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„Hier, nimm einen Schluck“, sagte die Stimme, dann lief kaltes Wasser über Jasons Gesicht und geriet auch in seinen offenen Mund, so daß er husten mußte. Etwas Hartes drückte gegen seinen Rücken, die Handgelenke schmerzten. Allmählich erinnerte er sich wieder — an den Kampf, die Gefangennahme und die Flüssigkeit, die er hatte trinken müssen. Er schlug die Augen auf und erkannte im Licht einer blakenden Öllampe ein vertrautes Gesicht, bei dessen Anblick er einen Seufzer nicht unterdrücken konnte.

„Bist du das, Mikah — oder gehörst du nur zu einem Alptraum?“

„Niemand kann der Gerechtigkeit entfliehen, Jason. Ja, ich bin Mikah, und ich habe dir einige Fragen zu stellen.“

Jason stöhnte. „Du bist es also wirklich. Nicht einmal ein Alptraumwesen könnte sich solche Sprüche ausdenken. Aber bevor du mit deinen Fragen anfängst, könntest du mir einiges über die hiesigen Zustände erklären. Du mußt einiges wissen denn schließlich bist du schon länger Sklave der d’zertanoj als ich.“ Jason stellte fest, daß die Schmerzen an den Handgelenken von schweren Fesseln herrührten. Eine Kette führte von ihnen zu einem dicken Balken, auf dem er mit dem Kopf gelegen hatte. „Was sollen die Ketten — und wie steht es mit der hiesigen Gastfreundschaft?“

Mikah ließ sich von Jasons Fragen nicht beirren, sondern kehrte hartnäckig wieder zu seinem Thema zurück.

„Als ich dich zum letztenmal gesehen habe, warst du noch als Sklave bei Ch’aka. Heute nacht wurdest du gemeinsam mit Ch’akas übrigen Sklaven hereingebracht und angekettet, während du noch bewußtlos warst. Ich habe darum gebeten, daß man dich hier ankettet, damit ich mich um dich kümmern kann. Du mußt mir aber eine ehrliche Antwort auf meine Frage geben. Du hattest Ch’akas Rüstung an — was ist aus ihm geworden?“

„Ich Ch’aka“, murmelte Jason mit heiserer Stimme und mußte sofort wieder husten. Er trank einen Schluck Wasser aus dem angebotenen Becher. „Warum bist du eigentlich plötzlich so rachsüchtig, Mikah, alter Gauner? Wie steht es damit, daß man seinen Feinden auch die andere Wange bieten soll, wenn sie einen geschlagen haben? Du willst doch nicht etwa behaupten, daß du den Kerl nicht ausstehen kannst, weil er dich über den Schädel geschlagen und dich als Ausschußware weiterverkauft hat? Falls du dich über diese Ungerechtigkeit geärgert hast, tröstet dich vielleicht der Gedanke, daß der alte Knabe Ch’aka nicht mehr lebt. Nachdem die ungeeigneten Bewerber ausgesondert waren, bekam ich seinen Job.“

„Hast du ihn getötet?“

„Selbstverständlich. Du brauchst nicht zu glauben, daß das eine einfache Sache war, denn er hatte alle Vorteile auf seiner Seite. Glücklicherweise war er nicht gerade intelligent. Zu Anfang wäre alles fast schiefgegangen, denn als ich ihn nachts ermorden wollte…“

„Was wolltest du?“ unterbrach ihn Mikah.

„Mich nachts an ihn heranschleichen. Du glaubst doch nicht etwa, daß ein offener Kampf mit diesem Ungeheuer sinnvoll gewesen wäre? Allerdings kam es später doch dazu, denn der gute Ch’aka hatte sich als vorsichtiger Mann gegen nächtliche Besuche gesichert. Wir kämpften also miteinander, ich siegte und wurde der neue Ch’aka, obwohl meine Regierung weder lang noch ruhmreich war. Ich folgte dir bis an den Rand der Wüste, wo ich von einem klugen Kopf namens Epidon hereingelegt wurde, der mich degradierte und mir alle Sklaven wegnahm. Das war also meine Geschichte. Jetzt möchte ich deine hören — wo sind wir, was geht hier vor…?“

„Mörder! Sklavenhalter!“ Mikah wich bis an das äußerste Ende seiner kurzen Kette zurück und wies anklagend auf Jason. „Damit hat sich die Liste deiner infamen Verbrechen um zwei weitere vermehrt. Ich bedaure, daß ich jemals Mitgefühl mit dir gehabt habe, Jason! Aber ich werde dir weiterhin helfen, damit ich dich nach Cassylia zur Aburteilung und Hinrichtung bringen kann.“

