13 Ein Anblick, den ich nie vergessen werde

Als an jenem trübseligen Abend die Sonne unterging, erblickte ich die einsame Gestalt des Indianers auf der weißen Ebene unter mir. Ich beobachtete ihn - unsere einzige schwache Hoffnung auf Rettung, bis er in den aufsteigenden Abendnebeln verschwunden war.

Als ich wieder in unser verwüstetes Lager zurückkehrte, war es bereits ganz dunkel, und mein letzter Blick galt dem Schein von Zambos Feuer, dem einzigen Lichtpunkt in der weiten Welt dort unten- dem einzigen Lichtblick auch für meine verdüsterte Seele. Und doch fühlte ich mich erleichtert, denn der Gedanke, daß die Welt erfahren würde, was wir hier erforscht hatten, war wenigstens tröstlich. Falls es uns vom Schicksal bestimmt war, daß wir nicht nach Hause zurückkehren sollten, so würden unsere Namen wenigstens in Verbindung mit dem Ergebnis unserer Bemühungen der Nachwelt überliefert.

Die Aussicht, in diesem verwüsteten Lager schlafen zu müssen, war bedrückend. Die Vorsicht riet mir, wach zu bleiben, aber mein erschöpfter Körper forderte unwiderstehlich sein Recht. Ich kletterte auf den untersten Ast des Gingkobaumes, fand aber keinen sicheren Sitz. Ich stieg also wieder herunter und überlegte.

Schließlich verschloß ich den Eingang der Hecke, entfachte drei Feuer, aß ein kräftiges Abendbrot und versank in tiefen Schlaf, aus dem ich auf sonderbare und höchst willkommmene Weise geweckt wurde. Am frühen Morgen, als der Tag eben anbrach, faßte eine Hand nach meinem Arm. Ich fuhr hoch, alle Nerven wie elektrisiert, griff nach meinem Gewehr und stieß einen Freudenschrei aus, als ich im kalten, grauen Licht Lord John neben mir knien sah.

Er war es - aber er war verändert. Ich kannte ihn beherrscht, korrekt und sorgfältig gekleidet. Jetzt war er bleich, hatte einen wilden Ausdruck im Blick und atmete wie jemand, der schnell und weit gelaufen ist. Sein hageres Gesicht war zerkratzt und blutig, seine Kleidung hing ihm in Fetzen herunter. Seinen Hut hatte er verloren. Ich starrte ihn erstaunt an, aber er ließ mir keine Zeit zum Fragen und wühlte in unseren Vorräten, während er sprach.

»Schnell, Malone, schnell!« rief er. »Jede Minute ist kostbar. Nehmen Sie diese zwei Gewehre und an Patronen, was Sie einstecken können. Die beiden anderen Gewehre habe ich schon. So, jetzt noch ein paar Lebensmittel. Ein halbes Dutzend Büchsen, das muß reichen. Nicht erst lange reden und überlegen. Los, weg von hier, sonst sind wir erledigt!«

Noch halb im Schlaf und unfähig zu begreifen, was das alles bedeuten sollte, jagte ich hinter ihm her, über jeder Schulter ein Gewehr und die Hände voll Proviant. Lord John lief durch das Unterholz, bis er an dichtes Gebüsch kam. Dort hinein stürzte er sich kopfüber, ohne auf die Dornen zu achten, und kroch weiter zur Mitte. Mich zerrte er neben sich.

»So!« keuchte er. »Ich denke, hier sind wir erst einmal in Sicherheit. Sie kommen todsicher zum Lager zurück. Aber hier werden sie uns kaum vermuten.«

»Was ist denn überhaupt los?« fragte ich, als ich wieder etwas zu Atem gekommen war. »Wo sind die Professoren? Und wer ist hinter uns her?«

»Die Affenmenschen!« keuchte er. »Mein Gott, was für Bestien! Sprechen Sie nicht so laut, sie haben empfindliche Ohren und gute Augen, aber keinen scharfen Geruchssinn, soweit ich es beurteilen kann. Ich glaube also nicht, daß sie uns hier aufspüren. Wo sind Sie gewesen, Malone? Sie können froh sein, daß Sie nicht dabei waren.«

In wenigen knappen Sätzen flüsterte ich ihm zu, was ich erlebt hatte.

»Donnerwetter!« sagte er, als ich geendet hatte. »Nicht ganz der Ort für eine Erholungskur, was? Aber auch ich hatte keine Ahnung, was hier alles möglich ist, bis diese Teufel über uns hergefallen sind. Ich war einmal in der Gewalt von menschenfressenden Papuas, aber das sind Waisenknaben im Vergleich zu dieser Bande.«

»Wie kam es denn zu dem Überfall?« fragte ich.

