16 Der Triumphzug

Ich möchte an dieser Stelle allen Freunden für die Unterstützung und Gastfreundschaft, die wir überall auf unserer Rückreise erfuhren, unseren Dank abstatten. Ganz besonders möchte ich Senor Penalosa sowie den anderen Beamten der brasilianischen Regierung für die großzügigen Maßnahmen danken, mit denen sie uns die Reise erleichtert haben. Auch Senor Pereira sind wir zu großem Dank verpflichtet. Durch seine Vorsorge haben wir bereits bei unserer Ankunft in Para eine komplette Neuausstattung vorgefunden und konnten somit in menschenwürdigem Zustand wieder in die zivilisierte Welt zurückkehren. Es muß einen schlechten Eindruck auf unsere Gastgeber und Wohltäter gemacht haben, daß wir ihren Fragen ausgewichen sind und ihnen keine Auskunft über die geografische Lage des Maple-White-Landes gegeben haben. Die Umstände ließen uns keine andere Wahl. Ich möchte hiermit darauf hinweisen, daß sie nur unnütz Zeit und Geld verschwenden, wenn sie versuchen sollten, unseren Spuren zu folgen. Selbst die Namen haben wir in unseren Berichten abgeändert, und ich bin sicher, daß auch bei sorgfältigstem Studium niemand unserem unbekannten Land auch nur auf tausend Meilen nahekommen wird.

Das Aufsehen, das wir überall in Südamerika erregt haben, hatten wir anfangs für örtlich begrenzt gehalten, denn wir hatten keine Ahnung, welche Aufregung das bloße Gerücht von unseren Erlebnissen in ganz Europa zur Folge hatte. Erst als die Ivernia an die fünftundert Meilen vor Southampton war und eine Zeitung nach der anderen, eine Agentur nach der anderen uns telegrafisch Riesensummen für einen kurzen Bericht über unsere Erlebnisse boten, wurde uns klar, wie groß das Interesse der gesamten Öffentlichkeit inzwischen war. Wir hatten jedoch beschlossen, daß die Presse keinerlei Material erhalten sollte, bevor wir nicht mit den Mitgliedern des Zoologischen Instituts zusammengetroffen waren. Als Delegierte fühlten wir uns verpflichtet, unseren ersten Bericht der Versammlung zu erstatten, die uns den Auftrag für unsere Forschungsreise erteilt hatte. Dementsprechend lehnten wir jegliche Auskunft ab, obwohl wir Southampton voller Journalisten fanden. Dies hatte zur Folge, daß sich das öffentliche Interesse um so mehr der Tagung zuwandte; die für den 7. November abends anberaumt wurde. Der Hörsaal des Zoologischen Instituts, Ausgangspunkt unserer Unternehmung, war natürlich bei weitem zu klein dafür, also wurde die Queens Hall gemietet. Inzwischen weiß man, daß die Veranstalter es ebensogut mit der Albert Hall hätten versuchen können, und auch die wäre immer noch zu klein gewesen.

Die große Versammlung war für den zweiten Abend nach unserer Ankunft festgesetzt. Zuvor hatte natür-lich jeder von uns seine dringlichsten persönlichen Angelegenheiten zu regeln. Von meinen kann ich jetzt noch nicht sprechen. Möglicherweise werde ich ruhiger darüber berichten können, wenn ich erst einmal etwas Abstand gewonnen habe. Am Beginn dieser Erzählung habe ich dem Leser mitgeteilt, welches die Beweggründe für meine Beteiligung an dieser Reise waren. Es ist daher nur recht und billig, daß ich später damit fortfahre und über das Ergebnis berichte. Immerhin habe ich zur Teilnahme an diesem wundervollen Abenteuer einen ganz bestimmten Anstoß bekommen und kann letzten Endes der Frau, die mich dazu bewegen hat, nur unendlich dankbar sein.

Und nun komme ich zum letzten und höchst bedeutungsvollen Ereignis, der Krönung unserer Abenteuer. Während ich mir noch den Kopf zerbrach, wie ich es beschreiben sollte, fiel mein Blick auf die Morgenausgabe meiner eigenen Zeitung vom 8. November mit einem ausführlichen und ausgezeichneten Bericht meines Freundes und Kollegen Macdona. Was könnte ich Besseres tun, als diesen Artikel - Überschriften und Text - einfach abzuschreiben? Ich gebe zu, daß die Zeitung, angesichts ihrer eigenen Initiative, einen Korrespondenten mitzuschik-ken, die Sache etwas hochgespielt hat. Aber die anderen großen Tageszeitungen brachten kaum weniger ausführliche Berichte. Hier folgt also der Artikel meines Freundes Mac:


DIE NEUE WELT

GROSSE VERSAMMLUNG IN DER QUEEN’S HALL

CHAOTISCHE SZENEN

AUSSERGEWÖHNLICHER ZWISCHENFALL

NÄCHTLICHER AUFLAUF IN DER REGENT STREET

(Sonderbericht)


Die vieldiskutierte Tagung des Zoologischen Instituts, die einberufen wurde, um den Bericht der Prüfungskommission entgegenzunehmen, die im vergangenen Frühjahr nach Südamerika entsandt wurde, um die Behauptungen Professor Challengers zu überprüfen, fand am vergangenen Abend in der großen Queens Hall statt. Man darf getrost sagen, daß dieses Datum in die Geschichte der Wissenschaft eingehen wird, denn der Ablauf des Abends gestaltete sich derart bemerkenswert und sensationell, daß keiner der Anwesenden ihn wohl je vergessen wird.