„Deine Rechtsauffassung gefällt mir — Aburteilung und Hinrichtung.“ Jason hustete und trank noch einen Schluck Wasser. „Hast du schon einmal gehört, daß jeder Angeklagte als unschuldig gilt, bis seine Schuld einwandfrei erwiesen ist? Das ist zufällig die Grundlage jeder Rechtsprechung. Und wie willst du mich auf Cassylia wegen der Dinge anklagen, die ich hier getan habe — die hier nicht als Verbrechen angesehen werden? Dann könntest du ebensogut einen Kannibalen von seinem Stamm fortschleppen und ihn wegen Menschenfresserei hinrichten.“

„Was wäre denn dagegen einzuwenden? Schließlich ist der Kannibalismus ein abscheuliches Verbrechen. Selbstverständlich müßte der Mann hingerichtet werden!“

„Wenn er einen deiner Verwandten auffrißt, hast du allen Grund, seinen Tod zu fordern. Aber nicht nur deshalb, weil er mit seinen Stammesgenossen einen erschlagenen Feind aufgefressen hat. Siehst du denn nicht ein, daß sogenannte Verbrechen nicht überall welche sein müssen? Der Kannibale in seiner Gesellschaft ist ebenso moralisch einwandfrei wie der Kirchengeher in deiner.“

„Gotteslästerer! Verbrechen bleibt Verbrechen! Es gibt Moralgesetze, die für alle Menschen Gültigkeit haben!“

„Nein, ganz im Gegenteil. Du brauchst nur an meinen Fall zu denken. Innerhalb dieser merkwürdigen Gesellschaftsordnung habe ich mich offen und ehrlich aufgeführt. Ich habe meinen Herrn zu ermorden versucht, denn nur auf diese Weise kann ein strebsamer junger Mann es hierzulande zu etwas bringen. Außerdem verdankte der gute Ch’aka seine Position vermutlich dem Gelingen eines ähnlichen Planes.

Der Mordversuch mißlang, aber ich blieb in einem ehrlichen Kampf Sieger. Nachdem ich an die Macht gekommen war, sorgte ich gut für meine Sklaven, obwohl die Kerle nicht gut versorgt sein wollten — sie wollten nur meinen Job, wie es den hiesigen Gepflogenheiten entspricht. Ich habe nur einen wirklichen Fehler begangen, als ich meinen Verpflichtungen als Sklavenhalter nicht nachkam. Anstatt nach dir zu suchen, hätte ich weiterhin an der Küste bleiben und krenoj suchen lassen sollen. Dazu war ich aber zu dumm, deshalb geschieht es mir ganz recht, daß ich jetzt wieder als Sklave neben dir angekettet bin.“

Bevor Mikah sich zu einer Entgegnung aufraffen konnte, wurde die nach außen führende Tür aufgerissen, so daß ein Strahl Sonnenlicht in das fensterlose Gebäude fiel. „Seht zu, daß ihr auf die Beine kommt, Sklaven!“ brüllte ein d’zertanoj von draußen herein.

Die Männer erwachten stöhnend und ächzend. Jason sah jetzt, daß er mit zwanzig anderen an einen langen Balken gekettet war. Der Mann am vordersten Ende schien eine Art Vorarbeiter zu sein, denn er rüttelte die anderen wach und fluchte heftig, wenn einer nicht sofort aufsprang. Als alle endlich standen, erteilte er mit rauher Stimme seine Anweisungen.

„Los, weiter! Schneller! Wer zuerst kommt, erhält die größte Portion. Vergeßt eure Schüsseln nicht! Denkt daran, daß es nichts zu essen oder zu trinken gibt, wenn einer keine Schüssel hat. Wir sind alle aufeinander angewiesen, deshalb erwarte ich, daß jeder von euch anständig mitarbeitet. Das gilt für alle, aber besonders für die Neuen. Wer gut arbeitet, bekommt auch gut zu essen…“

„Halt’s Maul!“ rief einer der Sklaven wütend.