»Es war früh am Morgen. Unsere gelehrten Freunde waren eben aufgewacht und hatten noch nicht einmal angefangen, sich zu zanken. Auf einmal regnete es Affen. Wie die Äpfel fielen sie aus dem Baum. Sie müssen sich in der Dunkelheit versammelt haben, bis der große Baum über uns von ihnen wimmelte. Einen von ihnen habe ich in den Bauch geschossen. Aber ehe wir wußten, was hinten und vorne war, hatten sie uns schon aufs Kreuz gelegt.

Ich nenne sie Affen, aber sie hatten Stöcke und Steine in den Händen und schnatterten untereinander. Sie fesselten uns schließlich die Hände mit Schlingpflanzen, also sind sie jedem Tier, das mir bisher begegnet ist, weit überlegen. Affenmenschen sind sie, diese fehlende Bindeglieder der ^eorie Darwins. Ich wollte, sie fehlten immer noch! Sie haben ihren verwundeten Kollegen weggeschleppt - er hat wie ein Schwein geblutet, und dann haben sie sich um uns herumgesetzt. Aus ihren Gesichtern sprach die nackte Mordlust. Es waren große Kerle, so groß wie Menschen, aber stärker. Komische glasige graue Augen haben sie, unter roten Büscheln. Sie saßen einfach da und glotzten und glotzten. Challenger ist bestimmt kein Hasenfuß, aber sogar er war eingeschüchtert. Er schaffie es schließlich, sich auf die Beine zu stellen. Dann brüllte er sie an, sie sollten doch ruhig tun, was sie mit uns vorhätten. Dann hätten wir’s wenigstens hinter uns. Ich glaube, der unerwartete Überfall hat ihn ein Stückchen Verstand gekostet, denn er hat wie ein Wahnsinniger geschimpft und getobt. Vor seinen verhaßten Journalisten hätte er sich nicht schlimmer aufführen können.«

»Und dann?«

»Dann dachte ich, daß jetzt alles aus ist, aber da kam plötzlich die Wende. Die Affen gackerten und schnatterten, bis sich endlich einer aus ihrer Mitte löste und neben Challenger stellte. Sie werden es nicht glauben, Malone, aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß die beiden hätten Brüder sein können. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es selbst nicht glauben. Dieser alte Affenmensch - er war ganz offensichtlich der Anführer der Meute - war ein Challenger in rot, mit denselben Schönheitsmerkmalen ausgestattet wie unser Professor. Derselbe gestauchte Körperbau, dieselben breiten Schultern, derselbe gewölbte Brustkasten, auch kaum ein Hals, ein roter, gewellter Bart, buschige Brauen und dieser herausfordernde Blick, der einen auch bei Challenger rasend machen kann.«

»Weiter«, drängte ich, als Lord John seine Erzählung unterbrach, um nach allen Seiten prüfende Blicke zu werfen.

»Als der Affenmensch unserem Professor dann auch noch eine Pranke auf die Schulter legte«, fuhr er schließlich im Flüsterton fort, »war das Schauspiel komplett, und Summerlee lachte, bis ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Nicht, daß er sich über seinen Kollegen lustig gemacht hätte, ich glaube, es war eher ein Anfall von Hysterie. Wie dem auch sei, die Affenmenschen stimmten plötzlich in das Lachen ein, klatschten sich auf die Bäuche und hüpften auf und ab. Die Fröhlichkeit hielt jedoch nicht lange an, und es wurde wieder blutiger Ernst. Die Affenmenschen schleppten uns durch den Wald. Unsere Waffen, die Munition und die anderen Geräte rührten sie nicht an. Sie hatten allem Anschein nach Angst davor. Dafür nahmen sie aber mit, was sie an Lebensmitteln finden konnten - bis auf die Konserven. Die ließen sie liegen, weil sie nicht ahnten, daß sich darin etwas Eßbares befindet. Summerlee und ich wurden herumgeboxt und herumgestoßen und durch die Dornen gezerrt. Sie brauchen sich ja bloß anzuschauen, wie ich aussehe. Den Affenmenschen macht das Gestrüpp nichts aus, denn sie haben eine Haut wie Leder.«

»Sie sprechen immer nur von Summerlee und sich«, sagte ich. »Was war mit Challenger?«

»Das will ich eben erzählen. Challenger wurde eine Sonderbehandlung zuteil. Ihn trugen vier von den Affen wie einen römischen Kaiser ... Haben Sie das gehört?«

In der Ferne ein klickendes Geräusch. Ähnlich wie das rhythmische Schlagen von Kastagnetten.

»Da sind sie«, zischte Lord John und lud beide Läufe seines Gewehrs. »Alles durchladen, Malone. Wir lassen uns nicht lebend fangen, das schwöre ich Ihnen. Den Krach machen sie, wenn sie aufgeregt sind . Hören Sie noch etwas?«

»Nur noch ganz weit entfernt«, antwortete ich.