Die Eintrittskarten waren theoretisch auf Mitglieder des Instituts und deren Freunde beschränkt. Aber letzteres ist ein dehnbarer Begriff. Schon lange vor acht Uhr, der für den Beginn festgesetzten Zeit, war die Halle gedrängt voll. Die Öffentlichkeit, wütend darüber, ausgeschlossen zu sein, stürmte in ihrer Unvernunft um Viertel vor acht die Eingänge. Hierbei wurden mehrere Personen verletzt, darunter auch Inspektor Scoble von der Ordnungsabteilung, der sich unglücklicherweise ein Bein brach. Nach dieser unverantwortlichen Invasion, die nicht nur alle Gänge verstopfte, sondern auch vor den für die Presse reservierten Bänken nicht haltmachte, dürften es an die fünftausend Menschen gewesen sein, die das Erscheinen der Forschungsreisenden erwarteten. Auf dem Podium hatten die führenden Wissenschaftler unseres Landes, Frankreichs und Deutschlands Platz genommen. Schweden war ebenfalls vertreten, und zwar durch Professor Sergius, den berühmten Zoologen der Universität Uppsala.

Als die vier Helden des Tages den Saal betraten, erhob sich die gesamte Zuhörerschaft von den Plätzen und jubelte ihnen minutenlang zu. Ein scharfer Beobachter jedoch konnte zwischen dem allgemeinen Applaus vereinzelt Mißfallenskundgebungen heraushören und voraussagen, daß das Programm einen eher lebhaften als harmonischen Verlauf nehmen würde. Man darf jedoch getrost behaupten, daß niemand die außerordentliche Wendung hätte voraussehen können, die dann tatsächlich eintreten sollte.

Über die äußere Erscheinung der vier Reisenden braucht nur wenig gesagt zu werden, da ihre Fotografien in den letzten Tagen durch die Presse gegangen sind. Sie zeigen kaum Spuren der Entbehrungen, die sie durchgemacht haben sollen, Professor Challengers Bart ist vielleicht struppiger, Professor Summerlees Gesicht noch asketischer und Lord John Roxtons Gestalt etwas hagerer. Alle drei sind tief gebräunt von der Sonne. Jeder einzelne schien sich bester Gesundheit zu erfreuen. Was unseren eigenen Vertreter betriffi, den bekannten Sportsmann und internationalen Fußballspieler E. D. Malone, so wirkt er durchtrainiert bis auf die Knochen. Während er über die Menge hinblickte, erschien ein gutmütig-zufriedenes Lächeln auf seinem ehrlichen, offenen Gesicht.

Nachdem Ruhe eingetreten war und das Publikum seine Plätze wieder eingenommen hatte, hielt der Vorsitzende, der Herzog von Durham, eine Ansprache. Er wolle, sagte er, die große Versammlung keinen Augenblick länger als nötig auf die Folter spannen. Es wäre nicht seine Sache, vorwegzunehmen, was Professor Summerlee, der Sprecher des Komitees, gleich zu sagen habe. Aber es sei bereits allgemein bekannt, daß die Expedition von außergewöhnlichem Erfolg gekrönt sei. Es folgte stürmischer Applaus. Das Zeitalter der Romantik sei anscheinend noch nicht vorbei, fuhr der Vorsitzende fort, und es gebe noch Gefilde, in denen die wildesten Phantasien des Dichters den tatsächlichen wissenschaftlichen Forschungen entsprechen würden. Ehe er sich setze, wolle er nur noch hinzufügen, daß er sich glücklich schätze, daß diese Herren gesund und munter von ihrem schweren und gefährlichen Auftrag zurückgekehrt seien. Es könne doch nicht bestritten werden, daß ein unglücklicher Ausgang dieser Expedition für die zoologische Wissenschaft einen nie wieder gutzumachenden Verlust bedeutet hätte. Es folgte allgemeiner Beifall, an dem Professor Challenger sich beteiligte.

Als Professor Summerlee sich anschließend erhob, brach ein neuer Begeisterungssturm los, der während seiner Rede immer wieder anschwoll. Sein Vortrag kann hier nicht in seinem ganzen Wortlaut wiedergegeben werden, denn ein ausführlicher Bericht aus der Feder unse-res Sonderberichterstatters über den Gesamtverlauf der Expedition befindet sich im Druck. Einige Andeutungen in groben Zügen mögen deshalb hier ausreichen.

Professor Summerlee erzählte zunächst dieVorgeschichte und zollte dabei seinem Freund, Professor Challenger, den schuldigen Tribut, verbunden mit einer Entschuldigung wegen der Ungläubigkeit, mit der er zunächst dessen jetzt voll gerechtfertigte Behauptungen aufgenommen habe. Dann beschrieb er den Verlauf der Reise, wobei er sorgfältig jegliche Information vermied, die der Öffentlichkeit hätte behilflich sein können, die geografische Lage dieses bemerkenswerten Plateaus festzulegen. Nach einem knappen Bericht über den Reiseweg vom Amazonas bis zum Fuß der Klippen schilderte er die Schwierigkeiten, denen sich die Expedition bei ihren wiederholten Versuchen, nach oben zu gelangen, gegenübersah. Der Erfolg mußte schließlich mit dem Leben ihrer beiden treuen halbblüti-gen Diener bezahlt werden.

Als er so seine Zuhörer im Geiste auf den Gipfel geführt und ihnen dort durch den Absturz der Brücke den Rückweg abgeschnitten hatte, ging der Professor dazu über, die Schrecken und die Vorzüge dieses bedeutungsvollen Landes aufzuzählen. Von persönlichen Erlebnissen sprach er nur wenig, legte aber um so größeres Gewicht auf die Erkenntnisse, die für die Wissenschaft mit der Erforschung des wunderbaren Tier-, Vogel-, Insekten-und Pflanzenlebens auf dem Plateau gewonnen werden konnten. Als besonders reichhaltig hätten sich die Coleoptera erwiesen, von denen sechsundvierzig, und die Lepidoptera, von denen vierundneunzig neue Arten innerhalb weniger Wochen gesichert werden konnten. Das Interesse des Publikums galt jedoch besonders den größeren Tieren, vor allem den Riesenungeheuern, die man bisher längst ausgestorben glaubte. Professor Summerlee zählte eine stattliche Anzahl dieser Tiere auf und betonte, die Liste sei noch lange nicht vollständig, was zweifellos eine nähere Erforschung des Plateaus zu einem späteren Zeitpunkt beweisen werde.