„… und darüber kann sich niemand beschweren“, fuhr der Mann ungerührt fort. „Alle gemeinsam… eins… vorbeugen und den Balken fest anfassen… zwei… aufheben und… drei… im Gleichschritt, marsch!“

Sie marschierten ins Freie, wo der eisige Wind durch die pyrranische Schutzkleidung und die Überreste von Ch’akas Rüstung drang, die man Jason belassen hatte. Jason versuchte sich darüber zu freuen, daß er seine Stiefel auf diese Weise behalten hatte, konnte aber nur vor Kälte zittern. Aus dieser Lage mußte er so rasch wie möglich einen Ausweg finden, denn schließlich hatte er seine Zeit als Sklave auf diesem Hinterwäldlerplaneten bereits abgedient und fühlte sich zu höheren Zielen berufen.

Auf einen kurzen Befehl hin ließen die Sklaven ihren Balken zu Boden fallen und setzten sich darauf. Dann hielten sie ihre Schüsseln wie Bettler vor sich hin und warteten darauf, daß ein anderer Sklave sie mit einer lauwarmen Suppe füllte. Der Suppenausteiler schob einen zweirädrigen Karren vor sich her, an den er gekettet war. Jasons Hunger war wie fortgeblasen, als er die Suppe kostete, deren Hauptbestandteil krenoj waren. Die Wurzeln schmeckten noch abscheulicher — obwohl Jason das nie für möglich gehalten hätte —, wenn sie als Suppe vorgesetzt wurden. Schließlich überwand er seinen Widerwillen aber doch und löffelte die Schüssel aus, weil er überleben wollte.

Nach dem Frühstück marschierten sie durch ein Tor in einen anderen Innenhof, wo Jason sich neugierig umsah. Im Mittelpunkt des Hofes erhob sich eine Art Gangspill, in das eine andere Sklavengruppe eben ihren Balken wie eine Handspeiche einfügte. Als auf diese Weise ein Rad mit vier Speichen entstanden war, brüllte der Aufseher einen Befehl. Die Sklaven setzten sich in Bewegung, drückten mit ihrem Körpergewicht gegen die Balken und drehten das Rad.

Jason beschäftigte sich unterdessen mit dem ziemlich primitiven Mechanismus, den sie antrieben. Die senkrechte Welle schloß mit einer Riemenscheibe ab, in deren verschiedenen Kerben Keilriemen liefen, die zum Teil in dem nahegelegenen Gebäude verschwanden. Der breiteste Riemen betätigte jedoch den Kipphebel einer Pumpe. Das alles war eigentlich viel zu umständlich, falls nur Wasser gepumpt wurde, denn hier in der Gegend mußte es genügend Quellen und Seen geben. Jason glaubte einen bekannten Geruch wahrzunehmen, aber die Bestätigung für seine Vermutung kam erst mit der schwärzlichen Flüssigkeit, die nach wenigen Minuten aus einem Rohr neben der Pumpe schoß.

„Petroleum — natürlich!“ sagte Jason laut. Als der Aufseher ihm einen drohenden Blick zuwarf und dabei bedeutungsvoll mit der Peitsche knallte, beschäftigte Jason sich lieber wieder mit seiner Arbeit.

Das war also das Geheimnis der d’zertanoj — und das ihrer „heiligen Mächte“. Deshalb waren die Sklaven auch betäubt worden, damit sie sich später nicht mehr an die Fahrt hierher erinnern konnten. Hier in diesem Tal förderten sie Rohöl aus dem der Treibstoff für die caroj ihrer Herren hergestellt wurde. Oder wurden die Fahrzeuge mit Rohöl betrieben? Das Petroleum floß durch eine Rinne, die in das nächste Gebäude führte. Ein riesiger Schornstein auf dem Dach stieß schwarze Rauchschwaden aus, während aus den Fensteröffnungen des Gebäudes ein infernalischer Gestank drang, von dem Jason fast schlecht geworden wäre.

Als er sich eben zurechtgelegt hatte, was innerhalb des Gebäudes vor sich gehen mußte, öffnete sich eine Tür, die auf den Innenhof führte. Edipon kam heraus und betrachtete die Sklaven bei der Arbeit. Als Jason wieder in seine Nähe kam, rief er ihn an.

„He, Edipon, komm her. Ich muß mit dir sprechen. Ich bin der ehemalige Ch’aka, falls du mich nicht erkannt haben solltest.“

Edipon warf ihm einen gelangweilten Blick zu und wandte sich ab. Offenbar interessierte er sich nicht für die Sklaven, selbst wenn sie früher seine Gesprächspartner gewesen waren. Der Aufseher kam herbeigeeilt und hob drohend die Peitsche, während Jason langsam weiterging. Er rief über die Schulter zurück.