»Der kleine Haufen kann nicht viel ausrichten«, sagte Lord John, »aber wir müssen damit rechnen, daß es überall von ihren Suchtrupps wimmelt. Aber zurück zu dem, was geschehen ist. Sie haben uns in ihr Dorf geschleppt. Es besteht aus vielleicht tausend Hütten aus großen Blättern und Zweigen, die in einem Hain ziemlich dicht am Rand der Klippen stehen. Von hier aus sind es vielleicht drei bis vier Meilen dorthin. Diese stinkenden Kreaturen haben mich überall angefaßt, es graust mir vor mir selber. Sie haben uns gefesselt, derjenige, der mich eingeschnürt hat, konnte Knoten machen wie ein alter Seebär. Und da lagen wir dann unter einem Baum, die Beine am Stamm hochgebunden, und wurden von einer der größten dieser Mißgeburten bewacht, während Professor Challenger in einer Baumkrone hockte, Ananas aß und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ. Ich muß allerdings sagen, daß er uns Obst zusteckte und schließlich eigenhändig unsere Fesseln löste. Aber erst einmal hockte er mit seinem Zwillingsbruder auf dem Baum und trällerte ein Liedchen, um die Affen bei Laune zu halten. Die Szene war eigentlich zum Lachen, nur war Summerlee und mir absolut nicht zum Lachen zumute. Challenger hatte praktisch Narrenfreiheit, aber wir durften uns nicht mucksen. Der einzige Trost für uns war, daß wenigstens Sie noch frei herumliefen und das Tagebuch in Verwahrung hatten.«

»Was auch nicht ganz den Tatsachen entsprach«, sagte ich.

»Sicherlich, aber das konnten wir nicht wissen. Und jetzt werde ich Ihnen etwas erzählen, Malone, was Sie erstaunen wird. Sie sagen, daß Sie auf Spuren von Eingeborenen gestoßen sind. Sie haben das Feuer in ihren Höhlen gesehen und am eigenen Leib verspürt, daß sie in der Lage sind, Fallen zu bauen. Wir haben aber nicht nur ihre Spuren, sondern wir haben die Eingeborenen mit eigenen Augen gesehen.«

»Was?« rief ich, einen Ton zu laut.

»Sind Sie wahnsinnig?« zischte Lord John. »Wollen Sie uns verraten?«

»Verzeihen Sie«, flüsterte ich. »Das ist mir in der Aufregung so herausgerutscht. Bitte, erzählen Sie weiter.«

»Gut«, sagte Lord John. »Wir haben also die Eingebore-nen mit eigenen Augen gesehen. Arme Teufel sind das, kleine Kerle mit hängendem Kopf. Dazu haben sie allerdings jeden Grund. Die Menschen beziehungsweise die Eingeborenen, wenn wir sie einmal so nennen wollen, haben die eine Hälfte des Plateaus besetzt - dort, wo Sie die Höhlen gesehen haben - und die Affenmenschen die andere Hälfte. Sie führen seit Urzeiten einen blutigen Krieg, und das ist die Situation. Gestern haben die Affenmenschen an die zehn Eingeborene gefangen und in ihr Dorf geschleppt. Ein solches Geschrei und Geschnatter haben Sie in Ihrem Leben noch nicht gehört, Malone. Die Affenmenschen waren halb wahnsinnig in ihrem Siegesrausch, während die kleinen, rothäutigen Kerle von Eingeborenen - es sind Indianer - so zerschunden und zerbissen waren, daß sie sich kaum mehr aufrecht halten konnten. Die Affen haben zwei von ihnen an Ort und Stelle umgebracht. Einem haben sie glatt den Arm ausgerissen. Es war grauenvoll anzusehen. Und die tapferen kleinen Burschen haben keinen Laut von sich gegeben. Summerlee hat die Besinnung verloren, und sogar Challenger war grün im Gesicht ... Ich glaube, jetzt sind sie weg, oder?«

Wir lauschten, aber außer dem Zwitschern der Vögel war nichts zu hören. Lord Roxton fuhr in seinem Bericht fort.

»Sie hatten ein unverschämtes Glück, Malone. Wenn die Affenmenschen nicht zufällig die Indianer gefangen genommen und Sie dadurch vergessen hätten, wären sie bestimmt zu unserem Lager zurückgelaufen und hätten Sie geholt. Sie hatten recht, Malone. Die Affen haben uns von Anfang an beobachtet, und sie wußten ganz genau, daß einer fehlte. Sie dachten aber bloß an ihre Beute, und so kam es, daß Sie eben nicht von den Affenmenschen, sondern von mir geweckt worden sind.«

»Aber wie sind Sie denn entkommen?« fragte ich.

