KAPITEL VII DIE KREISE DER HÖLLE

Auf dem Monitorschirm zeichneten sich ein paar wirbelnde Fraktale ab, während die Speicherkristalle warmliefen, und dann lösten sich die verwirrenden Farben in ein scharfes Hologramm auf. Eine blasse metallische Landschaft, hier und da von dunklen Gräben durchbrochen, übersät von tiefen Kratern und aufragenden Hügeln aus Schrott, erstreckte sich Kilometer um Kilometer in die Ferne, bis sie im Dunst des frühen Morgens versank. Eine trübe rote Sonne erhob sich zögernd in einen grauen Himmel, der von dunklen Wolken beherrscht wurde. Unnatürliche Stille beherrschte die gesamte Szenerie, von keinem Vogelzwitschern und keinem Insektenzirpen unterbrochen, und das einzige Geräusch war das schwache, an- und abschwellende Flüstern und Stöhnen des Windes, als würde er all seine Kraft zusammenziehen für einen aufkommenden Sturm.

Die Kamera schwenkte langsam nach rechts, und ein ausladender Industriekomplex erschien auf dem Schirm. Nach den gewaltigen Türmen und den vielen Lichtern in seinen Fenstern zu urteilen, hätte er die Szene eigentlich beherrschen müssen, aber eigenartigerweise tat er das nicht. Die Umgebung aus zerrissenem, korrodierendem Metall und angesammeltem Schrott sah ganz aus wie ein Ort, an den alte Fabriken sich zurückzogen zum Sterben. Die Kamera zoomte langsam näher, bis der Komplex schließlich den ganzen Schirm ausfüllte. Jetzt wurden bewaffnete Posten sichtbar, die in den Gräben und Kasematten lagen und kühl die Umgebung beobachteten, und der Eindruck entstand, daß die Fabrik von einem unsichtbaren, geheimnisvollen Feind belagert wurde.

Eine einzelne Gestalt trat in das Blickfeld der Kamera und suchte sich bedächtig ihren Weg über die verrottende metallene Oberfläche. Schmutz und Wasser hatten sich in den Vertiefungen gesammelt und spritzten unter dem Schritt ihrer Stiefel.

Schließlich kam der Mann zum Stehen. Er füllte den halben Schirm aus, als er mit ernstem Gesicht in die Kamera blickte.

Selbst unter seinen dicken Fellen wirkte er noch klein und eindeutig übergewichtig, und sein glattes blondes Haar über dem geröteten Gesicht klebte am Schädel, doch seine Augen blickten ruhig, und sein Mund wirkte fest. Er machte einen ganz und gar vertrauenerweckenden Eindruck. Der aufkommende Wind zerrte an seinem Haar, aber der Mann ignorierte es, als er zu sprechen begann.

»Ihr blickt auf Technos III. Es ist früher Morgen, und der Winter hat begonnen. Der Fabrikkomplex des Wolf-Clans, den Ihr hinter mir seht, wird in Kürze mit der Massenfertigung des neuen und stark verbesserten Hyperraumantriebs beginnen.

Das Personal arbeitet hingebungsvoll, die Führung ist stark und entschlossen, und die kleine Armee von Sicherheitsleuten ist hervorragend ausgebildet, erfahren und äußerst entschlossen.

Ideale Bedingungen, so sollte man meinen, für ein derart wichtiges Unterfangen. Aber wir befinden uns auf Technos III, und hier sind die Dinge nicht wie anderswo.

Als erstes wären da die vier Jahreszeiten zu nennen, die es hier wie auf jeder anderen kolonisierten Welt auch gibt. Doch im Unterschied zu jeder anderen Welt des Imperiums dauern die Jahreszeiten auf Technos III nur Tage, und aus diesem Grunde neigen die Wetterbedingungen ständig zu Extremen.

Im Frühling regnet es. Ein konstanter, hämmernder Monsunregen, der mehr als einen Zentimeter Niederschlag in weniger als einer Viertelstunde bringt. Im Sommer ist es heiß wie in einem Backofen, und das Licht der Sonne ist so stark, daß es jede ungeschützte Haut innerhalb von Minuten verbrennt. Im Herbst herrschen Orkane vor, die stark genug sind, alles an ungesicherter Ausrüstung kilometerweit davonzutragen. Und im Winter, da schneit es. In einem fort. Eisstürme und schwere Verwehungen begraben alles unter sich, das nicht durch den Schutzschirm des Geländes gesichert ist. Die Kälte ist so extrem, daß sie innerhalb von Minuten tötet. Blut gefriert, und schlechte Legierungen reißen.

Diese Bedingungen sind nicht natürlich. Verantwortlich dafür sind diese Lektronenterroristen, die sich in alles einmischen. Ich spreche von den Kyberratten. Sie haben sich in die Wettersatelliten von Technos III gehackt, und das Ergebnis ist diese Hölle. Ich stehe hier vor der Fabrik am frühen Morgen des ersten Wintertages. Die Temperatur ist in der letzten Stunde um dreißig Grad gefallen. Der Wind wird von Minute zu Minute stärker und vermittelt einen Vorgeschmack auf das, was als nächstes kommt. Bald schon werde ich in die Sicherheit des Fabrikkomplexes zurückkehren müssen, wenn ich nicht den Tod durch ein Dutzend verschiedener Naturgewalten zugleich riskieren will. Imperiale Techniker arbeiten mit höchster Dringlichkeit daran, die Wettersatelliten zu reparieren, und wie ich erfahren habe, sollen die Wetterbedingungen sich schon in Kürze wieder normalisieren. In der Zwischenzeit jedoch kämpfen die tapferen Männer und Frauen des Wolf-Clans unermüdlich darum, alle Systeme rechtzeitig einsatzbereit zu machen, um planmäßig und wie versprochen mit der Produktion des neuen Raumschiffsantriebs zu beginnen. Selbstverständlich werde ich zur Eröffnungszeremonie live von hier berichten.

Tobias Shreck für die Imperialen Nachrichten berichtet von Technos III. Mir ist kalt, ich leide an Langeweile und bin müde…, und ich habe die Nase voll, wirklich gestrichen voll, verdammt noch mal, und ich bin hungrig.«

Das Bild auf dem Monitor verschwand und wich für einen Augenblick den wirbelnden Fraktalen, bevor einer der beiden Zuschauer sich vorbeugte und abschaltete. Tobias Shreck, auch bekannt als Toby der Troubadour, der als PR-Kanone des Shreck-Clans seinen Onkel Gregor richtig wütend gemacht hatte und deswegen als freier Reporter auf einer Höllenwelt wie Technos III gelandet war, richtete sich auf und starrte in den bedeckten Himmel. Die dunklen Wolken wurden von Minute zu Minute schwerer, und der böige Wind war so heftig, daß er sich dagegenstemmen mußte. Toby schlang den Pelzmantel enger um den Leib und zog ein schmutziges Taschentuch hervor, um sich laut zu schneuzen.

»Ich hasse diesen Planeten. Das Wetter ist vollkommen verrückt, die Eingeborenen sind so freundlich wie Massenmörder unter dem Einfluß von Amphetaminen, und es gibt im Umkreis von mehreren Lichtjahren kein einziges ordentliches Restaurant. Ich hätte wissen müssen, daß ein verborgener Grund dahintersteckte, als das Heimatbüro mich so begierig unter Vertrag nahm und mir sofort einen Auftrag anbot.«

»Seht es doch einmal von der positiven Seite«, erwiderte Tobys Kameramann, ein großer, schlaksiger Bursche namens Flynn. Er steckte in einem langen Mantel aus dem Fell verschiedener toter Tiere, der allerdings nicht lang genug war, um einen so großen Menschen vollkommen zu schützen. Flynn besaß ein trügerisch ehrliches Gesicht, dessen Ausdruck nur zum Teil von der schweren Holokamera gestört wurde, die wie eine dicke, mißgestaltete Eule auf seiner Schulter saß. Er begann die Scheinwerfer abzubauen, die Toby so vorteilhaft angestrahlt hatten, und sprach mit einer fröhlichen Ignoranz weiter, als hörte Toby ihm noch immer zu. »Wenigstens haben wir eine hübsche warme Unterkunft in der Anlage, wo wir uns verkriechen können. Die armen Kerle von der Wachmannschaft tragen Thermounterwäsche unter ihren Thermoanzügen und frieren sich trotzdem den Hintern ab. Ich habe gehört, wenn man hier draußen einen Furz läßt, dann rollt er am Bein hinunter und zerplatzt am Boden.«

Toby schniefte. »Diese Wachen sind hochbezahlte Söldner, die gelernt haben, ihre Gegner in der kurzmöglichen Zeit in Einzelteile zu zerlegen, und sie sind deswegen schon per definitionem nicht wirklich menschlich. Ich gehe jede Wette ein, daß sie einen verdammten Batzen mehr Geld für ihre Arbeit bekommen als Ihr oder ich. Und diese verdammte Fabrik treibt mich in den Wahnsinn. Die meisten Anlagen arbeiten automatisch, und die wenigen Klone, die den Rest erledigen, sind noch weniger menschlich als die verdammten Wachen.«

Flynn zuckte die Achseln, und die Kamera umklammerte seine Schulter mit ihrem Klauenfuß, um das Gleichgewicht zu behalten. »Klone werden nicht wegen ihrer sozialen Fähigkeiten beschäftigt. Sie sind manipuliert und konditioniert, um ihre Arbeit perfekt zu erledigen, und sonst gar nichts. Sie sind nur hier, weil ein menschlicher Entscheidungsträger zu allen Zeiten in den Prozeß eingreifen können muß. Man darf nicht alles den Lektronen überlassen. Nicht mehr seit der Rebellion von Shub

»Wir schneiden die letzten Sekunden meines Berichts vom Band«, ordnete Toby an und wandte sich vom Monitor ab.

»Habe ich etwas Wichtiges vergessen?«

»Nicht wirklich. Rein technisch gesehen hättet Ihr vielleicht erwähnen sollen, daß die Feldglöcks den Ball hier ins Rollen gebracht haben, bevor die Wolfs alles übernahmen. Und Ihr hättet noch erwähnen können, daß es einige Probleme mit einheimischen Terroristen gibt, die aber ganz ohne Zweifel bald erledigt sein werden.«

»Nein, hätte ich nicht«, widersprach Toby entschieden. »Die Wolfs hätten es sowieso zensiert. Außerdem müssen wir für eine einführende Reportage nicht so in die Tiefe gehen. Lassen wir es dabei bis zu den Interviews, und dann werde ich versuchen, das Thema zur Sprache zu bringen. Obwohl ich sicher bin, daß nichts auch nur entfernt Gutes über den Feldglöck-Clan den letzten Schnitt überstehen wird. Nicht, daß es eine Rolle spielt. Die Wolfs haben die Feldglöcks besiegt, und niemand mag einen Verlierer. Die wenigen noch lebenden Feldglöcks sind ungefähr so beliebt wie ein Furz in einer Luftschleuse. Laßt uns reingehen, Flynn. Ich spüre meine Finger nicht mehr, und meine Füße sind ebenfalls kurz vor dem Erfrieren. Außerdem kann das Wetter innerhalb eines einzigen Augenblicks noch ein ganzes Stück ekelhafter werden, wenn ihm danach ist. Gott, wie sehr ich mich nach Golgatha zurücksehne. Selbst bei Hof war es sicherer als hier.«

»Warum seid Ihr dann hier?« erkundigte sich Flynn. »Ihr seid nie mit der Sprache herausgerückt, was Ihr getan habt, um den alten Shreck höchstpersönlich so wütend auf Euch zu machen.«

»Ich muß Euch überhaupt nichts erzählen«, entgegnete Toby.

»Ihr habt mir ja noch nicht einmal Euren Nachnamen verraten.«

»Ein Name reicht für einen Kameramann vollkommen aus.

Und jetzt verratet mir endlich die Einzelheiten, oder ich lasse Euch bei der nächsten Aufnahme in verdammt schlechtem Licht dastehen.«

»Ihr seid ein Erpresser. Also schön. Im Grunde genommen liegt es an der Kirche. Sie bekam wachsende Zweifel an der moralischen Erhabenheit ihres vorgeblich so gläubigen Schafes Gregor. Ich versteckte sein zweifelhaftes Privatleben unter einer Decke des Schweigens, erfand einige gute Geschichten für die Öffentlichkeit und zahlte eine Menge Schmiergelder an Leute in den richtigen Positionen, aber die Gerüchte brodelten weiter. Irgend jemand erzählte etwas von einer vollen Inquisition, und dann hätte Gregor selbst mit all seinem Geld und Einfluß keine weiße Weste mehr kaufen können, dieser kleine ekelhafte Mistkerl. Ich sagte ihm rechtzeitig, daß er sich ein gutes Stück zurückhalten müsse, wenn er mit der Kirche ins Bett steigen wolle, aber meint Ihr, er hätte auf mich gehört?

Einen Dreck hat er. Also tat ich das einzige, was mir zu tun übrigblieb. Ich versuchte herauszufinden, wer die Inquisition leiten würde, brachte ihn mit einer hübschen Dame der Nacht aus meinem Bekanntenkreis in Kontakt, ließ der Natur ihren fröhlichen Lauf und filmte ihn dabei in allen Stellungen, um ihn hinterher zu erpressen. Woher sollte ich wissen, daß ich ausgerechnet einen der letzten wirklich ehrenhaften Kirchenmänner erwischt hatte, den es heutzutage noch gibt? Er gestand sein Fehlverhalten öffentlich und gelobte Besserung, und ich quittierte den Dienst bei Gregor, bevor er mich feuern konnte.

Und da ich wußte, daß Gregors Mißvergnügen dazu tendiert, sich in plötzlichen Gewaltausbrüchen und Mordanschlägen zu äußern, spazierte ich zu den Imperialen Nachrichten und fragte nach dem erstbesten Auftrag, den sie auf der anderen Seite des Imperiums zu vergeben hatten. So bin ich hergekommen.

Manchmal frage ich mich, ob Gregor vorher bei ihnen war.«

»Vielleicht«, erwiderte Flynn.

»Nein. So subtil ist er nicht. Dafür hat er mich schließlich bezahlt.«

»Nun, vielleicht ist der Winter ja gar nicht so schlecht, wie alle sagen. Er wird schon nicht so schlimm sein.«

Toby funkelte ihn an. »Habt Ihr die Informationsbänder nicht gesehen? Der Winter auf diesem verfluchten Planeten ist offiziell als grausame und widernatürliche Bestrafung klassifiziert worden. Die Schneestürme beginnen auf dem Niveau eines Blizzards und eskalieren dann. Die Eskimos besitzen einhundertsiebenundzwanzig verschiedene Worte für Schnee, und selbst sie haben so etwas wie hier noch nie gesehen. Wenn Ihr einen Eskimo herbrächtet und ihm den Schnee zeigtet, würde er vor Staunen wie angewurzelt stehenbleiben und ausrufen: Gott im Himmel! Sieh sich einer diesen Schnee an! Der Wind erreicht im Winter Geschwindigkeiten von fast fünfhundert Stundenkilometern. Es schneit waagerecht!« Toby hielt inne und atmete durch, um sich zu beruhigen. Sein Arzt hatte ihn ausdrücklich wegen seines Blutdrucks gewarnt – aber sein Arzt hatte ja auch noch nie Technos III gesehen. Zur Hölle, er würde nicht einmal einen Hausbesuch im Appartement seines Nachbarn machen! Toby starrte verdrießlich zum Himmel hinauf und dann zurück zur Fabrikanlage. »Wir sehen besser zu, daß wir in Deckung kommen. Bringt die Ausrüstung mit.«

»Ihr habt sie herausgebracht«, sagte Flynn. »Also bringt Ihr sie auch wieder hinein. Ich schleppe kein Zeug durch die Gegend. Das steht in meinem Vertrag. Ich bin Kameramann, und meine Kamera ist das absolut einzige, was ich trage. Ich habe es Euch bereits gesagt, bevor wir nach draußen gegangen sind.«

»Ach, jetzt macht schon«, maulte Toby. »Ihr könnt doch nicht von mir verlangen, daß ich die Scheinwerfer und den Monitor allein trage. Ihr tragt immer nur diese verdammte Kamera, und wenn sie mehr als dreihundert Gramm wiegt, fresse ich das blöde Ding.«

»Ich schleppe kein Zeug durch die Gegend«, beharrte Flynn.

»Es liegt mir einfach nicht. Wenn Ihr einen Lastesel braucht, dann hättet Ihr Euch eben einen mitbringen sollen.«

Toby funkelte Flynn wütend an. Schließlich begann er, die Scheinwerfer alleine abzubauen. »Mein Gott, Ihr Leute müßt wirklich eine verdammt starke Gewerkschaft haben.«

Daniel und Stephanie Wolf, die beiden Verantwortlichen für die Produktion des neuen Hyperraumantriebs auf Technos III und aus diesem Grund die Lords all derer, die hier arbeiteten, verhalfen sich zu einem weiteren großen Drink aus der automatischen Bar. Als Aristokraten waren sie eigentlich an den Luxus menschlicher Diener gewöhnt, doch auf einer Fabrikwelt war kein Platz für derartigen Komfort. Selbst für derart gehobene Besucher wie die beiden Wolf-Geschwister nicht. Und die Drinks waren nicht einmal sonderlich gut. Stephanie warf sich mürrisch in einen großen Massagesessel, der sofort damit begann, seine entspannende Tätigkeit aufzunehmen, bis sie ihn schließlich abschaltete. Sie hatte nicht das Bedürfnis nach Entspannung. Kardinal Kassar war auf dem Weg zu ihnen, und Stephanie hatte das unbestimmte Gefühl, daß sie all ihre Geistesgegenwart für die bevorstehende Begegnung nötig hatte.

Daniel stapfte auf den dicken Teppichfliesen hin und her wie ein gefangenes Raubtier. Seine Schwester wünschte, er würde damit aufhören. Es ging ihr auf die Nerven.

Das Zimmer war nach den Maßstäben von Technos III komfortabel und groß – was bedeutete, daß man zehn Menschen hineinpressen konnte, aber nur dann, wenn man einen Viehstock zur Hand hatte. Das Mobiliar war einfach bis geschmacklos, und die grelle Beleuchtung verursachte Stephanie Kopfschmerzen. Daniel blieb endlich stehen und schaltete die externen Sensoren der Fabrikanlage auf den Monitor. Eine Seite des Raums verschwand völlig und gab den Blick auf das Wetter draußen frei. Größtenteils sah es nach Schnee aus, der waagerecht von Stürmen von rechts nach links und im nächsten Augenblick schon wieder von links nach rechts über die Ebene getragen wurde; immer ein klein wenig zu schnell für die Reaktionsgeschwindigkeit des menschlichen Auges und deshalb sehr irritierend anzusehen. Stephanie drehte ihren Sessel, um es nicht sehen zu müssen, und konzentrierte sich auf ihren Plan.

Angeblich hatte Valentin sie und ihren Bruder hierher geschickt, damit sie nach dem Rechten sahen, bis die Produktion des neuen Antriebs offiziell anlief. Er hatte eine Feier für den großen Tag arrangiert, die im gesamten Imperium zur besten Sendezeit live übertragen werden sollte, um jedermann und ganz besonders diejenigen bei Hofe daran zu erinnern, woher das Geld und die Macht des Wolf-Clans stammten. In Wirklichkeit hatte Stephanie alles in die Wege geleitet. Sie hatte ihrem Bruder die Idee zu der Feier geliefert und anschließend still und leise, aber zielstrebig hinter der Bühne intrigiert, um sicherzustellen, daß sie und Daniel an Valentins Stelle den Clan bei der Feier vertraten. Eine Liveübertragung wäre die beste Gelegenheit, um unauffällig ein wenig Sand ins Getriebe der gewaltigen Produktionsanlage zu streuen und die Produktion zu verlangsamen, wenn nicht gar zum Stillstand zu bringen… und Valentin ganz allgemein als inkompetent dastehen zu lassen. Ein so offensichtlicher und schwerer Fehler war aller Wahrscheinlichkeit nach genau der Hebel, den Stephanie und Daniel benötigten, um die Kontrolle über die Fabrik aus Valentins Händen zu reißen…, und dann würde Valentin schon sehen, wer den Wolf-Clan wirklich führte.

Die ansässigen Rebellen waren noch immer ein Ärgernis, und man würde mit aller Härte gegen sie vorgehen müssen, bevor die Feierlichkeiten begannen. Aber das sollte kein allzugroßes Problem darstellen. Kassar führte eine recht große Armee von Gläubigen mit sich, die den Söldnern der Wolfs den Rücken stärken sollten. Den Terroristen würde nicht genügend Zeit bleiben, um zu merken, was sie da traf.

Andererseits würde natürlich die Anwesenheit so starker Truppenverbände bedeuten, daß Stephanies sorgfältig geplante Sabotage mit allergrößter Vorsicht durchgeführt werden mußte.

Wenn man sie – oder, was wahrscheinlicher war, Daniel – auf frischer Tat ertappte, dann würden alle Worte der Welt nicht ausreichen, um sich herauszuwinden. Valentin würde die Gelegenheit nutzen, um sie und Daniel zu diskreditieren, und sie mit ziemlicher Sicherheit aus dem Clan verstoßen. Jedenfalls würde Stephanie an seiner Stelle so handeln. Sie blickte auf, und dort stand Daniel und starrte noch immer aus dem falschen Fenster auf das Unwetter draußen. Sie wußte, daß er den Sturm gar nicht sah.

»Komm schon, Daniel. Unser Vater ist tot, und weder du noch ich können daran etwas ändern.«

»Nein! Er ist nicht tot!« brauste Daniel auf, ohne den Blick vom Sturm abzuwenden. »Du hast ihn am Hof gesehen. Sein Körper ist tot, aber die Bastarde von KIs haben ihn repariert.

Vater lebt noch, hilflos gefangen in einem verwesenden Körper. Er hat mich erkannt! Er hat zu mir gesprochen. Wir müssen ihn retten und wieder nach Hause bringen.«

»Was du gesehen hast, war ein Geistkrieger und sonst nichts«, erklärte Stephanie in sorgfältig berechnetem Tonfall.

»Ein toter Körper, der von Servomechanismen zusammengehalten und von Lektronenimplantaten gesteuert wird. Das war nur eine Maschine, die unseren Vater imitiert hat. Ein zusammengesetztes Programm, das Shub wahrscheinlich aus Vaters öffentlichen Auftritten in den Holonachrichten kopiert hat.

Der Mann, den wir kannten, ist tot. Er braucht uns nicht mehr.

Vergiß ihn.«

»Ich kann nicht.« Daniel wandte sich um und blickte Stephanie an, und in seinem Gesicht stand ein Ausdruck, der sie innehalten ließ. Sein normalerweise eher schmollender Mund war zu einem schmalen Strich geworden, und sein Blick war fest und entschlossen. »Du kannst mir nichts ausreden, von dem ich weiß, daß es stimmt. Wenn es auch nur eine winzige Chance gibt, daß Vater noch lebt, muß ich ihn retten. Ich muß es einfach. Ich habe ihn so oft im Stich gelassen, als er noch lebte; und jetzt, wo er tot ist, darf ich ihn nicht noch einmal enttäuschen. Du brauchst mich doch gar nicht hier. Die Sabotage ist dein Plan. Kassar wird sich für dich um das Rebellenproblem kümmern. Er hat Erfahrung in derartigen Dingen. Ich will nicht länger über so etwas nachdenken. Die Rebellen sind mir egal.

Die Fabrik ist mir egal. Zuerst kommen die Wolfs. Immer.«

Stephanie erhob sich aus ihrem Sessel und trat rasch zum Fenster neben ihren jüngeren Bruder. »Ich brauche dich hier, Daniel. Du gibst mir Kraft. Bleib bei mir. Wenigstens bis nach den Feierlichkeiten. Wir können Agenten ausschicken, die unseren Vater suchen und herausfinden, wie es um ihn steht. Leute, die in solchen Dingen Erfahrung besitzen. Auf diese Weise bleibt es wenigstens geheim. Schließlich gibt es eine Menge Leute mit starkem Interesse daran, daß unser Vater da bleibt, wo er ist, und nicht wieder Oberhaupt der Familie wird.«

Stephanie sah bereits die Entscheidung in Daniels Augen, bevor er zögernd nickte. Sie seufzte innerlich vor Erleichterung. Daniel war viel zu wild und unbeherrscht, um alleine loszuziehen. Stephanie brauchte ihn an ihrer Seite, wo sie ihn kontrollieren konnte. Daniel meinte es gut, aber ihm fehlte Stephanies Phantasie und Scharfsinnigkeit. Sie wußte, was für die Familie am besten war, und dazu gehörte nicht, blindlings durch das gesamte Imperium hinter einem Hirngespinst herzujagen. Der liebe Vater war tot, und das war für alle besser so.

Wahrscheinlich hätte sie ihn eines Tages selbst umgebracht. Er hatte ihr im Weg gestanden.

»Wenn ich hierbleiben soll, dann gib mir wenigstens etwas zu tun«, sagte Daniel. »Ich fühle mich sonst überflüssig.«

»Vielleicht habt Ihr Lust, mit meinen Truppen zu arbeiten?« fragte Kardinal Kassar. »Die Kirche hat immer Platz für einen zusätzlichen mutigen Kämpfer.«

Die beiden Geschwister fuhren herum. Daniels Hände verkrampften sich zu Fäusten, weil er und seine Schwester sich hatten überraschen lassen. Stephanie begrüßte den Kardinal mit einem kühlen, gelassenen Nicken. Sie würde ihm auf gar keinen Fall die Befriedigung gönnen, sie zum Erröten zu bringen.

Auch wenn sie nicht sicher war, wieviel er von ihrem Gespräch mitbekommen hatte.

Der Kardinal stand hoch aufgerichtet und mit vorgestrecktem Kinn in der offenen Tür. Er steckte in voller Kampfmontur, selbst hier, in den als sicher geltenden Privatunterkünften der Fabrik. Vielleicht lag es an der allgemeinen Paranoia der Kirche, vielleicht bedeutete es aber auch eine verschleierte Beleidigung der Wolfs, daß er ihnen nicht zutraute, seine Sicherheit zu garantieren. Oder vielleicht, dachte Stephanie, trug er den Kampfanzug auch nur deswegen, weil er darin so stark und soldatisch aussah.

In diesem Fall hatte Kassar zumindest teilweise Erfolg. Das große Kreuzrelief auf der Brust gab sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zu ziehen – doch das schwer gezeichnete Gesicht des Trägers konnte man einfach nicht ignorieren. Halb zerfressen von Säure, sah die vernarbte Hälfte von Kassars Gesichts mehr nach einem Totenschädel als irgend etwas anderem aus; Risse in seinen Wangen gaben sogar den Blick auf die weißen Zähne frei. Mühevoll setzte Stephanie ein höfliches Lächeln auf, aber sie kam ihm keinen Schritt entgegen. Auch Daniel machte keine Anstalten, auf den Besucher zuzugehen. Sollte Kassar doch zu ihnen kommen.

Der Kardinal hatte sich verspätet, aber das hatte Stephanie erwartet. Kassar gehörte zu der Sorte Mensch, die andere grundsätzlich warten ließ, schon allein um zu zeigen, wie bedeutend er war. Er brauchte diese kleinen Siege. Sie hielten ihn aufrecht, erst recht, seit er nach Technos III befohlen worden war. Offiziell war es eine Chance zum Aufstieg. Die Kirche hatte ihn zusammen mit einer kleinen Armee von Gläubigen und einem halben Dutzend Elitekommandos der Jesuiten hierher gesandt, um den Wolfs bei der Vernichtung und Zerschlagung der rebellischen Terroristen zu helfen. Die Kirche von Christus dem Krieger biederte sich normalerweise nicht bei der Aristokratie an, und ganz sicher nicht ausgerechnet bei den Wolfs, aber die Zukunft der Kirche hing wie die eines jeden anderen auch davon ab, ob man Zugang zu den neuen Hyperraumantrieben erhielt. Und wer zuerst da war, der würde einen zwar vorübergehenden, aber nichtsdestotrotz sehr realen Vorteil über all diejenigen erlangen, die den Antrieb noch nicht besaßen. Die Kirche war nicht zu dem geworden, was sie war, indem sie mögliche Vorteile ignoriert hatte. Die Tatsache, daß die Kirche die Wolfs im allgemeinen und Valentin im besonderen zutiefst verachtete, durfte auf keinen Fall im Weg stehen, wenn es darum ging, den anderen politisch um eine Nasenlänge voraus zu sein. Was sein mußte, mußte sein.

Kassar persönlich hegte eine ganz besonders starke Abneigung gegen die Wolfs – trotzdem hatte er sich beinahe um den Auftrag gerissen. Der Krieg auf Technos III war eine willkommene Gelegenheit, seine Talente als Feldherr zu demonstrieren, und das war noch immer die Überholspur für jede Karriere in der Kirche gewesen. Frömmigkeit war gut und schön, aber der Sieg mit den Waffen brachte einem die Beförderung ein. Und obwohl Kassar es kaum vor sich selbst eingestand, mußte er seinen Mut beweisen. Er hatte das unbestimmte Gefühl, sich bei Hofe nicht gerade mit Ruhm und Ehre bekleckert zu haben, als die Furie und der Geistkrieger von Shub aufgetaucht waren. Er hätte etwas unternehmen können, etwas Tapferes, Heroisches, um den Tag zu retten, doch statt dessen hatte er mit offenem Mund herumgestanden wie all die anderen Schwächlinge auch. Die Menschen hatten es gesehen. Sie mußten seine Untätigkeit bemerkt haben, wenn auch niemand den Mut aufbrachte, ihm das ins Gesicht zu sagen. Also war er nach Technos III gekommen, um einen großen Sieg zu erringen, ganz egal, was es kosten würde. Danach würde niemand mehr Zweifel an Kassars Tapferkeit hegen. Nicht einmal er selbst.

Die drei standen sich gegenüber und musterten sich schweigend. Eine ungemütliche Pause entstand, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing und keiner bereit war, den ersten Schritt zu tun. Schließlich trat Stephanie vor und streckte Kassar die Hand entgegen. Der Kardinal trat ebenfalls einen Schritt vor, ergriff die dargebotene Hand und verbeugte sich knapp.

Sein Händedruck war fest, aber kurz. Daniel blieb stehen, wo er war, und nickte nur. Kassar nickte zurück.

»Willkommen auf Technos III, Kardinal«, sagte Stephanie mit freundlicher, aber zurückhaltender Höflichkeit. »Bitte entschuldigt das Wetter, doch wenn Ihr es nicht mögt, dann wartet ein paar Tage, und es wird sich ändern. Das Wetter hier wechselt so oft seine Meinung wie ein Dorfpfarrer zwischen zwei Sünden. Ich vermute, Eure Leute sind ausreichend versorgt?«

»Meine Männer bereiten den ersten Angriff auf die Stellungen der Rebellen vor«, erwiderte Kassar. »Alles andere kann warten. Ihr habt den Terroristen viel zuviel durchgehen lassen, aber ich kann nicht sagen, daß mich das überrascht, wenn man die geringe Stärke Eurer Sicherheitstruppen bedenkt. Warum habt Ihr nicht eine Anzahl Fabrikarbeiter dienstverpflichtet?

Ich kann Euch Waffen und Rüstungen verschaffen, soviel Ihr wollt.«

»Ich denke nicht, Kardinal. Die Arbeiter hier sind allesamt Klone, gezüchtet und entwickelt für Fabrikarbeit und sonst gar nichts. Und einem Klon gibt man doch keine Waffen?«

Kassar zuckte lässig die Schultern, um seinen Fehler zu kaschieren. »Wie Ihr wünscht. Meine Truppen sind mehr als ausreichend, um die Arbeit zu erledigen. Was meint Ihr zu meinem Angebot, Daniel? Soll ich Euch einen Platz bei meinen Truppen verschaffen?«

»Ein Wolf kämpft nicht für andere«, erwiderte Daniel tonlos.

»Wir kämpfen nur für uns selbst. Ohne Ausnahme.«

Erneut entstand eine ungemütlich lange Pause. Jeder der Anwesenden wollte verdammt sein, wenn er derjenige war, der als erster etwas sagte. Die entstandene Spannung brach erst, als Toby der Troubadour und sein Kameramann Flynn durch die offenstehende Tür hereinplatzten. Toby nickte den Anwesenden rasch zu und bedeutete Flynn mit einer Handbewegung, eine Position einzunehmen, von der aus er alle mit der Kamera filmen konnte.