„Hör zu, Edipon — ich weiß viel und kann euch helfen!“ Die Antwort des Alten bestand aus einem gleichgültigen Schulterzucken. Der Sklavenaufseher holte bereits aus.

Jason mußte also deutlicher werden. „Vielleicht hörst du mir doch lieber zu. Ich weiß ein Geheimnis — was zuerst herauskommt, ist am besten. Au!“ Das letzte Wort war die Reaktion auf den gutgezielten Peitschenhieb.

Weder die Sklaven noch der Aufseher verstanden, was Jason gesagt hatte, aber Edipon machte ein Gesicht, als habe er einen Tiefschlag erhalten. Selbst aus der Entfernung erkannte Jason, daß die gesunde Gesichtsfarbe des Alten einem ungesunden Grau gewichen war. Der Aufseher hob nochmals die Peitsche.

„Haltet das Rad an!“ brüllte Edipon.

Dieser Befehl kam völlig überraschend. Der Aufseher riß erstaunt die Augen auf und ließ die Peitsche sinken, während die Sklaven mit offenen Mündern stehenblieben. Epidon rannte auf Jason zu, blieb vor ihm stehen und sah ihn forschend an, während er sein Messer aus dem Gürtel zog.

Jason lächelte mit gespielter Gelassenheit. Wenn er jetzt nicht äußerst vorsichtig war, mußte er damit rechnen, daß er ein Messer zwischen die Rippen bekam. Offenbar hatte er ein heikles Thema angeschnitten.

„Du hast mich recht gut verstanden — oder soll ich es vor diesen Fremden hier wiederholen? Ich weiß, was hier vorgeht, weil ich von einem anderen Planeten komme, wo das gleiche Verfahren angewandt wird. Ich kann euch helfen. Ich kann euch sogar eure caroj verbessern. Ihr braucht mir nur eine Chance zu geben. Aber zuerst muß ich meine Ketten loswerden, damit wir uns irgendwo privat unterhalten können.“

Edipon dachte angestrengt nach. Er runzelte die Stirn, starrte Jason wütend an und spielte mit dem Messer. Jason lächelte unschuldig und versuchte einen möglichst harmlosen Eindruck zu erwecken. Der eiskalte Wind pfiff noch immer über den Hof, aber trotzdem spürte Jason, daß ihm der Schweiß ausbrach. Er mußte sich ganz auf Edipons Intelligenz verlassen und konnte nur hoffen, daß der Mann zu neugierig war, um einen Sklaven zum Schweigen zu bringen, der so viel wußte. Hoffentlich erinnerte Edipon sich daran, daß man Sklaven schließlich immer noch umbringen konnte, wenn man sie ausgefragt hatte.

Die Neugier schien gesiegt zu haben, denn der Alte schob das Messer wieder in die Scheide. Jason stieß einen erleichterten Seufzer aus. Selbst für einen berufsmäßigen Spieler war der Einsatz ein wenig zu hoch gewesen; wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand, verließ Jason sich lieber nicht auf sein Glück.

„Macht ihn los und bringt ihn zu mir“, befahl Edipon und entfernte sich rasch. Die anderen Sklaven sahen mit großen Augen zu, als ein Schmied herbeigeeilt kam und Jasons Kette löste.

„Was hast du vor?“ fragte Mikah und erhielt sofort einen Schlag mit der Peitsche über den Rücken. Jason grinste, legte den Zeigefinger an die Lippen und ließ sich fortführen. Er war jetzt nicht mehr gefesselt und würde auch keine Fesseln mehr tragen müssen, wenn er den Alten davon überzeugen konnte, daß er für die übliche Sklavenarbeit zu schade war.

Der Raum, in den er geführt wurde, zeigte die ersten Andeutungen einer bewußten Ausschmückung, die Jason auf diesem Planeten gesehen hatte. Die Möbelstücke waren an einigen Stellen mit Schnitzereien verziert, die Stühle gepolstert und das Bett mit einem gewebten Überwurf bedeckt. Edipon stand neben dem Tisch und klopfte nervös mit den Fingern gegen die polierte Platte.