»Immer der Reihe nach«, sagte Lord John, als ob nicht er es gewesen wäre, der eben das Ende vorweggenommen hatte. »Wir haben noch etwas Schreckliches erlebt. Der reinste Alptraum ist das gewesen. Sie erinnern sich doch an die Stelle, wo wir das Skelett des Amerikaners gefunden haben, oder?«

»Allerdings!«

»Gut. Genau über diesem Bambusgestrüpp befindet sich das Dorf der Affenmenschen. Am Rande der Klippen ist ihre Hinrichtungsstätte, die ihnen gleichzeitig als Vergnügungsort dient, weil die Feinde, die sie gefangennehmen, zum Gaudium aller da hinunterspringen müssen. Von den armen Teufeln mußte sich einer nach dem anderen in die Tiefe stürzen, während die Affen am Rand der Klippen hockten und zusahen, ob ihre Opfer nun aufgespießt wurden oder auf dem Boden auftrafen und sich alle Knochen brachen. Sie haben uns gezwungen, das grausame Schauspiel mit anzusehen.«

»Und alle zehn ...«

»Nein«, schnitt mir Lord John das Wort ab. »Gestern nur vier, die anderen haben sie sich für heute aufgehoben. Wir dachten natürlich, daß jeden Moment einer von uns an der Reihe ist, aber dem war nicht so. Auch uns haben sie sich für heute aufgehoben. Es ist denkbar, daß sie Challenger verschonen, aber Summerlee und ich stehen auf der Liste, da führt kein Weg daran vorbei.«

»Woher wollen Sie das denn wissen?« fragte ich.

»Ganz einfach«, antwortete Lord John. »Die Sprache der Affenmenschen besteht zur Hälfte aus Zeichen und ist daher leicht zu verstehen. Ich wußte also, daß es höchste Zeit war, mich aus dem Staub zu machen. Ich hatte schon die ganze Zeit überlegt und wußte eines mit Sicherheit: ich war total auf mich selbst gestellt, denn auf die beiden Professoren war absolut kein Verlaß mehr. Als sie während der ganzen Zeit einmal kurz zusammenkamen, hatten sie nichts Besseres zu tun, als sich gleich wieder zu streiten, weil sie sich über die wissenschaftliche Klassifizierung der Bestien, die uns gefangen hielten, nicht einig werden konnten.«

»Nicht zu fassen«, sagte ich kopfschüttelnd.

»Das kann man wohl sagen«, fuhr Lord John fort. »Der eine behauptete, die Affen gehörten zur Gattung Dryophithecus, die man auf Java gefunden hat, und der andere war überzeugt davon, daß sie dem Pithecanthropus zuzuordnen seien. Wahnsinn nenne ich das! Verrückt sind sie, der eine wie der andere! Wie dem auch sei, ich hatte mir zwei Dinge überlegt. Erstens, daß die Affen auf freiem Gelände nicht so schnell laufen können wie wir Menschen, denn sie haben kurze, krumme Beine und einen plumpen Körper. Selbst Challenger dürfte schneller sein, und bei ihm kann man auch nicht gerade von Hochbeinigkeit sprechen. Und meine zweite Überlegung war, daß diese Affen nicht mit modernen Waffen umzugehen wissen. Meiner Meinung nach haben sie nicht einmal begriffen, wie der Kerl, den ich angeschossen habe, zu seinem Loch im Wanst gekommen ist. Es stand also fest, daß es nur einen Ausweg aus dem Dilemma geben konnte - ich mußte an unsere Waffen herankommen.«

»Und dann?«

»Dann habe ich unserem Bewacher bei Tagesanbruch einen Tritt in die Magengrube versetzt, habe einen Kinnhaken hinterhergeschickt, ihn flachgelegt und bin getürmt.«