»Guten Morgen, alle zusammen«, sagte er fröhlich. »Ist das nicht ein wunderbar schrecklicher Tag? Ich hoffe, ich störe nicht bei einer wichtigen Besprechung, aber ich benötige wirklich ein paar Meter von Kardinal Kassar, der von seinen Gastgebern begrüßt wird. Das kommt bei den Zuschauern immer gut an, und es liefert eine gute Einführung zu der bevorstehenden Auseinandersetzung mit den Rebellen. Macht Euch keine Gedanken. Ich werde mich kurz fassen und gleich auf den Punkt kommen. Ich bin sicher, jeder der anwesenden Herrschaften hat wichtigere Dinge zu erledigen.«

Daniel musterte Toby mit einem feindseligen Blick. »Ist das wirklich notwendig?«

»Ich fürchte ja«, sagte Stephanie rasch. »Öffentlichkeitsarbeit kann langweilig und entnervend sein, aber ohne geht es nicht.

Die öffentliche Meinung ermöglicht, Dinge durchzusetzen, die man sonst nicht durchsetzen könnte. Die Feierlichkeiten zum Produktionsbeginn des Hyperraumantriebs bedeuten ein wichtiges Ereignis, und ich will eine ausführliche Berichterstattung.

Schließlich wird jeder im Imperium zusehen. Beiß die Zähne zusammen und steh es durch, Daniel. Es dauert ja nicht ewig.«

»Das ist die richtige Einstellung!« lobte Toby. »Kardinal, wenn es Euch nichts ausmacht, könntet Ihr Euch zwischen die beiden Wolfs stellen? Das würde eine schöne Gruppenaufnahme ergeben…«

Kassar funkelte Toby an; dennoch gehorchte er und stellte sich zwischen Stephanie und Daniel. Keiner der drei berührte den anderen auch nur mit dem Ellbogen, obwohl sie hautnah beieinander standen. Toby wieselte geschäftig um die drei herum, rückte hier eine Schulter gerade und hob dort einen Arm in Positur.

»Also schön, Leute«, sagte er schließlich. »Bleibt so, während Flynn die Beleuchtung einstellt, und dann werden wir ein kurzes Interview führen. Nichts Kompliziertes. Ich will lediglich zeigen, wie froh alle über das Eintreffen des Kardinals sind. Wenn es gar nicht anders geht, dann tut wenigstens so, als würdet Ihr lächeln.«

»Ihr wißt sicher, Tobias Shreck«, sagte Kassar kühl, »daß die Kirche zur Zeit eine Inquisition gegen Euren Onkel abhält? Er wird der Anstiftung zum Ungehorsam und der Korruption in zahlreichen Fällen verdächtigt.«

»Damit habe ich nichts zu tun«, erwiderte Toby leichthin.

»Von mir aus könnt Ihr ihn in Ketten legen. Mir ist das gleich.

Ich würde Euch sogar die Ketten liefern. Gebt mir einfach rechtzeitig Bescheid, damit ich mich von ihm lossagen kann.«

»Er ist der Kopf Eurer Familie«, sagte Daniel entsetzt. »Ihr schuldet ihm Loyalität. Besitzt Ihr denn keine Ehre?«

»Natürlich nicht«, entgegnete Toby. »Schließlich bin ich Reporter.«

»Wir wollen selbstverständlich alle Eure Reportagen sehen, bevor sie gesendet werden dürfen«, bemerkte Stephanie. »Damit wir sie auf Vorurteile und Ungenauigkeiten hin überprüfen können.«

»Die Zensoren der Kirche werden das Material ebenfalls überprüfen«, fügte Kassar rasch hinzu. »Wir werden nach Blasphemie und Respektlosigkeit suchen. Ein gewisses Niveau muß schließlich eingehalten werden.«

Toby grinste unverwandt, obwohl seine Wangenmuskeln vor Anstrengung bereits schmerzten. »Aber selbstverständlich.

Was immer Ihr wünscht. Macht Euch keine Gedanken, daß Ihr mir vielleicht Umstände bereiten könntet. Ich bin daran gewöhnt, für Leute zu arbeiten, die mir über die Schulter blicken.«

Toby schob die drei noch ein wenig zurecht, teilweise, um die beste Position für die Kamera herauszufinden, und teilweise, weil ihm einfach danach war und er es ungestraft tun konnte. Er hatte eine Zensur erwartet, aber jetzt war ihm klar, daß es ein hartes Stück Arbeit werden würde, auch nur eine einzige interessante Nachricht von Technos III zu senden. Jede Subtilität und jeder schmutzige Trick aus dem Handbuch für Journalisten. Im Zweifel schleuse das Material hinter ihrem Rücken raus. Sie können nicht zensieren, was sie nicht zu sehen bekommen. Toby hatte einige Hoffnung, daß das Material von Technos III seiner Karriere guttun könnte, und er würde nicht zulassen, daß diese drei halben Portionen diese Hoffnung zunichte machten. An dem Tag, an dem er einen Zensor nicht mehr um den Finger wickeln könnte, würde er den Beruf aufgeben und in die Politik gehen. Dort glaubten sie einfach alles.

Das hier war Tobys erster richtiger Auftrag seit vielen Jahren, in denen er im Büro der Shrecks eingesperrt gewesen war, weil der alte Shreck ihn gebraucht hatte. Die richtige Reportage von hier konnte ihm einen Ruf verschaffen, ihn als Journalisten und Kommentator etablieren. Toby wünschte sich nichts sehnlicher. Ein guter Mann in der Öffentlichkeitsarbeit blieb immer im Hintergrund. Niemand bemerkte je seine Arbeit.

Toby wußte, daß er eine Chance verdient hatte, sein Talent einer breiteren Öffentlichkeit zu zeigen. Natürlich konnte er mit einem Kurzbericht über die eigentliche Feier zur Produktionseröffnung nicht viel anfangen. Die wirklich gute Story befaßte sich mit dem Konflikt auf Technos III. Mit dem Kampf der Truppen der Kirche und des Wolf-Clans gegen die rebellischen Terroristen. Und er, Toby, würde darüber berichten, und weder die Kirche noch die Wolfs würden ihn daran hindern können.

Toby blickte fragend zu seinem Kameramann, und Flynn nickte kurz zum Zeichen, daß er bereit war. Die Kamera auf seiner Schulter beobachtete die drei Würdenträger mit ihrem rötlichen Auge, und Flynn empfing das Bild über sein Komm-Implantat. Er sah alles, was die Kamera auch sah. Daniel, Stephanie und Kassar lächelten gemeinsam in das Objektiv, als wären sie alle schon ewig gute Freunde und warteten jetzt freudig auf das Interview. Wie immer in der Politik traten individuelle Probleme und Streitigkeiten in den Hintergrund, wenn es darum ging, einem gemeinsamen Feind geschlossen gegenüberzutreten.

Hoch im Orbit von Technos III kreiste das Kirchenschiff Göttlicher Atem mit demonstrativer Wachsamkeit weit über den Ausläufern des grauenhaften Wetters am Boden – und doch dösten die meisten Leute an Bord in Abwesenheit des Kardinals und seiner Jesuiten nur träge vor sich hin. Schließlich hatte kaum einer von ihnen etwas zu tun – außer die Sensoren zu beobachten und darauf zu warten, daß die Truppen des Kardinals kurzen Prozeß mit ein paar unzufriedenen Einheimischen machten. Ein einfacher Auftrag. Jedermann wußte, daß der Rebell erst noch geboren werden mußte, der den ausgebildeten Truppen der Gläubigen Widerstand entgegensetzen konnte.

Also endlich einmal ein leichter Dienst, und die Besatzung nutzte die Ruhepause aus. Weshalb sie auch, als das riesige goldene Schiff der Hadenmänner direkt über ihnen aus dem Hyperraum fiel, wie ein Mann auf die Schirme starrten und sich in die Hosen machten vor Schreck. Das gewaltige goldene Schiff hing über ihnen wie ein Hai über einer Elritze. Die Besatzung brach in fieberhafte Aktivitäten aus. Hände flogen über die Kontrollen, Schilde fuhren hoch, die Geschütze wurden geladen, und selbst diejenigen, deren Frömmigkeit nicht ganz so ausgeprägt war, wie sie vielleicht hätte sein sollen, spürten plötzlich ein heißes Bedürfnis, Stoßgebete gen Himmel zu senden.

Das goldene Schiff eröffnete das Feuer, und die Göttlicher Atem schüttelte sich unter der Wucht der Einschläge in ihre Schilde. Das Kirchenschiff erwiderte das Feuer, so rasch es seine eigenen Kanonen ins Ziel bringen konnte, doch das goldene Schiff bewegte sich mit einer für seine Größe unglaublichen Geschwindigkeit. Die Mannschaft der Göttlicher Atem wußte, daß sie hoffnungslos unterlegen war. Sie kämpfte trotzdem weiter, nicht aus Frömmigkeit, sondern weil sie keinen anderen Ausweg wußte. Die Göttlicher Atem konnte nicht in den Hyperraum entkommen, ohne die Schilde herunterzufahren, und im gleichen Augenblick würde das goldene Schiff der Hadenmänner sie in Stücke schießen und aus dem All blasen.

Der Kapitän sah hilflos zu, wie seine Schilde einer nach dem anderen zusammenbrachen. Er rief nach mehr Energie, obwohl er längst wußte, daß er alles einsetzte, was die ächzenden Maschinen des Kirchenschiffs hergaben. Hätte er doch nur einen der neuen Raumschiffsantriebe gehabt, die auf dem Planeten unter ihm produziert wurden, dann hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Die Ironie entging ihm nicht. Und dann, während der Kapitän des Kirchenschiffs noch hektisch über einen Ausweg nachsann, irgendeinen, ganz egal, was, um das Unausweichliche aufzuhalten, verschwand das große goldene Schiff von einem Augenblick zum anderen wieder im Hyperraum.

Der Kapitän blinzelte ein paarmal überrascht, umklammerte das Kruzifix auf seiner Brust und murmelte ein paar Ave Marias, bevor er wieder in seinen Kommandositz zurücksank und der kalte Schweiß in kleinen Bächen über seine Schläfen rann.

Sein Schiff hatte überlebt, aber er wollte verdammt sein, wenn er den Grund dafür wußte. Als er schließlich die Fassung halbwegs zurückgewonnen hatte, beendete er zunächst die Alarmstufe Rot, ließ sich einen vollständigen Schadensbericht geben und befahl eine sorgfältige Abtastung des umgebenden Raums an, nur für den Fall. Dann überlegte der Kapitän, was, zur Hölle, er dem Kardinal unten auf dem Planeten sagen würde. Man mußte ihn informieren, auch wenn Kassar wahrscheinlich ziemlich viel herumschreien würde. Der Kapitän runzelte die Stirn, während er über eine vernünftig klingende Entschuldigung nachdachte, die ihn nicht auf der Stelle vor ein Kriegsgericht bringen oder zu seiner sofortigen Exekution führen würde. Die Tatsache blieb bestehen, daß er und seine Mannschaft mit heruntergelassenen Hosen erwischt worden waren, auch wenn es sich um ein verdammtes Schiff der Hadenmänner gehandelt hatte. Nicht viele Männer hatten jemals eines der goldenen Schiffe in Aktion gesehen und lange genug überlebt, um von ihrer Begegnung zu berichten. Der Kapitän und seine Leute arbeiteten angestrengt an ihren zahlreichen Entschuldigungen, Ausflüchten und Erklärungen – weshalb auch keiner von ihnen die stark abgeschirmte Rettungskapsel entdeckte, die das goldene Schiff unmittelbar vor seinem Verschwinden ausgestoßen hatte.

Die Kapsel raste durch dichte Wolken und heulende Winde der Oberfläche entgegen, und die Gewalt des Sturmes ließ sie hin und her taumeln. In der Kapsel klammerten sich Jakob Ohnesorg, der legendäre Rebell, Ruby Reise, die ehemalige Kopfgeldjägerin, und Alexander Sturm, der Held im Ruhestand, verzweifelt an ihren Sicherheitsgurten fest und warteten sehnsüchtig darauf, daß der Absturz in die Hölle ein Ende nahm.

Die Außenhülle der Rettungskapsel ächzte und stöhnte unter der Belastung, die sie zu ertragen hatte. Einer nach dem anderen fielen die Sensoren aus, bis die Besatzung praktisch blind der Oberfläche entgegentaumelte. Die Netze dämpften oder absorbierten die meisten Stöße und Erschütterungen, wahrend die Kapsel immer tiefer in die turbulente Atmosphäre von Technos III eindrang, doch die drei Rebellen wurden nichtsdestotrotz recht heftig durchgeschüttelt.

Sturm biß de Zähne zusammen und gab sich alle Mühe, seine letzte Mahlzeit bei sich zu behalten. Ohnesorg ignorierte das Rütteln einfach und konzentrierte sich auf sein weiteres Vorgehen, wenn die Kapsel endlich gelandet war. Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß er wieder bei einer bewaffneten Rebellion mitmachte, und obwohl er sich auf seine Aufgabe freute, machte Jakob sich auch Sorgen. Es war schon sehr lange her, und er war längst nicht mehr so fit wie früher. Aber das würde ihn nicht daran hindern, alles für seine Mission zu geben. Und wenn es am Ende in die Hose gehen sollte – gab es einen besseren Weg für einen Berufsrebellen, als mit Pistole und Schwert in der Hand und einem Haufen getöteter Feinde zu seinen Füßen zu sterben? Ohnesorg schniefte säuerlich. Genaugenommen fielen ihm mindestens ein Dutzend Wege für einen besseren Abgang ein (von denen die meisten einen guten Tropfen und eine verdorbene Frau mit einschlossen), doch er bezweifelte, daß er dazu Gelegenheit haben würde. Rebellen starben eher selten im Bett.

Neben ihm lachte Ruby Reise laut, als sie in ihrem Netz hin und her geworfen wurde. Sie genoß anscheinend jede Sekunde des langen Abstiegs. Ohnesorg lächelte sie an. Eine Frau wie Ruby mußte man einfach lieben. Er überprüfte einmal mehr die Sensoren, aber sie funktionierten noch immer nicht. Der kreischende Sturm hatte die Sensorbündel der Kapsel anscheinend abgerissen.

Dann erklang der rauhe, durchdringende Ton des Alarms und meldete, daß die Landung kurz bevorstand. Ohnesorg wappnete sich innerlich. Entweder befanden sie sich dicht über der Oberfläche, oder sie würden gegen einen Berg krachen. Ruby jauchzte aufgeregt. Sturm hatte die Augen zugekniffen – als würde das einen Unterschied machen. Ohnesorg seufzte nicht zum ersten Mal und versuchte sich zu erinnern, ob es auf Technos III Berge gab. Er war nicht sicher.

Die Rettungskapsel verzögerte mit Maximalwerten, als die Maschinen ihre letzte Energie für eine weiche Landung einsetzten. Die drei Insassen wurden mit Macht in ihre Liegen gepreßt und lauschten hilflos auf die Geräusche der unter höchster Belastung knackenden Hülle. Die Beleuchtung verlosch und wich dem trüben Rot der Notlampen. Und dann krachte die Kapsel auf die metallene Oberfläche von Technos III, riß einen tiefen Graben durch den verstreuten Schrott und Abfall und kam schließlich an einer massiven stählernen Strebe zu einem unerwarteten Halt. Die Kapsel schwankte noch einmal hin und her und lag still. Der Himmel war düster und unheilverkündend, der Wind wurde von Minute zu Minute stärker, und der erste Schnee begann zu fallen.

Im Innern der Kapsel hatte Alexander Sturm die Augen noch immer fest geschlossen, während er sich daran zu erinnern versuchte, wie man atmete. Ohnesorg lag zusammengesunken auf seiner Liege und dachte nicht zum ersten Mal, daß er langsam ein wenig zu alt für diese Dinge wurde. Ruby Reise wischte sich mit der Hand über die blutige Nase und lachte glücklich.

»Das war großartig. Noch mal!«

»Nein, lieber nicht«, stöhnte Sturm, die Augen noch immer geschlossen. »Ich hatte schon mehr Spaß vor einem Erschießungskommando. Ich schlage vor, das nächste Mal benutzen wir eine Kapsel, bei der das Haltbarkeitsdatum noch nicht abgelaufen ist. O Gott, ich fühle mich entsetzlich. Kann mir jemand sagen, ob wir sicher gelandet sind? Ich werde mich keinen Zentimeter vom Fleck rühren, bis ich nicht weiß, daß der Sturz zu Ende ist. Und ich will es schriftlich. Mit Zeugen.«

»Halt die Klappe, Alex«, sagte Ohnesorg leichthin, »wir sind heil gelandet, und das ist alles, was ich von einer Landung erwarte. Und die Landung war gar nicht so schlecht für eine Rettungskapsel, die unbenutzt und ohne Wartung seit Jahrzehnten in einem Hadenmann-Schiff herumgestanden hat, oder?«

»Hört, hört!« entgegnete Sturm. »Ich wußte doch, daß ich einen triftigen Grund hatte, mich aus dem Rebellengeschäft zurückzuziehen.«

»Du sollst die Klappe halten, Alex!« wiederholte Ohnesorg.

»Ruby, die Sensoren sind allesamt ausgefallen. Öffne doch bitte die Schleuse, und sieh nach, was uns draußen erwartet.«

Ruby schnallte sich los, salutierte zackig vor Ohnesorg und stapfte über den schiefen Boden zu der einzigen Schleuse. Ohnesorg befreite sich langsam aus seinen Gurten und zuckte mehrmals zusammen, als alte und neue Prellungen sich meldeten. Dann ging er zu Sturm, um seinen Freund davon zu überzeugen, daß er jetzt die Augen öffnen konnte. Ruby brach die Versiegelung der Schleuse und stieß die Tür nach draußen. Das Metall widerstand ihren Bemühungen für einige Sekunden, bevor es nachgab. Ein Schwall eisiger Luft und wirbelnden Schnees fuhr in die Kammer, zusammen mit ausreichend Licht, um die düstere Notbeleuchtung noch düsterer wirken zu lassen.

Sturm öffnete endlich die Augen.

»Oh, wunderbar«, sagte er. »Wir sind mitten in einer Geburtstagstorte gelandet.«

»Halt die Klappe, Alex. Ruby, wie sieht’s draußen aus?«

»Kalt«, erwiderte Ruby fröhlich. »Und es schneit heftig genug, um eine ganze Armee von Schneemännern zu bauen. Was ich persönlich gar nicht einmal so schlecht fände. Nirgendwo ein Anzeichen von einem Empfangskomitee.«

Ohnesorg legte die Stirn in Falten. »Nach den wenigen noch funktionierenden Instrumenten zu urteilen, sind wir an der richtigen Stelle gelandet, mehr oder weniger jedenfalls. Zweifellos werden unsere Kontaktleute bald hier sein. Sie müssen unsere Landung gesehen haben. Beeilung, Alex, schwing das Tanzbein. Wir haben eine Revolution zu organisieren.«

»Mir hat die Arbeit vor Ort nie sonderlich gefallen«, murrte Sturm und bewegte sich ächzend in Richtung Schleuse. »Verdeckte Operationen sind eine Angelegenheit für jüngere Leute.

Üblicherweise jüngere Leute, die man nicht zu sehr vermißt, wenn sie auffliegen.«

»Heul nicht gleich los«, sagte Ohnesorg und schob Sturm halb durch die Schleuse. »Man könnte glatt meinen, du wärst nicht glücklich darüber, hier zu sein und für Frieden und Freiheit zu kämpfen.«

»Damit hätte man verdammt recht«, erwiderte Sturm und verstummte, als die Kälte ihn mit voller Wucht traf.

Die drei Rebellen suchten im Windschatten der Rettungskapsel Zuflucht vor dem Orkan. Der Boden verschwand bereits unter einer dicken Schneeschicht, und der Sturm wurde von Minute zu Minute stärker. Sie drehten die Heizelemente ihrer Anzüge auf maximale Leistung und drängten sich eng aneinander. Die Kälte war bitter genug, um ihnen die Luft zu rauben.

Ihr Atem kondensierte schwer vor ihren Gesichtern. Es schneite so heftig, daß der Himmel nicht mehr zu sehen war. Angeblich war hier erst Mittag, doch es gab kaum genug Licht, um die Hand vor Augen zu sehen. Ohne sorg spürte, wie Sturm neben ihm vor Kälte zitterte, und er begann sich Sorgen zu machen. Sturms alte Knochen würden diese Temperaturen nicht lange aushalten. Ohnesorg machte das Klima nicht so sehr zu schaffen, aber schließlich war er auch im Labyrinth des Wahnsinns gewesen.

»Unterbrich mich, wenn ich etwas Dummes sage«, begann Sturm, »aber warum können wir nicht im Innern der Kapsel warten? Es ist viel wärmer als hier.«

»Die Maschinen der Kapsel sind ausgebrannt«, erwiderte Ohnesorg. »Die Heizer besitzen keine Energie mehr, genau wie alles andere an Bord. Und es besteht die nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, daß die Speicher giftige Gase freisetzen. Wenn du nicht mehr an die Kälte denken willst, dann halte doch nach unseren Verbindungsleuten Ausschau. Das wird dich ablenken. In diesem Orkan könnten sie direkt an uns vorbeilaufen, ohne uns zu sehen oder zu hören. Wenn sie nicht bald auftauchen, werden wir die giftigen Gase riskieren müssen. Besser ersticken als erfrieren, und du hältst die Kälte nicht so lange aus.«

»Ich halte jede Kälte aus, die du aushältst, du alter Furz«, erwiderte Sturm ärgerlich. »Ich bin nur sechs Jahre älter als du, wenn ich dich daran erinnern darf.«

»Sicher, Alex. Und jetzt halt die Klappe und spar dir deine Kraft.«

»Du hast schon immer gerne den Chef gespielt.«

»Wie weit ist es bis zum Stützpunkt der Rebellen?« erkundigte sich Ruby taktvoll. Jedenfalls so taktvoll, wie sie konnte.

»Das wissen wir nicht«, antwortete Sturm. »Sie wollten es uns nicht verraten. Sie gaben uns die Landekoordinaten und sagten, man würde mit uns in Kontakt treten, das ist alles. Ich hasse es, blindlings in derartige Situationen zu geraten. Ich hoffe nur, diese paranoiden Bastarde finden uns vor den Imperialen Spähern. Man hat uns ein Ablenkungsmanöver zugesagt, um die Truppen an einem anderen Ort zu binden, aber ich traue der Sache von Minute zu Minute weniger. Ich sollte vielleicht auch noch darauf hinweisen, daß ich meine Extremitäten bald nicht mehr spüre.«

»Mach dir keine Gedanken deswegen«, beruhigte ihn Ohnesorg. »In deinem Alter taugen Extremitäten sowieso nicht mehr besonders viel.«

»Du kannst einen ganz schön aufmuntern, weißt du das?« erwiderte Sturm.

Sie verstummten für eine Weile, und die kalte Luft brannte in ihren Lungen. Die drei Rebellen drängten sich noch dichter zusammen und spähten angestrengt in das dichte Schneegestöber. Dunkle metallene Auswüchse schimmerten durch den Sturm, aber nirgendwo ein Zeichen von Leben. Ohnesorg schlug seine Handschuhe gegeneinander und blickte sehnsüchtig auf Rubys dicke Pelze, die sie über der Lederkleidung trug.

Er hatte immer gedacht, sie würde nur darauf bestehen, dieses Zeug zu tragen, um ihr barbarisches Äußeres zu bewahren, aber vielleicht hatte sie bei den Lagebesprechungen einfach nur besser zugehört als er. Es hätte ihn nicht überrascht. Hinter ihrem sorgfältig barbarischen Auftreten verbarg sich ein messerscharfer Verstand. Ohnesorg hustete und nieste heftig. Irgend etwas in der Luft reizte seine Lungen. Selbst wenn man die bittere Kälte berücksichtigte, war die Luft doch um einiges dicker als gewöhnlich, und sie roch, als hätte jemand anderes sie schon einmal geatmet. Die Einheimischen hatten ihm versichert, daß sie atembar sei – wenn man sich erst daran gewöhnt hätte. In Ohnesorg regte sich der Verdacht, daß einem gar nichts anderes übrigblieb. Sie hatten schließlich das gleiche auch über das Wetter gesagt. Jakob Ohnesorg war nicht so einfach zu überzeugen. Sie hatten behauptet, der Blizzard würde eine gute Deckung für die Landung abgeben. Jakob fragte sich, ob man ihm erlauben würde, die Leute wegen krimineller Untertreibung zu erschießen.

Ohnesorg blickte Sturm von der Seite her an, und seine Bedenken wuchsen. Das Gesicht des Mannes zeigte keine Spur mehr von Farbe, und er zitterte wie Espenlaub. Jakob gab Ruby einen Wink. Sie zog ihre Pelze aus und wickelte Sturm darin ein. Es schien ein wenig zu helfen. Ruby würde den Unterschied gar nicht bemerken. Sie war genau wie Jakob durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen. Ohnesorg runzelte die Stirn. Er hatte Sturm als alten Mann gesehen, als jemanden, der froh war, sich aus dem Geschäft zurückgezogen zu haben, und jetzt gerne in einer Bibliothek an einem Kaminfeuer saß, bewundernde Enkel zu den Füßen, die seinen Geschichten lauschten – aber Sturm war wirklich kaum älter als Jakob. Ohnesorg erinnerte sich noch gut an den lockenköpfigen jungen Kämpfer, der immer gelacht hatte und bereit gewesen war, sich von einem Augenblick zum anderen in das dichteste Getümmel zu stürzen. Doch das war lange her. Als Jakob bewußt wurde, wie lange, erschrak er. Sturm mußte inzwischen Mitte Fünfzig sein, und die langen harten Jahre hatten ihre Spuren an ihm hinterlassen. Vielleicht hätte er Sturm lieber doch nicht mitnehmen sollen. Sicher, Alex hatte sich freiwillig gemeldet…

Andererseits war er nie imstande gewesen, Jakob etwas abzuschlagen, der selbst nicht mehr der Jüngste war, auch wenn man berücksichtigte, daß er durch das Labyrinth gegangen und von ihm verändert worden war. Jacobs Stirnrunzeln vertiefte sich noch. Er hatte sich nie als alten Mann gesehen, trotz allem, was er durchgemacht hatte, also hatte er vermutet, daß Sturm ähnlich dachte. Aber sie waren beide keine jungen Leute mehr, verdammt! Ruby trat plötzlich aus dem Windschatten der Kapsel und starrte in den Orkan hinaus.

»Kopf hoch, Leute. Wir kriegen Gesellschaft.«

»Kannst du sie sehen?« erkundigte sich Jakob und trat neben Ruby.

»Nein. Aber ich kann sie spüren. Sie kommen aus dieser Richtung.«

Ohnesorg konzentrierte sich, doch er fühlte überhaupt nichts.

Das Labyrinth hatte ihnen allen verschiedene Fähigkeiten verliehen. Die ersten dunklen Gestalten schälten sich aus dem Schnee, und dann zwang sich auch Sturm, nach vorn zu treten und sich zu seinen Freunden zu gesellen. Es war eine Frage des Stolzes.

Schließlich standen zehn Einheimische vor den drei Rebellen, alle in dicke Pelze gehüllt, die Gesichter hinter stilisierten Tiermasken aus Leder und Metall verborgen, von denen Ohnesorg kein einziges erkannte. Nur, daß alle verdammt häßlich aussahen. Einer der Männer trat vor, musterte die drei und zog dann seine Maske ab. Ein grimmiges, bärtiges Gesicht kam zum Vorschein. Es war ein verhärmtes, hartes Gesicht, von mehreren langen, häßlichen Narben entstellt, das keine Rückschlüsse auf das Alter seines Besitzers zuließ. Die Augen in diesem Gesicht waren dunkel und sehr, sehr kalt.

»Wo steckt der Rest von Euch?« sagte der Mann rauh und blickte Ruby an.

»Wir sind alle«, erwiderte Ohnesorg gelassen. »Ihr legt uns die Situation vor Ort dar, und wenn Ihr uns überzeugen könnt, dann werden wir mit dem Untergrund in Verbindung treten, und man wird Euch Freiwillige, Waffen und Nachschub senden. Versteht mich recht – eine Menge Leute bitten uns um Hilfe, und unsere Ressourcen sind beschränkt. Wir müssen sicherstellen, daß sie dorthin gehen, wo sie am dringendsten benötigt werden. Mein Name ist Jakob Ohnesorg. Dies hier ist Ruby Reise, und das ist Alexander Sturm. Macht besser einen Bogen um sie, die beiden sind bissig. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Ihr seid Jakob Ohnesorg? « fragte der Einheimische ungläubig. »Ich dachte…«

»Ja«, unterbrach Ohnesorg bedauernd. »Das denken die meisten. Versucht einfach, mein Alter als Erfahrung zu betrachten.

Gibt es vielleicht einen anderen Ort, an dem wir unsere Konversation fortsetzen könnten? Irgendeinen Unterschlupf, wo die Temperaturen ein wenig über dem absoluten Nullpunkt liegen?«

»Selbstverständlich. Mein Name ist Langer John. Ich habe hier das Sagen. Folgt mir.«

Der Mann zog die Maske wieder vors Gesicht, wandte sich um und stapfte ohne einen weiteren Blick nach hinten los. Die anderen schlossen sich genauso schweigsam an, wie sie gekommen waren. Ohnesorg packte Sturms Arm und zog ihn hinterher. Ruby hakte sich auf der anderen Seite bei Alexander ein. Die drei stolperten durch den Blizzard und beeilten sich nach Kräften, den Langen John und seine Männer einzuholen.

Die Rettungskapsel verschwand rasch hinter einer Wand aus Schnee, und bald hatten die Neuankömmlinge jede Orientierung verloren. Wohin sie auch blickten, überall nur Schnee, Schnee und nochmals Schnee. Und die dunklen Gestalten, die vor ihnen her trotteten. Die Zeit verging, und die bittere Kälte des noch immer an Wucht zunehmenden Windes schnitt wie mit Messern an ihren Gliedern. Dann verschwanden die dunklen Gestalten plötzlich vor ihren Augen, eine nach der anderen.

Der letzte der Einheimischen wandte sich um und winkte sie heran. Er schob seine Maske zur Seite, und das Gesicht des Langen John kam erneut zum Vorschein.

»Wir sind da. Willkommen im Vorhof der Hölle.«

Der Lange John deutete nach unten, trat einen Schritt vor und stieg in einen Spalt im Schnee hinunter, den Ohnesorg in dem heftigen Schneegestöber kaum sehen konnte. Jakob folgte ihm vorsichtig und fand sich unvermittelt am Rand eines Grabens, vielleicht zwei Meter breit und tiefer, als er von seiner Position aus sehen konnte. Dann erspähte er Stufen, die auf dieser Seite der Wand nach unten führten, und er folgte dem Langen John nach unten. Sturm kam als nächster, langsam und vorsichtig, und Ruby bildete den Schluß. Der Graben war mehr als fünf Meter tief und am Boden bereits bis zu den Knöcheln mit Schnee und Matsch bedeckt. Der Lange John wartete auf die drei und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, ihm in einen der zahlreichen Tunnel zu folgen, die in die gegenüberliegende Wand führten.

Der Tunnel war nur spärlich erleuchtet und kaum breit genug, daß zwei Männer nebeneinander gehen konnten. Ohnesorg mußte den Kopf einziehen, um sich nicht an der Decke zu stoßen. Sie bestand wie die Wände aus Metall, das an einigen Stellen poliert war, und Jakob kam zu Bewußtsein, daß er außer Metall noch nichts auf diesem Planeten gesehen hatte. Außer Schnee natürlich. Er konnte Ruby und Sturm hinter sich hören und warf einen Blick zurück. Alexander schien sich recht gut zu halten. Es war bereits merklich wärmer im Tunnel, und die Wärme nahm mit jedem Meter zu. Schließlich kamen sie in einer vielleicht acht mal zehn Meter großen stählernen Kaverne hervor.

Die Höhle war aus zahlreichen Schichten von zusammengepreßtem Metallschrott herausgeschnitten worden, der anscheinend die gesamte Oberfläche des Planeten bedeckte. Man hatte sich nicht die Mühe gemacht, das zu verbergen. Es gab keinerlei Mobiliar, und das einzige Licht stammte von vereinzelten Kerzen in Marmeladengläsern. In einem Kohlenbecken in der Mitte der Kaverne glühte ein wärmendes Feuer, und Sturm ging mit ausgestreckten Händen geradewegs darauf zu. Ohnesorg und Ruby Reise gesellten sich zu ihm, allerdings nicht ganz so eilig. Schließlich hatten sie ihren Stolz. Die ganze Zeit über hielten sie eine Hand unauffällig dicht in der Nähe ihrer verborgenen Waffen. Ohnesorg hatte nicht so lange überlebt, indem er jedem gleich vertraute, der zufällig oder nicht an einem Versammlungsplatz aufgetaucht war. Er hätte auf einem Paßwort bestehen sollen, dachte er. Aber die Zeit hatte nicht gereicht. Ohnesorg liebte Paßwörter. Sie gaben der Sache immer so etwas Dramatisches.