Er und seine Gefährten wären wenigstens einem Dutzend von Lebewesen begegnet, die zu keiner der Wissenschaft bekannten Art gehörten. Im Laufe der Zeit würden auch diese klassifiziert und näher untersucht werden. Er führte eine Schlange an, deren abgestreifte, purpurrote Haut einundfünfzig Fuß lang war, und erwähnte ein weißes Geschöpf, das in der Dunkelheit deutliche Phosphoreszenz erkennen ließ; ferner einen schwarzen Falter, dessen Biß bei den Indianern als äußerst giftig galt. Ungeachtet dieser völlig neuen Arten sei das Plateau überaus reich an bekannten urzeitlichen Lebensformen, die zum Teil bis in den frühen Jura zurückreichten. Unter anderem erwähnte Professor Summerlee den gigantischen und grotesken Stegosaurus, den Mr. Malone einmal am See beobachtet habe und der schon im Skizzenheft des amerikanischen Abenteurers Maple White abgebildet sei. Weiter beschrieb er das Iguanodon und den Pterodactylus.

Dann versetzte Professor Summerlee die Versammlung in atemlose Spannung, als er einen kurzen Bericht gab über die furchtbaren fleischfressenden Dinosaurier, die bei mehreren Gelegenheiten Mitglieder der Expedition verfolgt hatten. Anschließend kam er auf einen riesigen, bösartigen Vogel, den Phororachus, zu sprechen sowie auf einen großen Elch, der das Hochland durchstreift. Als Professor Summerlee die Geheimnisse des Gladys-Sees schilderte, erreichten Interesse und Begeisterung der Zuhörer den Höhepunkt. Man kniff sich unwillkürlich in den Arm, um sich zu vergewissern, daß man nicht träumte, während der nüchterne und sachliche Professor in kühlen, gemessenen Worten die ungeheuren Fischechsen und riesigen Seeschlangen beschrieb, die dieses geheimnisvolle Gewässer bevölkern. Als nächstes sprach er über die Indianer und die einmalige Kolonie menschenähnlicher Affen, die man als Weiterentwicklung des Pithecanthropus von Java betrachten könne und die mehr als irgendeine bisher bekannte Form jener hypothetischen Konstruktion, dem fehlenden Glied<, der Entwicklungsgeschichte des Menschen entsprächen. Anschließend erwähnte er unter allgemeiner Heiterkeit die geniale, aber recht gefährliche aeronautische Konstruktion von Professor Challenger und schloß seinen denkwürdigen Vortrag mit einem Bericht darüber, wie das Komitee endlich seinen Weg zurück in die Zivilisation fand.

Man hatte angenommen, daß das Programm damit beendet sei und die beglückwünschenden Worte, die Professor Sergius von der Universität Uppsala sprach, auf allgemeine Zustimmung stoßen würden. Aber es sollte sich zeigen, daß diesem Abend kein so problemloser Ablauf beschieden war. Zwischendurch hatte sich bereits eine gewisse Opposition bemerkbar gemacht, und jetzt erhob sich Dr. Illingworth aus Edinburgh. Er fragte, ob nicht zunächst eine Richtigstellung zu Protokoll genommen werden sollte, bevor man zu einer Resolution käme.

Der Vorsitzende: »Ja, Sir, wenn eine Richtigstellung erforderlich ist.«

Dr. Illingworth: »Euer Gnaden, eine Richtigstellung ist durchaus erforderlich.«

Der Vorsitzende: »Dann wollen wir sie aufnehmen.«

Professor Summerlee, aufspringend: »Darf ich darauf aufmerksam machen, Euer Gnaden, daß dieser Mann seit unserer Kontroverse über die wahre Natur des Bathybius im Journal der Naturwissenschaft mein persönlicher Feind ist?«

Der Vorsitzende: »Ich fürchte, daß ich persönliche Gesichtspunkte hier nicht berücksichtigen kann. Ich übergebe das Wort an Dr. Illingworth.«

Ein Teil von Dr. Illingworths Ausführungen war infolge anhaltender Störungen durch die Freunde der Forschungsreisenden kaum zu vernehmen. Auch wurde wiederholt versucht, ihn auf seinen Sitz herunterzuziehen. Da er jedoch ein Mann von enormen Körperkräften ist und über eine gewaltige Stimme verfügt, übertönte er den Tumult und brachte seine Rede zu Ende. Seit dem Augenblick, in dem er sich erhoben hatte, war es klar, daß er eine Anzahl Freunde und Gleichgesinnter im Saal hatte, wenn sie auch eine Minderheit unter den Zuhörern darstellten. Der größere Teil des Publikums verhielt sich neutral und abwartend.

Dr. Illingworth begann seine Ausführungen damit, daß er den wissenschaftlichen Leistungen von Professor Challenger und auch von Professor Summerlee die höchste Anerkennung zolle. Er bedauere es außerordentlich, betonte er, falls irgendwelche persönlichen Hintergedanken bei seinen Einwänden vermutet würden, die doch allein und ausschließlich von seinem brennenden Verlangen nach wissenschaftlicher Wahrheit bestimmt wären. Und in der Tat entspräche seine Position in allen Punkten derjenigen, die Professor Summerlee auf der letzten Tagung eingenommen habe. Auf jener letzten Zusammenkunft habe Professor Challenger Behauptungen aufgestellt, die von seinem Kollegen Summerlee angezweifelt worden seien. Jetzt wiederholte dieser gleiche Kollege Challengers Behauptungen in der Erwartung, daß niemand ihm widerspreche. Entbehre das nicht der in der Wissenschaft geforderten Logik?