»Und die Professoren?«

»Die müssen wir jetzt aus der Gewalt der Affen befreien. Sie gleich mitzunehmen, war unmöglich. Challenger hockte auf dem Baum, und Summerlee hätte die Flucht nicht geschaffi. Er war der Anstrengung nicht gewachsen. Die einzige Möglichkeit war, die Gewehre zu holen und dann zu versuchen, sie zu befreien. Es ist natürlich möglich, daß sie vor Wut über mein Verschwinden massakriert wurden, wobei ich glaube, daß sie Challenger nichts tun, aber bei Summerlee bin ich mir nicht so sicher. Auf ihn hatten sie es von Anfang an abgesehen, also habe ich seine Lage durch meine Flucht nicht noch schlimmer gemacht, als sie bereits war. Es ist jetzt natürlich Ehrensache, daß wir uns zu dem Dorf schleichen und sie rausholen oder mit ihnen zusammen ins Gras beißen. Bereiten Sie sich also seelisch schon darauf vor, mein lieber Malone, denn eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Ich habe mich bemüht, Lord Johns Sprechweise wiederzugeben, den halb schnoddrigen, halb scherzhaften Ton, der einen leicht vergessen lassen konnte, daß er die geborene Führernatur war. Sobald sich Gefahr zusammenballte, wurde seine Rede knapp und abgehackt, die kalten Augen leuchteten wachsam auf, der Schnurrbart, der mich immer an Don Quichotte erinnerte, schien vor Aufregung zu knistern. Seine Liebe zum Abenteuer, seine Tendenz, jedes Wagnis im Leben für eine Art Sport zu halten, machten ihn zu einem Kameraden, wie man sich ihn verläßlicher nicht hätte wünschen können. Wäre mir nicht die Angst um die Professoren im Nacken gesessen, ich hätte mich mit Vergnügen auf seiner Seite in das bevorstehende Abenteuer gestürzt.

Wir wollten uns gerade in unserem Versteck aufrichten, als er mich am Arm packte und zurückdrückte.

»Aufgepaßt!« flüsterte er. »Da kommen sie.«

Von der Stelle aus, an der wir hockten, fiel unser Blick durch eine Art Laubengang aus Baumstämmen und Zweigen, und genau durch diesen Gang kam eine Gruppe von Affenmenschen. Im Gänsemarsch kamen sie auf ihren krummen Beinen dahergewatschelt, den Rücken gebeugt, die Hände gelegentlich auf dem Boden schleifend. Ihre Köpfe ruckten hin und her, von rechts nach links und von links nach rechts. Durch den gebeugten Gang wirkten sie kleiner, als sie es in Wirklichkeit waren. Ich schätzte sie auf etwa fünf Fuß. Die meisten von ihnen waren mit Prügeln bewaffnet. Auf die Entfernung sahen sie wie haarige, mißgestaltete Menschen aus.

»Die lassen wir laufen«, flüsterte Lord John mir zu und senkte das Gewehr. »Wir müssen uns still verhalten, bis sie die Suche aufgegeben haben, und sie dann in ihrem Dorf überfallen. Wir warten noch eine Stunde, dann machen wir uns auf den Weg.«

Wir benutzten die Zeit dazu, eine Büchse zu öffnen und etwas zu essen. Lord John, der seit über vierundzwanzig Stunden nichts zu sich genommen hatte, verschlang Dreiviertel davon.

Und schließlich brachen wir auf, die Taschen voll Patronen, die Gewehre durchgeladen. Zur Vorsicht markierten wir das Versteck, um es notfalls wieder finden zu können. Schweigend pirschten wir durch das Unterholz, bis wir am Rand der Klippen, ganz in der Nähe unseres ersten Lagers waren. Hier hielten wir einen Moment an, und Lord John legte mir seinen Schlachtplan vor.

»Solange wir im Unterholz sind, sind uns die Affen überlegen«, sagte er. »Sie sehen uns, aber wir sehen sie nicht. Auf freiem Feld ist es umgekehrt. Da sind wir im Vorteil, weil wir schneller vorwärtskommen. Wir müssen uns also möglichst im offenen Gelände bewegen. Am Rande des Plateaus stehen nur vereinzelt hohe Bäume, folglich schleichen wir uns daran entlang. Gehen Sie langsam, halten Sie die Augen offen und das Gewehr schußbereit. Und das Wichtigste, Malone - lassen Sie sich um alles in der Welt nicht von ihnen gefangen nehmen, solange Sie noch eine Kugel im Lauf haben.«

Am Rand der Klippen angekommen, blickte ich hinunter. Unser guter schwarzer Zambo hockte direkt unter uns auf einem Felsblock und rauchte eine dicke Zigarre. Ich hätte etwas darum gegeben, ihn rufen und ihm sagen zu können, wie es um uns stand, aber das wäre zu gefährlich gewesen.

Um uns herum wimmelte es von scheußlichen Kreaturen. Immer wieder hörten wir ihr seltsames Schnattern, und immer wieder hechteten wir uns hinter einen Busch und rührten uns nicht, bis sie vorbei waren.

Wir kamen daher nur sehr langsam vorwärts, und zwei Stunden waren wenigstens verstrichen, bis ich plötzlich an Lord Johns vorsichtigen Bewegungen sah, daß wir am Ziel sein mußten. Er befahl mir durch ein Zeichen, mich zu ducken, während er weiterkroch.

Nach etwa einer Minute war er wieder zurück.

»Schnell!« zischte er. »Los, schnell. Ich bete zu Gott, daß wir nicht zu spät kommen.«

Ich zitterte vor Aufregung, als ich vorwärtskroch, mich neben ihn legte und zwischen den Büschen hindurch auf eine Lichtung spähte, die sich vor uns ausdehnte.