Der Lange John schälte sich aus mehreren Lagen von Pelzen, und ein schlanker Mann mit langem, dunklem Haar, festem Blick und einem schmalen Mund kam zum Vorschein. Neben ihm stand eine weitere der Gestalten aus dem Schnee und zog sich aus. Es war eine kleine stämmige Frau mit einer dichten, zu einem Knoten gebundenen Mähne auf dem Kopf und einem blassen runden Gesicht. Sie blitzte die drei Neuankömmlinge mit breitem Grinsen an und nickte ihnen freundlich zu. Die Frau war wie der Lange John von der Zeit und dem harten Leben gezeichnet. Ihr Alter war genau wie das des Langen John unmöglich zu schätzen.

»Ich bin Halsabschneider-Marie. Laßt Euch nicht vom Langen John einschüchtern. Wenn Ihr ihn erst ein wenig näher kennt, dann ist er anhänglich wie Hämorrhoiden. Wir beide sprechen für die anderen. Ihr werdet sie später treffen. Ihr seid uns willkommen, aber ich muß schon sagen – Ihr seid nicht gerade das, was wir uns erhofft hatten. Wir benötigen Waffen, Vorräte, Verstärkungen, und das in rauhen Mengen.«

»Jedenfalls nicht zwei alte Männer und eine wilde Barbarin«, sagte der Lange John.

Ohnesorg zuckte gelassen die Schultern. »Wir sind mehr, als das Auge vielleicht vermutet. Und wenn Ihr uns von der strategischen Bedeutsamkeit Eurer Bedürfnisse überzeugen könnt, dann werdet Ihr alles erhalten, was Ihr benötigt und worauf Ihr hofft. Also klärt uns auf. Erzählt uns, was auf Technos III vorgeht. Euer erster Kontakt schien vielversprechend, aber die Einzelheiten kamen ein wenig zu kurz.«

»Ihr seid in Ordnung«, sagte Halsabschneider-Marie. »Kurz angebunden und direkt. Wie ich. Wir kämpfen einen Grabenkrieg mit den Imperialen Truppen. Im Zentrum von allem steht die Fabrik, die in Kürze die Massenfertigung des neuen Hyperraumantriebs aufnehmen wird. Rings um die Fabrik hat man ein System von Gräben und Tunnels errichtet. Das Imperium kontrolliert die inneren Gräben, und wir kontrollieren die äußeren. Die meiste Zeit verbringen wir damit, um die Gräben in der Mitte zu kämpfen. Wir sind vielleicht noch fünfzehntausend Mann. Wir waren viel mehr, doch die Jahre haben unsere Reihen ausgedünnt.

Wir sind alles, was von den ursprünglichen Kolonisten von Technos III noch übrig ist. Unsere Vorfahren waren zwangsverpflichtete Arbeiter, die die Kosten ihres Transports abarbeiteten, indem sie den Planeten terraformierten und die Industrie aufzubauen halfen. Theoretisch gehörte Technos III ihnen, sobald die Schulden beglichen waren. Aber irgendwie wurden die Schulden mit jeder Generation immer mehr statt weniger.

Die ursprüngliche Gesellschaft ging bankrott. Andere kamen und übernahmen die Anlagen. Auch sie betrachteten den Planeten als nichts weiter als ein gutes Geschäft, während sie ihn ausbeuteten. Gesellschaften kamen und gingen, aber wir blieben. Wir mußten bleiben. Man hatte unsere Vorfahren genetisch verändert, damit sie auf dieser Welt überleben konnten.

Terraformieren allein hätte nicht ausgereicht. Wenn Ihr lange genug hier bleibt, wird der Planet Euch nach und nach töten.

Und wir können diese Welt nicht verlassen, ohne daß unsere Körperchemie grundlegend verändert wird…, was man uns immer verweigert hat. Offiziell, weil es zu teuer ist. Aber wo sonst würde man so viele nützliche gefangene Arbeiter finden?

Jede neue Gesellschaft war schlimmer als die vorhergehende.

Und sie alle ließen ihre giftigen Hinterlassenschaften zurück.

Zerstörten das Land. Die gesamte Oberfläche verschwand nach und nach unter den Ruinen stillgelegter Fabriken und anderem technischen Müll. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Die Feldglöcks waren eine Clique von Bastarden, aber die Wolfs sind noch schlimmer. Sie geben einen verdammten Dreck auf diesen Planeten. Sie interessieren sich für nichts anderes als ihre kostbare Fabrik. Den ganzen Rest lassen sie verkommen und verrotten. Wir haben eine Welt geerbt, die von kilometerlangen verlassenen Produktionsstraßen, stillgelegten Bauhöfen und stillgelegten Erzgruben übersät ist. Die Wolfs haben den Planeten genau wie die Feldglöcks nur aus diesem einen Grund ausgewählt: weil hier so ein schreckliches Chaos herrscht. Sie können machen, was sie wollen, und niemand schert sich einen Dreck darum. Wer soll sich schon auf einer Welt wie Technos III um Dinge wie Umweltverschmutzung Gedanken machen?

Technos III ist so gründlich verseucht, daß nur Menschen wie wir, die hier geboren und an die Bedingungen genetisch angepaßt wurden, überleben können. Und wir sind für niemanden wichtig. Niemand schert sich um uns. Am Anfang waren wir nur lästig. Ein Ärgernis. Und jetzt sind wir rebellische Terroristen. Das Leben dieser Welt wurde in den Untergrund getrieben. Wir überleben, aber nur, weil wir zusammenhalten. Wir ernähren uns von der verbliebenen Flora und Fauna, und sie ernährt sich von uns, wenn wir nicht aufpassen oder zu langsam sind. Aber allmählich läuft uns die Zeit davon.

Wenn die Wolfs ihre Fabrik erst einmal fertiggestellt und in Betrieb genommen haben, dann können sie sich ganze Armeen von Söldnern leisten, um uns zurückzudrängen und noch mehr Fabriken zu errichten. Und wenn sie erst so weit gekommen sind, dann machen sie nicht eher halt, bis wir ausgerottet sind.

Wir müssen verhindern, daß diese Fabrik den Betrieb aufnimmt. Es ist unsere einzige Hoffnung.«

»Klingt jedenfalls logisch«, sagte Ohnesorg rasch. »Dieses Vorgehen ist heutzutage zu einer bedauerlichen Gewohnheit im gesamten Imperium geworden, obwohl dieser Fall vielleicht ein wenig extremer ist als die meisten. Erzählt mir etwas über das Wetter. Nach meinen Informationen soll es recht ungewöhnlich sein.«

»So kann man es auch nennen«, sagte der Lange John. »Seit die Kyberratten vor inzwischen mehr als zweihundert Jahren die Wettersatelliten manipuliert haben, dauern die Jahreszeiten exakt zwei Tage. Die verschiedenen Besitzer von Technos III versuchen seit Jahrzehnten, die Satelliten zu reparieren, aber bisher hatten sie kein Glück. Der größte Teil des eingeborenen Lebens konnte sich nicht anpassen und ist ausgestorben. Das wenige, das überlebte, ist extrem hart und nicht weniger exzentrisch. Im Winter fällt alles mit einer Spur von Vernunft in Tiefschlaf. Im Frühling wacht alles mit explosiver Energie auf und pflanzt sich fort, Leben, Aufzucht und Revierkämpfe finden im Sommer statt. Im Herbst schließlich fressen sich alle rund und bauen Nester tief unter der Oberfläche, wo sie vor den Eisstürmen und Orkanen des Winters sicher sind. Im Winter fällt alles in Schlaf, und im nächsten Frühjahr beginnt der Kreislauf wieder von vorn. Das Leben hier hat keine Chance, wenn es nicht anpassungsfähig ist. Und es hat seit Jahrhunderten Übung darin.

Das ist Technos III, auf einen Nenner gebracht. Der perfekte Urlaubsort. Bringt die Kinder mit. Natürlich kümmert sich der Krieg einen Dreck um derlei Nebensächlichkeiten wie die Jahreszeiten. Er geht einen um den anderen Tag weiter, ganz gleich, wie das Wetter draußen gerade ist. Ihr seid zwischen Herbst und Winter eingetroffen; das kommt einer ruhigen Zeit am nächsten. Unsere Leute nehmen genauso wie die Söldner der Wolfs die Gelegenheit wahr, um Atem zu schöpfen, Rache zu planen und die Toten zu begraben. Aber glaubt nur nicht, Ihr könntet Euch entspannen. Ihr habt vielleicht zwei Stunden, bevor das Töten weitergeht. Also willkommen in der Hölle, meine werten Herren und verehrte Kopfgeldjägerin. Vielleicht können wir jetzt zu den wichtigen Fragen übergehen? Zum Beispiel, wann kommt der Rest von Euch? Wie viele Männer könnt Ihr uns schicken? Wie steht es mit Waffen?«

Sturm und Ruby Reise blickten Ohnesorg an. Jakob seufzte und begegnete dem Blick des einheimischen Rebellen so gelassen, wie er nur konnte. »Ich fürchte, es gibt keine Armee. Noch nicht jedenfalls. Der Untergrund versammelt auf Hunderten von Welten Freiwillige für die bevorstehende Revolution, aber das ist ein langwieriger Prozeß. Unsere ausgebildeten Männer sind über das gesamte Imperium verteilt, wo sie das meiste ausrichten können. Im Augenblick sind wir drei alles, was Ihr bekommt.«

»Ich glaube, ich höre nicht recht«, sagte der Lange John. Seine Stimme zitterte vor mühsam unterdrückter Wut. »Man hat uns kampferfahrene Soldaten versprochen, angeführt von dem legendären Berufsrebellen Jakob Ohnesorg. Und was schickt man uns statt dessen? Zwei alte Männer und eine professionelle Meuchelmörderin. Nennt mir einen einzigen guten Grund, warum ich Euch nicht auf der Stelle in die Kälte hinauswerfen soll, um zu erfrieren!«

Ohnesorg riß dem Langen John die Waffe aus der Hand, packte ihn mit der anderen am Kragen und hob ihn scheinbar mühelos von den Füßen. Dann hielt er ihm den Disruptor unters Kinn. Die Augen des Langen John drohten aus den Höhlen zu quellen, als er mit den Beinen vergeblich in der Luft zappelte. Bevor die herumstehenden Rebellen Zeit hatten zu reagieren, stellte Ohnesorg ihn wieder auf den Boden und gab ihm die Waffe zurück. Der Anführer nahm sie in einer automatischen Bewegung entgegen und blinzelte verwirrt. Die Rebellen warfen sich gegenseitig unsichere Blicke zu. Halsabschneider-Marie grinste breit. Ruby schniefte verächtlich.

»Die Schau ist zu Ende.«

Der Lange John gewann die Fassung zurück und nickte Ohnesorg mit einer knappen Geste zu. »Nicht schlecht für einen alten Mann.«

»Wir sind mehr, als der Augenschein vermuten läßt«, wiederholte Sturm mit sanfter Stimme Jakobs Worte.

»Das solltet Ihr besser auch«, meldete sich Halsabschneider-Marie zu Wort. »Nun gut. Wenn Ihr alles seid, was wir bekommen, dann müssen wir das Beste daraus machen. Kommt mit mir, und ich stelle Euch einigen unserer Strategen vor. Der Lumpen-Tom und die Gespenster-Alice werden sicher einige Ideen haben. Die beiden haben immer Ideen.«

»Interessante Namen benutzt Ihr hier«, sagte Sturm. »Ist das Konzept gewöhnlicher Familiennamen noch nicht bis hierher durchgedrungen?«

»Unsere Vorfahren waren eigens gezüchtete Arbeiter«, erwiderte der Lange John. »Sklaven ohne jeden Namen. Sie besaßen nur Nummern. Wir sind frei, also wählen wir unsere Namen selbst oder nehmen die an, die andere uns geben. Familiennamen sind etwas für Leute mit Familien und einer Zukunft.

Wir leben von einem Tag auf den anderen, und wir haben niemanden außer uns selbst. Auf Technos III gibt es keinen Platz für Luxus.«

In einem kleinen Turnraum innerhalb des großen Wohnkomplexes, der der Fabrik angeschlossen war, exerzierte Michael Wolf, der widerstrebende Ehemann Stephanies, am Barren.

Schweiß tropfte von seinen schwellenden Muskeln, während er sich durch die anstrengende Übung arbeitete, die seine Lektronen empfohlen hatten. Er grunzte und ächzte bei jeder Bewegung, die Augen zusammengepreßt, das Gesicht in einer Grimasse der Konzentration verzogen. Michael hatte seine Muskeln in einem Körperladen auf Golgatha gekauft, und normalerweise suchte er den Laden zu einer Überholung auf, wenn sie zu erschlaffen drohten – aber hier draußen in der Wildnis dieses Hinterweltplaneten, weitab jeder Zivilisation, hatte er seine Muskeln auf die harte Tour zu erhalten, ob es ihm paßte oder nicht. Michael haßte jede Minute seines Trainings. Es erinnerte viel zu sehr an harte Arbeit, und wenn er hart hätte arbeiten wollen, dann würde er keine Aristokratin geheiratet haben.

Michael sprang vom Barren und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Damals war ihm die Hochzeit als hervorragende Idee erschienen, doch inzwischen begann er sich zu wünschen, er wäre bei seinem Beruf als Buchhalter geblieben. Bei Zahlen wußte man stets, woran man mit ihnen war. Wenn man seine Arbeit vernünftig erledigte, dann addierten sie sich zu einer einzigen, nicht zu leugnenden Summe. Keine Argumente, keine Meinungen, kein Zwang, auf das Rücksicht zu nehmen, was irgend jemand anderes sagte. Das Leben in den Familien war da ganz anders.

Die Antwort auf jede Frage schien abhängig zu sein von demjenigen, mit dem man gerade sprach. Und der Himmel mochte einem helfen, wenn man etwas Falsches sagte. Oder schlimmer noch, sich einen Dreck darum scherte. Jeder intrigierte mit jedem, und wenn man sich für die falsche Seite entschied, war der Tod oftmals noch der einfachste Weg zu verlieren. Nicht, daß man sich für eine Seite hätte entscheiden können. Allein die Zugehörigkeit zu einem Clan führte bereits dazu, daß man Fehden, Streitigkeiten und Haß erbte, die oft Jahrhunderte zurückreichten. Michael seufzte und dachte an seine nächste Übung. Fünfzig Klappmesser. Zur Hölle damit. Sollte der Bauch halt erschlaffen. Er würde schnell genug merken, ob es ihn störte. Er seufzte erneut.

»Was ist los, Liebster?«, fragte Lily Wolf von der Tür her.

Michaels Kopf ruckte herum. Lily Wolf, die unfreiwillige Gattin Daniels, stand in ihrer Lieblingspose im offenen Eingang. Ein Bein vorgeschoben, die Brust herausgedrückt, den Kopf leicht nach hinten gelegt, wie geschaffen, seinen Blick auf ihren Körper zu ziehen, auf den großgewachsenen, geschmeidigen Leib, den gesamten Weg die sagenhaft langen Beine hinauf bis zu ihrem Schmollmund. Lily steckte in einem ihrer zahlreichen heidnischen Hexengewänder, alles wogende Seide und irdene Farben, die ihre vornehme Blässe noch betonen sollten. Sie hatte die gewohnte silberne Perücke gegen eine hellrote Lockenmähne getauscht, die nicht wirklich zu ihr paßte, aber wahrscheinlich dazu gedacht war, ihr ein zigeunerhaftes Flair zu verschaffen. Es spielte keine Rolle. Lily war wunderschön. Sie war immer wunderschön. Michael lächelte unwillkürlich. Jedesmal, wenn er sie erblickte, verliebte er sich aufs neue bis über beide Ohren in sie, auch wenn es genauso gefährlich war, als würde er eine scharfe Granate an seine Brust drücken. Jeder findet einmal in seinem Leben eine wahre Liebe. Jemanden, der die Tage erleuchtet und die Knochen weich macht wie Wachs, und so wahr Gott ihm half, Michaels große Liebe war Lily. Er griff nach einem Handtuch und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

»Was führt dich her, Lily?« sagte er schließlich und gab sich alle Mühe, gelassen zu klingen, obwohl sein Puls bereits raste.

»Ich hätte geschworen, daß du nicht einmal von der Existenz dieses Raumes weißt. Und ich habe dir schon einmal gesagt: Nenn mich nicht in der Öffentlichkeit Liebster. Es ist viel zu unsicher.«

Lily zuckte die Schultern. »Ich bin nur an einer einzigen Art von Leibesübungen interessiert. Alles andere ist nur eine Verschwendung von gutem Schweiß. Und ich hatte auch noch nie übermäßiges Interesse daran, sicher zu sein. Kommst du jetzt her und gibst mir einen Kuß, oder muß ich dich erst holen?«

Michael warf das Handtuch über die Schulter und ging lässig zu seiner Geliebten. Es war wichtig für ihn, wenigstens ein bißchen Kontrolle zu behalten, selbst wenn er wußte, daß er sie im gleichen Augenblick verlieren würde, wo er Lily in die Arme schloß. Michael mußte den Kopf in den Nacken legen, um sie zu küssen. Sie war beinahe fünfzehn Zentimeter größer als er, doch das hatte ihn nie gestört. Es bedeutete lediglich, daß mehr an ihr war, das er lieben konnte. Und als er sie in die Arme schloß wie eine kostbare Blume und ihr Parfüm in seine Nase stieg wie eine berauschende Droge, dann war ihm alles egal außer Lily.

Lily sagte immer, sie wären füreinander geschaffen. Sein dunkler Teint bildete einen wunderbaren Kontrast zu ihrer bleichen Gesichtsfarbe, wie zwei Seiten ein und derselben Münze.

Sie waren Seelenverwandte, die sich gesucht und gefunden hatten, und nichts auf der Welt konnte sie trennen. Lily sagte eine Menge solcher oder ähnlicher Dinge, aber in der Regel hörte er gar nicht zu. Es reichte vollkommen, daß sie bei ihm war. Michael gehörte ihr mit Leib und Seele, auch wenn er wußte, daß er am Ende wahrscheinlich für sie sterben würde – falls jemals irgend jemand etwas über sie herausfände.

Schließlich schob Michael seine Geliebte von sich, ohne sie ganz loszulassen. »Dieser Komplex ist vielleicht nicht ganz so offensichtlich verwanzt, wie wir es gewöhnt sind, aber das bedeutet noch lange nicht, daß uns nicht irgend jemand beobachtet«, sagte er schwer atmend. »Dein kleiner Störsender hat seine Grenzen. Daniel und Stephanie mögen vielleicht so damit beschäftigt sein, diese Fabrik ans Laufen zu bekommen, daß sie unsere Leinen ein wenig lockerer lassen als üblich, aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Wenn sie jemals irgendwelche Beweise für unsere Liebe vorgesetzt bekommen, dann lassen sie uns womöglich exekutieren. Auf jeden Fall werden wir zum Gespött der Leute. Und was noch schlimmer ist – sie könnten uns aus der Familie verstoßen. Ich liebe dich, Lily, aber selbst für dich wollte ich nie wieder arm sein.«

»Du machst dir viel zu viele Gedanken«, erwiderte Lily und lächelte ihn unter schweren Augenlidern hervor an.

»Und du zu wenig«, sagte Michael und hielt Lilys Blick entschlossen stand. »Wir sind nur aus einem einen einzigen Grund auf diesem Hinterweltplaneten am Rande des Nichts. Unsere beiden Ehepartner trauen uns nicht über den Weg. Sie haben ihre Verdachtsmomente. Aber sie werden nur harte Beweise akzeptieren, also sollten wir nicht unvorsichtig sein und ihnen diese Beweise liefern. Wir müssen vorsichtig sein, Lily. Wir haben verdammt viel zu verlieren.«

»Du bist so langweilig mit deiner ewigen Vorsicht«, murrte Lily und zog einen Schmollmund wie ein Kind. Sie befreite sich aus Michaels Armen. »Du solltest lieber auf deine Instinkte hören und auf die wilde Stimme deiner Leidenschaft. Zivilisiertes Verhalten ist nur ein Deckmantel, unter den wir geschlüpft sind. Wir können ihn jederzeit ablegen, wenn uns danach ist. Trotzdem stimme ich dir zu. Ich bin hergekommen, weil wir reden müssen.«

Michael verschränkte die Arme vor der Brust. »Also schön, rede. Ich höre dir zu, Liebste.«

Lily schenkte Michael ein strahlendes Lächeln, und plötzlich sah sie gar nicht mehr kindlich aus. »Daniel und Stephanie haben eine ganze Menge investiert, um diese Fabrik erfolgreich zu machen. Wenn sie versagen oder wenn irgend etwas schiefläuft, bleibt ihnen noch weniger Zeit, um uns im Auge zu behalten. Also könnte man sagen, wir haben ein persönliches Interesse an einem Fehlschlag. Ja, ich dachte mir schon, daß dir dieser Gedanke gefällt. Warte, wir wollen die Idee ruhig noch einen Schritt weiterspinnen. Falls Stephanie und Daniel auf Technos III sterben sollten, würden du und ich all ihre weltlichen Güter erben, einschließlich ihrer Position in der Familie.

Und wenn man bedenkt, daß die liebe Konstanze einen Dreck auf die Familie gibt und der liebe Valentin ein kompletter Idiot ist, dessen gewaltiger Drogenkonsum den Gedanken nahelegt, daß er sowieso nicht mehr lange unter den Lebenden weilt…, wenn wir unsere Trümpfe vorsichtig ausspielen, dann könnten wir am Ende den gesamten Clan beerben.«

»Oder bei dem Versuch sterben«, fügte Michael hinzu. »Bist du eigentlich verrückt? Wir sollen Stephanie und Daniel töten?

Du hast wieder einmal nachgedacht, was? Ich hasse es, wenn du nachdenkst. Unsere Position ist sowieso schon verdammt unsicher. Einen plausiblen Zwischenfall in der Fabrik zu arrangieren ist eine Sache, aber wenn Daniel oder Stephanie sterben sollten, ganz egal, aus welchem Grund, dann wären du und ich die ersten Leute, die man verhaften würde. Und zwar genau aus dem Grund, daß wir so viel dadurch gewinnen. Einen Esper kannst du nicht belügen.«

»Außer, wir legen die Toten jemand anderem vor die Tür«, erwiderte Lily gelassen. »Irgend jemandem, der sie noch mehr haßt als wir beide. Zum Beispiel die lokalen Rebellen.«

»Also schön«, sagte Michael. »Ich weiß, daß ich diese Unterhaltung bereuen werde, aber erzähl mir mehr.«

Lily wandte sich halb von Michael ab, und ihr Blick schweifte in die Ferne. »Du hast nie an meine Hexenkräfte geglaubt, Michael, aber sie sind stärker als je zuvor, seit wir hergekommen sind. Ich… ich habe Dinge gesehen und gefühlt, und ich bin auf stürmischen Winden geritten. Das ist ein eigenartiger Planet, und eigenartige Dinge geschehen hier. Sie rufen nach mir. Ich fühle mich stärker, konzentrierter und… wagemutiger. Du wärst überrascht, wenn du wüßtest, wie wagemutig, Liebster.«

Michael nickte, ohne etwas darauf zu erwidern. Er hatte schon immer vermutet, daß Lily einen Hauch von ESP besaß, aber so etwas erwähnte man nicht in der aristokratischen Gesellschaft. Esper waren Besitz. Immer. Ganz offensichtlich hatten ihr erzwungenes Zölibat und die daraus resultierende Langeweile zusammen mit der ungezähmten Natur von Technos III ihre Fähigkeiten stimuliert. Ganz sicher wirkte Lily seit einiger Zeit ruheloser und irgendwie extremer in ihren Emotionen.

»Also schön«, sagte Michael sanft. »Also hast du eine glänzende Zukunft als Wetterprophetin vor dir. Na und? Wie soll uns das nützlich sein?«

»Die Wildheit dieses Planeten liegt nicht in seinem Klima begründet, sondern in seinen Bewohnern«, antwortete Lily.

»Ich kann sie fühlen, dort draußen. Im Untergrund. Sie haben etwas vor. Etwas Größeres. Etwas, aus dem wir vielleicht unseren Nutzen ziehen können. Weißt du, ich habe Freunde hier, liebster Michael. Gute Freunde. Verdammt mächtige Freunde.«

Und dann vernahmen die beiden Verschwörer das Geräusch von Schritten, die sich draußen auf dem Korridor näherten. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung und traten voneinander weg.

Eine kurze Pause entstand, und die Tür zum Turnraum ging auf. Toby Shreck trat geschäftsmäßig grinsend ein, lässig gefolgt von seinem Kameramann Flynn. Michael und Lily warfen sich in Pose.

»Hinaus!« rief Lily.

»Entschuldigt bitte die Störung«, entgegnete Toby unbekümmert. »Aber ich brauche ein schnelles Interview mit Euch.

Nichts Kompliziertes oder Herausforderndes, sondern nur ein kurzes Profil für die Dokumentation, die Eure Familie für die Eröffnungszeremonie von mir erwartet. Wenn Ihr also so liebenswürdig wärt, mir einige Minuten Eurer Zeit zu…«

»Hinaus!« brüllte Michael.

»Erlaubt mir, darauf hinzuweisen, daß Eure Ehegatten gesteigerten Wert auf Eure Kooperation legen«, erwiderte Toby.

»Vertraut mir; lehnt Euch einfach nur zurück und entspannt Euch. Es ist vorbei, bevor Ihr es überhaupt bemerkt habt.«

»Hinaus«, zischte Lily.

»Also wirklich«, sagte Toby und lächelte, daß die Wangenmuskeln schmerzten. »Es wird Euch gefallen, wenn wir erst einmal angefangen haben. Habt Ihr denn noch nie den Wunsch verspürt, daß Eure Gesichter einmal im gesamten Imperium über die Holoschirme flimmern? Mit einer garantierten Zuschauermenge von praktisch jedermann, der etwas zu sagen hat? Die Feierlichkeiten zur Eröffnung der Hyperraummotorenfabrik sind eine wichtige Meldung. Es wird jede Menge Zuschauer geben. Eure Namen könnten in aller Munde sein.« Toby blickte erwartungsvoll zu Lily und Michael, doch dann seufzte er und zuckte die Schultern. »Ich weiß, ich weiß: Hinaus. Kommt schon, Flynn. Wir werden es ein andermal versuchen, wenn die Herrschaften sich nicht so verdammt aristokratisch fühlen.«

Toby verbeugte sich knapp vor Lily und Michael und verließ den Raum, gefolgt von Flynn, der auf eine Verbeugung verzichtete. Michael entspannte sich erst, als die Tür hinter beiden ins Schloß fiel. Lily schnitt eine Grimasse.

»Unverschämter kleiner Kriecher. Er wagt es, auf diese Weise mit uns zu sprechen. Ich kann mir gut vorstellen, welche Art von Fragen ihm vorschwebte. Das ist Publicity, die wir nicht gebrauchen können. Nicht mit dem, was ich geplant habe.«

»Nun, was genau hast du denn geplant?« nahm Michael ungeduldig den Faden wieder auf. »Und wer, zur Hölle, sind diese Freunde, die du erwähnt hast? Warum weiß ich nichts davon? Hast du ihnen von uns erzählt?«

»Das war überhaupt nicht notwendig«, erwiderte Lily. »Sie wußten es bereits. Das war der Grund, aus dem sie zu mir kamen.«

»Wer, zur Hölle, sind diese Leute?«

»Der Chojiro-Clan. Ich bin seit Ewigkeiten eine ihrer Agentinnen. Sie respektieren meine Hexennatur, und sie zahlen außerordentlich gut. Sie haben zwar bereits eine ganze Menge Agenten nach Technos III eingeschleust, aber mit meiner Hilfe besitzen sie nun Zugang zu allen möglichen Ebenen, die ihnen vorher verschlossen blieben. Sie sind bereit, uns alles zu geben, was wir wollen, solange wir ihnen geben, was sie wollen. Der Chojiro-Clan hat sogar Agenten unter den Rebellen, die ihn mit Informationen füttern. Ganz ehrlich – die Dinge könnten sich gar nicht besser zu unseren Gunsten entwickeln. Meinst du nicht auch?«

»Ich weiß nicht so recht«, entgegnete Michael. »Mit dem Chojiro-Clan zu konspirieren ist, als würden wir Haie fischen und uns selbst als Köder einsetzen. Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.«

»Nun, dann denk schnell. Jede Minute kann jemand herkommen und mit uns reden wollen. Unser Plan kann jeden Augenblick beginnen. Das letzte Stück des Puzzles ist eben eingetroffen.«

»Ich hasse es, wenn du in Anspielungen redest. Ich nehme an, du meinst einen Doppelagenten. Was macht ihn denn zu so etwas Besonderem?«

»Er gehört zu den Jesuitenkommandos«, meldete sich eine leise Stimme hinter ihnen. »Und das bedeutet, daß er Zugang zu allen Sicherheitssystemen innerhalb und im Umkreis der Fabrik besitzt.«

Michael wirbelte herum, die Fäuste geballt, weil er überrascht worden war – doch dann entspannte er sich rasch wieder, als ihm klar wurde, wer da vor ihm stand. Die Jesuiten waren die Vollstrecker der Kirche von Christus dem Krieger, und man sagte von ihnen, sie seien die besten Kämpfer nach den Investigatoren und den Gladiatoren der Arena. Dieser Jesuit trug einen purpurn und weißen Kampfanzug und ein sarkastisches Grinsen im Gesicht. Er war groß, dunkel und nicht sonderlich beeindruckend. Der Mann wirkte auch nicht besonders hart oder gefährlich, doch Michael verspürte nicht den leisesten Drang, die Wahrheit herauszufinden. Oder den Jesuiten auch nur zu verärgern. Michaels Muskeln dienten nur zur Schau und sonst gar nichts.

»Ich bin froh, daß Ihr gekommen seid«, sagte Lily mit liebenswürdiger Stimme. »Ich nehme an, alles läuft wie geplant?«

»Bisher ja«, erwiderte der Jesuit. »Ich bin Vater Brendan, Michael. Ihr könnt mir völlig vertrauen. In diesem Raum zum Beispiel laufen die Sicherheitssysteme im Augenblick in einer geschlossenen Schleife. Wir können uns so lange unterhalten, wie wir wollen, ohne befürchten zu müssen, daß ein unerwünschtes Ohr mithört. Nun, ich bin sicher, Ihr habt eine Menge Fragen. Schießt los.«

»Also schön«, begann Michael. »Fangen wir damit an, warum wir irgend jemandem von der Kirche trauen sollten. Ich habe gehört, sie tritt noch immer dafür ein, die Todesstrafe für Ehebrecher einzuführen. Diese ganze Sache könnte von Kassar eingefädelt sein. Es würde ihm gefallen, wenn er die Wolfs zu Fall bringen könnte.«

»Der Kardinal weiß nichts von dieser Sache«, entgegnete Vater Brendan. »Sonst wären wir inzwischen alle längst tot. Und die Frage, warum ich für den Chojiro-Clan arbeite, ist rasch beantwortet. Vor meinem Eintritt in die Kirche gehörte ich zum Silvestri-Clan.«

»Und was, zur Hölle, haben die Silvestris mit den Chojiros zu schaffen?«

Der Jesuit lächelte. »Den Schwarzen Block

Michael bemerkte, daß sein Unterkiefer herabgesunken war, und schloß den Mund mit lautem Schnappen. Die streng geheime, sagenumwobene Schule, in der jüngere Mitglieder der Familien beinahe von Geburt an ausgebildet und zu äußerster Loyalität gegenüber den Clans konditioniert wurden, bis zum Tod und darüber hinaus. Die geheimste Waffe der Familien.

»Aber…« Michael suchte stotternd nach Worten. »Warum wird der Schwarze Block gegen die Wolfs aktiv? Gegen eine der Familien?«

Vater Brendan lächelte. »Die Wolfs im allgemeinen und Valentin Wolf im besonderen werden zu mächtig. Er stört das Gleichgewicht. Wir sind der Meinung, es wäre das Beste für alle, wenn wir Valentin zum Rücktritt bewegen und andere einsetzen könnten, die bereit wären, die Gewinne aus der Übernahme der Hyperraumantriebsproduktion zu teilen.«

»Und an dieser Stelle treten wir auf die Bildfläche«, sagte Lily. »Daniel und Stephanie sind leichte Beute ohne den Schutz und die Unterstützung Valentins. Konstanze wird ganz leise in den Hintergrund treten, und wir werden die Familie übernehmen. Der Chojiro-Clan wird uns als Gegenleistung für zukünftige Großzügigkeit unsererseits unterstützen.«

»Richtig«, bestätigte Vater Brendan. »Ihr müßt gar nicht viel dazu tun. Wir versorgen Euch mit Sprengstoff und verraten Euch, wo er den größten Schaden anrichtet. Ihr müßt ihn nur noch in jene Bereiche der Anlage schaffen, zu denen Ihr allein Zutritt habt. Es wird keine sonderlich schweren Explosionen geben. Gerade stark genug, um die Produktion ins Chaos zu stürzen und den Wolf-Clan als inkompetent dastehen zu lassen.«

»Also wird niemand dabei getötet?« erkundigte sich Michael rasch.