Es folgten Zwischenrufe und Tumulte, während deren Verlauf Professor Challenger den Vorsitzenden mit grimmiger Miene um Erlaubnis bat, Dr. Illingworth vor die Tür setzen zu dürfen - wie mehrere sich in der Nähe befindliche Personen bezeugten.

Als wieder Ruhe eingetreten war, erteilte der Vorsitzende Dr. Illingworth erneut das Wort.

Vor einem Jahr, fuhr dieser fort, habe ein Mann gewisse Behauptungen aufgestellt. Jetzt stellten vier Männer Behauptungen auf, die noch unglaubwürdiger und haarsträubender wären. Sollte damit ein Beweis erbracht sein, ein Beweis für die Richtigkeit von Fragen, die wohl revolutionär, aber äußerst unglaubwürdig seien? Beispiele von Abenteurern, die mit den fabelhaftesten Märchen aus unerforschten Gebieten zurückgekommen seien, gäbe es genug. War das Zoologische Institut von London eine Stätte, wo man sich diese Märchen anhörte und ihnen vielleicht auch noch Glauben schenkte? Die Mitglieder des Komitees seien zugegebenermaßen Männer von Charakter, aber die menschliche Natur sei nun einmal vielschichtig, und selbst ein Professor sei gegen Ruhmsucht nicht gefeit. Wir alle hätten wie die Motte den Drang, ins Licht zu flattern. Großwildjäger tendierten nun einmal dazu, die Rivalen in Jägerlatein zu überbieten, und Journalisten seien Sensationsberichten ja durchaus nicht abgeneigt, auch wenn die Phantasie dabei den Tatsachen gelegentlich etwas nachhelfen müsse. Jedes einzelne Mitglied des Komitees habe seine persönlichen Motive, das Resultat entsprechend aufzubauschen. Empörte Zwischenrufe.

Er wolle, fuhr der Redner unbeirrt fort, weiß Gott niemanden beleidigen, aber das Beweismaterial für diese wunderlichen Geschichten sei doch wirklich recht dürftig. Was läge denn schon vor? Einige Fotografien, wobei man sich fragen müsse, ob in einem Zeitalter geschicktester Fotomontagen und ähnlicher Manipulationen Fotografien überhaupt als Beweismittel zugelassen werden sollten. Aber, wie dem auch sei - einige Fotografien, eine spannende Geschichte über den Aufenthalt in einem unbekannten fernen Land und schließlich über die Flucht und den Abstieg an einem Seil, wodurch die Mitnahme größerer Exemplare ausgeschlossen gewesen sei. Recht hübsch ausgedacht, aber nicht überzeugend. Lord Roxton habe behauptet, den Schädel eines Phororachus mitgebracht zu haben, und diesen Schädel würde er doch zu gerne sehen.

Lord John Roxton empört aufspringend: Will dieser Mensch damit sagen, daß ich lüge?

Zwischenrufe und Tumulte.

Der Vorsitzende: Ruhe, bitte! Ruhe! Dr. Illingworth, ich muß Sie bitten, Ihre Ausführungen zum Abschluß zu bringen und die Richtigstellung zu formulieren.

Dr. Illingworth: Euer Gnaden, ich hätte noch sehr viel zu sagen, aber ich beuge mich Ihrem Wunsch. Ich beantrage also, daß Professor Summerlee für seinen Vortrag der Dank des Zoologischen Instituts ausgesprochen, die Angelegenheit jedoch als unbewiesen erachtet und einem größeren und vertrauenswürdigeren Prüfungskomitee übergeben werden solle.

Das Durcheinander, das auf diesen Antrag folgte, ist schwer zu beschreiben. Ein großer Teil der Zuhörerschaft brachte seinen Unwillen über die Verunglimpfung der Reisenden durch laute Zwischenrufe zum Ausdruck. Die Skeptiker - und es läßt sich nicht bestreiten, daß sie doch recht zahlreich waren - wollten den Antrag durchgebracht sehen und taten dies ebenfalls lauthals kund. In den hinteren Sitzreihen kam es unter den Studenten zu einem Handgemenge. Allein dem schlichtenden Einfluß der zahlreich anwesenden Damen ist es zu verdanken, daß es zu keinem Chaos kam. Zum Erstaunen aller brach der Lärm jedoch plötzlich ab, und eine Stille folgte, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören. Professor Challenger hatte sich von seinem Sitz erhoben. Seine Erscheinung und sein Auftreten übten einen seltsamen Zwang aus. Als er die Hand hob und um Ruhe bat, obwohl es bereits mucksmäuschenstill war, saß das Publikum in gespannter Erwartung da.

»Viele der Anwesenden werden sich erinnern«, sagte Professor Challenger, »daß sich während der letzten Versammlung ähnlich alberne und unmanierliche Szenen abgespielt haben. Damals war Professor Summerlee derjenige, der mich am schärfsten angegriffen hat. Er ist inzwischen zwar anderer Meinung, wie Sie alle gehört haben, aber seine Haltung bei der letzten Versammlung ist eine Tatsache. Heute abend habe ich mir nun ähnlich beleidigende, aber noch schärfere Äußerungen von der Person anhören müssen, die sich soeben gesetzt hat. Obwohl ein erhebliches Maß an Selbstverleugnung dazu nötig ist, will ich versuchen, mich auf das geistige Niveau dieser Person hinabzubegeben, um den letzten Zweifel zu zerstreuen, der noch vorhanden sein mag. Professor Summerlee hat zwar in seiner Eigenschaft als Leiter des Untersuchungskomitees heute abend den Bericht über unsere Reise verlesen, aber ich brauche wohl in diesem Kreis nicht zu betonen, daß immer noch ich es gewesen bin, der den Anstoß dazu gegeben hat, und jeglicher Erfolg in erster Linie mir zuzuschreiben ist. Ich habe die drei Herren sicher an den erwähnten Ort geführt, und ich habe sie von der Richtigkeit meiner früheren Behauptungen überzeugt.