Es war ein Anblick, den ich nie vergessen werde, bis an meinen letzten Tag nicht - so unwirklich, so unfaßlich, daß ich nicht weiß, wie ich ihn beschreiben soll. Falls es mir vergönnt ist, noch einmal auf dem Sofa im Savage-Club zu sitzen und auf die eintönige Uferpromenade hinauszublicken, wird mir dies alles wie ein übler Traum, wie ein Fieberdelirium vorkommen. So will ich es jetzt aufschreiben, solange ich es noch frisch im Gedächtnis habe. Lord John, der an meiner Seite im feuchten Gras gelegen hat, wird bezeugen können, daß ich die Wahrheit sage.

Ein weiter freier Platz lag vor uns - einige hundert Meter im Durchmesser. Er reichte bis unmittelbar an den Rand der Klippen und war mit grünem Rasen und Farnbüschen bewachsen. Darum herum ein Halbkreis von Bäumen, in deren Zweigen, übereinandergebaut, merkwürdige Hütten aus Laub steckten. In den Eingängen der Hütten und auf den Asten der Bäume drängte sich eine dichte Menge von Affenmenschen, die ich wegen ihrer Größe für Frauen und Kinder des Stammes hielt. Sie bildeten den Hintergrund des Bildes und blickten mit gespanntem Interesse auf die Szene, die uns den Atem stocken ließ.

Im Freien, dicht am Rande der Klippen, hatte sich eine Horde von ein paar hundert dieser zottigen, rothaarigen Kreaturen versammelt und zu meinem großen Erstaunen nach einer gewissen Ordnung postiert. Vorn stand eine Gruppe Indianer - kleine, wohlproportionierte, rothäutige Burschen, deren Haut im hellen Sonnenlicht wie Bronze leuchtete. Ein langer, dünner weißer Mann stand neben ihnen, den Kopf gesenkt, die Arme verschränkt. Seine Haltung drückte Verzweiflung und Niedergeschlagenheit aus. Die eckige Gestalt gehörte unverkennbar Professor Summerlee.

Vor dieser kläglichen Gruppe von Gefangenen und um sie herum standen mehrere Affenmenschen, die sie scharf bewachten und jede Flucht unmöglich machten. Etwas abseits standen zwei Gestalten am Rand der Klippen. Sie wirkten derart merkwürdig und trotz der ernsten Lage lächerlich, daß ihnen meine ganze Aufmerksamkeit galt. Die eine davon war unser Professor Challenger. Die Überreste seiner Jacke hingen ihm in Fetzen von den Schultern, sein Hemd war zerrissen, und sein großer Bart ging in das schwarze Gestrüpp auf seiner Brust über. Den Hut hatte er verloren, und die Haare, die auf unserer Reise tüch-tig gewachsen waren, hingen ihm wild ins Gesicht. Es sah aus, als ob ein einziger Tag genügt hätte, um ihn in einen Wilden zu verwandeln.

Neben ihm stand sein Herr und Meister, der Anführer der Affenmenschen. Er war, wie Lord John schon gesagt hatte, das getreue Ebenbild unseres Professors, nur daß seine Hautfarbe nicht weiß, sondern rot war. Die gleiche kurze, untersetzte Gestalt, die gleichen massigen Schultern, die gleichen nach vorn hängenden Arme, der gleiche struppige Bart, der bis auf die haarige Brust fiel.

Nur oberhalb der Augenbrauen bildeten die flache Stirn und der niedrige, runde Schädel des Affenmenschen zu der gewölbten Stirn und dem hohen Scheitel des Europäers einen scharfen Kontrast. Ein blutiges Drama spielte sich jetzt vor uns ab. Zwei Affenmenschen hatten einen der Indianer gepackt und schleppten ihn an den Rand der Klippen. Der Anführer hob die Hand. Sie packten den Mann an Armen und Beinen und schwenkten ihn dreimal mit unheimlicher Kraft vor und zurück. Dann warfen sie den armen Teufel mit einem so gewaltigen Schwung über den Abgrund, daß er in hohem Bogen durch die Luft flog, ehe er abzustürzen begann. Als er verschwand, stürzte die ganze Meute mit Ausnahme der Wachen nach vorn. Es folgte eine lange Pause, bis das erwartungsvolle Schweigen schließlich von einem irren Freudengebrüll zerrissen wurde. Die Affen sprangen umher und schwenkten ihre langen behaarten Arme. Dann traten sie schließlich wieder zurück, stellten sich in ihrer alten Ordnung auf und warteten auf das nächste Opfer.