„Bindet ihn fest“, befahl er den Wächtern. Jason wurde an einen geschmiedeten Ring gebunden, der in der Wand eingelassen war. Als die Wächter gegangen waren, kam Edipon auf Jason zu und zog sein Messer. „Du erzählst mir jetzt alles, was du weißt, sonst bringe ich dich auf der Stelle um.“

„Meine Vergangenheit ist ein offenes Buch für dich, Edipon. Ich komme aus einem Land, wo die Menschen alle Geheimnisse der Natur kennen.“

„Wie heißt dieses Land? Bist du ein Spion aus Appsala?“

„Das ist nicht gut möglich, da ich nie von diesem Land gehört habe.“ Jason überlegte, wie intelligent dieser Edipon sein mochte. Durfte er ihm wirklich die Wahrheit sagen, ohne als Lügner zu gelten? Vielleicht versuchte er es am Anfang lieber mit homöopathischen Dosen.

„Würdest du mir glauben, wenn ich sage, daß ich von einem anderen Planeten, von einer anderen Welt zwischen den Sternen am Himmel stamme?“

„Vielleicht. In unseren alten Legenden heißt es, daß unsere Vorfahren von einem anderen Planeten gekommen sein sollen. Aber ich habe nie recht daran glauben können, denn solche Ammenmärchen sind schließlich nur für Ungebildete annehmbar.“

„In diesem Fall sind die Dummen klüger. Euer Planet ist von Menschen besiedelt worden, die mit Schiffen durch den Raum flogen, wie ihr mit caroj durch die Wüste fahrt. Ihr habt das ursprüngliche Wissen vergessen, aber auf anderen Planeten ist es bewahrt und vermehrt worden.“

„Unsinn!“

„Keineswegs. Ich kann meine Behauptung sogar beweisen. Du weißt, daß ich eure geheimnisvollen Fabrikgebäude nie betreten habe, und daß mir bestimmt niemand erzählt hat, was dort drinnen vor sich geht. Aber ich wette, daß ich beschreiben kann, was dort geschieht — ich weiß nämlich, wie Öl verarbeitet werden muß, um bestimmte Erzeugnisse herzustellen. Willst du es hören?“

„Sprich weiter“, sagte Edipon. Er setzte sich auf die Tischkante und spielte mit dem Messer.

„Ich weiß nicht, wie ihr den Apparat nennt, aber in Fachkreisen heißt das Ding Destillationsanlage. Das Rohöl fließt in einen Tank und wird von dort aus in einen Behälter gepumpt, der sich luftdicht verschließen läßt. Dann zündet ihr ein großes Feuer unter dem Behälter an und versucht das Öl auf eine einheitliche Temperatur zu bringen. Dabei entsteht ein Gas, das ihr durch ein Rohr zu dem Kondensator leitet, der vermutlich aus einem weiteren wasserdichten Rohr besteht. Am Schluß braucht ihr nur noch einen Eimer unter das Rohr zu stellen, um die Flüssigkeit aufzufangen, die ihr in den caroj verbrennt, damit sie sich bewegen.“

Während Jason sprach, traten Edipons Augen immer weiter aus den Höhlen. „Du Teufel!“ kreischte er und kam mit dem Messer in der Hand auf Jason zu. „Wie hast du das alles durch die Steinmauern gesehen? Nur meine Familienangehörigen kennen das Geheimnis — das kann ich beschwören!“

„Immer mit der Ruhe, alter Freund. Ich habe dir doch erklärt, daß dieses Verfahren bei uns schon seit langer Zeit in Gebrauch ist.“ Er hielt sich bereit, dem alten Mann das Messer aus der Hand zu treten, falls er sich nicht wieder beruhigte. „Ich will euch keineswegs eure Geheimnisse stehlen. Im Grunde genommen kennt sie bei uns jeder Farmer, der eine kleine Schwarzbrennerei im Keller hat, um selbst Whisky zu brennen. Ich wette, daß ich den ganzen Apparat verbessern kann, obwohl ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen habe. Wie kontrolliert ihr zum Beispiel die Temperatur während des Erhitzens? Benutzt ihr ein Thermometer?“

„Was ist ein Thermometer?“ wollte Edipon wissen. Er hatte sein Messer völlig vergessen.