Wir haben die Rückreise in der Hoffnung angetreten, daß niemand mehr so beschränkt und borniert sein könne, an dem Ergebnis unserer Untersuchungen zu zweifeln. Aus früheren Erfahrungen klug geworden, bin ich jedoch nicht ohne Beweismaterial hierhergekommen. Wie Professor Summerlee schon berichtet hat, sind unsere Kameras bei einem Überfall auf unser Lager von den Affenmenschen zertrampelt worden. Die meisten unserer Negative sind dabei kaputt gegangen.«

Pfiffe und höhnisches Gelächter aus den hinteren Sitzreihen.

»Ich sprach eben von den Affenmenschen«, fuhr Professor Challenger unbeirrt fort, »und muß feststellen, daß mich die Geräusche, die hier an mein Ohr dringen, lebhaft an diese entwicklungsgeschichtlich interessanten Kreaturen erinnern.«

Gelächter.

Eine Stimme: »Noch so’n Witz.«

»Trotz der Zerstörung so vieler unersetzlicher Negative befindet sich noch eine stattliche Anzahl von beweiskräftigen Fotografien in unserem Besitz. Will vielleicht wieder jemand behaupten, daß sie gefälscht sind?«

Eine Stimme: »Ja!«

Es folgte lautes Gegröle. Mehrere Personen wurden aus dem Saal gewiesen.

»Die Negative sind von Sachverständigen geprüft worden«, fuhr Professor Challenger fort, »mit ihnen erschöpft sich jedoch nicht das Beweismaterial, das wir vorlegen können. Wie bereits erwähnt, war es uns durch den Abstieg an einem Seil nicht möglich, sperrige Gegenstände mitzunehmen. Professor Summerlee allerdings war nicht davon abzuhalten, seine Käfer- und Schmetterlingssammlung abzuseilen. Die zahlreichen neuen Arten dieser Sammlung, sind die vielleicht kein Beweis?«

Mehrere Stimmen: »Nein, absolut nicht! Wer behauptet das?«

Dr. Illingworth stand auf: »Wir stehen auf dem Standpunkt, daß eine solche Sammlung auch an jedem x-beliebigen Ort zusammengestellt worden sein kann.«

Applaus.

Professor Challenger: »Ihr Name, werter Dr. Illingworth, ist zwar unbekannt, dennoch verneige ich mich vor Ihrer wissenschaftlichen Autorität. Ich lasse also die Fotografien und die Insektensammlung beiseite und komme zu verschiedenen klar umrissenen Erkenntnissen, die wir zu Problemen gewannen, die nie zuvor Au&lärung gefunden haben. Beispielsweise sind die Lebensgewohnheiten des Pterodactylus ...«

Eine Stimme: »Quatsch!«

Lautes Gelächter.

»Die Lebensgewohnheiten des Pterodactylus«, wiederholte Professor Challenger unbeirrt, »sind besonders aufschlußreich. Ich habe ein Bild dieser Kreatur in der Brieftasche und kann Sie anhand dieses Bildes davon überzeugen .«

Dr. Illingworth: »Anhand von Bildern lassen wir uns nicht überzeugen.«

Professor Challenger: »Heißt das, daß Sie ein lebendes Exemplar sehen wollen?«

Dr. Illingworth: »Jawohl, das heißt es.«

Professor Challenger: »Und das akzeptieren Sie dann als stichhaltigen Beweis?«

Dr. Illingworth, lachend: »Aber natürlich.«

Jetzt bahnte sich die Sensation des Abends an - eine dramatische Zuspitzung, für die es in der Geschichte wissenschaftlicher Tagungen keine Parallele gibt. Professor Challenger gab mit der Hand ein Zeichen. Unverzüglich sah man unseren Mitarbeiter, Mr. E. D. Malone, sich erheben und zum Hintergrund des Podiums gehen. Einen Augenblick später kam er in Begleitung eines riesigen Negers wieder nach vorn. Die beiden schleppten gemeinsam eine große rechteckige Kiste an und setzten sie behutsam vor dem Stuhl des Professors ab. Jeglicher Laut im Saal erstarb, und jeder stand im Banne des Schauspiels, das sich vor aller Augen entwickelte.

Professor Challenger nahm den Schiebedeckel ab. Er blickte in die Kiste hinein, schnalzte mehrmals mit den Fingern, und sagte mit lockender Stimme: »Komm schon, mein Kleines!« Einen Moment später erschien mit kratzendem, rasselndem Geräusch eine unbeschreiblich scheußliche Kreatur und hockte sich auf den Rand. Das Gesicht des Untiers glich dem wüstesten Wasserspeier, den sich die Phantasie eines mittelalterlichen Steinmetzen je ausgedacht haben konnte. Es war bösartig und schrecklich, mit zwei Knopfaugen, die wie brennende Kohlestücke glühten. Der lange, offene Schnabel zeigte eine Doppelreihe haifischartiger Zähne. Die Schultern hielt es vorgebeugt.

Um den Hals war etwas gewickelt, was wie ein schmutziger grauer Schal aussah. Es schien der Gottseibeiuns persönlich zu sein, so wie wir ihn uns als Kinder vorgestellt haben.

Es gab Unruhe im Publikum. Jemand schrie. Zwei Damen in der ersten Reihe sanken ohnmächtig vom Stuhl. Für einen Augenblick bestand die Gefahr einer allgemeinen Panik.

