5 Irrtum

Durch meinen ersten Zusammenprall mit dem Professor physisch und durch das folgende Gespräch geistig geschockt, stand ich wieder auf der Straße und überlegte. Vom Standpunkt des Journalisten aus konnte ich meine Unterredung mit Professor Challenger nicht als Erfolgserlebnis verbuchen. Ohne seine Einwilligung zur Veröffentlichung war die Information, die ich bekommen hatte, nicht das geringste wert.

An der Ecke stand ein Taxi. Ich stieg ein und fuhr in die Redaktion. McArdle war wie immer auf dem Posten.

»Na?« fragte er erwartungsvoll. »Was ist dabei herausgekommen? Offensichtlich ein blaues Auge. Sagen Sie bloß, das haben Sie von Challenger.«

»Wir hatten anfangs eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

»Das sieht ihm ähnlich. Und dann?«

»Dann ist er zugänglicher geworden, und wir haben uns recht angeregt unterhalten. Aber ich habe nichts aus ihm herausgebracht. Zumindest nichts, was man veröffentlichen könnte.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Allein das blaue Auge läßt sich schon in die Zeitung bringen. Diese Art Terrormethoden gegen Journalisten müssen unterbunden werden, Mr. Malone. Der Mann wird in seine Schranken verwiesen, darauf bestehe ich. Morgen erscheint ein Leitartikel über ihn, der sich gewaschen hat. Sie brauchen mir nur das Material zu liefern, und ich mache den Kerl ein für allemal unmöglich. Professor Münchhausen - wie macht sich das als Untertitel? Sir John Mandeville - wieder zum Leben erweckt, oder Cagliostro, das Lügenmaul, schlägt wieder mal zu. Ich werde unseren Lesern beweisen, was dieser Challenger für ein Betrüger ist.«

»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Sir.«

»Ja - warum denn nicht?«

»Weil er absolut kein Betrüger ist.«

»Was?« brüllte McArdle. »Sagen Sie bloß, Sie nehmen ihm seine Mammutkreaturen, seine Warzenmonster und Seeungeheuer ab?«

»Von den genannten Tieren war nicht die Rede, aber von einem anderen, völlig neuen Phänomen, das er entdeckt hat.«

»Mann, dann schreiben Sie darüber!«

»Nichts lieber als das«, sagte ich, »aber alles, was ich erfahren habe, habe ich unter der Bedingung erfahren, daß ich nicht darüber schreibe. Ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben.«

Ich faßte den Bericht des Professors in ein paar knappen Worten zusammen.

»Und so stehen die Dinge«, sagte ich abschließend.

McArdle machte ein sehr ungläubiges Gesicht.

»Gut, Mr. Malone«, sagte er schließlich. »Aber diese Vorlesung heute abend, die wird ja wohl nicht auch der Geheimhaltung unterliegen. Ich vermute, daß sich keine Zeitung dafür interessiert, weil über diesen Waldon schon Dutzende von Artikeln erschienen sind und niemand weiß, daß Challenger hinter das Rednerpult treten wird. Wenn wir Glück haben, kann das für uns ein Knüller werden. Sie sind ja sowieso dort, also schreiben Sie einen schönen, runden Bericht für die Gazette. Ich halte Ihnen bis Mitternacht ein paar Spalten frei.«

Ich kam den ganzen Tag kaum zum Verschnaufen. Am frühen Abend traf ich mich mit Tarp Henry im Savage Club zum Essen und erzählte ihm in groben Zügen von meinen Erlebnissen. Mit einem skeptischen Lächeln auf dem Gesicht hörte er mir zu. Als ich gestand, daß mich der Professor überzeugt hatte, brüllte er vor Lachen. »Mein lieber Malone«, sagte er, als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, »derlei Dinge passieren nicht im Leben. Man macht nicht zufällig eine umwälzende Entdeckung und verliert dann nicht - zufällig - das nötige Beweismaterial. Dieser Bursche hat die tollsten Tricks auf Lager. Geschwätz ist das, weiter nichts.«