„Das habe ich mir gleich gedacht. Ich verspreche dir, daß euer Saft wesentlich besser wird, wenn ihr jemand habt, der sich auf das Glasblasen versteht. Vielleicht ist es sogar besser, wenn ich einen Bimetallstreifen herstelle. Wenn die Temperatur nicht gleichmäßig bleibt, entsteht eine Mischung aus verschiedenen Flüssigkeiten. Aber mit Hilfe eines Thermometers kann man zunächst Benzin für die caroj, dann Kerosin für die Lampen und so weiter absondern, bis schließlich nur noch Teer für die Straßen übrig ist. Wie gefällt dir das?“

Edipon beherrschte sich mühsam, obwohl sein Gesichtsausdruck erkennen ließ, wie aufgeregt er war. „Du hast alles richtig beschrieben, obwohl einige unwesentliche Kleinigkeiten nicht ganz stimmten. Aber wir brauchen keine Thermometer oder besseres Feuerwasser für die caroj. Was seit Generationen für meine Familie gut genug war, ist auch gut genug für mich.“

„Diese Feststellung hältst du wohl für originell?“

„Aber du könntest uns auf einem anderen Gebiet helfen und dir unsere Dankbarkeit sichern“, fuhr Edipon fort. „Wir können großzügig sein, wenn es unbedingt erforderlich ist. Du hast unsere caroj gesehen, bist in einem gefahren und hast gehört, daß ich die heiligen Mächte angerufen habe. Kannst du mir sagen, welche Kraft die caroj bewegt?“

„Hoffentlich ist das die letzte Frage, Edipon, denn ich kann schließlich nicht alles erraten: Wenn man den ›Schrein‹ und die ›heiligen Mächte‹ beiseite läßt, muß man vermuten, daß du in den Maschinenraum gegangen bist, um zu arbeiten — nicht nur deshalb, weil du beten wolltest. Das Fahrzeug kann auf verschiedene Weise fortbewegt werden, aber wahrscheinlich ist es die einfachste. Ein Verbrennungsmotor scheidet aus, weil von einem Wassertank die Rede war. Außerdem dauerte es fast eine Stunde, bis wir endlich fahren konnten. Das klingt ganz so, als hätte erst der nötige Druck erzeugt werden müssen… das Sicherheitsventil! Das hätte ich fast vergessen.

Dann handelt es sich also um eine Dampfmaschine. Du gehst also hinein, schließt die Tür hinter dir ab, läßt den Treibstoff in den Brennraum laufen und zündest das Zeug an. Vielleicht liest du den Druck an einem Manometer ab, aber wahrscheinlich wartest du, bis das Sicherheitsventil anspricht und dir zeigt, daß der Druck ausreicht. Das ist nicht ungefährlich, denn wenn das Ventil versagt, gibt es eine Explosion. Dann läßt du den Dampf in den Zylinder einströmen, bis sich das Fahrzeug in Bewegung setzt. Damit ist die Hauptarbeit getan, denn nun brauchst du nur noch darauf zu achten, daß genügend Wasser im Kessel ist, daß das Feuer heiß genug bleibt, daß alle Lager geschmiert sind und so weiter…“

Jason sah belustigt zu, als Edipon einen kleinen Freudentanz vollführte. Der Alte rammte sein Messer in die polierte Tischplatte, rannte auf Jason zu und schüttelte ihn an den Schultern, daß die Kette rasselte.

„Weißt du, was du getan hast?“ fragte er aufgeregt. „Weißt du, was du getan hast?“

„Ich weiß es recht gut. Soll das heißen, daß ich die Prüfung bestanden habe, daß du mir endlich zuhören willst? Habe ich recht gehabt?“

„Ich weiß es nicht, denn ich habe diese Teufelskasten aus Appsala noch nie von innen gesehen.“ Er tanzte wieder auf und ab. „Du weißt mehr über ihre — wie hast du sie noch gleich genannt? — Dampfmaschinen als ich. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, die Teufelsdinger zu versorgen und über die Schurken aus Appsala zu fluchen, die ihr Geheimnis vor uns bewahren wollten. Aber du wirst es uns offenbaren! Wir werden diese Maschinen selbst bauen und den Appsalanern unser Feuerwasser teuer verkaufen.“

„Könntest du dich nicht ein wenig deutlicher ausdrücken?“ fragte Jason. „Bis jetzt bin ich noch nicht schlau daraus geworden.“

„Ich werde dir alles zeigen, Fremder, und du wirst uns das Geheimnis der Appsalaner erklären. Von heute ab beginnt ein neues Zeitalter für Putl’ko.“

Edipon riß die Tür auf, rief die Wächter herein und ließ seinen Sohn Narsisi rufen. Narsisi kam herein, als Jason losgebunden wurde. Er entpuppte sich als der schläfrige junge Mann, der den caro gelenkt hatte.