»Nur dann, wenn es sich überhaupt nicht vermeiden läßt«, erwiderte Vater Brendan. »Wir ziehen es vor, unsere Ziele ohne Blutvergießen zu erreichen. Es ist so… plump. Vertraut mir, Michael. Wir versuchen zuerst jede andere Möglichkeit.«

Michael nickte zögerlich. »Also schön. Wann steigt der Ballon?«

»Während der Zeremonie«, antwortete der Jesuit. »Live, auf den Holoschirmen des gesamten Imperiums. Es wird ein Straßenfeger werden.«

»Siehst du, Liebster«, sagte Lily zu Michael und hakte sich bei ihm unter. »Selbst dieser kleine Mistkerl von Reporter wird uns am Ende dabei helfen. Alles ist genau geplant, bis in die kleinste Einzelheit. Es kann überhaupt nichts schiefgehen.«

Toby Shreck eilte den engen Korridor entlang, warf einen Blick auf das Chrono in seinem Handgelenk und fluchte leise vor sich hin. Offiziell war Schlafenszeit in den Wohnquartieren des Fabrikkomplexes, und nach diesem Tag fühlte er sich, als könnte er für eine ganze Woche schlafen. In den Stunden seit seinem wenig erfolgreichen Gespräch mit Lily und Michael Wolf hatte er sich die Füße wund gelaufen, um so viele Interviews und Aufnahmen von der Fabrik zu filmen, wie er nur konnte.

Niemand wollte mit ihm ohne Drohungen kooperieren, und der Versuch, diese Fabrik gut aussehen zu lassen, war eine Aufgabe, die selbst einen Spitzenmann wie ihn erbleichen ließ.

Toby persönlich hatte schon attraktivere Schlachthöfe gesehen als diesen Laden. Aber das spielte jetzt alles keine Rolle mehr.

Er hatte die Gelegenheit zu einem Interview, wie es sie nur einmal im Leben eines Reporters gab, und er wollte verdammt sein, wenn er sich diese Gelegenheit durch die Finger gehen lassen würde, nur weil es ausgerechnet eine Zeit war, in der zivilisierte Menschen die Köpfe unten hatten und wilde Träume träumten. Mochten sie ihm ruhig alle die kalte Schulter zeigen, bis ihre Gelenke verspannt waren. Dieses eine Interview würde ihm die heißersehnte Popularität verschaffen.

Toby versuchte, sich noch mehr zu beeilen, doch er war bereits außer Atem. Zuviel Gewicht. Zuviel gutes Essen auf Empfängen und bei öffentlichen Ereignissen. Als Resultat besaß er nun eine gewisse Tropfenform, die zwar Stabilität im Sitzen verlieh, aber einer raschen Fortbewegung eher hinderlich war.

Schön, er war fett. Aber das spielte überhaupt keine Rolle.

Niemand würde während dieses Interviews auf ihn sehen. Toby zwang sich schwer atmend weiter voran. Flynn hatte sein Quartier auf der gegenüberliegenden Seite des Komplexes. Natürlich. Tobys Unterkunft lag in einer besser ausgestatteten Ebene.

Schließlich war Toby ein Aristokrat und Flynn ganz definitiv keiner. Toby schniefte verächtlich. Endlich kam er vor der richtigen Tür zum Stehen, lehnte sich einen Augenblick dagegen und wartete, bis er wieder zu Atem gekommen. Dann hämmerte er mit der Faust gegen die Tür.

»Verschwindet«, ertönte Flynns ruhige Stimme von drinnen.

»Ich habe frei. Wenn Ihr Personal der Fabrik seid: Geht zur Hölle. Wenn Ihr Toby der Troubadour seid, dann nehmt den Expreßlift dorthin. Wenn Ihr ein Wolf seid: Dies ist eine Aufzeichnung. Wenn Ihr eine potentielle Liebhaberin seid: Hinterlaßt meinem Lektronen Namen und Anschrift. Und ein Ganzkörperfoto bitte. Kleider optional.«

»Macht schon auf, verdammt!« rief Toby ungeduldig. »Ihr werdet nicht glauben, wer sich einverstanden erklärt hat, mit uns zu reden.«

»Ist mir egal. Sagt ihnen, sie sollen zwei Aspirin nehmen und morgen früh wiederkommen. Ich habe frei, und ich rede mit niemandem, mit dem ich nicht reden will. Wenn Euch das nicht paßt, dann macht das gefälligst mit meiner Gewerkschaft aus.«

»Flynn! Es ist die Ehrwürdige Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern!«

Eine kurze Pause entstand. Dann klickte das Türschloß. »Also schön, kommt herein. Auf Eure eigene Verantwortung.«

Toby knurrte etwas Unpassendes, stieß die Tür auf und stürmte ins Zimmer. Er kam sechs Schritte weit, bevor er wie angewurzelt stehenblieb. Die Tür schloß sich hinter ihm und verriegelte sich erneut, doch das nahm er nicht wahr. Er hätte nicht einmal bemerkt, wenn ihm jemand eine scharfe Granate in die Unterwäsche gesteckt hätte. Das Quartier seines Kameramannes war nicht besonders groß und mit einfachen Möbeln vollgestopft, doch ein paar weibliche Handgriffe hatten bereits gereicht, um das Zimmer freundlicher wirken zu lassen. Doch das Femininste in diesem Zimmer war Flynn, der entspannt in einem langen, fließenden Cocktailkleid auf dem Bett lag, einen Marguerita in einem geeisten Glas in der einen und ein Buch mit dekadenten französischen Gedichten in der anderen Hand.

Flynn trug eine lange Lockenperücke in der Farbe von reinem Gold und war unaufdringlich, doch kunstvoll geschminkt. Seine Arbeitskleidung und die schweren Stiefel waren Netzstrümpfen und Stilettos gewichen, und seine Fingernägel waren in grellem Pink lackiert. Alles in allem sah Flynn sehr hübsch aus, und er wirkte ganz und gar entspannt. Toby schloß die Augen und schüttelte langsam den Kopf.

»Flynn, Ihr habt mir versprochen, daß Ihr das nicht tun würdet. Wir befinden uns nicht in zivilisierter Gesellschaft. Sie würden es nicht verstehen. Und die Vertreter der Kirche von Christus dem Krieger würden es ganz definitiv nicht verstehen.

Sie würden Euch auf der Stelle wegen Gotteslästerung und Degeneration exekutieren lassen und mich gleich mit, nur weil ich Euch kenne. Los, zieht Euch etwas an, das uns nicht augenblicklich um Kopf und Kragen bringt. Mutter Beatrice wartet sicher nicht ewig auf uns.«

»Husch, husch, husch!« maulte Flynn. Er kippte den Rest seines Marguerita hinunter, schob ein Lesezeichen in seinen Gedichtband und stellte Glas und Buch behutsam zur Seite, bevor er sich graziös vom Bett erhob. »Also schön. Ihr wartet draußen, während ich mir etwas Unbequemeres anziehe. Und vergeßt nicht – ich tue das für niemand anderen als die Ehrwürdige Mutter Beatrice. Die Frau ist wahrhaftig eine Heilige.«

Toby trat auf den Korridor hinaus und zog die Tür bis auf einen Spalt hinter sich zu, damit er die Unterhaltung weiterführen konnte – oder Flynn eine Warnung zuzischen, falls jemand vorbeikam. »Von allen Kameraleuten im ganzen verdammten Imperium mußte ich ausgerechnet bei Euch enden. Warum nur?«

»Weil Ihr verzweifelt nach einem guten Mann gesucht habt und weil niemand sonst mit Euch arbeiten wollte«, ertönte Flynns Stimme von drinnen. »Immerhin habt Ihr Eure Lizenz nur deswegen beantragt, weil Ihr auf der Flucht vor Eurem Onkel Gregor seid. Rein zufällig hatte auch ich es ein wenig eilig. Mein letzter Bewunderer war ein hochrangiger Mann in einem der Clans, und er lief in seinen Privatgemächern genausogern wie ich in hübschen Kleidern herum.

Ein wunderbarer Mann. Er liebte das Jodeln. Mein Gott, wie diese tiefen Töne vibrierten, wenn er den Kopf in meinem Schoß hatte und gleichzeitig sang! Und was dieser Mann mit einem Vokal alles anstellen konnte… Jedenfalls, wir hatten einen Streit und trennten uns, und er wurde mit einemmal recht besorgt, daß ich sein Geheimnis gegen einen angemessenen Preis weitererzählen könnte. Wenn auch nur ein Wort über seine privaten Neigungen nach außen dränge, würde ihn niemand in den Familien jemals wieder ernst nehmen. Ein wenig Dekadenz ist schön und gut, wenn man Aristokrat ist, aber nicht, wenn man sich damit lächerlich macht.

Als mir klar wurde, wie er über die Sache dachte, beschloß ich, daß es besser für mich wäre, wenn ich der Stadt eine Weile den Rücken kehren und mich in sicherer Entfernung verkriechen würde, bis er sich wieder beruhigt hat. Das ist der einzige Grund, ais dem ich mich bereit erklärte, mit Euch zu arbeiten, Toby Shreck.

Ihr müßt verstehen – Euer Ruf ist nicht gerade gut. Ein alternder Öffentlichkeitsarbeiter, der von einer Karriere als Reporter träumt und größenwahnsinnig ist. Nichts Persönliches, versteht mich richtig. Wenn es Euch hilft, Ihr schlagt Euch ganz gut bei dieser Sache hier. Ich habe schon mit schlechteren Männern gearbeitet.«

Toby schnitt eine Grimasse und schwieg. Flynn hatte größtenteils recht. Toby hatte die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, die Öffentlichkeitsarbeit für den alten Shreck zu erledigen. Seine Familie hatte es ihm nicht gedankt, und die Peers verachteten ihn sogar. Niemand wollte verstehen, wie anstrengend gute Öffentlichkeitsarbeit war. Aber insgeheim hatte er immer davon geträumt, ein echter Journalist zu sein, der die Wahrheit ausgrub und Betrügereien und Korruption in den gehobenen Schichten ans Licht brachte, anstatt beides auch noch zu decken.

Aber irgendwie hatte Toby nie den Mut gefunden, den sicheren Hafen seiner Arbeit und den Schoß der Familie hinter sich zu lassen. Seine ehrgeizigen Träume waren erst wieder erwacht, als man ihm einen Tritt gegeben hatte… Und jetzt befand er sich hier auf Technos III, und er würde die verdammt beste Arbeit abliefern, die zu leisten er imstande war.

Es war seine große Chance, sich einen eigenen Namen zu machen und nicht länger im Schatten des alten Shreck zu stehen. Eine Gelegenheit, endlich ein wenig Selbstachtung zu gewinnen. Mutter Beatrice war bekannt dafür, daß sie keine Interviews gab. Die Presse nahm ihre Haltung ernst, seit sie einen Reporter, der versucht hatte, einen ihrer Freunde durch Erpressung zum Reden zu bringen, mit einem Fleischklopfer in der Hand übers Knie gelegt hatte. Doch Mutter Beatrice war höchstwahrscheinlich die einzige Person auf dem gesamten Planeten, die Toby die ganze Geschichte verraten konnte und wollte. Die ganze Wahrheit, und zur Hölle mit den Konsequenzen. Mutter Beatrice hatte sich einverstanden erklärt, mit ihm zu sprechen… Toby trat heftig gegen den Türrahmen.

»Flynn! Seid Ihr bald fertig?«

Die Tür schwang auf, und Flynn trat heraus. Er sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Kameramann. Die Box ruhte auf seiner Schulter wie eine schlafende Eule. Flynn wirbelte vor Toby einmal um die eigene Achse und zeigte sich in seinen ausgebeulten Hosen und der Tarnjacke. »Nun? Kann ich so gehen?«

»Ihr habt immer noch Lippenstift am Mund«, tadelte Toby mit eisiger Ruhe.

Flynn zog ein Taschentuch hervor, wischte sich damit über die Lippen und grinste Flynn an. »Besser?«

»Unwesentlich. Laßt uns gehen, bevor Mutter Beatrice ihre Meinung ändert. Oder irgend jemand anderes das für sie tut.«

Schweigend gingen Toby und Flynn durch die engen Korridore und verharrten jedesmal, wenn sie glaubten, irgend etwas zu hören. Aber niemand war unterwegs. Die meisten Menschen schliefen und vertrauten darauf, daß die elektronische Überwachung und die Wachen ihr Bestes gaben, um für eine ungestörte Nachtruhe zu sorgen. Schließlich waren die Rebellen auch an ihren erfolgreichsten Tagen niemals auch nur in die Nähe der Wohnquartiere vorgedrungen, und niemand in der gesamten Fabrik traute sich, die Wachen zu verärgern. Als Reporter, der die Fertigungsanlage in einem guten Licht erscheinen lassen sollte, besaß Toby Sicherheitsausweise für praktisch jede Zone, und einige diskrete, aber beträchtliche Bestechungsgelder würden dafür sorgen, daß niemand von seiner nächtlichen Unternehmung erfuhr. Wenigstens hoffte er das.

Toby führte Flynn bis zum nächsten Durchgang zum äußeren Sektor und blieb davor stehen, um in die schweren Felle zu schlüpfen, die neben der Tür hingen. Selbst ein vorübergehender Aufenthalt im Winter von Technos III konnte ohne entsprechenden Schutz ein tödliches Ende nehmen. Toby und Flynn warfen sich ganze Bündel von Fell und Wolle über, bis sie kaum noch gehen konnten, und traten dann zum Ausgang. Toby warf einen Blick durch das Fenster neben der Tür und zuckte zusammen. Die Luft war dick von Schnee, der von einem böigen Wind hin und her gewirbelt wurde. Er sah nicht auf das Thermometer. Toby wollte gar nicht wissen, wie kalt es draußen war. Er zog die Fellkapuze tief in die Stirn, wickelte den Schal fest über Mund und Nase, fluchte einen Augenblick still in sich hinein und zwängte die schwere Tür auf. Sie schwang langsam nach innen und gab den Blick auf eine halbmeterhohe Schneewehe frei, die sich von außen gegen den Durchgang gelegt hatte. Toby und Flynn stapften hindurch und schlurften in den Winter hinaus. Die Tür krachte hinter ihnen zu, und sie waren allein in der Nacht.

Die Kälte traf sie wie ein Hammer. Im ersten Augenblick konnten beide nichts anderes tun, als sich gegenseitig zu stützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die bitterkalte Luft versengte ihre Lungen, und der Winter ließ ihre ungeschützten Augen tränen. Der Schnee lag gut dreißig Zentimeter hoch. Unermüdlich kämpften Maschinen dagegen an und bemühten sich, ein freies Feld rings um den Komplex zu schaffen, doch der Schnee fiel schneller, als die Maschinen ihn wegschaufeln konnten. Der Wind war so stark, daß er Toby von den Beinen zu reißen drohte, und er mußte sich dagegen stemmen, um nicht zu stürzen. Die gefrierende Luft verursachte Zahnschmerzen, selbst durch den dicken, mehrfach um Hals und Gesicht geschlungenen Schal hindurch. Toby verzog das Gesicht und zog die Schultern nach vorn, als der Wind erneut die Richtung änderte. Eine Stimme in seinem Innern drängte ihn zum Umkehren und zur Flucht vor diesem alptraumhaften Wetter, doch Toby wollte nicht auf sie hören. Er war jetzt ein Reporter und einer heißen Geschichte auf der Spur, und das reichte aus, um ihn innerlich warmzuhalten.

Toby blickte suchend in das dichte Schneegestöber ringsum.

Außerhalb der Leuchtweite der Scheinwerfer herrschte nur tiefe Finsternis. Es gab zwei kleine Monde und Sterne am Himmel, doch sie waren hinter dichten Wolken und heftigem Schneefall verborgen. Ein Stück weit draußen in der Nacht schimmerte aufsässig ein schwacher Lichtfleck rings um ein flaches Gebäude ohne Fenster. Toby klopfte Flynn auf den Arm und deutete in die Richtung, und die beiden Männer stapften durch den tiefen Schnee voran. Flynns Kamera schwankte geduckt tief hinter seinem Rücken, wo sie vor Wind und Schnee geschützt war.

Das flache Gebäude entpuppte sich als langgestrecktes Zelt aus metallischem Gewebe, auf dem das vertraute rote Kreuz der Barmherzigen Schwestern abgebildet war. Wie auf so vielen Schlachtfeldern im gesamten Imperium, so war das Zelt auch hier ein Hospital für alle, die es benötigten. Die Schwestern ergriffen keine Partei. Der Fabrikkomplex bot nur für eine kleine Krankenabteilung Raum, und lediglich Offiziere wurden dort versorgt. Die Fußsoldaten, Sicherheitsleute und Söldner waren auf das Erbarmen der Schwestern angewiesen. Die Offiziere hofften, ihren Männern auf diese Weise einen zusätzlichen Anreiz zu geben, sich nicht verwunden zu lassen.

Es war ein großes Zelt, und während Toby und Flynn durch den Schnee darauf zugingen, schien es stetig zu wachsen. Sie waren noch nicht weit gekommen, doch Tobys Oberschenkel schmerzten bereits vor Anstrengung vom ständigen Kampf gegen den unbeständigen Sturm und die hüfthohen Schneewehen. Schweiß rann ihm über die Stirn, gefror zum Teil in den ungeschützten Brauen und brannte ihm in den Augen. Toby hatte das Fluchen bereits vor einer Weile aufgegeben. Er benötigte seinen Atem noch.

Nach einigen Minuten hielt er am einen Ende des langgestreckten Zeltes an und fand sich vor einer recht stabil wirkenden Metalltür mit einer beschrifteten Klingel wieder. Er hämmerte mit der Faust auf den Knopf, weil er seine Finger nicht mehr spüren konnte, und ein Schirm in der Tür leuchtete auf.

Der verschleierte Kopf und die Schultern einer Schwester wurden sichtbar. Sie wirkte alles andere als erfreut, ihn zu sehen.

Toby griff in seine Felle, zog den Presseausweis hervor und hielt ihn so, daß sie ihn vom Schirm aus betrachten konnte. Die Schwester rümpfte die Nase, und der Schirm wurde dunkel.

Toby und Flynn wechselten einen unsicheren Blick. Jetzt nachdem sie sich nicht mehr angestrengt durch den Schnee vorankämpfen mußten, zitterten beide unkontrolliert vor Kälte.

Dann schwang die Tür nach innen, und Licht und Wärme ergossen sich nach draußen in die Nacht. Toby und Flynn beeilten sich, in das behagliche Innere zu treten, und die Tür krachte hinter ihnen zu.

Toby zog den Schal vom Mund und warf die Fellkapuze in den Nacken. Seine Augen tränten, während sie sich an das Licht und die Wärme gewöhnten. Gegenseitig klopften er und Flynn sich den Schnee von den Schultern, und dann wandte Toby sich zu der Schwester um, die ihn eingelassen hatte, und lächelte sie schmeichlerisch an. Es war nie verkehrt, freundlich zu einer Barmherzigen Schwester zu sein. Sie besaßen ein langes Gedächtnis, und man konnte nie wissen, ob man nicht eines Tages auf ihre Hilfe angewiesen sein mochte. Diese Schwester hier schien Ende Zwanzig zu sein, doch um Mund und Augen hatten sich bereits tiefe Linien gebildet. Der tägliche Umgang mit Tod und Leid, ohne ein absehbares Ende, verlangte eben seinen Tribut. Sie war bekleidet mit der üblichen schmucklosen weiße Robe und der Haube einer Schwester im Feld. Beides war mit alten und frischen Blutspritzern beschmutzt. Die Schwester schien kräftig genug, um einen herannahenden Panzer aufzuhalten, und sie funkelte die beiden Neuankömmlinge mit einem Blick an, der jeden entmutigt hätte, nur nicht einen Reporter. Flynn ging verstohlen hinter Toby in Deckung, nur für den Fall, und Toby versuchte erneut sein einschmeichelndes Lächeln.

»Hallo auch. Wir sind gekommen, um mit Mutter Beatrice zu sprechen. Ich bin Tobias Shreck, und das hier ist mein Kameramann. Man erwartet uns.«

Die Schwester trat einen Schritt vor, zog Tobys Felle auseinander und filzte ihn mit geschäftlicher Effizienz. Als sie fertig war, machte sie bei Flynn weiter, und Toby betete im stillen, daß Flynn nicht kichern würde. Nachdem die Schwester sich davon überzeugt hatte, daß die beiden nächtlichen Besucher unbewaffnet gekommen waren, trat sie wieder zurück und musterte sie mit unnachgiebigem, versteinertem Gesicht. »Sie sagte, man solle Euch beide zu ihr lassen, aber Ihr werdet sie nicht ermüden. Das ist ihre Schlafperiode. Sie arbeitet all die Stunden, die Gott uns sendet, ohne Unterlaß, und dann nimmt sie sich noch die Zeit, um mit Euresgleichen zu reden. Ich will nicht, daß Ihr sie müde macht. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Selbstverständlich, Schwester«, erwiderte Toby. »Wir werden wieder weg sein, bevor Ihr zwinkern könnt.«

Die Schwester rümpfte zweifelnd die Nase, dann wandte sie sich um und führte die beiden Reporter durch den schmalen Mittelgang der Station, die den größten Teil des Zeltes vereinnahmte. Toby und Flynn folgten ihr in respektvollem Abstand.

Auf beiden Seiten standen Betten in dichtgedrängten Reihen, ohne auch nur für den Luxus eines Besucherstuhles Platz zu lassen. Es waren nicht die Standardbetten aus den Krankenhäusern zivilisierter Welten mit ihren eingebauten Sensoren und der diagnostischen Ausrüstung. Es waren flache, harte Pritschen mit rauhen Decken und hin und wieder einem Kissen.

Der Gestank von Blut und anderen, schlimmeren Dingen war so stark, daß er sogar den penetranten Geruch des Desinfektionsmittels zu verdrängen drohte. Die Patienten lagen meist ruhig, unter Schmerzmitteln, wie Toby hoffte, doch einige stöhnten leise oder wälzten sich unruhig hin und her. Ein Mann ohne Beine weinte leise und hoffnungslos vor sich hin. Flynns Kamera filmte alles. Vielen der Patienten fehlten Gliedmaßen oder Teile des Gesichts. Toby wurde übel. Man erwartete einfach keine derartigen Verletzungen mehr, es sei denn auf den primitivsten Welten. Er wandte den Blick ab. Man hatte ihn hergeschickt, um Dinge wie diese zu vertuschen.

»Versorgen Euch die Wolfs nicht mit besserer Ausrüstung als dieser hier?« erkundigte er sich schließlich, bemüht, die Wut aus seiner Stimme herauszuhalten, um die Patienten nicht zu beunruhigen.

Die Schwester schniefte laut, ohne sich umzuwenden oder ihren Schritt zu verlangsamen. »Wir sind hier ganz auf uns allein gestellt. Offiziell gewinnen die Wolfs diesen kleinen häßlichen Krieg, also darf niemand sehen, wie sie größere Krankenhausanlagen und Versorgungseinrichtungen nach Technos III schaffen. Gerüchte über die wahre Zahl von Toten und Verletzten und darüber, wie schlecht es in diesem Krieg steht, könnten nach draußen dringen. Also versorgen sie uns nur mit dem, was absolut erforderlich ist, um die wenigen Verwundeten zu behandeln, die es nach offizieller Darstellung gibt. Es ist wichtig für die Wolfs, den Eindruck zu erwecken, daß auf Technos III alles genau nach Plan läuft, und sie kontrollieren die Lage.

Diese Bastarde! Ich würde sie ersäufen, wenn ich könnte.

Wenn Ihr wollt, könnt Ihr das in Euren Bericht aufnehmen.«

»Mich interessieren die Ansichten aller Seiten«, entgegnete Toby diplomatisch. »Ich möchte den Menschen die Wahrheit über das berichten, was hier vor sich geht.«

»Wenn Ihr das wirklich wollt, dann seid Ihr der erste. Nicht, daß es einen Unterschied machen würde. Die Wolfs werden alles zensieren, was sie in Verlegenheit bringen könnte, bevor sie Euch erlauben, Euren Bericht zu senden.«

Toby schwieg noch diplomatischer. Er rechnete mit einer Zensur. Das hatten sein Beruf und das Einsatzgebiet so an sich.

Der Trick an der Sache war, Informationen an der Zensur vorbeizuschleusen.

Auf halbem Weg das langgestreckte Zelt hinunter war ein kleiner Raum durch Wandschirme abgetrennt worden. Toby dachte im ersten Augenblick an eine Toilette und war nicht wenig überrascht, als die Schwester respektvoll, beinahe schüchtern an einen der Schirme klopfte.

»Es sind die Presseleute«, sagte sie zaghaft. »Wünscht Ihr immer noch, mit ihnen zu sprechen, oder soll ich sie hinauswerfen?«

Eine leise gemurmelte Antwort kam aus dem Innern, und die Schwester schnitt eine mürrische Grimasse, als sie sich zu Toby und Flynn umwandte. »Dreißig Minuten und keine einzige Sekunde mehr. Und wenn Ihr sie müde macht, packe ich Euch bei den Eiern.«

Die Schwester schob einen der Wandschirme zur Seite und schuf so einen Durchgang. Toby und Flynn nickten ihr respektvoll zu und drängten sich nacheinander an ihr vorbei wie an einem bissigen Wachhund. Als die beiden Reporter durch die Lücke getreten waren, schob die Schwester den Schirm hinter ihnen wieder an seinen Platz. Die abgegrenzte Fläche dahinter war gerade groß genug, um einem Feldbett, einer Waschschüssel auf einem Gestell und einem Schreibtisch Platz zu bieten. Am Schreibtisch saß die Mutter Oberin Beatrice in einem langen seidenen Hausmantel mit durchgescheuerten Säumen und ausgebeulten Ellbogen. Sie wirkte blaß und erschöpft, das hellrote Haar brutal abrasiert, doch ihre Augen blickten warm, und ihr Willkommenslächeln schien ehrlich gemeint. Hinter ihr hing an einem Hutständer die offizielle schwarze Robe mit der gestärkten Haube, beinahe, als befände sich noch eine vierte Person in dem beengten Raum. Beatrice stand nicht von ihrem Stuhl auf, doch sie reichte Toby zum Gruß die Hand. Ihr Händedruck war kurz, aber fest. Sie wandte sich zu Flynn, der sich über ihre Hand beugte und sie küßte.

Beatrice’ Lächeln wurde breiter.

»Wenn Ihr wüßtet, was ich vor weniger als einer halben Stunde mit genau dieser Hand getan habe, würdet Ihr jetzt zur Toilette rennen und mit Schwefelsäure gurgeln.« Sie wandte sich wieder Toby zu. »Ich freue mich, Euch beide zu sehen. Ich war nicht sicher, ob Ihr kommen würdet. Alle anderen, die ich gefragt habe, verspürten keine Lust, sich die Finger zu verbrennen.«

»Ich bin mir da auch nicht so sie her«, antwortete Toby. »Es kommt ganz darauf an, was Ihr mir zu sagen habt. Macht es Euch etwas aus, wenn mein Kameramann unsere Unterhaltung mitschneidet?«

»Natürlich nicht. Genau aus diesem Grund habe ich Euch beide gebeten zu kommen. Nehmt auf dem Bett Platz. Wir haben leider nicht mehr genügend Stühle, und wenn Ihr steht, seid Ihr zu sehr im Weg.«

Beatrice lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, und Toby ließ sich vorsichtig auf der Pritsche nieder. Sie fühlte sich hart und unbequem an. Flynn blieb stehen und bewegte sich leise hierhin und dorthin, um gute Aufnahmewinkel für seine Kamera zu finden. Toby ignorierte ihn. Flynn würde sich um alle technischen Einzelheiten kümmern. Toby war der Reporter, und seine Aufgabe war das Interview und alles, was er an Informationen aus ihm herausziehen konnte. Mutter Beatrice war berüchtigt für ihre Freimütigkeit, aber das war stets im Schutz des Hofes gewesen, weit weg vom Blut und dem Sterben an den Frontlinien. Man sagte, sie habe sich nach ihren ersten Erlebnissen in einem Feldlazarett sehr verändert, doch die meisten dieser Geschichten stammten aus zweiter Hand. Außerdem war Toby nicht sicher, ob er noch an Heilige glauben sollte. Er beschloß, mit einem einfachen, unverfänglichen Thema zu beginnen.

»Mir scheint, Euer Hospital ist ziemlich überfüllt, Schwester Beatrice. Sicher war dieses Zelt nicht dazu gedacht, so viele Menschen zur gleichen Zeit aufzunehmen?«

»Zur Hölle, nein! Es soll höchstens ein Drittel soviel Patienten aufnehmen, doch das haben sich zivilisierte Menschen in zivilisierten Gegenden überlegt. Und nennt mich Bea. Ich habe nämlich frei. Wir sind bis unter die Decke belegt, weil sich die Dinge in den letzten Auseinandersetzungen sehr zuungunsten der Wolfs entwickelt haben. Die Kampflinie bewegt sich auf der Karte vor und zurück. Sie ertrinkt im Blut der Gefallenen.

Natürlich sind einige unserer Patienten Rebellen. Die Barmherzigen Schwestern dienen allen Seiten ohne Unterschied. Ganz gleich, wie groß der Druck ist, den man auf uns ausübt.«

Toby hob eine Augenbraue. »Wissen die Wolfs, daß Ihr Rebellen behandelt?«

»Ich habe es ihnen nicht gesagt. Nicht nach der Reaktion, die sie zeigten, als ich das Thema zum ersten Mal angesprochen habe. Ich plane zwar, sie davon in Kenntnis zu setzen, doch irgendwie kommt mir immer etwas dazwischen. Ich wüßte außerdem auch gar nicht, was es sie angeht. Sie versorgen uns nur mit dem Allernotwendigsten, selbst für ihre eigenen Leute.

Wir sind ein gutes Stück von jeder Zivilisation entfernt, und die Transportkosten sind unverschämt hoch. Also mache ich meine Arbeit, wie ich es für richtig halte. Wir tun, was wir können. Päppeln die Leute auf und schicken sie weg. Oft sehen wir die gleichen Gesichter zwei- oder dreimal, und jedesmal bluten sie an einer anderen Stelle. Kaum häufiger als dreimal.

Viele ertragen den Schock nicht. Zuviel Notchirurgie. Andere… sie geben einfach auf. Es ist ein harter Krieg und eine rauhe Welt. Wir bekommen nicht viele Fleischwunden zu Gesicht.

Unsere Vorräte gehen zur Neige. Blutplasma, Betäubungsmittel, Medikamente. Die Schwesternschaft tut, was in ihrer Macht steht, aber heutzutage gibt es überall im Imperium Kämpfe, und unsere Ressourcen sind sehr dünn gestreut. An manchen Tagen ist das hier kein Hospital, sondern ein Schlachthof.«

»Seit wann dauern die bewaffneten Auseinandersetzungen denn an, Bea?« fragte Toby mit vertraulicher Stimme, als gäbe es nur sie beide.

»Seit Generationen«, antwortete Beatrice grimmig. »Menschen wurden hier geboren, lebten ihre Leben und starben hier, und sie kannten nichts anderes als den Krieg. Natürlich ist er eskaliert, seit die Wolfs die Fabrik übernommen haben. Wegen der bevorstehenden Zeremonie steht für beide Seiten im Augenblick besonders viel auf dem Spiel. Trotzdem war es nur das wachsende Interesse der Öffentlichkeit, das uns wegen der Vorgänge hier alarmierte und die Schwesternschaft überzeugte, eine Mission zu entsenden. Wenn sie wüßten, was hier wirklich geschieht, würden sie mehr Hilfe schicken. Ich weiß, daß sie das tun würden. Aber die Wolfs kontrollieren jede Kontaktaufnahme mit der Außenwelt.«

»Von welcher Sorte Krieg sprechen wir hier, Bea?« fragte Toby und brachte sie wieder zum Thema zurück.