»Und der Amerikaner?«

»Hat nie existiert.«

»Ich habe aber sein Zeichenheft gesehen.«

»Challengers Zeichenheft hast du gesehen.«

»Glaubst du, daß er das Monster gezeichnet hat?«

»Klar. Wer denn sonst?«

»Meinetwegen. Und die Fotos?«

»Auf denen ist doch nichts drauf. Du hast selbst zugegeben, daß du bloß einen Vogel gesehen hast.«

»Einen Pterodactylus.«

»Das behauptet er. Er hat dir diesen Pterodactylus in den Kopf gesetzt.«

»Bitte schön. Und wie steht es dann mit dem Knochen?«

»Der erste stammt aus einem Irish Stew, der zweite ist selbst gebastelt. Wenn du schlau bist und dich in deinem Metier auskennst, dann kannst du Knochen genauso fälschen wie Fotos.«

Mir wurde langsam unbehaglich. Sollte ich mich doch haben bluffen lassen? Doch dann kam mir der rettende Gedanke.

»Komm mit in die Vorlesung«, schlug ich Tarp Henry vor.

Er machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Dein genialer Professor Challenger ist kein sonderlich beliebter Mensch«, entgegnete er schließlich. »So mancher würde gern ein Hühnchen mit ihm rupfen. Ich würde sagen, er ist der meistgehaßte Mann in London. Wenn die Studenten Rabatz machen - und man könnte es ihnen nicht verdenken -, dann ist die Saalschlacht im Gange, und ich muß dir ehrlich sagen, ich habe keine Lust, in ein Handgemenge um einen Quatsch verwickelt zu werden, mit dem ich nichts zu tun habe.«

»Trotzdem könntest du dir wenigstens anhören, was er zu seiner Sache zu sagen hat.«

»Das ist richtig. Zumindest wäre es fair. Gut, ich komme mit.«

Ich hatte es nicht geglaubt, aber der Hörsaal war tatsächlich brechend voll. Vor dem Zoologischen Institut eine Droschke nach der anderen. Weißbärtige Professoren stiegen gewichtig aus und schoben sich durch die Massen, die zum Eingang drängten. Die Zuhörerschaft, das stand draußen schon fest, war ein Gemisch aus Neugierigen, Sensationslustigen, jungen Leuten und Männern vom Fach. In den hinteren Reihen des Hörsaals brodelte es. Alles Studenten, die im Moment noch gut gelaunt und fröhlich waren, was sich jedoch schnell ändern konnte. Immer wieder stimmte eine Gruppe einen Schlager an, der im Moment Mode war, und andere stimmten in den Singsang ein. Ich fand diesen Auftakt zu einem wissenschaftlichen Vortrag eher merkwürdig.

Als der ehrwürdige alte Mr. Meldrum mit seinem stadtbekannten, zerbeulten Zylinder auf dem Podium auftauchte, fragte jemand lauthals, wo er denn den Deckel herhabe. Der alte Herr nahm ihn hastig vom Kopf und versteckte ihn unter seinem Stuhl, was natürlich eine Lachsalve auslöste.

Als nächster humpelte der dicke Professor Wadley zu seinem Platz. Sofort wurden leutselige Fragen nach dem Befinden seines großen Zehs laut, der ihm allem Anschein nach Kummer bereitete.

Beim Auftauchen meines neuen Freundes, Professor Challenger, waren die Hörer nicht mehr zu halten. Als sein schwarzer Bart im Türrahmen erschien, brach ein unbeschreibliches Freudengeheul aus, und ich hatte schon Angst, daß Tarp Henry recht behalten sollte, um so mehr, als das Publikum, oder wenigstens ein Großteil davon, nicht wegen der Vorlesung gekommen zu sein schien, sondern weil es sich herumgesprochen haben mußte, daß der berühmte Professor anwesend sein würde.

Unter den gutgekleideten Herrschaften der ersten Reihen wurde pathetisches Gelächter laut. Das Gegröle der Studenten schien ihm gerade recht zu sein. Wenn auch ein aggressiver Unterton mitschwang, so war es doch hauptsächlich Freudengeheul. Jemand, der gehaßt und verabscheut wurde, wäre jedenfalls nie so empfangen worden.