Professor Challenger hob beschwörend die Arme, um die Ruhe wiederherzustellen. Aber gerade mit dieser Bewegung erschreckte er das Untier an seiner Seite. Plötzlich entfaltete sich der merkwürdige Schal, breitete sich aus und entpuppte sich als ein Paar flatternder, lederartiger Flügel. Challenger griff nach den Beinen der scheußlichen Kreatur, erwischte sie jedoch nicht mehr. Das Untier hatte sich von der Kiste abgestoßen und flatterte in großen Kreisen in der Queens Hall herum, mit trockenem, ledernem Klappen seiner zehn Fuß spannenden Flügel. Ein fauliger, ekelhafter Geruch breitete sich im Raum aus.

Die Angstschreie der Leute auf der Galerie, die durch die bedrohliche Nähe dieser glühenden Augen und des mörderischen Schnabels erschreckt waren, reizten das Scheusal noch mehr. Schneller und schneller flog es und schlug in blinder Wut gegen Wände und Leuchter.

»Das Fenster! Um Himmels willen, macht das Fenster zu!« brüllte der Professor vom Podium, wo er umhertanzte und die Hände rang. Ach, seine Warnung kam zu spät! In der nächsten Sekunde hatte die Kreatur, die wie eine riesige Motte in einem Lampenschirm immer wieder gegen die Wände stieß, die Öffnung erreicht, ihren gräßlichen Körper hindurchgezwängt - und war fort.

Professor Challenger sank auf seinen Stuhl zurück und schlug die Hände vors Gesicht, während aus dem Publikum ein langer, tiefer Seufzer der Erleichterung aufstieg.

Wie soll man in Worten beschreiben, was sich dann abspielte - wie der ganze Überschwang der Mehrheit und die Reaktion der Minderheit sich zu einer einzigen großen Woge der Begeisterung vereinigten, die vom Hintergrund des Saales nach vorn rollte, stetig an Volumen zunahm, über das Orchester schlug, das Podium überflutete und die vier Helden auf ihrem Kamm davontrug? Hatte das Publikum den Forschern bisher keine Gerechtigkeit widerfahren lassen, so machte es jetzt alles im Übermaß wieder wett. Alles war auf den Beinen. Alles lief, schrie und gestikulierte durcheinander. Eine dichte Menge jubelnder Männer umgab die vier Reisenden.

»Hoch! Hoch mit ihnen!« schrien Hunderte von Stimmen. Augenblicklich erschienen die vier Gestalten über den Köpfen der Menge. Vergeblich suchten sie sich zu befreien. Sie wurden auf ihrem luftigen Ehrenplatz festgehalten. Selbst wenn man gewollt hätte, wäre es kaum noch möglich gewesen, sie herunterzulassen, so dicht war das Gedränge.

»Regent Street! Regent Street!« schrien die Stimmen.

In die Menge kam Bewegung, und der Menschenstrom bewegte sich auf den Ausgang zu, die vier auf den Schultern. Draußen auf der Straße gab es eine außergewöhnliche Szene.

Dort wartete eine unüberschaubare Menschenmenge. Sie reichte vom Oxford Circus bis über das Langham Hotel hinaus. Als die vier Abenteurer hoch über den Köpfen der Massen unter den hellen Bogenlampen vor der Halle erschienen, wurden sie von einem Begeisterungssturm begrüßt.

»Ein Triumphzug! Ein Triumphzug!« schrie alles. Schulter an Schulter setzte sich die Menge in Bewegung durch Regent Street, Fall Mall, St. James Street und Piccadilly. Der gesamte Verkehr in der City kam zum Erliegen, und zahlreiche Zusammenstöße mit Polizisten und Droschkenkutschern wurden gemeldet. Erst nach Mitternacht wurden die Reisenden schließlich vor dem Eingang zu Lord John Roxtons Wohnung im Albany freigelassen. Und die begeisterte Menschenmenge sang »^ey are jolly good Fellows« und sozusagen als Schlußpunkt der Veranstaltung »God save the King«.

Soweit also mein Freund Macdona. Ein zuverlässiger, wenn auch blumenreicher Bericht über die Vorgänge. Was das Hauptereignis betriffi, so war es wohl für das Publikum eine Überraschung, nicht aber für uns. Der Leser wird sich erinnern, wie ich Lord John begegnete, als er sich in seiner Schutzkrinoline aus Zweigen aufgemacht hatte, um für Professor Challenger das >Teufelsküken< zu besorgen. Ich habe ebenfalls die Schwierigkeiten angedeutet, die wir mit dem Gepäck des Professors hatten, als wir das Plateau verließen. Bei näherer Beschreibung unserer Rückreise hätte ich auch noch eine Menge über die Plage zu berichten, die wir mit dem Appetit unseres unsauberen Gefährten hatten, den wir nur mit verfaulten Fischen füttern konnten. Wenn ich bisher nichts darüber gesagt habe, so geschah dies natürlich auf ausdrücklichen Wunsch des Professors hin. Er wollte nicht, daß auch nur das leiseste Gerücht über das unwiderlegbare Argument, das wir mit uns führten, durchsickerte, bevor der geeignete Augenblick gekommen war.

EinWort noch zum Schicksal des Londoner Pterodactylus. Eindeutige Gewißheit gibt es in diesem Punkt nicht. Nach der Aussage zweier erschreckter Frauen hatte er sich auf dem Dach der Queens Hall niedergelassen und war dort mehrere Stunden lang wie ein lebendiges Teufelsbild gehockt. In den Abendzeitungen am nächsten Tag war zu lesen, daß ein Soldat, der vor dem Marlborough House Wache gestanden hatte, wegen unerlaubten Verlassens seines Postens vor das Kriegsgericht gestellt wurde. Seine Entschuldigung, daß er sein Gewehr hingeworfen und die Flucht ergriffen hätte, weil er plötzlich beim Aufolicken den Teufel vor dem Mond dahinfliegen gesehen habe, wurde vom Gericht nicht akzeptiert, könnte aber in direktem Zusammenhang mit unserem Pterodactylus stehen.

