen mit der Sorte von vorn an. Ich hab’s auch satt, mir reicht’s bis zum Hals. Am einfachsten wäre es mit Netzen. Aber unsere dünnen Fäden dringen ihnen in die Körper, das weißt du doch!«
Er begegnete einem verdrossenen Blick aus dreieckigen Augen. »Und da wollen sie durchaus die Fliegenden haben. Wenn es hauptsächlich um schwimmende Exemplare ginge oder um die … äh … ganz großen, die Pflanzenvertilger, doch gerade die Fliegenden! Die blödesten Tiere auf diesem blöden Planeten!« Der Dicke drehte sich sehnsüchtig nach der Expeditionsbasis um.
Die Basis war in die Böschung eines wuchtigen Kalkmassivs eingehauen, hoch über der Bucht. Von ihrem Standort blickten die Männer auf rostig-grüne Wälder von Bärlapp und Schachtelhalmen hinab, welche die Uferhänge überzogen und sich in dem stehenden Wasser der Randmoore und Sümpfe verloren.
Die beiden intelligenten Wesen mit dem menschenähnlichen Slang standen auf einer kahlen Anhöhe, jedoch dreißig Meter tiefer als die sogenannte Basis, am Ende eines engen, in den Kalk geschlagenen Stufengangs. Unter ihnen setzte sich das Wasser eine dünne, weißliche Mähne auf, und stieß sich träge am Hang. Die dichte Atmosphäre vermittelte nach dem Maßstab menschlicher Ohren alle Laute nur als schwer hörbares Gemurmel.
Der Fettwanst schwitzte, als stäke er in einer Gummihaut. Daß ihm der Schweiß frei ablaufen konnte, nützte auf diesem Treibhausplaneten nichts. Auf seinem grau-grünen Gesicht rannen Tropfen wie übergroße Perlen. Aber das brachte keine Kühlung. Der Lange atmete nicht weniger schwer, so als ob er mit jedem Zug einen Schluck heißes Wasser in seine Lunge pumpte.
»Sie werden schon kommen«, tröstete er seinen Freund und sich selber.
Der Nebel wurde nicht dünner, sondern nahm weiter zu, und auf den Küstenstrich ergoß sich eine Flut warmen Regens. Es dauerte nur kurze Zeit. Die menschenähnlichen Wesen mußten sich so lange an das Geländer klammern, das den Stufenweg bis hierher säumte, damit sie das Gewicht des Gusses aus der Nebelmasse nicht zu Boden drückte. Als der Niederschlag aufhörte, so plötzlich, wie er gekommen war, freuten sie sich, als wäre eine große Tragelast von ihnen genommen. Aber die Erleichterung dauerte auch nicht lange. Die brütende Hitze wurde nun wirklich zur Qual; die Sinne der Besucher aus dem All taten sich schwer, dagegen abzustumpfen.
Einige Nebelschwaden hingen noch verloren über den grünen Wellen und zergingen vor den spähenden Augendreiecken zusehends. Eine silbern schimmernde Ebene dehnte sich endlos, welche bald so stark glänzte, daß die Wesen die dritten, außenseitigen ihrer Augenlider schließen mußten. Ihrer beider Natur war eine mildere Sonne bestimmt.
Nicht nur die dicke Luft rührte träge das weiße Naß da unten, hin und wieder zerteilte ein Schuppenkamm die Fläche. Ein garstiger Rachen durchbrach das Wasser und verschwand erneut in der Tiefe wie ein übler Traum.
»Halte dich bereit, sie kommen!« Der Lange beugte sich über das Geländer.
Der Beleibte trat hinter einen gläsernen Windschirm, hinter dem die Anhöhe eine Art Umgang freiließ. Er nahm an einem Pult Platz. Ein scharrendes Klirren war zu hören, und die Schirmwand bewegte sich. Ein Spiralengürtel aus durchscheinendem smaragdfarbenen Material umschlang sie. Oben bildeten die Windungen eine offene Dachvernetzung von der Form eines umgestülpten Tellers, der sich mit der Faltwand zusammen drehte.
»Ganz hinten kommen sie, sie sind schon da!« rief der Dünne von draußen. Doch selbst sein Schreien war nur schwach zu vernehmen durch die schwere Luft. Sein Kollege in dem gläsernen Polygon bediente einen Knopf. Ein Bildschirm vor ihm leuchtete. Wellen tauchten im Rahmen auf, die trägen Meereswellen, manchmal das Gestade unterhalb der Beobachter, alles etwas verschwommen, jedoch plastisch dreidimensional. Mit einigen Anstrengungen seines Denkzentrums und durch Betätigen der drei Krakenfinger einer seiner Hände justierte der Fettleibige das Bild. Er erblickte das gleiche, was sein Kollege draußen gewahr wurde, jedoch wesentlich deutlicher als in der luftgetrübten Natur.