Challenger, der langsam den Gang entlang geschritten war und am äußersten Ende der Stuhlreihe auf dem Podium Platz genommen hatte, lächelte nachsichtig, blähte den Brustkorb, strich sich liebevoll über den Bart und betrachtete mit hochmütigem Blick unter halb gesenkten Lidern hervor den überfüllten Saal.

Der Lärm hatte sich noch nicht gelegt, als Professor Ronald Murray, der Dekan der Fakultät, und Mr. Waldron, der Vortragende, nach vorn kamen und die Veranstaltung begann.

Professor Murray wird mir, hoffe ich, nicht gram sein, wenn ich sage, daß er die weit verbreitete, typisch englische Angewohnheit hat, so zu sprechen, daß man nur mit Mühe etwas versteht. Für mich wird es immer unverständlich bleiben, warum Leute, die etwas zu sagen haben, es nicht so sagen, daß man es auch versteht. Sie verhalten sich wie jemand, der eine kostbare Flüssigkeit durch ein verstopftes Rohr leiten will, das mit einem Handgriff freigemacht werden könnte.

Wie dem auch sei, Professor Murray richtete einige tiefsinnige Worte an seine weißen Manschetten und die Wasserkaraffe auf dem Pult vor sich. Dem Silberleuchter neben der Karaffe widmete er eine spaßige Bemerkung, bevor er sich wieder setzte und Mr. Waldron sich unter Beifall erhob und zum Pult kam.

Der populäre Wissenschaftler war ein steifer, hagerer Mann mit rasselnder Stimme und aggressivem Auftreten, der das Talent besaß, sich die Ideen anderer anzueignen und sie in verständlicher und durchaus interessanter Form an ein Publikum von Laien weiterzugeben. Selbst den unwahrscheinlichsten fernen konnte er eine witzige Seite abgewinnen. Der Verlauf der Äquinoktien oder die Entwicklungsgeschichte der Säugetiere nahmen sich äußerst humorig aus, wenn er darüber referierte.

An jenem Abend eröffnete Mr. Waldron seinen Hörern in klarer, oft bildreicher Sprache eine Vogelperspektive der Schöpfungsgeschichte nach neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft. Er ließ nichts aus: die Erdkugel, ursprünglich eine Masse glühender Gase im All, dann die Abkühlung, die Verfestigung, die Schrumpfung, wodurch Berge und Täler entstanden, die Kondensation von Dampf zu Wasser, das langsame Entstehen einer Bühne, auf der sich das unerklärliche Drama des Lebens abspielen sollte. Über die Entstehung des Lebens hatte er nur ein paar vage, zurückhaltende Sätze zu sagen. Daß eventuelles Leben die Höllenglut der Entstehungsgeschichte überstanden haben könnte, meinte er, sei mit Sicherheit auszuschließen. Also mußte es später entstanden sein. Hatte es sich aus den abgekühlten anorganischen Elementen der Erde entwickelt? Wahrscheinlich. War es aus dem All gekommen? Kaum vorstellbar. Selbst der weiseste Mann tue gut daran, sich in dem Punkt nicht festzulegen. Organisches Leben aus anorganischen Elementen zu erzeugen, sei bisher in den Laboratorien noch nicht gelungen. Die Schlucht zwischen Unbelebtem und Leben könne von der Chemie nicht überbrückt werden. Aber in der Natur gäbe es eine höhere und feinere Chemie, die mit großen Kräften und über lange Epochen hinweg arbeite und durchaus Resultate erzielen könne, die für uns Menschen unerreichbar seien. Dabei müsse man es eben bewenden lassen.

Damit kam der Vortragende zu der nie enden wollenden Leiter tierischen Lebens. Er fing ganz unten bei den Mollusken und den winzigen Seetieren an und arbeitete sich Sprosse für Sprosse nach oben. Primitive Reptilien, Fische und Schalentiere und schließlich eine Känguruhratte, die als erstes Geschöpf lebende Junge zur Welt gebracht hatte und damit der direkte Vorfahre aller Säugetiere und wohl auch aller Anwesenden im Saal sei.

»Aber nicht von mir!« rief ein vorlauter Student aus einer der hinteren Reihen.