»Ziemlich primitiv. Sie führen einen Grabenkrieg. Seit Dekaden immer das gleiche Schema. Beide Seiten graben Tunnel, doch die überlebende Fauna von Technos III lebt unterirdisch, und sie mag keine Konkurrenten. Ein längerer Kampf an der Oberfläche ist wegen des Wetters so gut wie unmöglich. Es ändert sich so unberechenbar, daß Artilleriebeschuß undurchführbar ist. Das gleiche gilt für Luftunterstützung. Und wenn der Wind erst bläst, dann fliegt so viel Dreck und Metall durch die Luft, daß die Schüsse des Feindes selbst auf kürzeste Distanz abgelenkt werden. Also kämpft man Mann gegen Mann, Stahl gegen Stahl, stürmt aus seinen Gräben und trägt es im Niemandsland zwischen der Fabrik der Wolfs und den Positionen der Rebellen aus. Die Front wogt ununterbrochen hin und her, aber nichts ändert sich wirklich. Beide Seiten sind sich ebenbürtig…, obwohl das Eintreffen der Kirchentruppen einen entscheidenden Vorteil darstellen sollte.«

»Jesuitenkommandos haben mit ihren Elitetruppen den Widerstand schon auf vielen Planeten beseitigt«, bestätigte Toby.

» Technos III ist kein gewöhnlicher Planet«, erwiderte Bea tonlos. »Die Rebellen hier kämpfen seit Generationen. Soweit die Aufzeichnungen zurückreichen. Und sie haben immer wieder Neues dazugelernt und sind besser geworden. Verdammt, sie züchten seit Jahrhunderten Krieger heran. Und dann ist da noch das Wetter. Man muß übermenschlich sein, wenn man hier auch nur überleben will. Und genau das ist das Problem mit dem Krieg auf Technos III. Seht Euch doch in diesem Zelt um! Es gibt nur einen einzigen Grund, warum wir nicht in Verwundeten ersticken: Die meisten von ihnen halten gar nicht lange genug durch, um bis hierher zu kommen. Sie sterben wegen der Hitze oder der Kälte, wegen der Eisstürme oder der Orkane. Trotzdem kommen ständig genug neue Fälle, um uns in Atem zu halten, selbst wenn wir keine Medikamente und kein Blutplasma mehr besitzen und die Patienten festhalten müssen, während die Chirurgen sie auseinanderschneiden und wieder zusammennähen in der schwachen Hoffnung, daß der Schock sie nicht auf der Stelle umbringt.«

Toby beugte sich ein wenig vor und unterbrach die Schwester sanft. Sie begann sich zu wiederholen, und er mußte dafür sorgen, daß sie nicht abschweifte. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, so viel gutes Material zu gekommen wie nur irgend möglich, und dem Wissen, daß mit jeder Minute, die er hier verbrachte, die Gefahr stieg, daß irgend jemand in der Fabrik seine und Flynns Abwesenheit bemerkte und zwei und zwei zusammenzählte. »Wieviel Personal befindet sich bei Euch, Bea? Wie viele Helfer?«

»Wir haben zwei Chirurgen und fünf Schwestern zur Versorgung der Kranken. Wir hatten noch einen dritten Chirurgen, doch er zerbrach unter dem Druck, und ich mußte ihn zurückschicken. Er wollte nicht gehen. Er weinte sogar, als wir ihn zum Transporter brachten, aber er war mit den Nerven viel zu sehr herunter, selbst für unsere Maßstäbe. Ich warte noch immer auf einen Ersatzmann. Technos III steht auf keiner Dringlichkeitsliste sehr weit oben. Für die meisten Leute ist es nur ein Name. Auch ich bin nur hergekommen, weil ich nach den endlosen Intrigen und Gemeinheiten bei Hofe endlich etwas mit meinen eigenen Händen tun wollte. Wenn ich gewußt hätte, auf was ich mich einlasse… Wahrscheinlich wäre ich trotzdem gekommen. Ich konnte noch nie gut wegsehen und so tun, als ginge mich das alles nichts an.

Die wenige medizinische Technik in unseren Händen ist hochmodern, das Beste, was die Schwesternschaft liefern kann, aber es ist einfach nicht dazu geschaffen, so viele Verwundete zu versorgen. Ich lebe in der ständigen Furcht daß die Apparate versagen. Niemand auf dieser Welt wäre imstande, sie zu reparieren. Die Wolfs haben eine eigene Krankenabteilung in ihrer Fabrik. Alles, wovon wir hier nur träumen können, bis hin zu einem Regenerator. Eine der Schwestern dort hat Mitleid mit uns. Von Zeit zu Zeit, wenn ich wirklich verzweifelt bin, plündere ich ihre Medikamenten Vorräte, und sie deckt mich dabei.

Gott segne sie.« Beatrice seufzte und schüttelte den Kopf.

»Darf ich einem der Herren vielleicht etwas zu trinken anbieten?«

Sie griff unter den Schreibtisch und brachte eine Flasche mit trübem Inhalt und zwei leere Marmeladengläser zum Vorschein. Als Toby und Flynn höflich ablehnten, zuckte Beatrice nur mit den Schultern und goß sich einen großen Drink ein.

Toby bedeutete Flynn eindringlich, nicht mit dem Filmen aufzuhören. Beatrice war genau die Sorte von Persönlichkeit, für die man betete, wenn man an einer Dokumentation arbeitete.

Ein wahrer Charakter, jemand, der alle und alles kannte, der mitten im Geschehen stand und dennoch fähig war, das große Ganze im Blick zu behalten. Natürlich half es, daß Beatrice nicht sehr nach Nonne aussah, und das Glas in ihrer Hand trug ebenfalls seinen Teil dazu bei. Die Zuschauer mochten es nicht, wenn ihre Heiligen allzu vollkommen erschienen. Beatrice’ Hand zitterte leicht, als sie das Glas an die Lippen hob, und Toby fühlte sich plötzlich auf unerklärliche Art und Weise beschämt. Nichts von dem, was er in seinem Leben bereits gesehen und gehört hatte, berührte ihn so, wie es ganz offensichtlich Beatrice berührte. Sie sorgte sich um andere, und er war nichts weiter als ein gefühlloses, berichtendes Auge. Genau wie Flynns Kamera. Toby versuchte sich einzureden, daß er so sein mußte, weil seine Arbeit es verlangte, doch es klang nicht halb so überzeugend wie früher. Er zwang sich dazu, seine Konzentration wieder auf Beatrice zu richten, als die Schwester das beinahe leere Glas absetzte.

»Gott, ist das ein schreckliches Zeug«, sagte sie leise. »Aber ohne das könnte ich hier nicht arbeiten. Zwei der Schwestern werfen Amphetamine ein, und einer der Chirurgen ist ernsthaft drogenabhängig. Ich halte den Mund, solange sie noch arbeiten können. Wir alle brauchen irgend etwas, um den Tag zu überstehen. Und die Nacht. Die Nächte sind am schlimmsten. In der Nacht sterben die meisten unserer Patienten. In den frühen Stunden nach Mitternacht, wenn die Dämmerung am weitesten entfernt scheint. Ich weiß nicht, wie lange ich die Situation noch ertragen kann. Es macht einen fertig, wenn man um jedes Leben kämpfen muß, selbst bei den leichtesten Wunden. Nichts ist einfach hier. Nicht einmal dieses verdammte Zelt. Es ist das stärkste, das die Schwesternschaft zur Verfügung stellen konnte, doch mit dem Wetter auf Technos III wird es nicht fertig. Im Sommer ist es so drückend heiß, daß man sich kaum bewegen kann. Im Winter… Ich habe gesehen, wie de Chirurgen mitten in einer Operation eine Pause eingelegt und ihre Hände in den dampfenden Eingeweiden des Patienten auf ihrem Tisch gewärmt haben.

Wir alle haben uns verändert, seit wir auf Technos III angekommen sind. Ich wollte niemals eine Nonne werden, wißt Ihr?

Ich floh zur Schwesternschaft, um einer Hochzeit mit Valentin Wolf zu entgehen. Und jetzt bin ich trotzdem von der Gnade der Wolfs abhängig. Ich war nie besonders religiös. Ich benutzte die Schwesternschaft lediglich als eine Art Machtbasis, wie so viele vor mir auch. Und ich bin nur aus dem Grund hergekommen, weil ich mich langweilte. Aber hier in der Hölle, da fand ich plötzlich meinen Glauben wieder. Im Angesicht von so viel Bösem muß man einfach an Gott glauben. Nur Gott kann einem Kraft genug geben, um weiterzumachen.«

Zu Tobys und Flynns Überraschung erhob Beatrice sich unvermittelt. Sie leerte den Rest ihres Glases und stellte es hart auf dem Schreibtisch ab. »Genug geredet. Ich werde Euch herumführen, dann könnt Ihr sehen, mit welcher Art von Wunden wir uns hier befassen. Einige der Patienten werden vielleicht sogar mit Euch sprechen. Aber Ihr müßt die Obszönitäten herausschneiden.«

Sie verließen den privaten Bereich und folgten Beatrice den Gang zwischen den Betten hindurch zurück. Flynn filmte ununterbrochen. Seine Kamera schwenkte hierhin und dorthin. Im Zelt herrschte noch immer eine fast unheimliche Stille, und niemand wollte mit den beiden Besuchern sprechen. Toby vermutete, daß die Verwundeten einfach nicht genügend Kraft aufbrachten, um über ihre Schmerzen zu klagen. Die anderen Schwestern bewegten sich leise zwischen den Betten, überprüften Verbände und maßen Fieber oder legten, wenn es sonst nichts zu tun gab, einfach eine kühlende Hand auf eine heiße Stirn. Auch Toby schwieg. Die Szene bedurfte keines Kommentars, und er hatte keine Fragen mehr. Die Antworten waren zu offensichtlich. Zu seiner Überraschung spürte er, wie Wut in ihm aufstieg. Dinge wie diese hier durften einfach nicht geschehen. Nicht in diesen Tagen und in diesem Zeitalter. Toby hatte selbst viele Ungerechtigkeiten verheimlicht und gedeckt in seiner Zeit bei Gregor Shreck, aber niemals etwas wie das hier. Die Armee einer Familie starb, um ihre Schande zu verbergen. Toby redete sich ununterbrochen ein, daß ihn die Sache nichts anging. Daß es nur eine gute Geschichte war… und stellte überrascht fest, wie nahe er daran war, vor Frustration und Wut zu weinen.

»Filmt nur, soviel Ihr mögt«, sagte Mutter Beatrice. »Die Chancen stehen nicht schlecht, daß niemand jemals etwas davon zu Gesicht bekommt. Ich versuche ständig, Berichte nach draußen zu bringen, doch die Wolfs hindern mich daran. Sie können es sich nicht leisten zuzugeben, daß sie den Kampf um Technos III zu verlieren drohen. Die Imperatorin könnte ihnen den Planeten und die Fabrik wegnehmen.«

»Aber einige Nachrichten sind nach außen gedrungen«, erwiderte Toby. »Von Schiffsbesatzungen und so weiter. Zum Beispiel über die Heilige von Technos III, die ihre aristokratische Abstammung vergaß, um den Verwundeten und den Sterbenden zu helfen. Das ist genau der Grund, aus dem wir hier sind.«

»Ich bin keine Heilige«, widersprach Beatrice. »Das würde jeder tun, der gesehen hat, was ich gesehen habe.«

»Wir werden den Bericht nach draußen bringen. Irgendwie werden wir es schaffen«, versprach Toby. »Und wenn ich die Filmkassetten in meinem Hintern verstecken muß.«

Beatrice grinste plötzlich. »Sicher«, meinte sie schelmisch, »ich habe schon immer gesagt, daß die Wolfs wie Hämorrhoiden sind.«

Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm folgten ihren Führern durch ein Labyrinth aus Tunnels, weg von den offenen Gräben und der Gewalt des aufkommenden Schneesharms. Die Tunnel verliefen steil nach unten, und ihre Wände enthüllten die vielen Schichten aus Abfall und Metallschrott, die die Geschichte der Planetenoberfläche erzählten. Die Luft war wärmer hier unten, doch die drei Neuankömmlinge zitterten noch immer. Laternen an der Decke verbreiteten ein trübes Licht, ein bleicher gelblicher Schein, der in ihren unangepaßten Augen schmerzte. Ringsum hasteten Menschen geschäftig hin und her, während die drei tiefer hinabstiegen. Alle waren viel zu sehr in Eile, um mehr zu tun, als herüberzustarren oder einen gelegentlichen Gruß zu nicken. Es waren muskelbepackte Gestalten, und nur wenig Fett verhüllte ihre Umrisse. Ihre Augen wirkten hart und auf die jeweilige Aufgabe konzentriert, und niemand lächelte oder verschwendete ein einziges unnötiges Wort. Der Lange Tom und die Halsabschneider-Marie führten die drei Rebellen schweigend nach unten. Ohnesorg, Ruby und Sturm blieben dicht beisammen, nicht nur wegen der Temperaturen, sondern auch, um sich gegenseitig Mut zu machen.

»Wie, zur Hölle, haben sie nur all diese Tunnel und Gräben anlegen können?« fragte Ruby und starrte auf die Metallwände.

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Gegner einem Waffenstillstand zugestimmt hat, um den Rebellen das Heranschaffen von Minenausrüstung zu erlauben.«

»Wahrscheinlich haben sie erbeutete Energiewaffen eingesetzt, um die ursprünglichen Tunnel aus dem Schrott zu schneiden. Im Lauf der Jahre wurden sie dann von Hand erweitert«, mutmaßte Ohnesorg. »Wir sehen das Resultat jahrelanger Arbeit vor uns. Vielleicht hat es noch länger gedauert.«

»Verdammt richtig«, bestätigte der Lange John, ohne sich umzublicken. »Die ersten Arbeiten fanden vor so langer Zeit statt, daß sich niemand mehr auch nur an die Namen derer erinnert, die sie ausführten. Wir bauen seit Jahrhunderten an unseren Tunnels. Jede Generation fügt hinzu, was gerade benötigt wird. Wir müssen unter der Erde leben. Uns bleibt keine andere Wahl. In den alten Tagen gab es militärische Satelliten mit Ortungssystemen und schweren Waffen. Heute ist es das Wetter. Außerdem besitzt die Fabrik einen eigenen Schutzschild.

Wir wußten stets, daß der einzige Weg am Schild vorbei unter ihm hindurch führte. Die Wolfs wissen es auch. Deswegen lassen sie ihre eigenen Leute ebenfalls Tunnels anlegen.«

»Aber Ihr seid hier unten in Sicherheit, oder nicht?« fragte Sturm.

»Es gibt Sicherheit, und es gibt Sicherheit«, antwortete die Halsabschneider-Marie. »Die eingeborenen Lebensformen von Technos III leben ebenso unter der Erde wie wir. Sie leben ganz tief unten, wo wir kaum jemals hingehen, aber von Zeit zu Zeit kommen sie nach oben, und dann streiten wir darum, wessen Territorium diese Tunnel sind. Wir jagen sie als Nahrung, sie jagen uns als Nahrung. Wir gewinnen häufiger als sie.

Es hilft uns, die Schwachen auszusieben. Seht Ihr diese verblaßten Flecken auf dem Boden? Wenn wir eine der Kreaturen erlegen, dann verspritzen wir ihr Blut, um unser Territorium zu markieren. Es hält die anderen Bestien von uns fern, jedenfalls für eine Weile.«

»Ihr meint, sie kommen so weit nach oben?« erkundigte sich Ruby.

»Aber selbstverständlich«, erwiderte der Lange John. »Im Frühling können wir uns manchmal kaum bewegen, ohne mit Klauen, Fängen und anderen häßlichen Körperteilen in Berührung zu kommen.«

»Gut«, sagte Ruby. »Ich kann ein wenig Übung gebrauchen.«

»Nun, das erklärt die Blutflecken überall«, sagte Sturm rasch.

»Aber was ist mit dem Bein?«

Der Lange John und die Halsabschneider-Marie blieben unvermittelt stehen und blickten zu ihm zurück. »Was für ein Bein?« fragte der Lange John.

Sturm deutet schweigend darauf, und alle blickten nach oben zu dem menschlichen Bein, vollständig bekleidet mit Hose und Stiefeln, das an der rechten Seite aus der Ecke zwischen Wand und Decke herausragte. Der Lange John verzog das Gesicht.

»Mason Elliot! Das ist dein Bezirk! Wo steckst du?«

Ein kleiner, gedrungener Mann, der bis zum Kinn in dicken Fellen steckte, trat aus einem Seitentunnel hervor. In einem Mundwinkel steckte ein häßlicher schwarzer Zigarrenstummel.

»Warum schreist du so? Ich bin nicht taub! Also schön, gnädiger Anführer, da bin ich. Was ist denn diesmal nicht in Ordnung? Hast du wieder einmal die Schlüssel verloren?«

»Was hat das Bein dort oben zu suchen?«

»Es hält die Decke zusammen. Nach dem letzten Angriff der Blutwürmer mußten wir einen Teil der Wände reparieren, und wir hatten es verdammt eilig. Uns fehlte Baumaterial, und der Leichnam kam gelegen… Außerdem mochte ihn sowieso niemand leiden. In ein paar Wochen brechen die Blutwürmer sowieso wieder durch. Wir können die Leiche dann immer noch entfernen.«

»Bis zu diesem Zeitpunkt wird sie zum Himmel stinken!« sagte der Lange John. »Ich will, daß das Bein entfernt wird, und zwar jetzt. Besorg dir eine Axt und hack es ab! Bewegung!«

»Sicher, gnädiger Anführer von uns allen.« Der stämmige Mann drückte die Zigarre mit den bloßen Fingern aus und klemmte sie hinters Ohr. Er stand noch immer da und starrte zu dem Bein hinauf, als der Lange John und die Halsabschneider-Marie die drei Neuankömmlinge weiterführten. Jakob Ohnesorg bildete den Schluß, und er war wahrscheinlich der einzige, der den stämmigen Elliott, murmeln hörte: »Und was nehme ich in Zukunft als Wegweiser?«

Der Lange John führte sie immer weiter durch die Tunnel. In Jakob Ohnesorg keimte allmählich der Verdacht, daß man sie auf Umwegen führte, damit sie später niemandem den Weg nach unten beschreiben konnten. Es gefiel ihm. Es verriet ein gutes Gespür für prinzipielle Sicherheitsmaßnahmen und eine gesunde Dosis Paranoia. Unglücklicherweise konnte Jakob sich nicht verirren, genausowenig wie Ruby Reise. Er war durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen. Jakob wußte stets genau, wo er sich befand. Allerdings hatte er nicht die Absicht, dem Langen John dieses Geheimnis zu verraten. Es würde ihn nur ärgerlich machen. Also stapfte Jakob wohlgelaunt hinter dem Mann her und genoß den Anblick, der sich ihm bot. Die Tunnel waren angenehm weit, doch die Decken hingen tief genug herab, daß jeder mit eingezogenem Kopf herumlaufen mußte. Ohnesorg vermutete, daß die Tunnel absichtlich so konstruiert worden waren, um unerwünschte Eindringlinge zu behindern und zu desorientieren. Die Rebellen waren aller Wahrscheinlichkeit nach daran gewöhnt. Ohnesorg ging es auf die Nerven. Schließlich verliefen die Tunnel flacher, und weitere Menschen tauchten auf. Alle waren dick in Leder und Felle gekleidet, und alle hielten die Waffen bereit. Sie musterten die Neuankömmlinge mit kalten, argwöhnischen Blicken und reagierten nicht auf Kopfnicken oder Lächeln.

»Gehen Eure Leute nie unbewaffnet?« fragte Sturm. »Sicher besteht so weit unten keine Gefahr?«

»Gefahr besteht immer«, erwiderte die Halsabschneider-Marie. »Wenn schon nicht wegen plötzlicher Angriffe der Sicherheitskräfte, dann wegen der Kreaturen, die tief unter uns leben. Sicher, wir haben stets Leute darauf abgestellt zu horchen, doch sie können nicht überall zugleich sein. Also sind wir stets auf einen Angriff gefaßt. Wir sind von Kindesbeinen an darauf trainiert, von einem Augenblick zum anderen um unser Leben zu kämpfen.«

»Und wann und wo schlaft und entspannt Ihr Euch, wenn ich fragen darf?« hakte Sturm nach.

»Wir entspannen uns nicht«, antwortete die Halsabschneider-Marie. »Das können wir immer noch, wenn wir tot sind.«

Ruby grinste Ohnesorg an. »Du bringst mich mit den nettesten Menschen zusammen.«

Ohnesorg lächelte zurück und konzentrierte sich auf das, was er den Rebellen zu sagen hatte, wenn sie endlich ankamen, wohin auch immer man sie führte. In ihm regte sich der starke Verdacht, daß ihn das, was er der Untergrundgemeinde zu sagen hatte, nicht sonderlich beliebt machen würde – aber es mußte gesagt werden. Jakob hatte zu viele Armeen mit heißen Worten und gefärbten Wahrheiten in den Kampf geführt, und er hatte sie sterben gesehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, weil er geglaubt hatte, daß die Sache mehr galt als das Individuum. Jakob war nicht sicher, ob er noch immer so dachte. Aber wie dem auch sein mochte, er war nicht gekommen, um sie mit schnellen Worten zu verwirren. Er war hier, um die Wahrheit zu verkünden. Ihm kam der Gedanke, daß die Menschen ihn für das, was er zu sagen hatte, vielleicht töten würden. Ohnesorg zuckte innerlich die Schultern. Sollten sie es ruhig versuchen.

Nach langer Zeit erreichten sie endlich eine relativ große Kaverne. Die Decke war mindestens sechs Meter hoch. Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm richteten sich erleichtert seufzend auf. Die kreisförmigen Wände bestanden aus massivem, poliertem Metall, und an ihnen entlang waren über das gesamte Rund mit Ausnahme des Eingangs Sitzreihen aufgestellt. Die Sitze waren vollgepackt mit Menschen, Schulter an Schulter, und harte, wachsame Blicke starrten auf die Neuankömmlinge hinab. In der Mitte des freien Raums standen ein Mann und eine Frau und warteten. Sie wirkten ebenfalls nicht besonders erfreut. Der Lange John und die Halsabschneider-Marie führten die Besucher nach vorn.

»Das hier sind Lumpen-Tom und Gespenster-Alice«, stellte der Lange John die beiden Wartenden vor. »Zusammen bilden wir den Rat des Untergrunds. Sprecht zu uns, Jakob Ohnesorg.

Erzählt uns, warum Ihr hergekommen seid.«

Jakob Ohnesorg lächelte und nickte zuerst den Ratsmitgliedern, dann der umgebenden Versammlung zu. Wenn die schiere Anzahl ihn einschüchtern sollte, dann hatten sie sich verrechnet. Er hatte schon unfreundlicheren Versammlungen unter größerem Druck gegenübergestanden. Jakob nahm sich einen Augenblick Zeit und musterte die beiden neuen Ratsmitglieder.

Der Lumpen-Tom war ein Mann von durchschnittlicher Größe und Gestalt mit nichtssagenden Gesichtszügen. Er sah nicht mehr und nicht weniger zerlumpt aus als alle anderen. Die Gespenster-Alice auf der anderen Seite wirkte wie eine wahnsinnige, in die Enge getriebene Ratte. Sie war kleinwüchsig und alt, steckte in schmierigen grauen Fellen und besaß bemerkenswert ähnlich aussehendes Haar, das in wirren Locken vom Kopf abstand. Auch sie starrte Ohnesorg aus weiten Augen an, und aus einem Mundwinkel ihrer zu einem extrem beunruhigenden Lächeln verzogenen Lippen troff ein dünner Speichelfaden. Jakob war froh, daß sie ihm nicht die Hand schütteln wollte. Er verspürte das Bedürfnis, mit Gegenständen nach ihr zu werfen, schon allein aus Prinzip. Der Lange John mißdeutete Ohnesorgs Zögern als Unsicherheit und brachte die Sache in Gang.

»Wir kämpfen hier seit Generationen, und trotz allem, was wir durchgemacht haben, geht der Kampf noch immer weiter.

Der Rat kam deshalb zu der zögerlichen Erkenntnis, daß wir es möglicherweise nicht alleine schaffen. Wir benötigen Hilfe.

Kämpfer, Waffen, Nachschub. Man hat uns gesagt, der Untergrund von Golgatha könne diese Dinge liefern. Aber statt dessen schickte man uns Euch drei und sonst nichts. Niemand hier hat vergessen, daß nach unserer letzten Bitte um Hilfe die Kyberratten nicht nur die militärischen Satelliten außer Gefecht setzten, sondern auch die Wettersatelliten. Seither leben wir in der Hölle, die sie uns zurückgelassen haben. Nennt uns einen einzigen guten Grund, aus dem wir Euch nicht in mehreren kleinen Päckchen nach Golgatha zurückschicken sollten, um unseren nicht unbeträchtlichen Unmut kundzutun!«

Ohnesorg lächelte ungerührt. »Erstens sind das Fehlen militärischer Satelliten und das gestörte Wetter die einzigen Gründe, die die Wolfs davon abhalten, einen Sternenkreuzer anzufordern, um die Planetenoberfläche gezielt bis in jede notwendige Tiefe zu sengen, um Euch alle auszulöschen. Zweitens ist der einzige Grund, aus dem die Wolfs noch keine vollständige Armee von Söldnern herbeigeschafft haben, der, daß es sie mehr kostet, als ihnen die Sache wert ist. Wenn Ihr zu rasch zu erfolgreich seid, könnten sie ihre Meinung in dieser Angelegenheit ändern. Und drittens – wenn Ihr auch nur einem einzigen von uns etwas antut, wird Golgatha Euch den Rücken zuwenden, und Ihr werdet nie wieder irgendwelche Hilfe von draußen erhalten. Habe ich noch etwas vergessen?«

»Nur eine Sache«, meldete sich Sturm zu Wort. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor das Imperium die Wolfs mit neuen Militärsatelliten versorgt, um die ungestörte Produktion des neuen Hyperraumantriebs sicherzustellen. Ihre Ortungsanlagen werden stark genug sein, um das Wetter zu durchdringen, und das bedeutet das Ende aller Kämpfe an der Oberfläche, soweit es Eure Seite betrifft. Es bedeutet auch das Ende Eurer ersten wirklichen Chance in all den Jahren, diesen Krieg zu gewinnen. Vergeßt die Geschichte mit den Kyberratten. Das ist Schnee von gestern. Laßt uns helfen, bevor Euch die Zeit davonläuft.«

»Und wenn auch nur einer von Euch meint, er müßte uns nicht ernst nehmen, dem werde ich persönlich derart in den Hintern treten, daß er ihm bis zu den Ohren hochrutscht«, ergänzte Ruby Reise.

Alles blickte zu Ruby, und niemand wagte Zweifel anzumelden, daß sie nicht genau das meinte, was sie gesagt hatte. Ohnesorg hüstelte höflich und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf sich.

»Nach unseren Informationen macht Eure Seite in der letzten Zeit die größeren Fortschritte. Erzählt uns mehr darüber.«

»Die Größe und Anzahl der Tunnel erschwert den Wolfs, uns hier unten anzugreifen«, erklärte der Lumpen-Tom mit hoher, kühler Stimme. »Wir sind besser an die Bedingungen angepaßt als sie. Sie kommen nicht gerne so tief herunter. Abgesehen von uns warten hier auch noch andere häßliche Überraschungen auf sie. An der Oberfläche stehen die Dinge ähnlich. Unsere Vorfahren wurden genetisch manipuliert, um allem zu widerstehen, was der Planet an Gemeinheiten für sie bereithielt.

Die Wolf-Truppen sind uns in dieser Hinsicht unterlegen. Sie sind zahlreicher und besitzen die besseren Waffen, aber sie kämpfen nur, um zu gewinnen. Wir kämpfen, um zu überleben.

Deswegen sieht es in den Gräben aus wie eh und je. Keine Seite besitzt auf längere Sicht einen entscheidenden Vorteil.«

»Wir geben nicht auf«, sagte die Gespenster-Alice mit rauher, brüchiger Stimme. »Wir sind die Verstoßenen, der Abfall, die Weggeworfenen. Wir sind die Zurückgewiesenen, und wir sind stolz darauf. Wir lehnen das Imperium ab und alles, wofür es steht. Die Wolfs sind nur das neueste Gesicht des Feindes.

Also denkt ja nicht, wir wären so verzweifelt, daß wir nicht nach dem Preis für Eure Hilfe fragen. Wir wollen nicht einen Herren gegen einen anderen tauschen. Wir kämpfen und sterben auch allein, wenn es sein muß. Also helft uns, oder geht zur Hölle. Wir beugen uns vor niemandem.«

»Ich mag sie«, sagte Ruby.

»Das dachte ich mir«, erwiderte Ohnesorg.

»Es gibt keinen Preis für unsere Hilfe«, sagte Alexander Sturm und lächelte beruhigend in die Runde. »Wir suchen lediglich Verbündete in unserem Kampf gegen das Imperium, um die Eiserne Hexe von ihrem Thron zu stoßen. Ihr benötigt Kämpfer, Waffen, Nachschub. Wir können Euch mit diesen Dingen versorgen.«

»Es… es gibt eine weitere Komplikation«, erklärte der Lange John.

»Wieso wußte ich, daß er das sagen würde?« murmelte Ruby Reise.

»Ruhe«, ermahnte sie Jakob Ohnesorg.

»Wir kämpfen nicht nur für uns allein«, erklärte der Lumpen-Tom. »Wir kämpfen auch für die Freiheit der Klone in der Fabrik. Sie wurden hergeschafft, um bis zu ihrem Tod zu arbeiten, genau wie wir. Jetzt arbeiten, essen und schlafen sie in der Fabrik. Sie sehen den freien Himmel so selten wie wir. Wenn einer von ihnen stirbt, klonen die Wolfs einfach einen Ersatz aus dem toten Körper. Die Klone wurden genau für die Arbeit, die sie hier erledigen, geschaffen und gezüchtet. Arbeit, die für richtige Menschen zu gefährlich oder zu schmutzig ist. Sie wurden konditioniert, niemals zu widersprechen, trotz der entsetzlichen Umstände, unter denen sie leben und arbeiten. Sie sind nichts als Besitz. Aber sie träumen trotzdem von ihrer Freiheit – manchmal wenigstens. Einige wenige von ihnen schaffen es sogar zu fliehen. Sie kommen hierher zu uns, weil sie sonst nirgendwo hingehen können. Hier gibt es immer ein Zuhause für sie. Sie sind unsere Brüder und Schwestern. Die Wolfs wissen das. Sie haben gedroht, alle Klonarbeiter zu töten, wenn es danach aussieht, als könnte unsere Seite die Zeremonie stören oder die Fabrik daran hindern, zum vorgesehenen Zeitpunkt die Produktion aufzunehmen. Und sie meinen es ernst.«

»Ja«, sagte eine leise neue Stimme. »Sie meinen es wirklich ernst.«

Alles blickte zu der schlanken Gestalt in den schlecht sitzenden Fellen, die sich in der ersten Sitzreihe erhoben hatte. Das Gesicht des Mannes war ausgezehrt und hager, der Mund ein dünner Strich und die Augen tief in den Höhlen versunken. Er war so mager, daß es schien, als könnte bereits der leiseste Windhauch ihn davonwirbeln. Seine Beine zitterten, als hätten sie Mühe, das geringe Gewicht zu tragen. Doch sein Blick war fest, und als der Mann weitersprach, klang seine leise Stimme stark und gemessen.

»Mein Name ist Dürr & Hager #32. Ich bin ein Klon aus der Fabrik. Sie lassen uns schuften, bis wir tot umfallen, damit sie rechtzeitig zu den Feierlichkeiten fertig werden. Die Arbeit ist gefährlich. Die Strahlung, der wir ausgesetzt sind, zerfrißt unsere Körper und unseren Verstand. Sie machen mit uns, was sie wollen. Niemand sagt ein Wort. Die Imperatorin will ihren neuen Antrieb. Koste es, was es wolle. Nehmt keine Rücksicht auf uns und greift endlich an! Und wenn wir alle dabei draufgehen. Die Hölle, in die sie uns schicken wollen, kann nicht schlimmer sein als die, in der wir jeden Tag leben und arbeiten.

Aber wenn es Euch gelingt, uns zu befreien, dann werden wir bis zum letzten Blutstropfen an Eurer Seite gegen das Imperium kämpfen.«

Dürr & Hager #32 setzte sich unvermittelt wieder hin, als hätte er auf einmal Angst, daß seine Knie unter ihm nachgeben könnten. Ein lautes, aufmunterndes Murmeln setzte ein und lief durch die gesamte Zuschauermenge. Sturm nickte nüchtern.