Der Dicke schnob und verdrehte das ganze Viereck des leichten Baues.
Dann sah er sie.
In der etwas klarer gewordenen Atmosphäre schaukelten einige Punkte. Der Dicke zentrierte das Bild auf die schwankenden Tupfen. Das Meer verschwand von der Mattscheibe, nur weißer Himmel wölbte sich fast plastisch im Tiefenhorizont der Bildeinstellung. Ein leichter Schwenk des Sichtrahmens in der Vertikalen und in der Horizontalen.
Ein abscheuliches, langgezogenes Maul mit giftscharfer Schnabelspitze und einem häßlichen, nach hinten gebogenen Horn tauchte auf. Der Techniker kämpfte gegen das erwartungsfiebrige Schlottern seines umfänglichen Körpers und gegen das Klappern seiner beiden Zahnblöcke. Er verfluchte sich dafür, daß er immer dann den Tatterich bekam, wenn er die Scheusale auf dem Schirm hatte und die Aufnahmeelektronik stabilisieren wollte.
Die grünlich glitzernden Schuppen ließen die schimmelgraue Haut der Echse zum Teil unbedeckt, in den roten Augen glommen Gier und Mord. Der Beleibte überantwortete die Bildführung dem Roboter. Der Roboter tastete mittlerweile ungerührt die Konturen ab und ließ das Objekt nicht mehr aus dem Visier.
»Ein prachtvolles Stück«, frohlockte der Lange, der sich hinter dem Rücken des Fettwanstes postiert hatte. Der Platz versprach ihm die größere Sicherheit.
Es war in der Tat ein prächtiges Stück. Die lederartigen Flügel mochten acht Meter Spannweite haben. Der Rumpf verfärbte sich beim Näherkommen zu Smaragd und Gold. In den Spitzen der Flügel regten sich drei Fingerkrallen. Es war imposant, wie die Urbestie, mühelos durch die beklemmende Luft, rudernd heransauste.
Die beiden Großtierfänger waren jetzt dankbar für das mächtige Kraftfeld, das sie vor den Ungeheuern des ihnen fremden Planeten schützen sollte.
Das angepeilte Tier ließ sich abrupt in das Küstenwasser fallen, hinter ihm weitere, aber auf die hatten sich die Beobachter nicht besonders eingerichtet. Die Flugsegel des ersten Tieres schlugen flach auf dem Wasser auf; der Monitor folgte unverdrossen nur diesem einen Objekt. Das Ungeheuer paddelte schaukelnd, mit den Flugsegeln das Wasser schlagend, auf den Wellen und startete wieder in die Lüfte. In seinem Sägeschnabel zuckte ein kleiner Fischsaurier, und dessen Blut troff scharlachrot aus den langgestreckten Kieferhälften. Im Fliegen drehte das Vieh ab und kehrte der Basis der Außerirdischen und ihrer Steuerzelle den Rücken zu. Mit konvulsiven Bewegungen seines Kopfes auf dem sich windenden Hals verschluckte der Drache noch im Flug seine Beute.
»Paß auf, daß er nicht entkommt!« rief der Lange nervös. Die Bemerkung war überflüssig, denn die Verfolgungsjagd war ganz auf Automatik eingestellt. In einer Ecke des Bildschirms tauchte ein Meßsternchen auf und wanderte zur Bildmitte. Der Roboter stellte das Gravitongeschütz ein. Es ertönte ein durchdringender, vibrierender Laut und klang sogleich wieder ab.
»Der Schuß hat gesessen!« gurgelte der Fettwanst vor Aufregung.
Das Ungeheuer wurde augenblicklich steif, begann aber trotzdem nur langsam zu sinken. Dann fiel es endlich, drehte sich dabei starr wie ein totes Objekt. Die Flügel waren jetzt nach oben geklappt, der Rumpf durchgesackt, und der sehr schwere Kopf hing vor der Brust.
Der Computer zeigte das betäubte Tier wechselnd von allen Seiten im Bild. Auch der stumpfe Schwanz reckte sich gen Himmel. Dann stürzte das Tier und fiel senkrecht ab.
Der schwierigste Moment …
Die naturwissenschaftliche Expedition soll von diesem Planeten so viele Musterexemplare der Fauna wie möglich mitnehmen. Dazu hat sie der Oberste Wissenschaftliche Rat mit der neuesten Erfindung ausgerüstet – dem erwähnten Gravitongeschütz. Das Gerät arbeitet weitgehend selbständig. Es ist nur erforderlich, den Zielgegenstand auf den Bildschirm zu bekommen und den Befehl zum Abschuß zu geben; den Rest besorgt der Roboter. Zuerst lähmt er das gewaltige Beutestück mit einer Niedrigfrequenz-Pulsation; mit einer schnell durchgerechneten Frequenzverschiebung wandelt er das elektromagnetische Feld in ein Gravitationsfeld um und transportiert das gelähmte Wild durch die Luft in einen der durchs Kalkriff getriebenen und hinten hallenartig erweiterten Stollen der Basis. Speziell ausgerüstete Raumschiffe bringen den in der Basis vorbereiteten Fang zur Anabiose, der Wiederbelebung, auf den Mutterplaneten der Expedition.