»Aha, nicht von Ihnen«, ging Waldron sofort auf den Zwischenruf ein. »Dann sind der junge Herr wohl persönlich aus dem Ei geschlüpft, und ich darf ihn bitten, nach der Vorlesung bei mir vorstellig zu werden, denn ein solches Kuriosum mit eigenen Augen zu sehen, möchte ich mir wahrhaft nicht entgehen lassen.«

Großes Gelächter.

»Der Gedanke«, fuhr Waldron fort, als es sich wieder gelegt hatte, »daß der Höhepunkt des viele Jahrtausende dauernden Prozesses der Entwicklungsgeschichte das Ausschlüpfen des jungen Mannes da hinten gewesen sein soll, wirkt befremdend auf mich. Ist damit der Prozeß beendet? Soll der junge Mann da hinten das Endprodukt sein? Ich möchte dem jungen Mann, der im Privatleben gewiß seine Tugenden haben mag, nicht zu nahe treten, aber wenn die Entwicklungsvorgänge des Universums mit seiner Entstehung abgeschlossen sein sollen, dann wage ich zu behaupten, daß sich weder Zeit- noch Kraftaufwand gelohnt haben. Nein, ich bin überzeugt davon, daß der Prozeß noch nicht abgeschlossen ist und wir größere Ergebnisse erwarten dürfen.«

Nachdem der Redner unter Beifall und Gelächter den Zwischenrufer fertiggemacht hatte, kam er wieder zum eigentlichen ttema. Er sprach von der Austrocknung der Meere, dem Auftauchen von Sandbänken, dem schleimigen Leben, das an ihren Rändern klebte, von Lagunen und dem Trieb der Meeresbewohner, auf Schlammablagerungen Zuflucht zu suchen, von der Überfülle von Nahrung, die vorhanden war und ihr schnelles Wachstum begünstigte.

»Und so, meine Damen und Herren«, fügte er hinzu, »entstand jene furchterregende Gattung von Sauriern, die uns heute noch Schrecken einjagt, wenn wir sie im Wealdener oder Solnhofener Schiefer sehen, die jedoch glücklicherweise vor dem ersten Erscheinen der Menschheit auf diesem Planeten ausgestorben ist.«

»Irrtum!« dröhnte eine Stimme vom Podium.

Mr. Waldron war ein Mann von strenger Disziplin und - wie am Beispiel des jungen Zwischenrufers bewiesen - beißendem Spott. Ihn zu unterbrechen, war gefährlich. Diese Unterbrechung jedoch, dieser Zwischenruf war für ihn so absurd, daß er völlig perplex war. Es hatte ihm buchstäblich die Rede verschlagen. Nach einem Moment jedoch hatte er sich wieder gefangen.

»Welche jedoch vor dem ersten Erscheinen der Menschheit ausgestorben sind«, wiederholte er mit erhobener Stimme.

»Irrtum!« dröhnte die Stimme erneut.

Verwundert sah Waldron an der Reihe von Professoren auf dem Podium entlang, bis sein Blick auf Challenger geheftet war, der mit geschlossenen Augen und einem amüsierten Lächeln auf seinem Stuhl lehnte.

»Ach so«, sagte Waldron und zuckte die Achseln. »Mein besonderer Freund, Professor Challenger.«

Alles lachte.

Als sei damit alles erklärt, fuhr der Referent in seinem Vortrag fort.

Aber damit war die Angelegenheit noch lange nicht erledigt. Welchen Pfad Waldron auch wählte, um sich durch das Labyrinth der Vergangenheit zu schlängeln, er kam unweigerlich immer wieder zu einem Punkt, wo er eine Bemerkung über ausgestorbenes, prähistorisches Leben machte und prompt dröhnenden Protest von Seiten des Professors erntete. Die Hörer warteten schon darauf und brüllten jedesmal vor Lachen. Es kam so weit, daß die Studenten im Chor >Irrtum< schrien, wenn Challenger bloß den Mund aufmachte. Sein Zwischenruf wurde von Hunderten von Kehlen übertönt, was ihn allerdings nicht weiter zu stören schien.

Obwohl Waldron ein erfahrener, hartgesottener Redner war, geriet er mit der Zeit völlig aus dem Konzept. Er wurde unsicher, stotterte, wiederholte sich, verhedderte sich grammatikalisch und ging schließlich auf den Störenfried los.