„Nimm die Kette, mein Sohn, und halte dich bereit, diesen Sklaven zu töten, wenn er einen Fluchtversuch unternehmen sollte. Aber sonst darfst du ihm nichts zuleide tun, denn er ist sehr wertvoll für uns. Komm jetzt.“

Narsisi zog an der Kette, aber Jason bewegte sich nicht vorwärts. Die anderen starrten ihn verwundert an.

„Nur noch ein paar kurze Worte, bevor wir gehen. Der Mann, der Putl’ko ein neues Zeitalter bringen soll, ist kein Sklave. Das möchte ich feststellen, bevor die Arbeit beginnt. Wir können uns noch über die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen gegen Fluchtversuche unterhalten, aber als Sklave rühre ich keine Hand.“

„Aber — du gehörst nicht zu uns, deshalb bist du ein Sklave.“

„Ich habe die hiesige Gesellschaftsordnung soeben um eine dritte Kategorie bereichert. Ich bin Angestellter. Zwar nicht ganz freiwillig, aber immerhin fachlich qualifiziert. Deshalb möchte ich auch entsprechend behandelt werden. Denkt doch selbst darüber nach. Was verliert ihr, wenn ihr einen Sklaven tötet? Nicht viel, denn es gibt genügend andere, die an seine Stelle treten können. Aber was habt ihr davon, wenn ihr mich umbringt? Gehirn an der Keule — und dort wird es bestimmt nicht gebraucht.“

„Soll das heißen, daß ich ihm nicht den Schädel einschlagen darf?“ erkundigte Narsisi sich bei seinem Vater. Er sah jetzt nicht nur schläfrig, sondern auch erstaunt drein.

„Nein, das soll es nicht heißen“, beruhigte Edipon ihn. „Er meint nur, daß es außer ihm keinen anderen Sklaven gibt, der seine Arbeit tun kann. Aber diese Art gefällt mir nicht. Es gibt nur Sklaven und Sklavenhalter; alles andere verstößt gegen die natürliche Ordnung der Dinge. Andererseits bleibt uns keine Wahl, deshalb müssen wir ihm einige Freiheiten gestatten. Führe den Sklaven — ich meine den Angestellten — hinter mir her, damit wir sehen, ob er alles kann, was er versprochen hat. Wenn er es nicht kann, werde ich ihn mit Vergnügen umbringen, weil mir seine revolutionären Ideen nicht gefallen.“

Sie marschierten hintereinander auf ein riesiges Gebäude zu, das schwer bewacht wurde. Als die Tore geöffnet worden waren, wurden sieben caroj sichtbar, die dort im Halbdunkel standen.

„Sieh sie dir an!“ rief Edipon begeistert aus. „Die herrlichsten Maschinen, die je von Menschenhand gebaut worden sind! Sie tragen Schrecken in die Herzen unserer Feinde, befördern uns schnell durch die Wüste, tragen riesige Lasten — aber nur drei von den verdammten Dingern sind betriebsbereit.“

„Motorschaden?“ fragte Jason leichthin.

Edipon fluchte leise vor sich hin und ging in einen Innenhof voraus, in dem vier große Blechkästen standen, die über und über mit kabbalistischen Symbolen verziert waren.

„Diese Banditen in Appsala nehmen unser Feuerwasser und betrügen uns um den Gegenwert. Wir dürfen zwar ihre Maschinen benützen, aber spätestens nach einigen Monaten funktionieren sie nicht mehr. Dann müssen wir sie in die Stadt zurückbringen und einen Haufen Geld bezahlen, bevor wir neue bekommen.“

„Hübsche Geschäftsmethoden“, meinte Jason und betrachtete die Gehäuse. „Warum macht ihr nicht einfach die Blechkästen auf und versucht die Maschinen reparieren? Sie können nicht sehr kompliziert sein.“

„Das bedeutet den sicheren Tod!“ keuchte Edipon, und beide d’zertanoj wichen bei dem bloßen Gedanken daran erschrocken zurück. „Zu Lebzeiten meines Großvaters wurde einmal der Versuch unternommen, denn wir sind nicht so abergläubisch wie die Sklaven und wissen, daß die Maschinen nicht von Göttern, sondern von Menschen hergestellt werden. Aber die Verbrecher in Appsala wissen ihre Geheimnisse wohl zu verbergen. Wenn das Gehäuse beschädigt wird, erfüllt ein schrecklicher Tod die Luft. Wer diese Luft atmet, stirbt sofort, aber selbst die Männer, die nur von ihr berührt werden, bekommen riesige Blasen und erleiden einen schrecklichen Tod. Die Männer von Appsala lachten nur, als sie davon hörten, und verdoppelten sofort ihren Preis.“