Das Problem war, wie man das Gravitongeschütz sachgerecht programmieren sollte. Es war eine gänzlich neue Apparatur, und das Steuerungszentrum arbeitete nicht hundertprozentig verläßlich. Nur wegen des grauenvollen Rufes, den dieser archaische Planet genoß – namentlich um seines Reichtums an entarteten Lebenstypen willen, bekam die Expedition die Möglichkeit, das teure Patent hier auszuprobieren.
»Umschalten!« rief der Lange und klimperte vor Erregung mit seinen dreieckigen Augenfalten. »Oder der Fang geht unter Wasser!«
»Er ist noch nicht ganz auf der Höhe der Basis«, konterte der Zweite blitzschnell, mit überschnappender Asthmastimme, aber sein Kamerad konnte sich schon nicht mehr beherrschen. Alles spielte sich in Sekundenschnelle ab, obgleich die hochgeschlagenen Segel den freien Fall der Bestie immer noch etwas bremsten. Der Saurier näherte sich beängstigenderweise schon dem leuchtenden Bett des Meeres, und unten warteten zahlreiche klaffende Rachen, Paare rot leuchtender Saurieraugen …
Der Dünne verlor die Beherrschung.
Bevor ihn der andere hindern konnte, bog er sich über das Schaltpult und drückte mit allen drei Fingern gleichzeitig die violette Taste in der Mitte. Ein gebrochener, fast melodischer, dabei disharmonischer Akkord ertönte, vibrierte, floß zusammen in einen halb heulenden, halb pfeifenden Dauerlaut.
Für einen kurzen Augenblick dachten sie, daß der wenig stabile Felsen unter ihnen bärste. Die Sonne wurde trüber.
Das war freilich bloß Einbildung, die Sonne schien wie vorher auf das glatte Jurameer, und die rostigen Schäfte der Schachtelhalme neigten ihre kupfergrünen Nadelarme zum Wasser hin. Alles war wie zuvor.
Nur der Saurier war verschwunden.
»… wie die zwei vor ihm«, meldete sich der Fettwanst resigniert, nicht einmal vorwurfsvoll.
»Das verzeihe ich mir nie«, jammerte der Lange nach einer Pause. »Das dritte Flugtier ist weg. Die Biologen werden uns neunmal verfluchen, ganz zu schweigen von den Astroforschern.«
Sein dicker Kollege sagte weiter nichts und wischte sich die gewölbte Stirn. Die Augendreiecke verengten sich zu schmalen Schlitzen in dem chlorgrünlichen, nasenlosen Gesicht.
Dann meinte er: »Ich werde eine Inversion des Feldes versuchen, vielleicht ist es noch nicht zu spät …«
»Bist du verrückt? Da müßten wir den Rat um Zustimmung fragen, der Rezeß könnte das Instrument beschädigen …«
»Ich bin nicht bescheuert. Wir haben keine andere Möglichkeit, als den Nullraum, wo das Tier verschwand, auszuloten …«
Der Lange gab entnervt nach. Schließlich, auch wenn es nicht gelänge, sie könnten von sich behaupten, alles versucht zu haben.
Der Dicke ließ sich wieder vor dem Pult nieder. Seine sechs Finger tanzten auf der Tastatur, und wieder hatten sie das Gefühl, daß der Kalk unter ihnen bräche und die Sonne sich verdunkelte.
»Halt ihn! Nun halt ihn doch!« schrie der Lange, unter dem offenen Dach auf- und abhüpfend.
Langsam, sehr langsam materialisierte sich das Bild des Sauriers, etwa einhundert Meter über dem Meer – zuerst nur in Flecken, dann immer deutlicher. Der Fettwanst widmete sich nur noch der Bedienung der Anlage; seine Handbewegungen waren jetzt exakt und vorsichtig.
Der Saurier fing erneut an zu fallen, jedoch nur bis zu einer bestimmten Höhe über dem Wasserspiegel; und als ob ihn eine unsichtbare Hand umklammerte, wurde er waagrecht zum Felsenriff geführt. Dort hob sich sein Rumpf etwas; von dem Gravitationswind getragen glitt der Balg vor eines der großen Tore, das sich öffnete und ihn verschlang.
Die Jäger eilten über den Treppengang und gelangten mit einem provisorischen Lift in die unterirdischen Räume der Basis. In der Präparationshalle trafen sie den Expeditionsleiter und den Präparator. Beide waren furchtbar aufgeregt und gestikulierten.