»Das geht nun wirklich zu weit!« rief er. »Ich muß Sie bitten, Professor Challenger, Ihre unpassenden und ungezogenen Bemerkungen für sich zu behalten.«

Im Saal wurde es mäuschenstill. Die Studenten waren starr vor Begeisterung. Die unnahbaren Götter des Olymp keiften sich gegenseitig an, und das war ein einmaliges Schauspiel.

Challenger quälte sich langsam in die Höhe.

»Und ich muß Sie bitten, Mr. Waldron«, sagte er, »Behauptungen für sich zu behalten, die im krassen Gegensatz zu wissenschaftlichen Tatsachen stehen.«

Jetzt war die Hölle los.

»Unerhört ... rausschmeißen ... Ruhe ... runter vom Podium ... hört, hört!«

Alles schrie und lachte durcheinander.

Der Dekan der Fakultät sprang von seinem Stuhl auf, fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und bat um Ruhe und Ordnung. Als er sich endlich Gehör hatte verschaffen können, forderte er Professor Challenger auf, persönliche Ansichten nach der Vorlesung anzubringen, aber nicht jetzt.

Professor Challenger verbeugte sich, lächelte, strich sich über den Bart und nahm wieder Platz.

Waldron fuhr in seinem Vortrag fort. Wenn ihm eine kritische Behauptung entschlüpfte, bedachte er Challenger sofort mit einem ängstlichen Blick, doch dieser saß lächelnd und schweigend auf seinem Stuhl und schien zu schlafen.

Schließlich erreichte der Vortrag seinen, wie ich meine, etwas verfrühten Abschluß. Der letzte Teil seiner Rede war jedenfalls hastig und zusammenhanglos in den Saal geworfen. Jetzt warteten die Hörer darauf, daß etwas passierte. Waldron nahm Platz, der Dekan sprach ein paar Worte, und schließlich erhob sich Professor Challenger und trat hinter das Rednerpult. Im Interesse meiner Zeitung hielt ich seine Rede wörtlich fest.

Hier die Abschrift meines Protokolls:

»Meine Damen und Herren .«

Unruhe und Lärm in den hinteren Reihen.

»Meine Damen, meine Herren - liebe Kinder, verzeihen Sie, daß ich eben nicht die gesamte Zuhörerschaft begrüßt habe.«

Gelächter. Der Professor nickt freundlich und hebt die Hand, als wolle er dem Saal den päpstlichen Segen erteilen.

»Ich wurde dazu auserkoren, Mr. Waldron ein Wort des Dankes für den phantasievollen und bildhaften Vortrag auszusprechen, den wir eben hören durften. Es gibt Punkte, in denen ich mit Mr. Waldron nicht konform gehe, und ich habe es für meine Pflicht gehalten, jeweils meine Bedenken anzumelden. Mr. Waldron hat seine Aufgabe aber dessen ungeachtet gut gelöst - vorausgesetzt, daß diese Aufgabe darin bestand, einen einfachen, interessanten Bericht davon zu geben, was er für die Geschichte, die Entwicklungsgeschichte unseres Planeten hält. Populärwissenschaftliche Vorlesungen strengen weder den Redner noch den Zuhörer an, aber Mr. Waldron wird mir verzeihen .« - ein Lächeln -, »wenn ich sage, daß sie deshalb nicht oberflächlich sein und auf ein niedriges Niveau gebracht werden müssen.«

Spöttischer Beifall.

»Menschen, die populärwissenschaftliche Vorträge halten, sind von Haus aus Parasiten.«

Gesten des Protests von Waldron.

»Sie bedienen sich der hart erarbeiteten Forschungsergebnisse ihrer Kollegen, um sich finanziell zu bereichern oder zu Ruhm und Ehre zu kommen. Eine winzig kleine Erkenntnis, im Labor gewonnen, ein Baustein, in den Tempel der Wissenschaft gemauert, sind viel mehr wert als irgendein Vortrag aus zweiter Hand, der allenfalls die Zeit vertreibt, dessen Ergebnis jedoch gleich Null ist. Ich sage das nicht etwa, weil ich Mr. Waldron runtermachen will, sondern weil ich es für nötig halte, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß richtige Maßstäbe angesetzt werden müssen, wenn man nicht den Meßdiener mit dem Hohepriester verwechseln will.«

Mr. Waldron flüstert dem Dekan der Fakultät etwas zu, dieser steht auf und richtet einige tadelnde Worte an die Karaffe.