Die einzige andere Spur, die ich noch hinzufügen kann, stammt aus dem Logbuch der Friesland, eines Dampfers der Holland-Amerika-Linie. Sie besagt, daß am nächsten Morgen um neun Uhr, zehn Meilen vor Start Point, ein seltsames Tier - halb Ziege, halb Fledermaus - beobachtet wurde. Es sei mit erstaunlichem Tempo vorbeigeflogen und in südwestlicher Richtung verschwunden. Wenn sein Heimatinstinkt ihm den richten Kurs eingab, besteht kein Zweifel, daß der letzte europäische Pterodactylus irgendwo in den endlosen Weiten des Atlantik ertrunken ist.

Und nun zu Gladys, meiner Gladys vom geheimnisvollen See - der nun wieder in Zentralsee umbenannt werden wird, denn Gladys soll durch mich keine Unsterblichkeit erlangen. Hatte ich nicht von Anfang an einen brutalen Chrakterzug in ihr vermutet? Hatte ich nicht, sogar zu jener Zeit, als ich noch stolz darauf war, ihrem Geheiß zu folgen, gewußt, daß es eine recht armselige Liebe sein mußte, wenn der Geliebte in den Tod oder doch in tödliche Gefahr geschickt wurde? Habe ich nicht in meinen geheimsten Gedanken durch die schöne Fassade ihres Gesichts hindurch in ihre Seele geblickt und dort den Zwillingsschatten von Selbstsucht und Unbeständigkeit erkannt? Waren es Heldentum und menschliche Größe an sich, die sie liebte, oder hatte sie mich nur wegen des Ruhms, der ohne eigene Anstrengung und Opfer auf sie ausstrahlen sollte, in die Fremde geschickt? Sind diese meine Gedanken nur Ausdruck jener Klugheit, die nach dem Schaden kommt? Es war auf alle Fälle der Schock meines Lebens. Vorübergehend wurde ich zum Zyniker. Aber jetzt, da ich dies schreibe, ist schon eine Woche vergangen.

Ich will mein Erlebnis mit Gladys in wenigen Worten erzählen. In Southampton erwartete mich weder ein Brief noch ein Telegramm. Von Sinnen vor Besorgnis kam ich gegen zehn Uhr am gleichen Abend zu der kleinen Villa in Streatham. War Gladys krank oder tot? Wo waren meine nächtlichen Träume von zärtlichen Umarmungen, ihrem lächelnden Gesicht und den Lobesworten für den Ritter, der ausgezogen war und sein Leben für sie gewagt hatte, geblieben? Ich war von den erhabenen Gipfeln herabgestürzt und stand bescheiden auf dem Erdboden. Aber immer noch hätte eine einleuchtende Erklärung die Wolken wieder zerstreuen können. Ich stürzte den Gartenpfad hinauf, hämmerte gegen die Tür, hörte drinnen die Stimme von Gladys, drängte mich an dem bestürzten Hausmädchen vorbei und eilte ins Wohnzimmer. Im Schein der Stehlampe saß sie auf einem niedrigen Sofa neben dem Klavier. Mit drei Schritten war ich bei ihr und ergriff ihre beiden Hände.

»Gladys!« rief ich. »Gladys!«

Sie blickte mit überraschtem Gesicht auf. Irgendwie wirkte sie verändert. Der Ausdruck ihrer Augen, der harte Blick, die verkniffenen Lippen waren mir neu an ihr. Sie entzog mir die Hände.

»Du?« fragte sie bloß.

»Gladys!« rief ich. »Was ist denn los mit dir? Du bist doch meine Gladys, oder etwa nicht? Die liebe kleine Gladys Hungerton?«

»Nein«, sagte sie. »Ich heiße jetzt Gladys Potts. Darf ich dir meinen Mann vorstellen?«

Wie absurd das Leben doch sein kann! In dem Sessel, in dem ich immer gesessen hatte, hockte ein kleiner, rothaariger Mann, vor dem ich mich jetzt verbeugte und dem ich die Hand schüttelte. Wir grinsten uns gegenseitig peinlich berührt und mit leeren Gesichtern an.

»Bis unser Haus fertig ist, wohnen wir noch einstweilen hier«, sagte Gladys.

»Wie angenehm«, sagte ich.

»Hast du meinen Brief denn nicht bekommen?« fragte Gladys. »Ich habe ihn nach Para geschickt.«

»Nein, ich habe keinen Brief bekommen.«

»Schade, dann hättest du Bescheid gewußt.«

»Dafür weiß ich jetzt Bescheid«, sagte ich.

»Ich habe William viel von dir erzählt«, sagte Gladys. »Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Es tut mir ja so leid. Aber so tief kann deine Liebe zu mir nicht gegangen sein, sonst wärst du nicht um die halbe Welt gereist und hättest mich allein hier zurückgelassen. Du bist doch jetzt nicht eingeschnappt, oder?«

»Überhaupt nicht. Aber ich glaube, ich muß jetzt wieder gehen.«

»Wollen Sie nicht etwas trinken?« fragte der mickrige Rotschopf. »Es ist offensichtlich immer wieder dasselbe, was? Muß ja aber auch so sein, wenn wir die Polygamie nicht einführen wollen.«

Er lachte idiotisch, während ich zur Tür ging.

Ich war schon draußen, als ich einer plötzlichen Eingebung folgend noch einmal zurückging.

»Würden Sie mir bitte eine Frage beantworten?« bat ich.

»Kommt darauf an«, sagte Mr. Potts.

»Wie haben Sie es denn geschaffi? Haben Sie einen verborgenen Schatz ausgegraben, einen neuen Pol entdeckt, als Pirat die Welt umsegelt, oder sind Sie über den Kanal geflogen? Mit welcher Art von Romantik haben Sie ihr imponiert?«

Aus dem gutmütigen, dümmlichen Gesicht sahen mich zwei Augen entgeistert an.

