Rene Sussan Die Agentur



»Je mehr es sich verändert,

desto mehr ist es das gleiche …«

ANONYM


Das, was man die Agentur nannte, war ursprünglich ein einfacher Häuserblock, der am Rande eines Wohnviertels auf Kosten des Verteidigungs- und Vermögensministeriums errichtet worden war. In der Folgezeit lernte diese Einrichtung gute und schlechte Zeiten kennen, wobei sie sich jedoch stets vergrößerte. Um den vielseitigen Versuchungen der verschiedenen Ministerien, in deren Zuständigkeit sie fiel, gerecht werden zu können, wuchs sie immer weiter, verschlang nach um nach die angrenzenden Straßen und wurde so zu einem Viertel im Viertel, zu einer Stadt in der Stadt, und wird bald – so die Prophezeiung – ein Staat im Staate sein. Ein beschönigender Ausdruck: die Bezeichnung ›ein Staat‹ war in der Tat unangemessen: es handelte sich um mehrere Staaten. So wie sich einzellige Organismen durch Teilung fortpflanzen, vermehrten sich die Abteilungen rasch, wobei sie eifersüchtig über ihre Autonomie, ihre Vorrechte und ihre Unabhängigkeit wachten, so daß sie sich voneinander vollkommen abschotteten.

Als Janus – ein Name aus den Zeiten des Krieges – vor vielen Jahren eingestellt wurde, gehörte er zu der Abteilung des amtlichen Nachrichten- und Dokumentationsdienstes, der dem Verteidigungsministerium unterstellt war. Es war eine sehr bewegte Zeit. Eines der außerhalb des Mutterlandes gelegenen Gebiete forderte seine Unabhängigkeit, und der damalige Staatschef hatte seinem Volk versprochen, niemals die Flagge zu streichen. In der Folgezeit veranlaßten ihn die planetarischen Umstände, auf die er gesetzt hatte, zu der entgegengesetzten Politik. Die Folge war ein großes Durcheinander in den Meinungen und Äußerungen. Viele Leute wurden entzweit, die Verantwortlichen rausgeschmissen. Da die Zusammenarbeit mit den nun unabhängigen Gebieten zwar besser, jedoch noch unbeständig war, wurden verschiedene neue Einrichtungen geschaffen, die dem Geheimdienst zuarbeiteten. Da sie alle dieselbe Klientel hatten, wurde der Ehrgeiz untereinander entfacht. Keiner konnte einem anderen mehr trauen, und man flüsterte sich zu, daß Toccart einem amerikanischen Autor verraten hätte, daß Fricot für eine ausländische Macht arbeitete, worauf dieser Schreiberling einen Bestseller mit dem Titel Rubis schrieb, zu dem ein Regisseur, der auf Thriller spezialisiert war, einen Film mit dem Titel La Tenaille drehte …

Janus wurde hin- und hergerissen, doch er konnte sich über Wasser halten. Da er aber zu oft eingesetzt worden war, waren die verschiedenen Deckmäntelchen, unter denen er gearbeitet hatte, so transparent geworden, daß ihn seine Abteilung einer anderen Abteilung der Agentur zur Verfügung stellte, die ihn in einem völlig anderen Bereich einsetzte – selbstverständlich gegen eine entsprechende Gegenleistung. Das war im Grund das beste, was ihm passieren konnte. Viele seiner Kollegen, die am Scheideweg eine schlechte Wahl getroffen hatten, befanden sich inzwischen im Gefängnis oder unter der Erde. Andere, die ihr Mäntelchen in den Wind gehängt hatten, waren Fanatikern in die Hände gefallen, die ihnen ihren Opportunismus nicht verziehen, und diejenigen, denen ihr Ehrgefühl einfach keine Ruhe ließ und die sich in Würde aus der Affäre zu ziehen gedachten, wurden Opfer seltsamer Unfälle und nahmen auf diese Weise die – sehr verfänglichen – Geheimnisse mit ins Jenseits, über die sie vielleicht verfügten …

Die Jahre vergingen und Janus war von seiner ersten Dienststelle, die drei Stockwerke höher und fünfhundert Meter weiter links und damit Lichtjahre entfernt lag, vollkommen vergessen worden. Er selbst hatte schließlich den Beginn seiner beruflichen Laufbahn aus den Augen verloren. Die Arbeit in dieser Abteilung war viel lockerer, die Gefahren harmlos. Da er studiert hatte, betraute man ihn mit eher kulturellen Tätigkeiten, wie dem Zerstören einiger Institute mit Plastiksprengstoff oder dem Beseitigen gewisser unbequemer Intellektueller.