»Aber genug davon.«

Lauter, anhaltender Beifall.

»Kommen wir zu einem ttema, das interessanter sein dürfte. Welche spezielle Aussage hat mich, den gewissenhaften Forscher, dazu veranlaßt, die Glaubwürdigkeit beziehungsweise das Wissen unseres Redners in Frage zu stellen? Die Aussage, daß gewisse Arten tierischen Lebens auf diesem Planeten ausgestorben seien. Ich bin, was den Fortbestand gewisser Tierarten anbelangt, beileibe kein Amateur, noch bin ich einer dieser Populärwissenschaftler, der seine Hörer fesseln will. Ich bin ein Mensch, dessen wissenschaftlicher Ethos ihn dazu veranlaßt, sich strikt an die Tatsachen zu halten, und behaupte, daß Mr. Waldron im Irrtum ist, wenn er meint, es könne keine sogenannten prähistorischen Tiere mehr geben. Die Tatsache, daß er noch nie eines gesehen hat, ist kein Beweis. Diese Tiere sind tatsächlich - das hat Mr. Waldron richtig erkannt - unsere Vorfahren, aber ich möchte sagen, sie sind zeitgenössische Vorfahren, die mit all ihren abscheulichen und furchterregenden Charakteristiken auch heute noch zu finden sind - wenn man die Energie auforingt und nicht die Anstrengung scheut, ihre Schlupfwinkel aufzusuchen. Man schrieb diese Kreaturen allgemein dem Jurazeitalter zu und hielt sie durch Jahrhunderte hindurch für völlig ausgestorben, doch sie existieren.«

Protestrufe: Quatsch, erst einmal beweisen, woher wollen Sie das wissen, infame Lüge!

»Woher ich das wissen will?« Kunstpause und schweifender Blick über die Köpfe der Hörer hinweg. »Ich weiß es, weil ich ihre geheimen Schlupfwinkel aufgesucht habe.«

Beifall.

»Lügner!« Eine Stimme aus dem Publikum.

»Hat mich da gerade jemand einen Lügner genannt?« Erstaunter Blick. »Würde derjenige, der mich einen Lügner genannt hat, gefälligst aufstehen und sich zu erkennen geben?«

»Hier ist er, Sir!«

Tumult in einer der letzten Reihen. Ein schmächtiger junger Mann mit Brille wird von einer Gruppe von Studenten in die Höhe gehoben. Zappelt und wehrt sich.

»Sie haben es gewagt, mich einen Lügner zu nennen?« Donnerstimme.

»Nein, Sir!« Der Student verschwindet wieder nach unten.

Challenger bläht den Brustkorb. »Wenn jemand hier in diesem Hörsaal es wagen sollte, an der Glaubwürdigkeit meiner Worte zu zweifeln, würde ich nach Abschluß der Veranstaltung gern ein Wörtchen mit dem Betreffenden reden.«

»Lügner!«

Wieder wird der schmächtige Student mit Brille hochgehoben.

»Ich komme gleich zu euch rauf!« Challenger droht mit der Faust.

Im Chor: »Komm, Süßer, komm!«

Unterbrechung. Dekan steht auf und fuchtelt mit den Armen. Wirkt wie der Dirigent eines Orchesters.

Der Professor, roter Kopf, geblähte Nüstern und kampflustig vorgereckter Bart, verschaffi sich wieder Gehör.

»Jeder große Entdecker wurde bisher mit Ungläubigkeit konfrontiert. Sie scheint das Merkmal einer Generation von Idioten zu sein. Große wissenschaftliche Tatsachen bleiben unerkannt, wenn es an Intuition und Vorstellungskraft mangelt. Die werten Hörer im Saal können Männer, die für die Erschließung neuer wissenschaftlicher Gebiete das Leben riskiert haben, offensichtlich mit Schmutz bewerfen. Aber Propheten sind schon immer verfolgt worden: Galilei, Darwin und ich .«

Anhaltender Beifall und wieder Unterbrechung.