»Finden Sie diese Fragen nicht etwas sehr persönlich?« meinte er.

»Nein«, sagte ich. »Noch eine letzte Frage: Was sind Sie von Beruf?«

»Ich bin Buchhalter«, sagte Mr. Potts stolz. »Zweiter Mann bei der Firma Johnson und Merrivale in der Chancery Lane Nummer einundvierzig.«

»Aha«, sagte ich. »Dann gute Nacht.«

Und damit ging ich endgültig. Und wie allen Helden, denen das Herz gebrochen wird, brodelte in mir eine Mischung aus Zorn, Kummer und Heiterkeit, während ich in die Dunkelheit hinausstapfte.

Noch eine letzte kleine Szene, und ich bin fertig. Gestern waren wir in Lord Johns Appartement zum Abendessen eingeladen. Hinterher saßen wir in guter Kameradschaft rauchend beisammen und unterhielten uns über unsere Abenteuer. Es war sonderbar, diese alten vertrauten Gesichter in so veränderter Umgebung zu sehen. Da war Challenger mit seinem herablassenden Lächeln, dem unduldsamen Blick, den halb gesenkten Lidern, seinem angriffslustigen gesträubten Bart und seinem gewaltigen Brustkasten, der sich blähte und vorwölbte, während er Summerlee die Meinung sagte. Und Summerlee selbst saß da, die kurze Stummelpfeife zwischen dem dünnen Schnurrbart und dem grauen Ziegenbart, das faltige Gesicht im Eifer des Gefechts vorgebeugt, während er alles, was Challenger sagte, der Reihe nach bestritt. Und endlich war da unser Gastgeber mit seinem kantigen Adlergesicht und den kalten, gletscherblauen Augen, aus deren Tiefe Übermut und Humor schimmerten. Das ist das letzte gemeinsame Bild von ihnen, das sich meinem Gedächtnis eingeprägt hat.

Nach dem Abendessen in Lord Johns Allerheiligstem - dem Zimmer mit der rötlichen Beleuchtung und den unzähligen Trophäen - war es, daß Lord John uns noch etwas zu sagen hatte. Er hatte eine alte Zigarrenkiste aus dem Schrank geholt und vor sich auf den Tisch gestellt.

»Da wäre noch eine Sache«, sagte er, »die ich vielleicht schon früher hätte zur Sprache bringen sollen, aber ich wollte erst mal genau wissen, woran ich bin. Es hat schließlich keinen Zweck, unnötig Hoffnungen zu wecken, aus denen dann nichts wird. Aber jetzt haben wir es ja mit Tatsachen zu tun, nicht mit Hoffnungen. Erinnern Sie sich noch an den Tag, als wir die Pterodactylenkolonie im Sumpf entdeckten? Nun, an der Bodenbeschaffenheit dieses Platzes fiel mir etwas auf. Vielleicht ist es Ihnen entgangen. Es war ein vulkanischer Trichter mit blauem Ton.«

Die Professoren nickten zustimmend.

»Bisher habe ich nur an einer einzigen Stelle auf der ganzen Welt einen Krater mit blauem Ton gesehen. Das war bei der großen De-Beers-Diamantenmine in Kimberley. Ich habe den Gedanken an die Diamanten nicht mehr aus dem Kopf vertreiben können und mir deshalb diesen Apparat zusammengebastelt, der mir die stinkenden Biester vom Leibe hielt, und dort einen wunderschönen Tag mit der Hacke verbracht. Das hier habe ich gefunden.«

Er öffnete die Zigarrenkiste, kippte sie um und schüttete etwa vierzig bohnen- bis haselnußgroße, unansehnliche Steine auf den Tisch.

»Sie werden vielleicht sagen, ich hätte Ihnen gleich von meinem Fund erzählen müssen«, fuhr er fort. »Das mag richtig sein. Nur wußte ich, daß es für den Unerfahrenen eine Menge Täuschungsmöglichkeiten gibt und daß Steine so groß sein können, wie sie wollen, und trotzdem nicht viel wert sind, wenn Feuer und Konsistenz nicht stimmen. Darum steckte ich erst mal so ein paar ein. Am ersten Tag nach der Rückkehr habe ich einen Stein zu Spink gebracht und ihn gebeten, ihn etwas zu schleifen und zu taxieren.«

Er zog eine Schachtel aus der Tasche und öffnete den Deckel; ein funkelnder Diamant kam zum Vorschein, der schönste Stein, den ich je gesehen habe.

»Und das ist dabei herausgekommen«, sagte er. »Er schätzt diese Klunker hier auf mindestens zweihunderttausend Pfund, und die werden selbstverständlich brüderlich unter uns geteilt. Na, Professor Challenger, was machen Sie mit Ihren fünfzigtausend?«

»Wenn Sie tatsächlich auf Ihrem großzügigen Angebot bestehen«, sagte der Professor, »so würde ich mir einen langgehegten Traum erfüllen und ein privates Museum gründen.«

»Und Sie, Summerlee?«

»Ich würde auf der Stelle meine Vorlesungen aufgeben und mich ganz der endgültigen Klassifizierung von Kalkfossilien widmen.«

»Ich werde meinen Anteil dazu benutzen«, sagte Lord John Roxton, »eine ordentliche Expedition auszurüsten, um mir das liebe alte Plateau noch mal in aller Ruhe anzusehen. Und unser Mr. Malone wird seinen Anteil wahrscheinlich dazu benutzen, um in den heiligen Stand der Ehe treten zu können, habe ich recht?«

»Nein«, sagte ich mit einem etwas gequälten Lächeln. »Vorläufig noch nicht. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich Sie gerne auf Ihrer nächsten Expedition begleiten.«

Lord Roxton sagte nichts, aber er streckte mir seine wettergebräunte Pranke über den Tisch entgegen.


- Ende -

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