»Er meint, was er sagt. Ich bin beeindruckt. Es ist mehr als selten, daß ein Klon sich so weit von seiner Konditionierung befreien kann. Wenn sie alle sind wie er, dann haben wir eine Armee, die ich gegen jedermann schicken würde. Selbst gegen ausgebildete Imperiale Truppen.«

Ohnesorg nickte und schwieg. Er bezweifelte nicht, daß jedes Wort von Dürr & Hager #32 aus dem Herzen kam und aufrichtig gemeint war, aber er erkannte auch einen vorbereiteten Auftritt, wenn er einen sah. Der Rat hatte Dürr & Hager #32 auf diese Rede vorbereitet, um der weiteren Komplikation die Schärfe zu nehmen. Wahrscheinlich hatten sie Dürr & Hager

#32 sogar die Rede geschrieben, um sicherzugehen, daß seine Worte den richtigen Eindruck auf die Zuschauer und die Neuankömmlinge machten. Ohnesorg jedenfalls hätte es so gemacht. Aber Ohnesorg war auch lange genug Berufsrebell, um sich nicht von Emotionen mitreißen zu lassen. Seine Aufgabe auf Technos III lautete, die Produktion des Hyperraumantriebs aufzuhalten, und wenn das bedeutete, die Fabrik zusammen mit allen Klonen darin vollständig zu zerstören, dann würde er das tun. Natürlich würde er froh sein, wenn sich ein Weg fand, wie er den Ausgestoßenen dabei helfen konnte, die Klone zuerst zu retten. Schließlich waren es in erster Linie Dinge wie diese gewesen, die ihn zu einem Rebellen hatten werden lassen.

»Grabenkriege sind für mich nichts Neues«, sagte Ohnesorg endlich. »Wir haben ein gutes Stück Zeit in Gräben verbracht, nicht wahr, Alex? Selbstverständlich waren wir damals jünger.

Das gleiche gilt für Tunnelkämpfe. Nichts Neues an Tunnelratten oder dem vielen vergossenen Blut, das niemals vom Tageslicht beschienen werden wird. Ich habe nicht vor, Euch zu beleidigen, indem ich Euch belehre, wie Ihr zu kämpfen habt.

Wahrscheinlich wißt Ihr mehr über das Kämpfen, als ich je gewußt habe. Aber Alex und ich bekämpfen das Imperium schon unser ganzes Leben lang. Wir kennen Strategien und Tricks, die Euch vielleicht den entscheidenden Vorteil über die Truppen der Wolfs und der Kirche verschaffen können. Wir wissen, wie der Verstand des Feindes arbeitet.

Ich weiß, daß Ihr enttäuscht seid, weil wir nur zu dritt gekommen sind. Aber die Menschen strömen auf Hunderten von Welten zu den Untergrundbewegungen, und alle suchen nach einer Gelegenheit, gegen das Imperium loszuschlagen. Unglücklicherweise gibt es nur eine beschränkte Anzahl von Beratern auf Golgatha, die herumreisen können. Ihr habt Jakob Ohnesorgs Wort, daß Ihr alles bekommen werdet, was Ihr benötigt, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Doch im Augenblick ist es von größter Bedeutung zu verhindern, daß die Imperatorin den neuen Antrieb erhält, den die Wolfs in ihrer Fabrik produzieren sollen. Wenn die Imperiale Flotte erst mit dem neuen Antrieb ausgerüstet ist, könnte Löwenstein am Ende unschlagbar sein. Aus diesem Grund sind wir gekommen. Wir wollen Euch helfen, die Produktion zu stoppen und, falls möglich, die Wolfs zu vertreiben. Anschließend wird es an Euch liegen, diesen Planeten zu halten, während wir den Rest des Imperiums bekämpfen. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht, um Euch zu helfen. Wir mögen vielleicht nur zu dritt sein, aber Ihr wärt überrascht, wenn Ihr wüßtet, wozu wir imstande sind.«

»Mit anderen Worten«, sagte Gespenster-Alice und fixierte Ohnesorg mit ihrem beunruhigenden Blick, »Ihr kommt hier hereinspaziert und wollt alles übernehmen. Die Dinge selbst in die Hand nehmen und die großen Helden spielen. Wieder einmal. Ist das richtig?«

»Falsch«, widersprach Ohnesorg. »Das habe ich zu oft getan.

Ich bin nur hier, um ein Beispiel zu geben. Ich werde neben Euch in der vordersten Linie kämpfen und Euch zeigen, was ich in all den Jahren als Berufsrebell gelernt habe. Alex wird ebenfalls kämpfen, genau wie Ruby Reise hier, aber auf andere Art und Weise. Ihr habt um Hilfe gebeten, und wir sind gekommen. Gemeinsam werden wir diese Fabrik in Stücke reißen.«

Die vier Anführer der Ausgestoßenen steckten die Köpfe zusammen und tuschelten eindringlich. Eine laute Diskussion entbrannte unter den Zuschauern, als man über das diskutierte, was Ohnesorg gesagt hatte. Jakob Ohnesorg blickte gelassen in die Runde, doch er wollte verdammt sein, wenn er auch nur aus einem einzigen ihrer Gesichter hätte lesen können, welchen Eindruck seine Worte hinterlassen hatten. Er war der Meinung, alle richtigen Register gezogen zu haben, aber er konnte unmöglich sicher sein. Jakob hatte es ernst gemeint. Er wollte nicht ihr Anführer sein, doch er mußte neben ihnen kämpfen, und wenn es nur aus dem einen einzigen Grund war, sich selbst zu beweisen, daß er es noch konnte – daß der legendäre Jakob Ohnesorg nicht am Ende doch in den Folterkammern auf Golgatha gestorben war.

Ohnesorg mußte sich eingestehen, daß die Ausgestoßenen bisher wenig beeindruckt schienen. Er machte ihnen keinen Vorwurf daraus. Jedenfalls keinen großen. Jakob Ohnesorg war ein Mann Ende Vierzig, der zwanzig Jahre älter aussah, trotz aller Veränderungen, die das Labyrinth des Wahnsinns in ihm bewirkt hatte. Ein plötzliches Geräusch unterbrach ihn in seinen Gedanken, und er wandte scharf den Kopf. Es war ein schleifendes, gleitendes Geräusch. Jakob konnte seinen Ursprung nicht feststellen. Der Boden der Kaverne begann unter seinen Füßen zu vibrieren, beinahe, als würde ein Zug vorbeifahren. Die vier Ratsmitglieder unterbrachen ihre leisen Erörterungen und blickten zu Boden. Ihre Gesichter verhärteten sich, und sie zogen die Schwerter. Ringsum erhoben sich Menschen von ihren Sitzen.

»Was ist das?« erkundigte sich Sturm. »Was geschieht hier?«

»Kriecher«, antwortete der Lange John. »Kreaturen aus der Tiefe. Sie graben sich durch das Metall, als wäre es überhaupt nicht da. Sie fressen alles, das sich nicht wehrt, und das meiste andere auch.«

Ruby Reises Hand fiel an die Hüfte, wo der Griff ihres Schwertes hätte sein sollen, und dann fluchte sie leidenschaftlich, als ihr einfiel, daß sie damit einverstanden gewesen war, unbewaffnet zu erscheinen. Sturm warf einen raschen Blick in die Runde. Ohnesorg legte ihm eine beruhigende Hand auf die Schulter.

»Macht Euch keine Sorgen«, sagte die Halsabschneider-Marie und hob das Schwert. »Wir werden Euch schützen.«

Und dann brach der Boden direkt neben Ohnesorg auf, und ein stumpfer, geschuppter Kopf brach durch und hob sich auf einem langen, gebogenen Hals in die Höhe. Der Schädel maß gut einen Meter im Durchmesser, und der Hals war so dick wie zwei Männer. Die Kreatur besaß keine Augen, doch das Maul war gespickt mit scharfen Zähnen. Chaos brach unter den Zuschauern aus, als die Menschen in den ersten Reihen versuchten, nach oben zu den höheren Sitzen und in Sicherheit zu klettern. Der Lange John hieb mit dem Schwert nach dem Hals der Bestie, aber die Klinge prallte wirkungslos von den dicken Schuppen ab. Der breite Kopf schwang herum, krachte gegen den Langen John und riß ihn von den Beinen. Alles schrie nach Verstärkung und Energiewaffen.

Ohnesorg trat vor und hämmerte mit all seiner Kraft auf den gebogenen Hals. Seine Faust durchschlug die Schuppen glatt und drang tief in das Fleisch darunter ein. Die Kreatur kreischte laut; ein hoher, durchdringender Ton, der in den Ohren schmerzte. Ohnesorg wappnete sich und schob die Hand weiter vor. Die Kreatur zuckte konvulsivisch, und schwarzes Blut sprudelte aus ihrem Maul, doch Ohnesorg ließ sich nicht abschütteln. Sein Arm versank bis zum Ellbogen in dem geschuppten Hals, und dann fanden seine tastenden Finger die langen, gewundenen Wirbel. Es dauerte nur einen einzigen Augenblick, die Faust darum zu schließen und die Wirbelsäule mit einer raschen Bewegung zu brechen. Die Kreatur erschauerte über die ganze Länge ihres sichtbaren Körpers und brach tot auf dem Boden der Kaverne zusammen.

Für einen Augenblick herrschte Totenstille, dann brach auf den Rängen donnernder Jubel aus. Die Zuschauer feierten Ohnesorg und applaudierten ihm, während die vier Ratsmitglieder ihn mit weit aufgerissenen Mündern anstarrten. Dann steckten sie die Schwerter weg und fielen in den Applaus ein. Ohnesorg grinste. Anscheinend war es ihm endlich gelungen, die Ausgestoßenen zu beeindrucken. Sturm schüttelte ungläubig den Kopf. Ohnesorg zog den blutbesudelten Arm aus dem Hals des toten Kriechers. Ruby gab ihm ein Taschentuch, mit dem er sich notdürftig reinigen konnte, beugte sich dicht an sein Ohr und murmelte leise: »Angeber.«

Der Krieg ging weiter.

Inzwischen war Frühling, und die Temperaturen schossen in die Höhe. Schnee und Eis schmolzen und überfluteten die Gräben. Überall keimte Leben auf. Fremdartige, tödliche Kreaturen erschienen wie aus dem Nichts und blockierten die Tunnel und Kavernen. Es herrschte Frühling, und die Zeit des Winterschlafs war vorüber. Die Fauna und Flora des Planeten brach aus den Wänden und den Böden, aggressiv und hungrig auf Fleisch. Hungrige Pflanzen mit weit ausladenden Dornen, Kreaturen mit dichten Fellen, die nur aus Zähnen und Klauen zu bestehen schienen, in allen Größen und Formen, und alle fest entschlossen, ihre Chance zu leben wahrzunehmen. Sie kämpften gegeneinander um Nahrung und Territorium, und die Sieger kämpften gegen die Rebellen um die Kontrolle über die blutbesudelten Tunnel und Gräben. Die Rebellen wehrten sich mit Schwertern und Äxten und gelegentlich mit einer Energiewaffe, Rücken an Rücken, und drängten die rasenden Horden zurück, wie sie es in der Vergangenheit schon so viele Male getan hatten. Die Sicherheitskräfte der Wolfs kämpften den gleichen Kampf. Es war der einzige Tag im Jahr, an dem beide Seiten keine Zeit fanden, gegeneinander Krieg zu führen. Und noch immer explodierte auf allen Seiten neues Leben. Säureverspritzende Blutegel übersäten die berstenden Wände, gewaltige Bestien gruben sich unaufhaltsam ihren Weg aus der Tiefe nach oben, getrieben von uralten Instinkten, die sie auf der Suche nach Licht und Wärme vorantrugen. Die erwachende Welt gebar Blutwürmer, stachlige Schlitzer und dornige Golems in ihrem eigenen organischen Panzer. Es herrschte Frühling, und die gesamte Welt lebte.

Jakob Ohnesorg und Ruby Reise kämpften Seite an Seite, und ihre blitzenden Klingen verspritzten fremdes Blut und fremde Eingeweide. Sie waren stark, und sie waren schnell, und sie wurden niemals müde. Jakob und Ruby schienen überall zugleich zu sein im großen Labyrinth der Tunnel, halfen, wo sie gebraucht wurden, und nichts konnte ihnen widerstehen, weder klein noch groß. Und Alexander Sturm, der einst an Ohnesorgs Seite gekämpft hatte, als er noch jung und in seinen besten Jahren und unschlagbar mit dem Schwert gewesen war, arbeitete nun die Strategie aus und schickte die Kämpfer dorthin, wo sie das meiste ausrichten konnten. Er arbeitete ununterbrochen und beschäftigte eine kleine Armee von Spähern und Kurieren, während er versuchte, sich nicht als alten Mann zu sehen.

Der Druck des hervorbrechenden Lebens wurde schwächer, als der Tag dem Ende zuging und der Frühling seinen Höhepunkt erreicht hatte. Die Ausgestoßenen unter Ohnesorg und Ruby gewannen in Rekordzeit die Kontrolle über ihre Gräben und Tunnel zurück. Die Sicherheitskräfte der Wolfs blieben nicht weit dahinter, aber sie besaßen schließlich auch Energiewaffen. Der zweite Frühlingstag ging vorüber, und Fauna und Flora waren auf ihre Plätze verwiesen worden. Endlich waren Rebellen und Söldner imstande, ihre Aufmerksamkeit wieder auf das ernste Geschäft des Krieges zu richten.

Regen ergoß sich in niemals enden wollenden Sturzbächen hernieder. Die Gräben füllten sich knöcheltief mit eisigem Wasser, das immer ein klein wenig schneller stieg, als es versickern konnte. Die Ausgestoßenen platschten durch das Wasser zu ihren Posten und warteten auf das Signal. Dann bliesen die Pfeifen, und beide Seiten stürmten aus ihren Gräben und in das Niemandsland dazwischen. Pfeile blitzten, Energiepistolen brüllten, dann waren sie heran, und es gab nur noch den Kampf Mann gegen Mann und das rauhe, reißende Geräusch von Stahl, der in Fleisch schnitt oder Knochen durchtrennte. Das Getümmel wogte hierhin und dorthin, als die Ordnung der beiden Armeen sich in individuelle Einzelkämpfe auflöste und jedermann seine Nachbarn und Kameraden aus den Augen verlor. Männer und Frauen schrien und starben, und Blut ergoß sich für kurze Zeit auf den metallenen Boden, bevor der strömende Regen es fortwaschen konnte.

Der Kampf wogte hin und her, und beide Seiten suchten nach einem Vorteil, den sie halten und ausbauen konnten. Die Kämpfer fielen wie der Regen. Männer und Frauen verschwammen zu undeutlichen Gestalten. Einige verloren im Entsetzen des Schlachtfeldes und dem niemals endenden Regen einfach den Verstand und schlugen wild um sich, ohne Rücksicht auf Freund oder Feind. Die Luft wurde so feucht, daß es schwer wurde zu atmen. Regen füllte Augen und Münder, und noch immer kämpften beide Seiten verbissen weiter.

Was sollten sie auch anderes tun? Ohnesorg und Ruby Reise kämpften Rücken an Rücken, ihre Schwerter blitzten mit atemberaubender Geschwindigkeit, und niemand konnte ihnen widerstehen. Rebellen und Söldner starben ringsum, doch Jakob und Ruby kämpften weiter, unerschütterlich, unbesiegbar. Bis am Ende die Pfeifen erneut ertönten und beide Seiten sich voneinander lösten, zurückzogen und die Toten und Verwundeten hinter sich herschleppten in die Sicherheit der Gräben und Tunnel. Und es regnete weiter. So ging der zweite Frühlingstag zu Ende.

Der Sommer brach an. Der Regen hörte auf, als hätte jemand einen Wasserhahn abgedreht, und die Hitze stieg und Stieg, bis es unerträglich wurde, und noch ein gutes Stück weiter. Das Wasser in den Gräben verwandelte sich in Dampf. Die kochende Luft brannte in den Lungen, und in der schrecklichen Hitze wurde jede Bewegung zur Qual. Die Sonne schien blendend hell aus einem grellen Himmel. Die Sicherheitsleute der Wolfs stiegen in eigens für diese Jahreszeit konstruierte Thermoanzüge. Die Rebellen benötigten derartiges nicht. Genausowenig wie Jakob Ohnesorg und Ruby Reise, zu praktisch jedermanns nicht geringer Überraschung. Die beiden paßten sich einfach an ihre Umgebung an. Und als schließlich die Pfeifen zum Angriff bliesen, stürmten beide Seiten erneut heulend aus den Gräben aufeinander zu. Schwerter stießen in Eingeweide, und Köpfe zerplatzten wie verfaulende Früchte, wenn sie von vorüberzischenden Energiestrahlen getroffen wurden. Ein Rebell schrie auf, als eine Axt seinen Arm abtrennte, und ein Söldner spuckte Blut, als ihm das halbe Gesicht weggeschlagen wurde. Männer und Frauen stampften in diese Richtung und in jene und suchten nach genügend Raum, um ihr Schwert zu schwingen.

Die Toten und Verwundeten fielen und wurden in den Boden getrampelt, als andere nach vorn und gegen den Feind drängten. Wut- und Schmerzensschreie hallten zusammen mit Schlachtrufen durch die Luft. Der unebene Grund war ein einziges purpurnes Chaos aus Blut und Schlimmerem. Am Ende des Tages ertönten die Pfeifen erneut, und beide Seiten zogen sich wieder zurück und nahmen ihre Verwundeten mit sich.

Wunden entzündeten sich rasch in der unmenschlichen Hitze.

Die Toten ließ man, wo sie waren. Man würde sie später bergen, wenn die Hitze während der Nacht ein wenig zurückgegangen wäre.

Einige Leute meldeten sich freiwillig, um in der Nacht zu kämpfen. Kleine Patrouillen von Männern und Frauen auf beiden Seiten der Front, deren Verlangen nach Blut, Rache und Kampf am Tage nicht ausgebrannt war, krochen über das in vollkommener Dunkelheit liegende Schlachtfeld und starben bei plötzlichen, lautlosen Begegnungen mitten in der Nacht. In den Gräben und Tunnels versuchten die anderen unterdessen, so viel Schlaf zu finden, wie es in der erstickenden Hitze nur möglich war. Der zweite Sommertag brach an, und die Temperaturen kletterten noch höher. Eine mörderische Hitze für jeden außer den Allerstärksten. Und noch immer kamen beide Seiten brüllend aus ihren Gräben, als die Pfeifen ertönten. Das Morden wartete schließlich darauf, erledigt zu werden.

Dann war es Herbst. Die Temperatur sackte ab wie ein Stein.

Die Pfeifen bliesen, und Männer und Frauen sprangen aus den Gräben und über Brüstungen, um erneut zu kämpfen. Das Schlachtfeld aus zerfetztem, gerissenem Metall war bereits dunkelrot vom vergossenen Blut und den Innereien des vorhergegangenen Tages, fest eingebrannt in der Oberfläche von einer gnadenlosen Sommersonne. Winde erhoben sich und wuchsen wie aus dem Nichts zu Orkanen heran, stark genug, um einen Mann aufzuwirbeln und davonzutragen. Beide Seiten trugen Gewichte an den Gürteln und in den Stiefeln, um auf dem Boden zu bleiben. Die Winde rissen verstreute Metallfragmente in einem Umkreis von mehreren Kilometern hoch und trugen sie mit atemberaubender Geschwindigkeit durch die Luft. Stahlgewitter, die ungeschütztes Fleisch in Sekundenschnelle bis auf die Knochen zerfetzen konnten. Beide Seiten trugen Panzer, die sie noch mehr behinderten als die Gewichte.

Die Kämpfe wurden zu langsamen, absurden Angelegenheiten, aber noch immer wurde Blut vergossen, und weder die Toten noch die Verwundeten erkannten den Irrsinn dieses Krieges.

Und schließlich brach wieder der Winter an, Schnee, Eis, Stürme und die mörderische Kälte. Die Sicherheitsleute der Wolfs trugen spezielle Thermoanzüge. Die Rebellen benötigten keine. Genausowenig wie Ohnesorg und Ruby Reise. Sie hatten sich angepaßt. Beide Seiten trugen dicke Schutzbrillen, um die Augen vor dem peitschenden Schnee zu schützen. Das Niemandsland zwischen den Gräben wurde zu einer blendend weißen Hölle, in welcher kleine Gruppen bewaffneter Männer und Frauen langsam und beinahe lautlos gegeneinander zogen und die Augen bis zum Tränen anstrengten, um den Feind rechtzeitig zu erspähen. Blut befleckte den Schnee, Rot auf Weiß. Krieger stürzten zu Boden und rührten sich nicht wieder.

Jakob Ohnesorg und Ruby Reise kämpften weiter, traten immer und immer wieder an, ohne Rücksicht auf das Wetter oder welche Gruppe gerade an der Reihe war. Die Ausgestoßenen brüllten ihre Namen als Schlachtruf und folgten ihnen gegen jede Übermacht. Die Kälte brannte in ihren Lungen und brachte das Blut in ihren Adern zum Stocken, doch ihre Wut war stärker als jede Kälte, die der Winter ihnen entgegenwerfen konnte. Zwei Tage vergingen, und der Winter wich dem Frühling. Alles begann von vorn. Und so verging ein Jahr nach dem anderen auf Technos III.

Und während der gesamten Zeit, trotz des Wetters und des Hasses und des Mordens, drängte immer nur eine Seite nach vorn. Schritt um Schritt, Meter um Meter trieben die Ausgestoßenen die Sicherheitskräfte der Wolfs zurück, schoben sie das Niemandsland dichter und dichter hin zu dem Fabrikkomplex.

Graben um Graben fiel und wurde von den Rebellen eingenommen. Jakob Ohnesorg und Ruby Reise schienen überall zu sein, inspirierten die Rebellen jedesmal aufs neue zu neuen Standards von Mut und Grimmigkeit und jagten selbst den hartgesottensten Söldnern der Wolfs eine Heidenangst ein.

Weder das Wetter noch der Feind konnten ihnen etwas anhaben oder sie auch nur verlangsamen. Der Name des legendären Rebellen wurde inzwischen auf beiden Seiten oft genannt, genau wie der seiner tödlichen neuen Begleiterin – die alte Legende und die neue, unaufhaltsam und zielstrebig. Und tief unten in den Tunnels der Rebellen arbeitete Alexander Sturm, der einst selbst keine kleine Legende gewesen war, konstant und unermüdlich und plante ständig neue Strategien, organisierte Überfälle und Vormärsche und hielt die Korridore frei von räuberischen Eindringlingen, die nicht wußten, daß ein Krieg im Gange war. In den wenigen Augenblicken, die Alexander für sich selbst hatte, gab er sich alle Mühe, nicht daran zu denken, daß er ein alter Mann war und sein langjähriger Freund Jakob Ohnesorg nicht.

Draußen im Niemandsland fühlte sich Jakob Ohnesorg jünger und stärker als je zuvor. Sein Schwertarm schien niemals ermüden zu wollen. Er fühlte sich wieder wie er selbst, der legendäre Held, bei dessen Namen selbst der Eiserne Thron zu wanken begann. Und wenn er ein wenig jünger aussah als zuvor, dann fiel es niemandem außer Ruby Reise auf. Und Ruby behielt es für sich. Die Ausgestoßenen riefen ihre Namen und rückten vor. Sie witterten den Sieg.

Gute Männer und Frauen starben genau wie die bösen, und die Barmherzigen Schwestern taten, was sie konnten, um das Leid der Verwundeten zu mildern.

Der Krieg ging weiter.

Daniel und Stephanie Wolf warteten ungeduldig in dem Raum, der die Empfangshalle des Fabrikkomplexes darstellen sollte.

Genaugenommen war es nichts weiter als eine große Lagerhalle, aber irgendeine unverzagte Seele hatte sich die Mühe gemacht, die Umgebung mit Hilfe von Teppichen und ein paar Blumen hier und da aufzuhellen. Der Teppich war bereits ein wenig durchgelaufen, doch die Blumen blühten freundlich, trotz der künstlich kontrollierten Atmosphäre innerhalb des Komplexes und obwohl sie manchmal tagelang weder Wasser noch Dünger erhielten. Sie waren an ein viel rauheres Leben in der Welt draußen gewöhnt.

Daniel zog ein grimmiges Gesicht und tappte ungeduldig mit dem Fuß, während er die Arme um sich schlang und sich zur Ruhe zu zwingen versuchte. Die Dinge waren in letzter Zeit nicht sonderlich gut für die Wolfs gelaufen, und das bevorstehende Treffen bot reichlich Potential für einen größeren Zwischenfall. Ein einziges unbedachtes Wort, und Daniel konnte von Glück reden, wenn er nur in Ungnade zurück nach Hause geschickt wurde. Stephanie stand an seiner Seite, kühl, gelassen und äußerst beherrscht. Und wenn nur deswegen, weil wenigstens einer von ihnen beiden kühl, gelassen und beherrscht bleiben mußte. Eigentlich hätten Lily und Michael ebenfalls anwesend sein müssen, um einen so wichtigen Neuankömmling zu begrüßen, aber Stephanie hatte bereits sehr früh entschieden, daß man nicht auf ein korrektes Benehmen der beiden vertrauen konnte. Also hatte sie ihnen Schlafmittel ins Essen gegeben und die beiden in ihren Quartieren einsperren lassen. Nur für den Fall. Offiziell waren sie einfach indisponiert, was der Wahrheit schließlich nahe genug kam. Und die Anwesenheit von Kardinal Kassar war ebenfalls nicht verlangt worden. Er hatte alles versucht, bis hin zu kaum verhohlenen Drohungen, um die Geschwister zu einer Einladung zu überreden, doch Stephanie hatte nicht die Absicht, sich von ihm die Schau stehlen zu lassen. Das hier war eine Angelegenheit, die nur die Wolfs etwas anging, und der Neuankömmling war ihr Gast.

Kassar konnte sich später immer noch mit ihm treffen. Viel später, um genau zu sein.

Die beiden einzigen Leute, die Stephanie nicht hatte fernhalten können, waren Toby Shreck und sein Kameramann Flynn.

Die Imperatorin persönlich hatte verlautbaren lassen, daß sie den Empfang des Gastes live im Holofernsehen übertragen wünschte, und obwohl sie sich nicht dazu herabgelassen hatte, einen Grund dafür zu nennen, bekam Löwenstein immer genau das, was Löwenstein wollte. Zumindest dann, wenn man gerne atmete. Also stellten Toby und Flynn ihre Scheinwerfer auf, zogen sich so weit in den Hintergrund zurück, wie sie nur konnten, und gaben sich alle nur erdenkliche Mühe, unbemerkt zu bleiben. Dies hier war eine Schau, die sie sich nicht entgehen lassen würden. Dazu waren beide fest entschlossen.

Schließlich bekam man nicht alle Tage eine Gelegenheit, den legendären Halben Mann persönlich zu filmen – oder das, was von seinem Körper noch übriggeblieben war.

Es gab nur wenige Menschen im Imperium, die noch nie von dem grausamen und schrecklichen Schicksal des Halben Mannes gehört hatten. Vor wenig mehr als zweihundert Jahren war er einer Rasse von fremden Wesen entschieden zu nahe gekommen, die bis heute weder identifiziert noch seither jemals wieder gesehen worden war. Man hatte ihn direkt aus dem Kommandosessel seines eigenen Sternenkreuzers heraus entführt. Er war vor den Augen der ganzen Brückenbesatzung der Beowulf einfach verschwunden. Es hatte keinerlei Warnung gegeben und nicht die geringste Spur eines fremden Schiffes in der Umgebung. Von einer Minute auf die andere war der Halbe Mann einfach verschwunden.

Die Fremden hatten ihn drei lange Jahre festgehalten und Experimente an ihm durchgeführt, an die er sich nur noch zum Teil erinnerte. In seinen schlimmsten Alpträumen. Meistens schrie er dabei. Dann hatten die Fremden ihn zurückgeschickt, ihn aus dem Nichts heraus wieder auf der Brücke der Beowulf abgesetzt, obwohl sich das Schiff in der Zwischenzeit auf der entgegengesetzten Seite des Imperiums befunden hatte. Und da hatte der Alptraum erst richtig begonnen. Die Fremden hatten nur die Hälfte von ihm zurückgeschickt. Die linke Hälfte. Er war genau in der Mitte gespalten worden, vom Kopf bis zum Schritt hinunter, und seine rechte Hälfte war durch eine Konstruktion aus reiner Energie von nur annähernd menschlicher Gestalt ersetzt worden.

Der damalige Imperator hatte den Halben Mann von den besten Wissenschaftlern und Ärzten jener Zeit untersuchen lassen, aber kein einziger der Spezialisten hatte auch nur eine halbwegs vernünftige Erklärung gefunden. Sie konnten sich nicht einmal darauf einigen, wieso der Halbe Mann noch immer lebte, ganz zu schweigen über das, was mit ihm geschehen war. Seine rechte Hälfte bestand aus einem Energiefeld, das alle Eigenschaften von Materie aufwies, aber dennoch ganz eindeutig keine Materie war, sondern Energie – wenn auch in einer Form, der das Imperium noch nie zuvor begegnet war.

Das gesamte Imperium wurde für mehr als ein Jahr in höchste Alarmbereitschaft versetzt, für den Fall, daß sich die Fremden erneut zeigen würden. Aber sie zeigten sich nicht, und schließlich wurde die Alarmbereitschaft wieder aufgehoben. Alles beruhigte sich ein wenig. Der Halbe Mann, wie die Boulevardnachrichten ihn beinahe vom ersten Tag nach seinem Wiederauftauchen genannt hatten, wurde zu einem der wichtigsten Berater des Herrschers in Angelegenheiten, die Fremdrassen betrafen, und er behielt diese Position über all die Jahre hinweg. Imperatoren starben, doch die menschliche Hälfte des Halben Mannes alterte nicht einen einzigen Tag. Heute wie damals war Halber Mann in großem Maße für die Fremdenpolitik des Imperiums verantwortlich, und wenn jemandem danach war, ihm zu widersprechen, mußte derjenige nur einen genauen Blick auf den Halben Mann und das werfen, was die Fremden ihm angetan hatten, um seine Meinung zu ändern.

Der Halbe Mann war auch verantwortlich für die Entstehung der Investigatoren. Er hatte das Gefühl, das Imperium brauchte eine Truppe von Männern und Frauen, die besonders qualifiziert waren im Umgang mit Fremden und den von ihnen ausgehenden Bedrohungen. Er bildete die Investigatoren alle persönlich aus, damals wie heute, und brachte ihnen jede nur erdenkliche Methode bei, um Fremde zu verstehen, zu kontrollieren und sie zu töten. Die Investigatoren beteten ihn an. Was nach der Überlieferung während all der Jahre für eine nicht unbeträchtliche Unruhe bei den verschiedenen Inhabern des Eisernen Thrones gesorgt hatte. Aber niemand konnte leugnen, daß die Investigatoren notwendig waren und daß sie ihre Arbeit äußerst erfolgreich erledigten. Doch wenn sie sich jemals vereinigen würden, möglicherweise gar noch unter einem Anführer wie dem Halben Mann, dann war es höchst zweifelhaft, ob irgendeine Macht innerhalb des Imperiums ihnen widerstehen konnte. Aber zum Glück für alle Betroffenen waren Investigatoren von Natur aus einzelgängerisch veranlagt und legten keinen Wert auf gegenseitige Gesellschaft. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie besaßen, war der Halbe Mann. Für ihn würden sie jederzeit sterben. Oder für ihn töten. Und genau aus diesem Grund war der Halbe Mann nach Technos III gekommen.

Toby Shreck war von dem Halben Mann fasziniert. Genau wie Flynn, obwohl beide sich jede nur erdenkliche Mühe gaben, sich nichts anmerken zu lassen. Der Halbe Mann hatte nach seiner Rückkehr von den Fremden keinerlei Freude über das Interesse der Öffentlichkeit gezeigt, ganz besonders nicht nach der Treibjagd, die die Boulevardnachrichten auf ihn veranstaltet hatten, und er hatte sich für Dekaden aus dem Scheinwerferlicht der Medien zurückgezogen und war kaum jemals in der Öffentlichkeit aufgetreten, es sei denn, der jeweilige Herrscher hatte es ausdrücklich von ihm verlangt. Als Ergebnis war die Berichterstattung über den Halben Mann mehr als dürftig, und jeder Reporter mit neuem Material konnte praktisch ganz allein den Preis bestimmen. Der Empfang würde live und ohne Verzögerung ausgestrahlt werden, aber Toby bezweifelte nicht einen Augenblick, daß sich hinterher nicht eine Gelegenheit für ein paar Meter zusätzlichen Materials ergeben würde. Vielleicht konnte er sogar ein Interview bekommen. Wenn der Halbe Mann ihn nicht allein wegen der Frage auf der Stelle töten würde. Es gab entsprechende Gerüchte.