»Was ist passiert?« fragte der Lange.
»Das hier«, zeigte der Chef der Basis. Der Fettwanst begann, ohne hinzuschauen, keuchend die Gründe zu erklären, warum der Fang nicht nach Plan verlaufen war.
Doch hörte keiner zu, sondern alle außer ihm selbst starrten auf einen Punkt. Als der Dicke ihren Blicken folgte, verstummte er jäh.
»Das da haben wir ihm aus dem Hals gezogen«, entsetzte sich der Leiter.
Vor ihnen lag ein merkwürdiger Gegenstand: eine wunderlich gefärbte Stange, an einem Ende eine scharfe, dreikantige Spitze.
»Ein Pflanzenstiel?« murmelte der Lange ungläubig.
»Kaum. Das hier …« – wies der Präparator auf den Schaft –, »das könnte vielleicht etwas Pflanzliches sein. Aber wir haben etwas Derartiges bisher ja nirgendwo gefunden.« Seine Stimme wurde fast schrill, und den Kommandeur fragend anschauend, zeigte er auf die Spitze. »Das ist aber zweifelsohne Metall – geschmiedetes Metall.«
Es herrschte Stille.
»Ich werde über den Fund sofort den Rat benachrichtigen.« Der Kommandierende hatte die Sprache wiedergefunden. Dann wandte er sich den beiden Jägern zu:
»Habt ihr die Schwingungsfrequenzen der Inversion notiert?«
Die beiden guckten einander wehmütig an. Der Dicke senkte die Augenorgane.
»Wir haben es wegen der Störungen vergessen – und der Roboter hat die Meßdaten wahrscheinlich gelöscht …«
Ihr Chef schüttelte bloß den Kopf. Die Haut auf seinem Scheitel bildete Furchen.
»Miserabel – es scheint, der Nullraum warf den Saurier irgendwo hin, wo vernunftbegabte Wesen leben, die Metall bearbeiten und Werkzeuge herstellen können.«
Die andern schauten ihn abermals verblüfft an.
»Auf diesem Planeten sind doch keinerlei Bedingungen …«
Der Chef schloß besserwisserisch die Augenschlitze:
»Ich meine nicht diesen Raum, sondern eine Zeitverschiebung. Ihr seid womöglich über ein famoses Resultat gestolpert – ihr brachtet den Saurier weit weg in die Zukunft dieses primitiven Planeten!«
»Zu seinen Nachkommen«, ergänzte der Präparator ohne Betonung.
Der Fettwanst hüstelte. Er war zerknirscht, daß er auch noch jene Daten zu speichern vergessen hatte – die Daten, ohne die ein gezielter, auswertbarer Versuch, durch die Nullwand in die Zukunft zu gelangen, unmöglich war.
Der Lange beobachtete den Saurier, der in anabiotischem Schlaf auf dem lumineszierenden, großen Rundtisch lag, mitten in der künstlichen Höhle.
»Nachkommen dieser Monster, intelligente Saurier – pfui!«
Der tapfere Drachentöter Deodatus de Gozon gelangte nicht zu der trotz Verbotes erhofften Anerkennung seiner Tat. Wenigstens nicht gleich.
Als er vor den strengen Großkomtur trat und das abgeschlagene Drachenhaupt diesem zu Füßen legte, geriet der alte Herr nicht in Staunen, sondern, ob der Mißachtung seines Gebots, in flammenden Zorn und befahl, daß sie den Ritter ergriffen und in den Kerker würfen.
Aber die Nachricht vom Ende des großen Drachens verbreitete sich wie ein Lauffeuer über die ganze Insel Rhodos, und das Volk, in der Erwartung, daß der Abglanz des Ruhmes dieses Helden auf es fiele, ersuchte den Großmeister eindringlich, sein Urteil zu revidieren.
Ellion de Villanova, die Tat des jungen Ritters noch einmal überdenkend, ließ ihn aus dem übelriechenden Kerkerloch herausheben, waschen und in die höchsten Ehren des Ordens kleiden.
Und so steht dann später an des Recken Grabmal diese Inschrift:
F. Deodatus de Gozon. Dieser sehr tapfere Held schlug die außerordentlich schreckliche und arme rhodisische Bauern fressende Schlange von unheimlicher Größe und ward nachher im Jahre des Herrn 1349 zum Großmeister des Ordens zum Heiligen Johannes dem Almosenspender – erkoren.
AD MAIOREM DEI GLORIAM.
Damit endet unsere Geschichte, wenn auch die schöne Prinzessin fehlt. Aber die findet sich nur im Märchen …
Originaltitel: ›Drak‹
Copyright © 1973 by Václav Kajdoš
Copyright © 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München
Aus dem Tschechischen übersetzt von Karl von Wetzky