Das war Summerlee. Zwei seiner Bewacher packten ihn an den Handgelenken und zerrten ihn brutal nach vorn. Er zappelte und flatterte wie ein Huhn, das aus dem Käfig gerissen wird. Challenger hatte sich dem Anführer zugewandt und fuchtelte erregt mit den Händen. Er bat und flehte um das Leben seines Kameraden. Der Affenmensch stieß ihn roh beiseite und schüttelte den Kopf.

In dem Moment krachte Lord Johns Flinte, und der Anführer sank zu Boden.

»Schießen Sie mitten rein! Los, schießen Sie!« schrie Lord John.

Auch im Herzen des alltäglichsten Menschen gibt es unergründlich düstere Tiefen. Ich habe schon beim Schrei eines verwundeten Hasen feuchte Augen bekommen, jetzt aber packte mich die Blutgier. Ich sprang auf, schoß das eine Magazin leer, dann das andere, riß die Kammer auf, lud durch, schoß wieder und schrie und lachte aus purer Zerstörungswut.

Wir richteten mit unseren vier Gewehren ein schreckliches Blutbad an. Die beiden Wachtposten, die Summerlee festgehalten hatten, lagen zusammengekrümmt am Boden. In seiner Verwunderung wankte der Professor umher wie ein Betrunkener und konnte es nicht fassen, daß er frei war. Die Horde der Affenmenschen rannte kopflos durcheinander und versuchte zu begreifen, wo dieser entsetzliche Todessturm herkam und was er bedeuten sollte. Sie winkten, gestikulierten, schrien und stolperten über die Gefallenen. Dann rasten sie plötzlich mit Geheul zu den Bäumen, um Deckung zu suchen. Die Gefangenen ließen sie allein in der Mitte der Wiese stehen.

Challenger hatte die Situation sofort erfaßt. Er packte den verwirrten Summerlee am Arm und zog ihn mit sich in unsere Richtung. Zwei Affenmenschen sprangen ihnen nach und brachen unter zwei Schüssen von Lord John zusammen. Wir stürzten unseren Freunden entgegen und drückten jedem ein geladenes Gewehr in die Hand, aber Summerlee war am Ende seiner Kräfte. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

Die Affenmenschen hatten sich inzwischen von ihrer ersten Panik erholt. Sie drangen im Gebüsch vor und drohten uns den Rückweg abzuschneiden. Challenger und ich schleiften Summerlee mit, jeder an einem Ellbogen. Lord John deckte unseren Rückzug, immer wieder feuernd, sobald eine wilde Fratze aus dem Gebüsch auftauchte. Während mindestens einer Meile blieben uns die schnatternden Bestien auf den Fersen. Dann ließ die Verfolgung nach. Sie wollten sich offensichtlich nicht länger dem vernichtenden Gewehrfeuer aussetzen.

Als wir endlich das Lager erreichten, sahen wir zurück und stellten fest, daß wir allein waren.

Den Eindruck hatten wir zumindest, aber wir hatten uns getäuscht. Kaum hatten wir die Dornen unserer Hecke verschlossen, uns gegenseitig die Hände geschüttelt und uns keuchend neben der Quelle zu Boden sinken lassen, als wir ein Getrappel nackter Füße hörten und dann leise, klagende Rufe vor unserem Eingang vernahmen. Lord John sprang mit der Flinte in der Hand vor und öffnete. Hingestreckt, das Gesicht auf dem Boden, lagen dort die vier überlebende Indianer, die aus Furcht vor uns zitterten und uns dennoch um Schutz anflehten. Mit einer ausdrucksvollen Gebärde deutete einer von ihnen auf den Wald ringsum, um uns zu verstehen zu geben, daß er voller Gefahren steckte. Dann stürzte er vor, schlang seinen Arm um Lord Johns Füße und legte sein Gesicht darauf.

»Sapperlott!« rief unser Edelmann und zupfte sich ratlos am Schnurrbart. »Was, zum Teufel, sollen wir jetzt mit diesen Leuten anfangen? Steh auf, kleines Kerlchen, und nimm dein Gesicht von meinen Stiefeln!«

Summerlee setzte sich und stopfte mit zitternden Händen seine alte Pfeife.

»Wir müssen die Indianer in Sicherheit bringen«, sagte er. »Sie und der junge Mr. Malone haben uns dem Tode entrissen. Auf mein Wort! Das war ein sauberes Stück Arbeit!«

»Bewundernswert!« rief Challenger. »Bewundernswert! Nicht nur wir schulden Ihnen Dank für das, was Sie getan haben, sondern auch die Wissenschaft schlechthin. Das Verschwinden von Professor Summerlee und mir hätte eine schmerzliche Lücke in der modernen zoologischen Forschung hinterlassen. Unser junger Freund und Sie haben eine kolossale Leistung vollbracht.«

Er strahlte uns mit seinem väterlichen Lächeln an. Aber die Wissenschaft schlechthin wäre erstaunt gewesen, hätte sie ihren auserwählten Sohn mit seinen verfilzten, ungekämmten Haaren, seiner bloßen Brust und seiner zerfetzten Kleidung sehen können. Er saß da, eine Fleischdose zwischen die Knie geklemmt, und hielt ein großes Stück australisches Hammelfleisch in der Hand. Der Indianer blickte zu ihm hinüber, warf sich dann mit leisem Winseln zu Boden und klammerte sich an Lord Johns Bein.