Soweit die Abschrift meines Protokolls, das nur einen unvollkommenen Eindruck von dem Chaos geben kann, zu dem sich die Veranstaltung ausgeweitet hatte. Das Durcheinander und der Lärm hatten solche Ausmaße angenommen, daß mehrere Damen bereits fluchtartig den Saal verlassen hatten. Die allgemeine Erregung schien ansteckend zu sein. Nicht nur die Studenten waren davon befallen, sondern sie hatte auch auf die ehrwürdigen alten Herren übergegriffen. Einige von ihnen waren aufgesprungen und drohten dem hartnäckigen Professor mit den Fäusten. Der Hörsaal hatte sich in einen brodelnden Kessel verwandelt.

Der Professor trat schließlich einen Schritt nach vorn und hob beide Hände in die Höhe. Der Mann hatte etwas so Großartiges und Fesselndes an sich, daß sich der Lärm sofort legte. Challenger ließ einen herrischen Blick über die Menge schweifen. Er schien eine entscheidende Aussage machen zu wollen, und alles lauschte gespannt.

Und hiermit nehme ich die Abschrift meines Protokolls wieder auf:

»Ich will Sie nicht weiter auftalten, meine Damen und Herren. Es ist die Sache nicht wert. Was wahr ist, bleibt wahr, und das Geschrei von einem Haufen dummer Studenten und - das muß ich leider hinzufügen - genauso dummer Senioren kann dem keinen Abbruch tun. Ich behaupte, der Wissenschaft ein neues Forschungsgebiet erschlossen zu haben. Sie bestreiten das, also werde ich den Beweis antreten.«

Stürmischer Beifall.

»Ich fordere Sie auf, aus Ihrer Mitte einen oder mehrere Vertreter zu ernennen, die sich auf eine Expedition begeben und in Ihrem Auftrag meine Behauptungen überprüfen.«

Mr. Summerlee, Professor für Vergleichende Anatomie, steht aus einer der ersten Reihen auf. Er ist groß, hager, wirkt verbittert und knöchern wie ein Geologe.

Summerlee: »Ich möchte Sie fragen, Professor Challenger, ob die Entdeckungen, von denen Sie eben sprachen, im Verlauf Ihrer Expedition durch das Amazonasgebiet gemacht wurden. Wenn ich mich nicht irre, waren Sie vor zwei Jahren dort.«

Professor Challenger: »Sie irren sich nicht, und es ist der Fall.«

Professor Summerlee: »Gut. Und dann würde ich gern noch wissen, wieso es möglich sein konnte, daß Wallace, Bates und andere Forscher von internationalem Ruf die Phänomene, die Sie entdeckt haben wollen, übersehen haben.«

Professor Challenger: »Verehrter Kollege, Sie scheinen den Amazonas mit der Themse zu verwechseln. Der erstere ist in Wirklichkeit etwas größer. Vielleicht interessiert es Sie, wenn ich Ihnen sage, daß er zusammen mit dem Orinoko ein Flußsystem von fünfzigtausend Meilen Länge darstellt. In einem so ungeheuer großen Gebiet ist es durchaus möglich, daß eine einzelne Person etwas findet, was andere nicht gefunden haben.«

Mr. Summerlee (saures Lächeln): »Der Unterschied zwischen dem Amazonas und der ^emse ist mir sehr wohl klar. Um so mehr, als letzterer Fluß von der Quelle bis zur Mündung überprüfoar ist, was beim ersteren nicht der Fall ist. Ich wäre Ihnen zu großem Dank verpflichtet, werter Kollege, wenn Sie mir die genaue Lage nennen könnten, wo Sie die prähistorischen Tiere angetroffen haben wollen.«

Professor Challenger: »Ich habe meine guten Gründe, diese Information für mich zu behalten, bin aber bereit, sie an ein Komitee weiterzugeben, das hier von den Anwesenden aufgestellt wird. Würden Sie sich, Professor Summerlee, bereit erklären, selbst diesem Komitee anzugehören und persönlich meine Angaben zu überprüfen?«

Mr. Summerlee: »Ich erkläre mich bereit dazu.«

Stürmischer Beifall.