Alle Köpfe wandten sich um, als das Geräusch sich nähernder Schritte aus dem Korridor draußen vor der Halle erklang.

Genauer gesagt, das Geräusch eines einzelnen Fußes auf dem metallenen Boden. Alle rissen sich zusammen und gaben sich Mühe, so vorteilhaft wie möglich auszusehen, und jedermann wappnete sich unbewußt gegen den bevorstehenden Anblick.

Die Tür schwang auf, und der Halbe Mann trat ein. Tobys erster Gedanke war: So schlimm ist es doch gar nicht. Ich kann es aushalten. Er war nicht sicher gewesen, wie er auf einen derart entsetzlichen Anblick reagieren würde. Aber die menschliche Hälfte sah menschlich genug aus, und die andere Hälfte bestand eben nur aus leuchtender Energie, weiter nichts.

Die menschliche Hälfte war von durchschnittlicher Größe, konservativ gekleidet und gepflegt. Das halbe Gesicht wirkte auf subtile Weise beunruhigend, doch die Haare waren von ganz gewöhnlichem Braun, genau wie das Auge, und der halbe Mund war fest und wohlgeformt. Toby konnte keinerlei Emotionen in dem halben Gesicht erkennen. Es lieferte einfach nicht genügend Information. Er konnte nicht einmal sagen, ob der Halbe Mann einmal attraktiv gewesen war oder nicht. Die Energiehälfte besaß völlig menschliche Proportionen, obwohl sie unaufhörlich knisterte und Funken versprühte. Toby hatte das dumpfe Gefühl, als würden diese Proportionen nicht einmal annähernd zur menschlichen Hälfte passen. Sie besaß keinerlei Farbe – oder vielleicht auch alle Farben zusammen. Und es war nicht allein die Helligkeit, die es schwermachte, sie anzusehen.

Toby zwang sich dazu, den Blick vom Halben Mann abzuwenden, und überzeugte sich rasch, daß all seine Scheinwerfer an den richtigen Positionen aufgebaut waren. Er und Flynn hatten die Belichtung abschätzen müssen. Toby schielte zu Flynn hinüber und bemerkte erleichtert, daß die Kamera auf der Schulter des Mannes bereits leise aufzeichnete. Milliarden von Menschen allein in diesem Sektor beobachteten dieses Treffen live auf ihren Schirmen, und wenn er die Sache nicht vollständig vermasselte, könnte Toby Shreck sich endlich auf dem Weg befinden, als richtiger Reporter akzeptiert zu werden.

Die beiden Wolfs traten vor, um den Halben Mann offiziell zu begrüßen, und blieben abrupt stehen, als drei weitere Neuankömmlinge in den blausilbernen Umhängen der Investigatoren leise durch die offene Tür traten. Stephanie und Daniel gafften mit aufgerissenen Mündern. Toby drohte das Blut in den Adern zu gefrieren. Drei Investigatoren zusammen im gleichen Raum? Das war unerhört! Niemand hatte etwas davon gesagt. Toby starrte zu Flynn und überzeugte sich einmal mehr, daß er filmte. Diese Sache war noch viel größer, als er ursprünglich angenommen hatte.

»Daniel und Stephanie Wolf«, sagte der Halbe Mann mit vollkommen normaler Stimme. »Erlaubt mir, Euch meine drei Begleiter vorzustellen. Es sind die Investigatoren Klinge, Barrister und Klipp.«

Jeder der Investigatoren verbeugte sich knapp, als sein Name genannt wurde. Klinge war ein großer, schlanker Mann in den Fünfzigern. Sein längliches Gesicht lief in einem spitzen Kinn aus, und seine Augen standen etwas zu weit auseinander und waren etwas zu hell. Sein leicht verzogenes Gesicht drückte offene Verachtung aus. Barrister stand da wie ein Soldat, jeder einzelne Muskel angespannt, kurz und breit wie eine Bulldogge. Er war schon in den Sechzigern und trug das metallgraue Haar ganz kurz geschnitten. Er sah ganz danach aus, als wartete er nur auf den Befehl, jemanden umzubringen. Klipp war die jüngste der drei, eine mittelgroße, kompakt gebaute Frau Ende Vierzig mit einer Igelfrisur aus schwarzem Haar und einem kühlen Blick in den Augen. Toby glaubte, ein Grinsen in einer Ecke ihres großzügigen Mundes zu erkennen, aber da sie Investigator war, täuschte er sich wahrscheinlich. Jeder wußte, daß Investigatoren nur dann lächelten, wenn sie töteten. Vorzugsweise ganze Rassen von Fremden. Dann erblickte Klinge die Holokamera, und von da an lief nichts mehr wie geplant.

»Schaltet dieses verdammte Ding ab«, befahl Klinge, das Schwert bereits in de: Hand. Er ging auf Flynn zu, der hastig zurückwich, ohne die Aufnahme zu unterbrechen. Flynn hatte in Kampfgebieten gefilmt und kannte die erste Regel des Reporters: Filme weiter, egal, was geschieht. Klinge ragte drohend vor ihm auf, das Schwert bereit zum tödlichen Streich.

»Ich sagte, Ihr sollt aufhören! Niemand filmt mich. Niemand.«

Toby trat vor, die Hände beschwichtigend erhoben. »Es geschieht auf Befehl der Herrscherin. Sie will eine vollständige Berichterstattung…«

Klinge wirbelte mit atemberaubender Geschwindigkeit herum und schlug Toby mit dem Handrücken ins Gesicht. Toby stürzte schwer zu Boden und kämpfte eine Augenblick darum, wieder klar im Kopf zu werden. Blut rann aus einem Nasenloch über den Mund, und er spuckte aus. Er stemmte sich auf ein Knie und mußte innehalten, als sich in seinem Kopf erneut alles drehte. Flynn war bereits bis zur Wand zurückgewichen und konnte nun nicht mehr weiter fliehen. Er filmte noch immer. Toby suchte nach den richtigen Worten, um die Situation zu entschärfen. Es mußte etwas geben, das er sagen konnte.

Ihm fielen immer die richtigen Worte ein.

»Laßt den Mann in Ruhe«, sagte Barrister mit schwerer, undeutlicher Stimme. »Wir gehorchen der Imperatorin, und zwar in jeder Hinsicht.«

»Haltet den Mund, verdammter Kriecher«, erwiderte Klinge, ohne sich umzublicken. Er hielt das Schwert an Flynns Kehle.

»Werft diese Kamera zu Boden und zerstampft sie, mein Junge. Ich will hören, wie sie unter Eurem Absatz knirscht.«

Flynn wollte erwidern, daß der Investigator sich zur Hölle scheren solle, aber er brachte kein Wort hervor. Man sprach nicht auf diese Weise mit einem Investigator. Ganz besonders nicht mit einem, dem die Mordlust ins Gesicht geschrieben stand. Aber Flynn würde seine Kamera trotzdem nicht aufgeben. Klinge grinste plötzlich, und Flynn gefror das Blut in den Adern.

»Laßt ihn in Ruhe«, sagte Klipp. Ihre Stimme klang gelassen, beinahe amüsiert. »Typen wie er sind wie Ratten. Tötet eine, und sie kommen aus allen Ecken herbei und umschwärmen Euch. Ihr habt den Mann gehört. Das war die Idee der Imperatorin. Wollt Ihr wirklich in Ketten vor sie geschleift werden und erklären, warum Ihr einen ausdrücklichen Befehl mißachtet habt?«

»Was kann sie mir schon anhaben?« erwiderte Klinge. »Ihr wißt, aus welchem Grund wir hier sind. Zu alt oder zu gebrechlich, um im Feld noch von Nutzen zu sein, aber zu gefährlich, um von der Kette gelassen zu werden. Man erlaubt uns nicht mehr, für die Clans zu arbeiten. Wir sind zu gut. Die Imperatorin hat Angst vor uns. Ich habe mein ganzes Leben in ihren Diensten verbracht, und was habe ich davon? Ich lande als billiger Vollstrecker auf diesem Scheißklumpen von Planeten.

Und sie will dieses Ereignis auch noch gefilmt haben? Ich werde den hochgeschätzten Zuschauern etwas bieten, was sie nicht so schnell vergessen.«

Klinge zog das Schwert zu einem Stoß zurück, der Flynns Eingeweide durchbohren sollte. Flynn konnte sich nicht bewegen. Toby kam benommen auf die Beine. Blut strömte aus seiner zerschmetterten Nase und lief über das Kinn. Er würde aller Wahrscheinlichkeit nach zusammen mit Flynn sterben, aber er konnte nicht einfach dabeistehen und zusehen, wie sein Kameramann umgebracht wurde. Und dann trat Klipp vor und schlug Klinge professionell die Handkante in den Nacken.

Klinge fiel auf die Knie, und das Schwert polterte aus seiner plötzlich tauben Hand zu Boden. Barrister sah schockiert zu, doch er sagte nichts. Klipp grinste auf die benommene Gestalt am Boden herab.

»Macht gefälligst, was man Euch sagt, Klinge, oder Ihr werdet in den Lauf meiner Pistole sehen.«

»Gut gemacht, Klipp«, meldete sich der Halbe Mann zu Wort. Er nickte Daniel und Stephanie zu. »Bitte entschuldigt den Zwischenfall. Klinge hat seine Talente, doch Diplomatie gehört nicht dazu. Ich werde ihn in Zukunft an der kurzen Leine halten. Ich schlage vor, wir beenden diesen Empfang. Die Zuschauer haben bereits genug gesehen, um eine ganze Weile zu schwatzen, und ich brenne darauf, mit meiner Arbeit auf Technos III zu beginnen. Sind die Dateien bereit?«

»Alles, was Ihr verlangt habt«, antwortete Stephanie. »Karten, Geschichte, Truppendetails.«

»Darf ich vielleicht im Namen des Publikums fragen, was Eure Aufgabe hier ist, mein Herr?« sagte Toby.

Der Halbe Mann wandte den Blick seines einzelnen Auges zu Toby, der inzwischen mehr oder weniger sicher auf den Beinen stand und ein Taschentuch auf den geschwollenen Mund und die Nase preßte. Der Halbe Mann lächelte mit seinem halben Mund. »Ihr seid ein hartnäckiger Typ, was? Sicher habt Ihr inzwischen bemerkt, daß es ganz schön ungesund sein kann, wenn man den falschen Leuten die falschen Fragen stellt?«

»Es gehört alles zu meiner Arbeit, mein Herr«, erwiderte Toby und senkte das Taschentuch, so daß seine Worte klar und deutlich zu hören waren. Er ignorierte das Blut, das noch immer von seinem Kinn tropfte. »Würdet Ihr vielleicht diesmal so freundlich sein, einen Kommentar abzugeben?«

»Ungern«, erwiderte der Halbe Mann. »Aber nach dem Ausbruch meines Kompagnons denke ich, es wäre keine schlechte Idee.« Er drehte sich um und blickte direkt in Flynns Kamera.

Die Energiehälfte funkte und knisterte, und Flynn mußte rasch die Lichtempfindlichkeit der Kamera herunterregeln. Der Halbe Mann lächelte die Zuschauer an. »Die Imperatorin hat beschlossen, daß denjenigen Investigatoren, die nicht länger hundertprozentig leistungsfähig sind, sei es durch Alter oder Verletzungen, nicht mehr gestattet ist, in die Dienste individueller Clans zu treten. Das Privileg wurde mißbraucht. In Zukunft werden diese Investigatoren ausgebildet, um gemeinsam mit den bewaffneten Streitkräften in besonders gefährlichen Konfliktgebieten zusammenzuarbeiten, wo ihr Wissen und ihre Erfahrung unschätzbar sind. Dies hier ist ein Pilotprojekt, um alle Vor- und Nachteile zu beobachten und zu studieren. Als Ausbilder der Investigatoren habe ich mich freiwillig gemeldet, die Operation zu leiten. Und das wäre auch schon alles, was ich zu sagen habe. Nur eins noch: Ich erwarte, daß in Zukunft alle Nachrichtenleute einen respektvollen Abstand einhalten. Zu ihrer eigenen Sicherheit.« Der Halbe Mann wandte sich wieder Stephanie und Daniel zu. »Ich bin hier fertig. Bringt mich in Euer Hauptquartier.«

Kurz darauf waren alle aus der Halle verschwunden. Klinge stolperte zwischen Klipp und Barrister entlang. Toby und Flynn warteten, bis sich die Tür sicher hinter den Investigatoren geschlossen hatte, und entspannten sich dann mit lautem erleichtertem Seufzen. Flynn schaltete die Kamera ab und konzentrierte sich darauf, tief durchzuatmen. Toby wischte behutsam mit dem Taschentuch über den geschwollenen Mund und die gebrochene Nase. Beides fühlte sich an, als wäre es auf das Doppelte der normalen Größe angeschwollen.

»Habt Ihr alles, Flynn? Sagt mir, daß Ihr alles habt!«

»Jede einzelne verdammte Sekunde«, erwiderte der Kameramann. »Obwohl mir beinahe ein sehr unerfreuliches Mißgeschick in der Unterwäsche widerfahren wäre. Ich habe wirklich gedacht, daß er mich töten wollte.«

»Natürlich wollte er das. Er ist ein Investigator. Wir haben Glück, daß wir noch leben, und die anderen sind schlau genug, um zu erkennen, was das zu bedeuten hat. Der Punkt an dieser neuen Strategie ist, zu zeigen, daß alternde Investigatoren noch immer kontrolliert und auf nützliche Art und Weise beschäftigt werden können. Der Halbe Mann konnte sich nicht leisten, Klinge vor einem Millionenpublikum verrückt spielen zu lassen, bevor der Testlauf auch nur richtig angefangen hat. Habt Ihr mitbekommen, was er über die Clans gesagt hat? Keine Investigatoren mehr als private Leibwächter und Meuchelmörder der Familien. Ihre Imperiale Majestät scheint sich allmählich Sorgen wegen des wachsenden Einflusses und der Macht gewisser wohlbekannter Häuser zu machen. Natürlich ohne einen Namen zu nennen. Aber ich könnte wetten, es ist kein Zufall, daß der erste Versuch ausgerechnet auf einem Planeten der Wolfs stattfindet.«

»Ihr habt recht«, erwiderte Flynn. »Ich frage mich, was mit den Investigatoren geschehen soll, die sich nicht in eine Mannschaft einordnen können? Sie wurden ihr ganzes Leben lang ausgebildet, um als Individuen zu bestehen und zu handeln.

Zur Hölle, ich habe von Investigatoren gehört, die Kapitäne auf ihren eigenen Sternenschiffen herumkommandierten. Ich bin sicher, Löwenstein wird ihnen nicht erlauben, sich einfach zur Ruhe zu setzen. Könnt Ihr Euch einen Investigator vorstellen, der den Rest seiner Tage vor einem Kaminfeuer verbringt, während die Enkelkinder auf seinem Knie herumhüpfen?«

»Ein guter Punkt«, entgegnete Toby und blickte traurig auf das blutbesudelte Etwas, das einmal ein vollkommen blütenweißes Taschentuch gewesen war. »Ich habe den starken Verdacht, daß die Investigatoren lernen müssen, sich einzufügen.

Stirb in den Stiefeln oder unter dem Beil des Scharfrichters. Ich frage mich, wie die anderen Investigatoren das aufnehmen.«

»Wahrscheinlich werden sie es gutheißen. Sie sind ein kaltschnäuziger Haufen von Bastarden und sonst nichts. Außerdem werden sowieso nur wenige alt genug, um in den Ruhestand zu treten. Das liegt in der Natur ihrer Arbeit. Wahrscheinlich ziehen sie es vor, kämpfend zu sterben, wenn man ihnen die Wahl läßt.«

»Oder vielleicht ziehen sie es auch vor, jemanden mit sich zu nehmen«, erwiderte Toby. »Oder so viele wie nur irgendmöglich. Ich schätze, wir sollten in Zukunft einen äußerst respektvollen Abstand zu Investigator Klinge halten.«

»Verdammt richtig«, stimmte Flynn zu. Er blickte Toby nachdenklich an. »Ich habe gesehen, wie Ihr versucht habt, auf die Beine zu kommen und mir zu helfen. Habt Ihr Euch Sorgen gemacht, mich zu verlieren, oder war es nur deswegen, weil ich Euer einziger Kameramann bin?«

»Um ehrlich zu sein«, antwortete Toby, »ich habe mir Sorgen um meinen Ruf gemacht. Wenn Ihr umgebracht worden wärt, hätte man sicher auch die Spitzenunterwäsche gefunden, die Ihr unter Eurer Kleidung tragt. Ich habe schließlich an meine Reputation zu denken.«

Als die Besprechung im Hauptquartier der Wolfs endlich vorüber war, luden die Wolfs den Halben Mann und die drei Investigatoren zum Abendessen und einem anschließenden Umtrunk ein, doch alle lehnten mehr oder weniger höflich ab. Investigatoren waren keine geselligen Kreaturen, und der Halbe Mann haßte es, angestarrt zu werden. Für lange Zeit hatte er gehofft, sich eines Tages daran gewöhnen zu können, aber das war nie der Fall gewesen. Und die Wolfs waren nicht einmal sonderlich subtil, trotz all ihrer schönen Worte und des vielen Lächelns. Also begleitete der Halbe Mann die drei Investigatoren zu ihren Quartieren, wechselte ein paar private, aber dennoch einfühlsame Worte mit Klinge und ließ sich anschließend seine eigene Unterkunft zeigen.

Der Lakai, den die Wolfs abgestellt hatten, ihn zu seinem Zimmer zu bringen, hielt einen ziemlich großen Sicherheitsabstand zu dem Halben Mann ein und wartete erst gar nicht auf ein Trinkgeld.

Der Halbe Mann blickte sich in seinem Quartier um. Es war ein einzelnes Zimmer, und alles Notwendige war vorhanden.

Sogar ein wenig Luxus. Mehr jedenfalls als an Bord des Schiffes, das ihn in solcher Eile hergebracht hatte. Nicht, daß erden geringsten Dreck auf Luxus gegeben hätte. Er war hier, um zu arbeiten, und nicht, um Urlaub zu machen.

Der Halbe Mann setzte sich in den einzigen vorhandenen Sessel, schaltete dessen Massagefunktion ab und zog ihn an den Schreibtisch heran. Er aktivierte den eingebauten Bildschirm und griff auf die Lektronen der Fabrik zu. Dann rief er die Aufzeichnungen über die lokalen Truppen auf den Schirm.

Söldner von Hunderten verschiedener Welten, unter mehr als einem Dutzend Kompaniechefs, und die Sicherheitsleute der Wolfs bildeten die Oberaufseher. Die Akten der Söldner waren größtenteils in Ordnung, jedenfalls für die Zeit vor ihrer Ankunft auf Technos III. Die Berichte über ihre Kämpfe mit den eingeborenen Rebellen, den Ausgestoßenen, waren zwar interessant zu lesen, aber deprimierend. Keine der beiden Seiten schien eindeutige Vorteile für sich verbuchen zu können, doch allein dadurch, daß sie so lange standgehalten hatten, schienen die Rebellen nach und nach zu gewinnen. Die Gründe waren offensichtlich. Es war ihre Welt, und sie lebten und arbeiteten hier, während die Truppen der Wolfs Thermoanzüge benötigten und Panzer und Atemgeräte, um mit den wechselnden klimatischen Bedingungen fertig zu werden. Die technologischen Vorteile der Wolf-Truppen wurden vom Wetter vollständig ausgeglichen, und beide Seiten wußten das.

Die Wolfs hatten im Kampf mit den Rebellen sehr viele Männer verloren. Es gab keine Zahlen für die Verluste auf der Gegenseite, aber der Halbe Mann bezweifelte, daß sie auch nur annähernd halb so hoch waren. Die wenigen gefangengenommenen Ausgestoßenen hatten niemals geredet. Sie starben bei den Verhören, wenn sie es nicht schafften, sich vorher selbst zu töten. Und über all das hinaus schien es mit einemmal, daß die Rebellen neue Anführer hatten, die erst kürzlich von außerhalb eingetroffen zu sein schienen. Niemand Geringerer als der legendäre Jakob Ohnesorg persönlich, der Berufsrebell, wenn man den Berichten der Wolfs Glauben schenken wollte. Der Halbe Mann hatte die Karriere Jakob Ohnesorgs über die Jahre hinweg verfolgt. Er hatte immer gewußt, daß das Schicksal sie eines Tages zusammenführen würde. Die beiden großen Legenden der Gegenwart. Er runzelte leicht die halbe Stirn. Seinen letzten Informationen zufolge war Jakob Ohnesorg ein gebrochener alter Mann. Diese Berichte hier sprachen von einem viel jüngeren Mann, einem mächtigen Kämpfer. Vielleicht hatte irgendein Jüngerer den alten Namen angenommen. Der Halbe Mann seufzte und schaltete den Schirm ab. Als gäbe es in seinem Leben nicht bereits genug Probleme. Einschließlich und ganz besonders der drei Investigatoren, die die Herrscherin unter seinen Befehl gestellt hatte.

Der Halbe Mann hatte stets gewußt, daß Klinge eines Tages zu einem Problem werden würde. Der Mann war ein psychopathischer Killer, gewalttätig und renitent. In jedem anderen Beruf wäre sein Charakter ein ernsthaftes Problem gewesen, aber bei einem Investigator zählten diese Eigenschaften als positiver Bonus. Bis heute waren Klinges schlechtes Benehmen und all die bedauerlichen Zwischenfälle toleriert worden, weil er niemals in seiner Aufgabe versagt hatte. Aber nun wurde Klinge älter und langsamer, und seine Arbeit schien ihn hin und wieder zu überfordern, obwohl er das niemals zugegeben hätte. Er zeigte von Tag zu Tag weniger Selbstkontrolle, und er genoß ganz offensichtlich das Blut, das er bei seinen gewalttätigen Ausbrüchen vergoß. Der Mann war vollkommen unberechenbar. Man konnte nie vorhersagen, was ihn reizte. Er besaß keinerlei Freunde, und seine Feinde wagten nicht, Hand an einen Investigator zu legen.

Klinge war vernünftigen Argumenten gegenüber verschlossen, genau wie freundlichen Worten oder Disziplin. Wer ihn im Feld kontrollieren wollte, mußte zuerst und ständig beweisen, daß er der bessere Mann war, nötigenfalls mit brutaler Gewalt.

Derartige Qualitäten konnten bei einem aktiven Investigator toleriert werden, aber bei einem Mann kurz vor dem erzwungenen Ruhestand bedeuteten sie eine Gefahr für ihn selbst und jedermann in seiner Umgebung. Dem Halben Mann kam zustatten, daß Klinge von seinem Ruhm ein wenig eingeschüchtert war – doch andererseits, wer war das nicht?

Barrister war das genaue Gegenteil von Klinge. Ein Soldat durch und durch, leidenschaftlich und begierig auf Schlachten, dem Imperium und seiner Herrscherin verschworen. Ein gefährlicher Kämpfer mit jeder Art von Waffe und am glücklichsten mitten im dichtesten Kampfgetümmel – wahrscheinlich, weil auch ihm jedes soziale Gefühl abging. Barrister mochte die Menschen nicht. Zum Glück mochte er fremde Rassen noch weniger. Er war hier auf Technos III, weil man ihn herbefohlen hatte, und er würde kämpfen und töten und, wenn es sein mußte, auch sterben, um seine Befehle auszuführen. Jedenfalls hatte Barrister sich in der Vergangenheit stets so verhalten. Heute, da seine Imperatorin ganz offensichtlich das Vertrauen in seine Fähigkeiten verloren hatte und darüber nachdachte, ihn aus dem aktiven Dienst zu entfernen, mochte er möglicherweise damit anfangen, ein wenig anders über diese Dinge denken.

Barrister war nicht dumm, nur stur. Er würde nicht in den Ruhestand treten. Es gab nichts, wohin er hätte gehen können.

Klipp war ein Problem für sich. Sie war klug, schnell und erschreckend effizient und eine der zehn besten Investigatoren der gesamten Truppe. Und sie wußte es. Klipp starb langsam an einer seltenen Nervenkrankheit. Es gab keine Heilung außer der Regenerationsmaschine, und deren Gebrauch war den Aristokraten vorbehalten. Wäre sie jung und in ihren besten Jahren gewesen, hätte der Halbe Mann für sie vielleicht sogar eine Ausnahme erwirken können, als persönlichen Gefallen ihm zuliebe. Aber es hatte schon Gerüchte gegeben, daß Klipp älter und langsamer wurde, bevor die Krankheit ausgebrochen war.

Das Leben der Investigatoren war hart und brutal. Sie war nicht verbittert. Sie war eine gute Soldatin, und ihre Erfahrung war unschätzbar. Der Halbe Mann konnte sich auf sie verlassen – höchstwahrscheinlich jedenfalls.

Der Halbe Mann schob den Sessel vom Schreibtisch zurück, erhob sich und ging zum Bett hinüber. Er legte sich nieder, ohne sich erst die Mühe zu machen, die Bettlaken zurückzuziehen. Er benötigte keinen Schlaf mehr. Der Halbe Mann hatte nicht mehr geschlafen, seit die Fremden an ihm herumgepfuscht hatten. Aber er hatte sich angewöhnt, jede Nacht ein paar Stunden zu ruhen, so daß er träumen konnte. Manchmal erinnerte er sich in seinen Träumen an einiges von dem, was die Fremden mit ihm angestellt hatten, und dann erwachte er jedesmal schreiend. Aber er brauchte seine Träume. Der Halbe Mann mußte sich genau an alles erinnern, was sie mit ihm angestellt, hatten. Alles, ohne Unterschied, egal, wie schlimm es war. Weil das wirkliche Entsetzen nämlich darin lag, daß die Veränderungen, die sie an ihm durchgeführt hatten, noch immer nicht zu Ende waren. Mit jedem Jahr wurde die Energiekonstruktion, die nun seine rechte Körperhälfte bildete, ein wenig größer – und fraß ein wenig von seiner menschlichen Hälfte auf. Nur sehr wenig. Aber es war ein fortlaufender Prozeß, und er schien sich nicht zu verlangsamen. Eines Tages wäre all seine Menschlichkeit verschwunden, und der Halbe Mann hatte nicht die leiseste Idee, wer oder was er dann sein würde.

Es schien ihm auch, daß die Energiehälfte seines Körpers sich mehr und mehr in ihrer Gestalt änderte, nach und nach weniger menschlich und mehr von irgend etwas anderem wurde. Etwas Fremdem. Der Halbe Mann besaß keine Erinnerung daran, wie die Fremden aussahen, die ihn verändert hatten, außer während kurzer Augenblicke in seinen Alpträumen, aber er empfand die Spuren, die sich in seiner Energiehälfte zeigten, als höchst beunruhigend, ja besorgniserregend. Und was noch schlimmer war, der Halbe Mann machte sich langsam Sorgen, daß die Energiehälfte vielleicht ihre eigene Intelligenz besaß und möglicherweise auch eigene, undurchschaubare Pläne. Es war von allergrößter Bedeutung für den Halben Mann, daß er an dem festhielt, was von seiner Menschlichkeit und seinem Verstand noch übriggeblieben war, schon aus Furcht vor dem, was sie vielleicht eines Tages ersetzen mochte.

Und das war einer der Gründe gewesen, aus denen der Halbe Mann glücklich war, hier auf Technos III sein zu können. Es würde ihm guttun, wieder auf dem Schlachtfeld zu stehen.

Meistens saß er heutzutage nämlich an seinem Schreibtisch.

Als die Imperatorin schnelle Ergebnisse auf Technos III verlangt hatte, hatte der Halbe Mann die Gelegenheit mit beiden Händen ergriffen. Im Kampf waren die Dinge so viel einfacher.

Es war stets ein gutes Gefühl, die Feinde des Imperiums zu töten. Und nach allen ihm vorliegenden Berichten gaben die Ausgestoßenen und ihr neuer Anführer, wer auch immer er in Wirklichkeit sein mochte, ausgesprochen gute Feinde ab. Sie waren schlaue, tapfere und wagemutige Kämpfer. Die erste echte Herausforderung seit langem. Der Halbe Mann würde es genießen, sie zu töten. Und vielleicht konnte er die Gelegenheit auch dazu nutzen, Klinge, Barrister und Klipp zu lehren, wie man sich als Teil einer bewaffneten Streitmacht verhielt. Warum nicht? Er hatte ihnen ja schließlich auch beigebracht, Investigatoren zu sein.

Toby Shreck hatte zahlreiches Personal der Fabrik umgarnt, überredet und bedroht, bis er Zugang zu einem Teil des Kommunikationszentrums erhalten hatte, um dort die für den folgenden Tag geplante Sendung abzumischen. Er hatte eine gewaltige Menge Filmmaterial beisammen, dank des hervorragenden Flynn, der sich im Augenblick wahrscheinlich in seinem Quartier in einem hübschen kleinen Zweiteiler mit Perlenketten entspannte – hoffentlich hinter verschlossenen Türen – und Toby all die Arbeit des Auswählens überließ, welche kostbaren Augenblicke aufgezeichneter Geschichte den Weg in die endgültige Sendung fanden. Toby starrte auf die Schirme und Mischpulte vor sich, schenkte sich einen weiteren Drink ein und spülte damit zwei Aufputschpillen hinunter. Dann steckte er die Zigarre wieder in den Mund. Es war zwei Uhr morgens, Drähte ragten überall aus seinem Schädel, und seine Finger bewegten sich schneller, als seine Gedanken folgen konnten.

So bekam man seine Arbeit am besten erledigt. Jedenfalls, wenn man Toby Shreck hieß und einen engen Termin zu erfüllen hatte.

Toby vermißte einen Zimmerservice, den er hätte anschnauzen können – andererseits war er es nicht anders gewöhnt. Der Whiskey brannte in seiner Brust und in seinen Gedanken, das Aufputschmittel hämmerte durch seine Adern, und der Rauch der Zigarre hielt ihn im Gleichgewicht, während er die Spreu vom Weizen trennte. Diese Zusammenfassung mußte gut aussehen. Wirklich gut. Die Liveübertragung vom Halben Mann und seinen drei Investigatoren hatte die Zuschauer aufgerüttelt, ihr Interesse geweckt und Toby die beste Quote aller Zeiten gebracht, aber sie hatte ihm keine Freunde unter seinen Kollegen geschaffen, die den Komplex der Wolfs seither mit einer unübersehbaren Lawine von Nachfragen, Eingaben und Forderungen nach Zutrittsbescheinigungen überschüttet hatten. Die Wolfs hatten gemauert, was Toby keineswegs überraschte. Sie dachten wohl noch immer, sie könnten die Dinge unter Kontrolle halten, solange nur Toby Shreck und sein Kameramann auf Technos III waren. Toby grinste breit und schob die Zigarre in den anderen Mundwinkel. Er würde sie eines Besseren belehren.

Aber Toby durfte sich nicht darauf verlassen, weiterhin eine so großzügige Dreherlaubnis zu erhalten. Er hatte jedermanns Aufmerksamkeit erregt, aber um sie zu behalten, würde er mit einem verdammt guten Programm über die wirklichen Geschehnisse hier auf Technos III aufwarten müssen. Es war nicht einfach gewesen. Die Leute in der Fabrik waren sehr vorsichtig mit dem, was sie Toby gegenüber erwähnten, ganz gleich, ob Flynn dabei war und filmte oder nicht. Der Befehl war von oben gekommen. Zum Glück besaß Toby bereits so viel Material, daß es den Wolfs die teuren Luxusschuhe von den Füßen reißen würde. Dieser Bericht hier würde ein ganz besonders gelungenes Beispiel für das sein, was er konnte. Toby würde sein Talent beweisen und seinen Namen zu einer bekannten Größe im Nachrichtengeschäft machen – wenn er nicht vorher umgebracht wurde. Der Bericht wäre auch eine perfekte lange Nase für all diejenigen, die ihn beleidigt oder über ihn gespottet hatten. Die Zigarre wanderte erneut von einem Mundwinkel in den anderen. Toby nahm sich ein paar Schokoladendrops aus einer angebrochenen Packung auf dem Tisch und kippte ein weiteres Glas Whiskey hinunter. Er lief zur Höchstform auf.

Beginnen wir mit dem Material über die Ehrwürdige Mutter Beatrice. Das war die Goldader.

Toby ließ die Aufzeichnungen erneut ablaufen und starrte konzentriert auf die winzigen Schirme vor sich. Zwei, manchmal drei Aufnahmen spulten zur gleichen Zeit ab, um mit seinen sich überschlagenden Ideen Schritt zu halten. Flynn hatte ein paar Panoramaaufnahmen des Hospitalzeltes gefilmt, mit dem Fabrikkomplex im Hintergrund, um die relative Größe der beiden zu verdeutlichen. Dann gab es wiederum Bilder aus dem Innern des Zeltes, wo die Verwundeten still und reglos in den Betten lagen und manchmal leise vor sich hin stöhnten.