»Aber du brauchst doch keine Angst zu haben, mein Junge«, sagte Lord John und tätschelte den Kopf zu seinen Füßen. »Er kann Ihren Anblick nicht ertragen, Challenger! Und das wundert mich nicht. Schon gut, kleiner Bursche, er tut dir nichts, er ist auch nur ein Mensch wie wir.«

»Ich muß doch sehr bitten!« rief der Professor.

»Seien Sie doch froh, daß Sie nicht aussehen wie jedermann, Professor Challenger«, sagte Lord John und grinste. »Dieser Affenkönig hätte Sie sonst nie .«

»Sie gehen zu weit, Lord John«, fiel ihm Challenger ins Wort. »Ich verbitte mir derlei Bemerkungen.«

»Sie entsprechen aber den Tatsachen.«

»Ich darf Sie trotzdem bitten, das Uema zu wechseln. Ihre Feststellungen sind irrelevant und interessieren niemanden auch nur im geringsten. Wir stehen hier vor der Frage, was wir mit den Indianern anfangen. Am besten wäre es, sie nach Hause zu bringen, aber dazu müßten wir wissen, wo sie zu Hause sind.«

»Mr. Melone weiß es. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann ist es ganz schön weit bis zu ihren Höhlen.«

»An die zwanzig Meilen«, sagte ich. Professor Summerlee stöhnte. »Ich schaffe das nie, das kann ich Ihnen gleich sagen. Außerdem höre ich diese Bestien schon wieder heulen.«

Jetzt hörten wir sie auch. Aus der Tiefe des Waldes drangen die unartikulierten Schreie der Affenmenschen. Die Indianer brachen erneut in Angstgewimmer aus.

»Nichts wie weg von hier«, rief Lord John. »Sie helfen Professor Summerlee, Mr. Malone. Wir halten die Gewehre schußbereit. Die Indianer müssen unseren Proviant tragen. Los, kommen Sie, bevor sie uns entdecken!«

Nach einer knappen halben Stunde hatten wir den markierten Zufluchtsort im Unterholz erreicht und uns dort versteckt. Den ganzen Tag über hörten wir die Affenmenschen Richtung Fort Challenger trampeln, aber in unsere Richtung kamen sie nicht. Professor Challenger, Lord John und ich lösten uns in unseren Wachen ab, die anderen schliefen einen tiefen, erschöpften Schlaf.

Gegen Abend, ich war gerade etwas eingedöst, zupfte mich jemand am Ärmel. Ich schlug die Augen auf und sah Professor Challenger neben mir knien.

»Sie zeichnen diese Ereignisse doch auf, junger Mann«, sagte er mit feierlichem Gesicht.

»Richtig«, antwortete ich.

»Und Sie wollen Ihre Aufzeichnungen doch eines Tages veröffentlichen, oder?«

»Ja.«

»Gut. Lord John hat da so einige Bemerkungen fallen lassen, die darauf hinweisen sollten, daß eine gewisse Ähnlichkeit zwischen mir und diesen ... diesen ...«

»Ja, ich habe sie gehört.«

»Dann brauche ich wohl nicht zu betonen, daß die Wiedergabe dieser Bemerkungen und vor allem die Veröffentlichung äußerst beleidigend für mich wären.«

»Ich werde mich strikt an die Wahrheit halten«, sagte ich.

»Lord John pflegt in regelmäßigen Abständen recht phantasievolle und übertriebene Feststellungen zu machen, die lediglich dazu geeignet sind, die Würde des Individuums zu untergraben. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Vollkommen.«

»Dann überlasse ich die Angelegenheit Ihrem Taktgefühl, junger Mann.« Es folgte eine lange Pause. »Der Affenkönig - wie Lord John sich ausdrückte - ist übrigens ein sehr bemerkenswertes Geschöpf«, fuhr er schließlich fort. »Ausgesprochen gut aussehend und intelligent. Ist Ihnen das nicht auch aufgefallen?«

»Doch«, antwortete ich. »Eine echte Persönlichkeit.« Ein Stein fiel dem Professor vom Herzen. Erleichtert legte er sich auf den Boden und schlief weiter.

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