Professor Challenger: »Dann verspreche ich Ihnen, dem Komitee alles erforderliche Material zu übergeben. Sie werden das Gebiet aufsuchen, in dem die Tiere leben, und sie mit eigenen Augen sehen. Wenn Sie jedoch meine Angaben überprüfen, dann finde ich es nicht mehr als recht und billig, wenn Sie von einer oder zwei Personen begleitet werden, die wiederum in meinem Interesse Ihre Angaben überprüfen. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß es eine schwierige und gefährliche Angelegenheit werden wird. Professor Summerlee sollte daher von jüngeren Männern begleitet werden. Möchte sich jemand freiwillig melden?«

Und so kann es geschehen, daß ein Mensch plötzlich vor dem entscheidenden Wendepunkt seines Lebens steht. Hatte ich bei Betreten des Saals ahnen können, daß ich mich hier zu einem Abenteuer verpflichten würde, das mir nicht einmal im Traum eingefallen wäre? Aber Gladys - war das nicht die Chance, die sie gemeint hatte? Gladys würde mir geraten haben, mich zu melden. Und so stand ich auch schon und redete, ohne mir die Worte vorher überlegt zu haben.

Tarp Henry, mein Begleiter, zupfte und zog pausenlos an meinem Ärmel.

»Mensch, Malone«, zischte er. »Hast du den Verstand verloren? Mach dich doch nicht in aller Öffentlichkeit zur Tulpe.«

Ich hörte nicht auf ihn, stellte aber fest, daß ein paar Plätze von mir entfernt ein großer, schlanker Mann mit flachsblonden Haaren ebenfalls aufgestanden war und mich mit ablehnendem und wütendem Blick musterte. Aber das war mir egal.

»Ich möchte mitkommen, verehrte Herren«, sagte ich mindestens zehnmal.

»Name!« schrie jemand aus dem Publikum. »Namen nennen!«

»Ich heiße Edward Dünn Malone und bin Reporter von der Daily Gazette. Ich behaupte, ein absolut unvoreingenommener Zeuge zu sein.«

»Und Sie, Sir?« fragte der Dekan der Fakultät den großen, schlanken Mann, der offensichtlich mein Rivale war.

»Ich bin Lord John Roxton«, antwortete er. »Ich bin schon den Amazonas hinaufgefahren, kenne das Gebiet und halte mich daher für diese Expedition für besonders geeignet.«

»Lord John Roxtons Ruf als Sportler und Weltreisender ist weltweit und unumstritten«, sagte der Dekan. »Auf der anderen Seite wäre es zu begrüßen, wenn ein Mitglied der Presse an der Forschungsreise teilnehmen würde.«

»Dann würde ich doch vorschlagen«, schaltete sich Professor Challenger ein, »daß beide gewählt werden, als Vertreter der hier Anwesenden Professor Summerlee nach Südamerika zu begleiten und mit ihm zusammen die Richtigkeit meiner Angaben an Ort und Stelle zu überprüfen.«

Und so war unter Beifallsrufen und Applaus unser Schicksal besiegelt, und ich wurde von einem Menschenstrom zum Ausgang gedrängt. Ich war völlig benommen und begriff nur halb, welches ungeheure Geschehen sich da plötzlich für mich entwickelt hatte.

Als ich auf der Straße stand, stob eine Gruppe lärmender Studenten an mir vorbei. Einer der jungen Männer hatte einen Schirm aufgespannt und fuchtelte wie ein Wilder damit in der Luft herum. Ich sah, wie Professor Challenger von Schmäh- und Hochrufen verfolgt in eine Droschke stieg, und war plötzlich allein unter den silbrig schim-mernden Lichtern der Regent Street und dachte an Gladys und meine ungewisse Zukunft.

Plötzlich berührte mich jemand am Ellbogen. Ich drehte den Kopf und sah in die lustigen, etwas hochmütigen Augen des großen, schlanken Mannes, der mein Reisebegleiter sein sollte.

»Mr. Malone«, sagte er. »Wir sitzen bald im selben Boot. Ich wohne gleich da drüben, im Albany. Hätten Sie vielleicht eine halbe Stunde für mich Zeit? Ich möchte nämlich ein paar Dinge mit Ihnen besprechen.«

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