Jason ging um einen der Kästen herum und betrachtete ihn interessiert, wobei er Narsisi an der Kette hinter sich her zerrte. Das Ding war fast zwei Meter hoch und über vier Meter lang. Eine massive Welle, die an beiden Seiten aus dem Gehäuse ragte, trieb vermutlich die Räder an. An der hinteren Wand waren einige Handkurbeln, verschiedenfarbige Scheiben und drei Löcher zu sehen, die wie Einfüllstutzen aussahen. Darunter befand sich ein größeres Loch in der Wandung des Gehäuses. Als Jason sich auf die Zehenspitzen stellte, erkannte er auf der Oberseite den Anschluß für den Schornstein.

„Allmählich wird mir die Sache klarer, aber ich muß erst noch wissen, wie das Ding bedient wird“, sagte Jason schließlich.

„Das ist unmöglich!“ rief Narsisi. „Nur meine Familie…“

„Wer hat dich denn nach deiner Meinung gefragt?“ brüllte Jason zurück. „Vielleicht erinnerst du dich gefälligst daran, daß ich kein Sklave mehr bin!“ Als Narsisi betreten zu Boden starrte, fuhr Jason mit ruhigerer Stimme fort: „Außerdem kann ich mir auch ohne eure Hilfe vorstellen, wie die Maschine in Betrieb gesetzt wird. Schmieröl, Wasser und Brennstoff werden in diese drei Stutzen gefüllt, dann steckt man ein brennendes Stück Holz in die Feuerung — wahrscheinlich in das rußige Loch hier. Die Kurbeln regeln den Brennstoff-Fluß, die Geschwindigkeit der Maschine und die Wasserzufuhr, während die bunten Scheiben als eine Art Meßinstrumente dienen.“ Narsisi wurde blaß und wich zurück. „Du hältst also lieber den Mund, während ich mich mit deinem Vater unterhalte.“

„Du hast alles richtig beschrieben“, sagte Edipon. „Die Münder müssen stets gefüllt werden, denn sonst bewegt der caroj sich nicht, wenn nicht sogar etwas noch Schlimmeres passiert. Hier wird angezündet, wie du vermutet hast, und wenn der grüne Finger nach oben ragt, kann man diesen Hebel bewegen, um abzufahren. Der nächste Hebel regelt die Geschwindigkeit. Wenn der rote Finger nach oben deutet, muß man den letzten Hebel drücken, bis der Finger wieder nach unten geht. Dann kommt weißer Atem aus der oberen Öffnung. Das ist alles.“

„Mehr habe ich auch nicht erwartet“, murmelte Jason vor sich hin, während er mit der Faust gegen die Gehäusewandung klopfte. „Die Kerle machen alles so primitiv wie möglich, damit ihr die Grundlagen der ganzen Sache nicht herausbekommt. Ohne die theoretische Ausbildung wißt ihr nie, wozu die Hebel wirklich dienen, oder daß der grüne Zeiger das Zeichen für ausreichenden Dampfdruck ist, während der rote ungenügenden Wasserstand im Kessel anzeigt. Wirklich gut ausgedacht.

Und der ganze Apparat ist gegen unbefugtes Eindringen gesichert, damit ihr nicht eines Tages auf die Idee kommt, die Reparaturen selbst auszuführen. Das Gehäuse scheint doppelwandig zu sein und ist vermutlich mit verflüssigtem Giftgas gefüllt — deiner Beschreibung nach Senfgas. Das reicht garantiert aus, um jeden Versuch scheitern zu lassen. Trotzdem muß es eine Möglichkeit geben, die Maschine zu reparieren, nachdem man das Gehäuse geöffnet hat; ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, daß die Appsalaner sie schon nach einigen Monaten verschrotten. Angesichts des nicht gerade überwältigenden technischen Fortschritts, der sich in dieser Maschine dokumentiert, können die Fallen nicht allzu kompliziert sein. Ich nehme also den Job an.“

„Ausgezeichnet, du kannst gleich mit der Arbeit beginnen.“

„Langsam, Boß, du mußt erst noch lernen, wie man mit Fachkräften umgeht. Zunächst müssen die Arbeitsbedingungen und einige andere Kleinigkeiten geregelt werden, die ich mit Vergnügen aufzählen werde.“

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