Eines Tages kam es erneut zu einem Ausbruch von Konflikten. In Gebieten, die seit Jahrhunderten integriert waren, trat plötzlich eine andere Kultur zutage, wurde eine in Vergessenheit geratene Sprache wiederentdeckt. Sie forderten daher zunächst die sprachliche, später die politische Unabhängigkeit, wohl wissend, daß das Mutterland den Gebieten, die sich selbständig machen wollen, eher finanzielle Unterstützung gewährte als jenen, die still die Treue hielten. Fanatismus lebte wieder auf, Doktrinen prallten aufeinander, das erste Blut floß bereits. Manipulationen, unsaubere Machenschaften und Gemauschel machten sich breit. Krumme Pläne blühten auf ein, zwei oder mehreren Stockwerken auf, und wie üblich stritten die verschiedenen Abteilungen des Dokumentationsviertels heftig miteinander, wenn nicht über das Ziel, das entsprechend der alten Tradition auf das nationale Interesse gerichtet war, so doch wenigstens darüber, wie man zu diesem Ziel gelangen könnte.

In diesem Zusammenhang erhielt Janus einen Auftrag. Man verheimlichte ihm nicht, daß er von äußerster Bedeutung sei, und daß sein Erfolg auf lange Zeit das Schicksal seiner Heimat bestimmen würde. Mit anderen Worten, ein Versagen würde ihm niemals verziehen werden. Er wußte, was das hieß, aber durch seine lange Berufserfahrung hatte er gelernt, in bezug auf alles, was sich als unabänderlich darstellte, absolut gelassen zu reagieren. Sein Codename sollte ›Pfingsten‹ sein, eine leicht erkennbare Anspielung auf den polyglotten Heiligen Geist, der seinerzeit zu den Aposteln auf die Erde kam.

Unterdessen war man in einem anderen Verwaltungsbezirk des Viertels – fünfhundert Meter weiter links und drei Stockwerke höher, sozusagen Lichtjahre entfernt – in heller Aufregung: eine Maßnahme war durchzuführen, deren Dringlichkeit von nationaler Bedeutung war. Sie erforderte jedoch sowohl Geheimhaltung als auch Kompetenz. Die einzigen kompetenten Agenten, über die die besagte Abteilung jedoch verfügte, waren bereits so weit entlarvt, daß die erste Bedingung nicht mehr ausreichend garantiert war. Die Situation erschien ausweglos, als ein alter Archivar, der die verschiedenen Ideologien, Racheakte und Regierungen überlebt hatte, schüchtern eine Idee äußerte: In seinen Akten gäbe es einen gewissen Janus, den man vor Jahren an eine andere Abteilung verwiesen habe, und der schon lange genug in Vergessenheit geraten sei, um von den Leuten, mit denen er zu tun hätte, nicht erkannt zu werden, die im übrigen aus einem völlig entgegengesetzten politischen Lager kämen …

Eines Abends wurde Janus auf dem Weg nach Hause angesprochen, in ein Auto gezerrt und mit verbundenen Augen und einer Pistole im Rücken in eine entfernt gelegene Villa gebracht, wo der Leiter seiner alten Abteilung wohnte, den er nie kennengelernt hatte und der ihm die Befehle gab. Die Einwände, die er vorbrachte, wurden vom Tisch gewischt. Er gehörte schließlich zum Haus, verdammt noch mal! Er wurde von ihrem Budget bezahlt, auch wenn er seit Jahren für eine Abteilung arbeitete, an die er schließlich nur ausgeliehen worden sei. Im übrigen handele es sich nur um eine einmalige Aktion, die in allerkürzester Zeit durchzuführen wäre und nach deren Abschluß er zu seiner gewohnten Tätigkeit wieder zurückkehren könne. Beiläufig machte man ihm klar, daß, sollte er sich entziehen wollen oder versagen, dies für ihn sofortige und definitive Konsequenzen haben würde. Er nahm diese Warnung mit der Gelassenheit von jemandem hin, der durch seine große Erfahrung eine grenzenlose Gleichgültigkeit gegenüber allem, was unabänderlich schien, entwickelt hat … Aber das sagten wir ja bereits.

Janus wurde mit einem verschlossenen Umschlag weggeschickt, den er erst im letzten Moment öffnen sollte, so wie jene Befehlsleiter, die zu einem Selbstmordkommando geschickt wurden, ohne daß ihnen das erwählte Ziel bekanntgegeben wurde. Auf dem Rückweg beschloß er, seiner jetzigen Dienststelle nichts von dieser unangenehmen Wendung zu erzählen. Wenn es sich wirklich um eine einmalige Aktion handeln sollte, würde er diskret seiner Verpflichtung nachkommen und anschließend seine Freiheit wiedererhalten. Auf diese Weise wäre allen gedient.

An einem bestimmten Nachmittag befahlen ihm seine Vorgesetzten, sich bereitzuhalten. Ihre Anweisungen waren sehr genau: Er sollte am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang ein Taxi nehmen und ans Ende der Avenue Pierre Boulle fahren. Dort würde er unter dem Codenamen ›Pfingsten‹ angesprochen werden.

Als er am nächsten Morgen gerade das Haus verlassen wollte, klingelte das Telefon. Es war seine alte Abteilung, die ihm befahl, unverzüglich ein Taxi zu nehmen und zum Boulevard Ionesco zu fahren. Dort angekommen, sollte er den Umschlag öffnen, den er erhalten hatte. Im Morgengrauen, unten auf der Straße, zögerte Janus noch. Die Straßen waren leer und spiegelglatt. Der Zufall wollte es, daß gerade ein Taxi vorbeikam. Janus winkte das Taxi herbei, und nannte die erste Adresse, die ihm in den Sinn kam, den Boulevard Ionesco. Dort würde er den Umschlag öffnen, lesen und dann anschließend einen Beschluß fassen, wie er weiter verfahren würde.

Der Weg dorthin war lang: Er mußte ans andere Ende der Stadt. Am Ziel angekommen, bat er den Taxifahrer, einen Augenblick zu warten.

»Sind wir hier am Ende des Boulevard Ionesco?«

»Aber ja«, antwortete der.

»Ist es von hier weit zur Avenue Pierre Boulle?«

Der Mann fing an zu lachen.

»Soll das ein Witz sein? Sehen Sie dort rechts die Abzweigung? Die Avenue Pierre Boulle beginnt dort. Die Kreuzung erstreckt sich beiderseits der Gemeindegrenzen.«

Etwas verwirrt öffnete Janus den Brief. Er war kurz. Seine ehemalige Abteilung befahl ihm, unter allen Umständen mit den Aktivitäten einer anderen Abteilung Schluß zu machen, die man noch nicht identifiziert habe, aber von der man mit Gewißheit wüßte, daß sie von Staatsfeinden durchsetzt sei. Einer der Agenten, der unter dem Namen ›Pfingsten‹ bekannt sei, sollte an diesem Ort zu dieser Stunde einen anderen Geheimboten treffen. Er sei sofort zu liquidieren. Entsprechend der üblichen Formel würde dann Janus mit seinem eigenen Leben für den Erfolg des Unternehmens geradestehen.

Janus bezahlte das Taxi und stieg aus. Im trüben Licht des Morgengrauens sah er dem Taxi nach, wie es sich entfernte. Mit gebeugtem Rücken, die Hände in den Taschen, stand er vor dem Schaufenster eines Geschäftes an der Ecke der Kreuzung. Der Geschäftsinhaber hatte dort ein Spiegelspiel aufgebaut: Die Silhouette desjenigen, der in die Spiegel schaute, vervielfachte sich ins Unendliche.

Ernüchtert hauchte Janus gegen die Scheibe. In dieser spöttischen Perspektive sahen all die Spiegelungen seiner Person wie vollkommen Unbekannte aus.


Originaltitel: ›L’Agence‹

aus der Collection ›Les Insolites‹

Copyright © 1984 by Mitions Denoël

Copyright© 1991 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Französischen übersetzt von Angelika Schlenk

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