Toby rief die Aufzeichnung von Mutter Beatrice auf einen der Monitore, in der sie erklärte, wer nach den Worten der Wolfs behandelt werden sollte und wer nicht. Dann eine Nahaufnahme ihres müden, erschöpften Gesichts.

»Im Winter… Ich habe gesehen, wie die Chirurgen mitten in einer Operation eine Pause eingelegt und ihre Hände in den dampfenden Eingeweiden des Patienten auf ihrem Tisch gewärmt haben.«

Ja. Das würde die Zuschauer aufrütteln. Die Barmherzigen Schwestern waren im gesamten Imperium angesehen und beliebt. Man würde nicht hinnehmen, daß sie unter derartigen Umständen zur Arbeit gezwungen wurden, auch nicht von den hohen und mächtigen Wolfs. Immer angenommen natürlich, Toby konnte den Bericht an den Zensoren vorbeischmuggeln.

Und es gab eine Menge Leute hier in der Fabrik, die glaubten, genügend Autorität zu besitzen, um das Band in seiner gesamten Länge zu begutachten, bevor es versandt wurde. Toby grinste breit vor sich hin. Er hatte da so ein oder zwei Ideen.

Noch einen Whiskey und noch mehr Schokolade.

Die nächsten Bänder zeigten das kurze Interview, das der Halbe Mann ihm zögernd gewährt hatte. Er hatte zuerst gar nicht mit dem Reporter sprechen wollen, und Toby mußte den Namen der Herrscherin mehr als einmal drohend erwähnen, um den Mann dazu zu bringen, lange genug stillzustehen, daß Flynn die Kamera auf ihn richten konnte. Der Halbe Mann sah auf dem Holofilm noch merkwürdiger aus als in Wirklichkeit.

Irgend etwas an dem Energiefeld, das seine rechte Körperhälfte ersetzte, überlagerte sich mit der Elektronik der Kamera. Das Feld flimmerte und oszillierte in der Aufzeichnung derart, daß das Auge des Betrachters nach einer Weile zu schmerzen begann. Wenn man lange genug hinsah, hatte man das Gefühl, als würde man hineinfallen. In eine Hölle ohne Ende. Toby schniefte. Er würde viel Arbeit damit haben, zwischen sich und dem Halben Mann ständig hin und her zu schneiden. Das würde die Zuschauer zwar von den Worten des Halben Mannes ablenken, aber er hatte sowieso nichts Neues zu sagen. Toby beugte sich ein wenig vor und blickte die Szene auf dem Schirm stirnrunzelnd an. Das halbe Gesicht war schwer zu deuten, doch an der Aufrichtigkeit der harten, abgehackten Stimme bestand kein Zweifel.

»Wer die Menschheit davon ablenkt, sich vor heranrückenden Fremden zu verteidigen, dem wird Einhalt geboten. Er muß und wird aufgehalten werden, koste es, was es wolle. Das Imperium benötigt die neuen Hyperraumantriebe, die in der Fabrik hergestellt werden sollen. Die Rebellen bedrohen diese Produktion durch ihre Handlungen. Ich werde dem ein Ende bereiten, und wenn das bedeutet, die gesamte Rebellenbevölkerung bis hin zum letzten Mann, der letzten Frau und dem letzten Kind auszulöschen, dann werde ich das tun. Das Imperium muß geschützt werden. Ich weiß, wozu die Fremden imstande sind.«

Toby schürzte unglücklich die Lippen und hielt die Aufzeichnung an. Fremde, die so etwas wie den Halben Mann hervorbringen konnten, mußten als Bedrohung für die gesamte Menschheit angesehen werden. Aber seit mehr als zweihundert Jahren hatte niemand mehr eine Spur von diesen Fremden gesehen. Und es bestand immer die Möglichkeit, daß eine Verhandlung mit den Rebellen den Krieg ein verdammtes Stück schneller beenden konnte als ein rücksichtsloses Ausrottungsprogramm. Schließlich verlangten sie gar nicht so viel. Aber für den Halben Mann war es eine Frage des Prinzips und der Autorität. Er konnte sehr stur sein für jemanden, der keinen ganzen Verstand mehr besaß, und er war nicht einmal bereit, über seinen Standpunkt zu diskutieren.

Tobys Finger huschten über die Tasten der Konsole und riefen schnelle Aufnahmen der drei Investigatoren auf die Schirme, die der Halbe Mann mitgebracht hatte. Er hatte die Erlaubnis zu einem Interview mit ihnen kategorisch verweigert, aber Flynn hatte trotzdem ein paar verstohlene Aufnahmen angefertigt. Klinge sah aus wie ein psychopathischer Killer, dem man gerade das Lieblingsrasiermesser gestohlen hatte. Barrister wirkte wie eine Maschine, die auf ihre Befehle wartete. Und Klipp… sie sah aus, als hätte sie all das bereits mehr als einmal erlebt und als hätte es sie schon beim ersten Mal nicht beeindruckt. Alle drei erweckten einen sehr gefährlichen Eindruck, absolut unerschütterlich und professionell bei allem, was sie taten. Die arme Rebellenbrut. Sie hatten keine Ahnung, was da auf sie zukam.

In diesem Augenblick wurde die Tür zum Kommunikationsraum aufgerissen, und Daniel Wolf platzte herein – nur, um gleich wieder wie angewurzelt stehenzubleiben, als er bemerkte, wie wenig Platz es gab. Es nahm seinem dramatischen Auftritt so ziemlich jede Wirkung. Er zog ein mürrisches Gesicht, als Toby sich ohne jede Eile auf seinem Stuhl zu ihm herumdrehte. Daniel beugte sich drohend vor, und Toby blies ihm rein zufällig den Rauch seiner Zigarre ins Gesicht. Daniel mußte husten und gab sich die allergrößte Mühe, bedrohlich vor Toby aufzuragen.

»Hört gut zu, Wurm! Ich will jeden Millimeter Eures Bandes sehen, bevor es gesendet wird. Das hier ist eine Fabrik des Wolf-Clans, und wir allein entscheiden, was nach draußen gelangt und was nicht. Wenn Ihr auch nur versucht, Material an mir vorbeizuschleusen, werde ich meinen Sicherheitsleuten befehlen, Euch einzusperren, und Eure Vorgesetzten bitten, mir einen Ersatzmann zu schicken, der weiß, wie das Universum funktioniert. Ihr werdet die Zellen mögen. Bei schönem Wetter könnt ihr durch die Gitterstäbe hindurch die Mauer sehen, an der wir Verräter erschießen. Und hier draußen entscheiden wir, wer ein Verräter ist und wer nicht. Also laßt die Wolfs nur ja gut aussehen. Laßt die Fabrik gut aussehen. Wenn Ihr wißt, was gut für Euch ist, kleiner Mann.«

Daniel stürmte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Toby hob die Whiskeyflasche, prostete der geschlossenen Tür damit zu und trank direkt aus der Flasche. Er hatte Druck erwartet, aber keine derartig unverhohlenen Drohungen. Daniel Wolf und seine ehrgeizige Hexe von Schwester. Sie steckte hinter den Drohungen. Daniel hatte einfach nicht genügend Verstand, um alleine auf eine Rede wie diese zu kommen. Stephanie hatte sie wahrscheinlich niedergeschrieben und von ihrem Bruder auswendig lernen lassen. Typisch Wolf. Schläger mit Stammbaum. Toby kam ein Gedanke, und er grinste boshaft.

Der junge Reporter wandte sich wieder seiner Konsole zu, und bereits nach wenigen Augenblicken fand er die Aufnahmen, die er gesucht hatte. Er ließ sie in Zeitlupe ablaufen. Daniel und Stephanie zusammen. Lily und Michael zusammen.

Lächeln und Seitenblicke und gemeinsame Körpersprache.

Wer Augen im Kopf hatte, der wußte, daß Lily und Michael es miteinander trieben. Sie waren sehr vorsichtig, damit nichts davon an die Öffentlichkeit gelangte, aber man mußte nur einen Blick auf ihre Körpersprache werfen, um zu erkennen, was sie füreinander fühlten. Die Art und Weise, wie ihre Augen leuchteten, wenn sie sich ansahen, wie ihre Körper sich einander zuwandten, ganz egal, wo sie im Raum gerade standen, die subtile Art und Weise, wie beide unbewußt bestimmte Worte und Redewendungen betonten. Toby hatte alles auf Band. Sie hätten genausogut in der Spitzenzeit eine Anzeige senden können.

Natürlich hatten Daniel und Stephanie nichts von alledem bemerkt, weil sie sich viel zu sehr füreinander interessierten. In einigen ruhigeren Augenblicken konnte man glatt auf den Gedanken kommen, daß sie sich weit näherstanden, als es Bruder und Schwester normalerweise taten. Toby kicherte und trommelte mit beiden Händen auf die Konsole. Er durfte selbstverständlich nichts geradeheraus sagen, aber ein paar sorgfältig arrangierte Meter Film sollten ausreichen – für beide Paare.

Die Gesellschaft würde darauf anspringen, und das Gerücht würde die Runde machen. Gar nicht lange, und die Wolfs würden zum Gespött aller Leute werden, bei Hof und außerhalb.

Das würde den verdammten Daniel Wolf lehren, einfach hereinzuplatzen und derartig mit dem armen Toby Shreck umzuspringen.

In diesem Augenblick flog die Tür zum zweiten Mal auf, und Kardinal Kassar startete seinen Versuch eines dramatischen Auftritts. Wenn da nicht der Stuhl gewesen wäre, den Toby als Reaktion auf die erste Störung mitten in den Weg gestellt hatte.

Und wenn der Kardinal nicht direkt in diesen Stuhl hineingerannt wäre. Kassar versetzte dem Stuhl einen Tritt und funkelte Toby an, der sich mit unschuldigem Gesicht in seinem Sitz zurücklehnte und den Blick des Kirchenfürsten erwiderte. Er täuschte den Kardinal nicht eine Sekunde, doch das war auch nicht Tobys Absicht gewesen.

»Ich habe eine Botschaft von meinen Vorgesetzten in der Kirche erhalten«, begann Kassar, und der kalte, kontrollierte Ärger in seiner Stimme spiegelte sich in der offenen Wut seines zerstörten Gesichts wider. »Zusammengefaßt lautet sie: Eure Liveübertragung hat mich und die Kirche lächerlich gemacht, weil Ihr nicht warten konntet, bis ich eingetroffen war.

In der Botschaft stand noch mehr, aber im Prinzip wiederholte sie immer wieder das gleiche. Die Worte ›Gespött der Leute‹ fielen, zusammen mit ›Rückruf‹ und ›Degradierung‹ Hört mir genau zu, Ihr kleiner Mistkerl. Ihr werdet meine Karriere nicht zerstören, um Eure voranzutreiben. Von jetzt an werde ich alles zu Gesicht bekommen, das Ihr nach draußen schickt, und wenn Ihr etwas unternehmt, das meine oder die Position der Kirche unterminiert, dann werde ich Euch persönlich mit einer rostigen Säge exkommunizieren, habt Ihr mich verstanden?«

»Oh, klar und deutlich«, erwiderte Toby. »Ihr könntet nicht deutlicher werden.« Er nahm einen Schluck aus der Flasche und fuhr fort: »Ich würde Euch ja gerne einen Drink anbieten, Kardinal, aber ich habe nur diese eine Flasche. Und ich denke, ich sollte an dieser Stelle in aller Ehrlichkeit darauf hinweisen, daß ich meine Prinzipien habe.«

»Legt Euch noch mal mit mir an, und Eure Prinzipien werden in verschiedenen Marmeladengläsern nach Hause transportiert.«

Kassar machte auf dem Absatz kehrt und marschierte mit äußerster Würde hinaus. Er knallte die Tür hinter sich ins Schloß.

Toby wartete vorsichtig ein paar Sekunden und zeigte der geschlossenen Tür den Stinkefinger, bevor er aufstand und zwei kleine Keile unter die Tür rammte. Das sollte den unerwünschten Störungen ein für allemal ein Ende bereiten. Toby kehrte zu seiner Konsole zurück und beugte sich erneut über die Monitore. Er wußte genau, welches Stück Band er suchte. Eine nette Aufnahme vom Kardinal, wie er die Kirchentruppen in der knisternden Hitze des Sommers drillte, sie anbrüllte und schikanierte und sich ganz allgemein wie das Arschloch von Diktator benahm, das er war, während er selbst bequem im Schatten stand. Toby grinste und biß fest auf seine Zigarre. Er würde die Aufnahme nicht einmal an Kassar vorbeischmuggeln müssen.

Der verdammte Trottel war so von sich eingenommen, daß er wahrscheinlich dachte, er würde gut dabei aussehen.

Toby nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche, bevor er sie entschlossen zur Seite stellte. Das Aufputschmittel raste durch seinen Kreislauf wie querschlagende Kugeln, und er fühlte sich großartig. Toby rief ein paar Aufnahmen von den Gräben ab, die sich rings um die Fabrik zogen. Die Kreise der Hölle, aus denen niemand unverändert zurückkehrte. Ein paar Schnitte zu den Jesuitenkommandos, während sie die fanatischen Kirchentruppen vor sich her scheuchten, und dann zu den Verwundeten im Hospitalzelt von Mutter Beatrice. Toby schaukelte in seinem Sitz hin und her. Irgend jemand hämmerte gegen die Tür. Die Keile würden schon dafür sorgen, daß er draußen blieb. Tobys Finger flogen über die Tasten. Er war jetzt ganz in seinem Element. Wenn die Wolfs und der Kardinal dachten, sie könnten ihn daran hindern, die Story seines Lebens nach draußen zu bringen, dann waren sie verrückt. Sie konnten sich das Band ansehen, sooft sie nur wollten. Es würde keinen Unterschied machen. Wahrscheinlich hatten sie noch nie von der Palimpsest-Methode gehört. Man zeichnete etwas auf dem Band auf und überspielte es anschließend. Das Abspielen zeigte nur die neuere Aufnahme, aber mit der richtigen Maschine konnte man die ursprüngliche Aufzeichnung darunter wieder sichtbar machen. Das Verfahren war noch nicht lange auf dem Markt, doch Toby war stets der Meinung gewesen, daß man immer technisch auf der Höhe der Zeit sein sollte.

Hinterher würde es gewaltigen Ärger geben, doch das Interesse an Technos III wäre bis dahin so groß, daß selbst die Wolfs nicht mehr imstande wären, ihn zu zensieren. Toby Shreck lachte laut auf und arbeitete weiter bis in den frühen Morgen.

Eine Handvoll Ausgestoßener führte Jakob Ohnesorg, Alexander Sturm und Ruby Reise durch eine Reihe spärlich beleuchteter Tunnel und Korridore tief unter der Oberfläche von Technos III. Die Tunnel wurden stetig enger. Manchmal waren sie gerade noch breit genug, um zwei Männer aneinander vorbei zu lassen. An einigen Stellen waren die Wände glatt, wo die Tunnel von Energiewaffen aus dem lebendigen Gestein herausgeschnitten worden waren, und an anderen ausgefranst und gezackt, wo Werkzeuge und nackte Hände die gleiche Arbeit verrichtet hatten. Ohnesorg gab sich alle Mühe, nicht über das zunehmende Gewicht des Gesteins über seinem Kopf nachzudenken. Als Berufsrebell hatte er nicht wenig Zeit damit verbracht, von versteckten Kavernen und Tunnels unter der Oberfläche aus zu operieren, wo keine neugierigen Augen und Sensoren ihn beobachteten, doch er hatte nie gelernt, es zu mögen.

Die Tunnel wanden und bogen und verzweigten sich scheinbar endlos, ein finsteres Labyrinth von solcher Komplexität, daß jeder Außenseiter sich innerhalb weniger Minuten hoffnungslos darin verlaufen hätte. Ohnesorg zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß dahinter Absicht steckte. Die Ausgestoßenen vertrautem niemandem all ihre Geheimnisse auf einmal an, nicht einmal ihm. Jakob wäre auch von ihnen enttäuscht gewesen, wenn es nicht so gewesen wäre.

Wie immer wußte er genau, wo er sich befand, aber er behielt es für sich. Ohnesorg wollte den einheimischen Rebellen nicht die Freude verderben. Also schritt er vergnügt aus, Ruby an seiner Seite und Sturm ächzend hinter ihnen her. Ohnesorg machte sich allmählich Sorgen wegen Alexander. Sein alter Freund war viele Jahre an seiner Seite gewesen und hatte mit ihm zusammen auf mehr Planeten gegen die Eliten des Imperiums gekämpft, als sie zählen konnten. Aber sie hatten beide bereits gewußt, daß sie zu alt dafür wurden, bevor sie auf Eisfels in den Hintern getreten worden waren. Seither hatte Ohnesorg dank des Labyrinths des Wahnsinns neue Kraft gefunden und diese Tatsache richtig genossen, doch Sturm war hinter ihm zurückgeblieben. Alex wurde noch immer älter und langsamer. Er hatte den wachsenden Unterschied zwischen sich und Jakob Ohnesorg nicht sonderlich gut aufgenommen, aber Jakob wußte nicht, was er deswegen unternehmen sollte. Sturm leistete hervorragende Arbeit als Stratege und Ratgeber, aber das war nicht das gleiche wie Kämpfen, und beide wußten es.

Und so hatte Ohnesorg nicht das Herz gefunden, nein zu sagen, als Alexander darauf bestanden hatte, bei dieser speziellen Mission mitzukommen.

»Wie viele Kilometer dieser Tunnel gibt es eigentlich?« fragte Sturm und gab sich Mühe, die Müdigkeit in seiner Stimme zu verbergen. Vergeblich.

»Niemand weiß es genau«, antwortete Dürr & Hager #32.

Der ehemalige Fabrikklon sah genauso dünn und unterernährt aus wie immer. Auch er hatte Schwierigkeiten mit dem vielen Laufen, doch wie Sturm hatte auch er sich geweigert, aus der Sache herausgehalten zu werden. Logischerweise waren die beiden Männer sich dadurch nähergekommen. »Die einzigen Karten befinden sich in den Köpfen der Ausgestoßenen, und selbst von ihnen kennt niemand den gesamten Plan. Auf diese Weise sind wir geschützt, wenn einige von uns in Gefangenschaft geraten. Die Ausgestoßenen graben seit Jahrhunderten an diesen Tunnels, reparieren alte und errichten neue. Die Karten ändern sich praktisch laufend. Manchmal denke ich, ich brauche schon einen Führer, wenn ich nur in den frühen Morgenstunden auf die Toilette muß.

Die Sicherheitskräfte der Wolfs graben ebenfalls Tunnel, was die Sache noch komplizierter macht. Manchmal treffen die Grabungsmannschaften aufeinander, und dann bricht die Hölle los. Der Krieg geht auch hier unten weiter. Tunnelratten, die sich in der Dunkelheit mit den Klauen beharken. Die Söldner halten es nicht lange aus in den Tunnels. Sie ertragen die ständige Dunkelheit und Enge nicht. Der Druck macht sie verrückt.

Den Ausgestoßenen gefällt es im Gegensatz dazu hier unten sogar ausgesprochen gut. Die schützenden Schichten aus Gestein und Metall geben ihnen ein sicheres Gefühl. Verrückte Bastarde. Womit ich niemanden beleidigen will, Leute.«

Die vielleicht zwanzig Ausgestoßenen, die mit ihnen unterwegs waren, lächelten verständnisvoll. Keiner fühlte sich wegen der Worte von Dürr & Hager #32 beleidigt. Alexander Sturm fand schließlich genug Atem für eine weitere Frage.

»Wie tief reichen diese Tunnel? Mir kommt es vor, als würden wir seit Stunden immer tiefer steigen. Noch ein wenig weiter, und ich benötige einen Aufzug, um wieder an die Oberfläche zurückzukehren.«

»Die Oberfläche muß heute ohne uns auskommen«, erwiderte die Gespenster-Alice. Sie hatte eine gewisse Zuneigung zu Sturm entwickelt und hängte sich an ihn, wann immer möglich – zu seinem Mißvergnügen. Alice war schließlich alt, klein und häßlich, und ihre Felle waren nicht mehr gewaschen worden, seit man sie ihren ursprünglichen Trägern vom Leib gezogen hatte. Und in ihren Augen stand der Wahnsinn so deutlich geschrieben, daß jedermann ihn sehen konnte. Alice lächelte Sturm kumpelhaft an und versuchte, seine Hand zu nehmen. Er zog sie mit lang geübter Geschicklichkeit zurück. Es schien ihr nichts auszumachen.

»Wir sind unterwegs zu einer unserer zahlreichen Versammlungshöhlen«, plapperte sie glücklich drauflos. »Es wird Zeit, daß du siehst, wo die wirklichen Entscheidungen gefällt werden. Mach dir keine Sorgen; es ist nicht mehr weit. Dort unten leben gefährliche Wesen. Kreaturen, die sich an ihre Umgebung und an die Dunkelheit angepaßt haben, weit weg vom Wetter und vom Krieg. Meistens lassen wir sie ungestört, und sie massakrieren uns nicht. Keine Angst, mein Lieber. Halt dich nur bei der alten Gespenster-Alice. Bei ihr bist du sicher.«

Sturm lächelte schwach. Er fühlte sich überhaupt nicht sicher. Entschlossen richtete er den Blick nach vorn, in der Hoffnung, eine weitere Unterhaltung mit der Alten zu vermeiden.

Ohnesorg mußte ein Grinsen unterdrücken. Sturm war in seinen jungen Tagen ein richtiger Schürzenjäger gewesen. Neben Jakob seufzte Ruby schwer, und Ohnesorg wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu. Sie schnitt eine Grimasse, und ihre Mundwinkel bogen sich schmollend nach unten.

»Ich hasse es, zu Fuß zu gehen«, sagte sie beiläufig. »Ich bin Kopfgeldjägerin und keine Gesundheitsfanatikerin. Wo stecken nur all diese Tunnelratten und tödlichen Kreaturen? Ich könnte dringend ein wenig Abwechslung gebrauchen. Ich bin schließlich nicht als Tourist nach Technos III gekommen. Wann kann ich endlich wieder jemanden oder etwas töten?«

»Ich mag sie«, meldete sich Dürr & Hager #32 zu Wort. »Sie ist aus dem richtigen Holz geschnitzt.«

Die Rebellen marschierten weiter. Und weiter. Sturm hatte immer größere Schwierigkeiten, das Tempo mitzuhalten, selbst mit der aufmunternden Gespenster-Alice an seiner Seite. Ohnesorg hatte Schuldgefühle. Mit jedem Tag sah er jünger aus und fühlte sich auch so, und Sturm wirkte älter. Einst waren sie Waffenbrüder gewesen, doch inzwischen sahen sie eher aus wie Vater und Sohn. Sturm hatte bisher noch nichts gesagt, aber Ohnesorg wußte, daß sein alter Freund sich der wachsenden Unterschiede zwischen ihnen beiden bewußt war. Ohnesorg versuchte, sich deswegen nicht zu sehr den Kopf zu zerbrechen. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, daß er vielleicht zu einer ganz anderen Person werden könnte. Auch dann nicht, wenn er sich zum ersten Mal seit Jahren wieder lebendig fühlte. Jakob ließ sich zurückfallen und ging neben Sturm her, und im gleichen Augenblick überlegte er, ob aus Freundschaft oder Mitleid.

»Warum mußten wir nur jemals herkommen?« fragte ihn Sturm leise. »Krieg ist eine Sache für junge Männer. Wir sind zu alt dafür, Jakob. Wir sollten in einer Taverne an einem warmen Feuer sitzen und unglaubliche Geschichten aus unserer Jugend erzählen. Wir haben uns das verdient. Wir haben genug Blut vergossen und genügend Schlachten geschlagen. Warum geht das jetzt alles wieder von vorne los?«

»Weil der Krieg noch nicht vorüber ist«, erwiderte Jakob Ohnesorg. »Wir haben einen Eid geschworen, erinnerst du dich? Wir schworen auf unser Blut und unsere Ehre, daß wir gegen das Imperium kämpfen, bis es entweder fällt oder wir tot sind.«

»Das ist ein Eid, wie junge Männer ihn schwören«, sagte Sturm. »Junge Männer, die nichts über den Krieg, die Politik oder die Realitäten wissen, die im Imperium herrschen.«

»Willst du damit sagen, daß du nicht mehr an unsere Sache glaubst?«

»Natürlich nicht! Ich bin hier, oder etwa nicht? Ich sage nur, daß es an der Zeit ist, jemand anderen die Fahne tragen zu lassen. Jemanden, der jünger ist, dem die Kälte in den Knochen nichts ausmacht und der nicht jeden Morgen aufwacht und sich beinahe die Lungen aus dem Leib hustet. Wir haben unseren Teil getan. Und ich bin zu alt, um auf einer fremden Welt neben fremden Leuten zu sterben, während ich darum kämpfe, ein paar Klone aus einer Fabrik zu befreien!«

»Du wirst bald neue Kraft finden«, entgegnete Ohnesorg ohne rechte Überzeugung. »Dann wirst du dich wieder besser fühlen.«

»Hör verdammt noch mal auf, so gönnerhaft mit mir zu reden, Ohnesorg«, brauste Sturm auf. Danach schritten die beiden Freunde für eine Weile schweigend nebeneinander her… …bis der Ausgestoßene an der Spitze unvermittelt stehenblieb und die Hand hob, um den hinter ihm Gehenden ein Zeichen zu geben. Alles stand leise im Lichtschein der Laternen beisammen, starrte in die Finsternis voraus und lauschte angestrengt.

Sturm blickte sich besorgt um, doch Ohnesorg und die Gespenster-Alice waren zu sehr mit Lauschen beschäftigt, um auf ihn zu achten. Ohnesorg runzelte die Stirn und konzentrierte sich. Dann griff er mit seinen veränderten Sinnen hinaus. Von irgendwo voraus im Tunnel konnte er ein leises, regelmäßiges Stapfen hören, das sich immer und immer wieder selbst überlagerte.

»Was ist das?« fragte er leise. »Was kommt da auf uns zu?«

»Tunnelratten der Wolfs«, antwortete die Gespenster-Alice.

»Sie besitzen Geräte, mit denen sie Bewegungen in der näheren Umgebung feststellen können. Sie sind bereits ziemlich nah.

Macht Euch bereit.«

Im gleichen Augenblick hatte jeder eine Waffe in der Hand.

Meist Schwerter oder Äxte und hin und wieder eine stachelbewehrte Kette. Ohnesorg und Ruby Reise stellten sich automatisch nebeneinander auf, die Schwerter bereit, und überließen Sturm sich selbst. Sturm starrte auf ihre schweigenden Rücken und hob unsicher das eigene Schwert. Das Stapfen kam näher und näher. Ohnesorgs freie Hand schwebte über dem Disruptor an seiner Hüfte, doch er zog die Waffe nicht. Die Vorstellung eines querschlagenden Energiestrahls in diesem beengten Raum gefiel ihm überhaupt nicht. Er hoffte nur, die Soldaten der Wolfs würden genauso darüber denken wie er. Die Wand zu seiner Rechten brach plötzlich vom Boden bis zur Decke auseinander, und Männer in gepanzerten Kampfanzügen drängten in den Tunnel. Sie bewegten sich überraschend schnell unter dem leisen Wimmern der unterstützenden Servomechanismen und gingen mit massiven Äxten und Langschwertern, die so schwer waren, daß sie nur mit Hilfe der servounterstützten Kampfanzüge handhabbar waren, auf die dicht zusammengedrängte Gruppe von Rebellen los.

Die beiden Parteien prallten aufeinander. Die Rebellen schossen zwischen den langsameren Wolf-Soldaten hindurch, umkreisten sie und suchten mit blitzenden Schwertern und Äxten die Schwachstellen ihrer Gegner. Es war nicht viel Platz zum Manövrieren in dem engen Tunnel. Statt dessen gab es ein ständiges Hin- und Herwogen einer kochenden Masse von Körpern, die gegeneinander brandeten und gerade eben lange genug auf einem Fleck stehenblieben, um einen Schlag gegen einen Gegner zu führen, bevor sie sofort wieder davonschlüpften. Wer fiel oder niedergetrampelt wurde, besaß kaum eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen. Schwerter und Äxte prallten wirkungslos von den dicken Kampfpanzern der Wolf-Söldner ab, doch es gab auch Schwachstellen, verletzliche Gelenke und Verbindungen, wenn man wußte, wo man danach suchen mußte. Dennoch konnten die gepanzerten Söldner ein Dutzend Treffer einstecken und unverletzt weiter vorrücken, während ein einziger Schlag mit ihren servounterstützten Waffen einen Rebellen glatt in zwei Teile hieb. Und es gab weit mehr gepanzerte Soldaten als Rebellen.

Einer nach dem anderen fielen die Ausgestoßenen, und weiter und weiter wurden die Überlebenden in den Tunnel zurückgedrängt. Drei der Gepanzerten waren ebenfalls gefallen, außer Gefecht gesetzt von Treffern am Hals oder in die Augen, aber das waren erst drei von vielen. Die Ausgestoßenen kämpften verbissen weiter, fest entschlossen und unverzagt. Ihre lange Anpassung an die extremen Bedingungen von Technos III hatte sie zu mehr als einfachen Menschen gemacht, und sie waren weit besser an die Bedingungen unter der Erde gewöhnt. Sie umschwärmten die Gepanzerten, duckten sich mit beinahe unmenschlichem Geschick unter ihren Schlägen hinweg oder wichen zur Seite aus, und während der ganzen Zeit ließen sie niemals in ihren Angriffen nach. Und langsam, ganz langsam, Schritt um Schritt verlangsamte sich der Rückzug.

Mitten im dichtesten Gewühl stand Ruby Reise und schwang das Schwert mit beiden Händen. Ihre Klinge zischte in einem engen Bogen herum und durchtrennte sauber den Hals eines gepanzerten Soldaten. Der behelmte Kopf hüpfte über das Meer wogender Schultern davon, bevor er endlich zu Boden polterte. Auf dem blutigen Gesicht hinter dem Visier war noch immer der gefrorene Ausdruck des Erstaunens zu sehen. Ohnesorg lachte laut und brüllte seine Anerkennung hinaus. Er hieb mit dem Schwert nach einem Söldner, doch die Klinge prallte wirkungslos von seinem plötzlich hochgerissenen Arm ab. Die Wucht des Schlages prellte Ohnesorg das Schwert aus der Hand, und die Waffe verschwand im Chaos aus kämpfenden Leibern. Der Wolf-Söldner grinste und riß das Schwert zum tödlichen Streich hoch. Ruby sah es und schrie auf, aber sie war zu weit weg, um Jakob zu helfen. Blinde Wut flackerte in Ohnesorg auf, und er schlug seinem Gegenüber mit aller Kraft die geballte Faust gegen den Brustpanzer. Sie durchbrach die Platte und drang in die Brust des Mannes ein. Der Soldat schrie entsetzlich, als Ohnesorgs Hand sich um sein Herz schloß und es herausriß. Ohnesorg hielt das noch schlagende Herz triumphierend erhoben. Blut strömte über seinen Arm, während er laut schallend lachte.

Für einen kurzen Augenblick schien die Schlacht zu erlahmen. Jeder blieb wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen, und alles blickte zu Ohnesorg. Dann ging es wieder weiter, doch diesmal waren es die Rebellen, die die Soldaten zurückdrängten. Ohnesorg und Ruby Reise stürmten unaufhaltsam vor, und die Ausgestoßenen faßten an ihrem Beispiel neuen Mut. Weitere Gepanzerte fielen und schrien. Einige wandten sich zur Flucht, aber in dem beengten Raum hatten sie nicht genügend Bewegungsfreiheit, und so kamen sie ihren eigenen Kameraden in den Weg. Gespenster-Alice krächzte vergnügt, während sie rittlings auf den Schultern eines Söldners saß und ihr blutiges Messer immer und immer wieder durch die Sichtblende seines Helms stach.

Nicht ein einziger Söldner kam davon.

Zerschmetterte Kampfanzüge bedeckten über Dutzende von Metern den Boden. Auch die Rebellen hatten Verluste, aber nicht annähernd so viele. Überall war Blut. Es tropfte an den Wänden herab und bildete große Lachen auf dem Boden. Ohnesorg und Ruby Reise grinsten sich an. Die Aus gestoßenen drängten sich um die beiden, gratulierten ihnen und klopften den beiden anerkennend auf die Schultern. Ohnesorg wischte mit einem Lappen das Blut von seinem Arm und nickte und lächelte jedermann zu, bis seine Augen die von Alexander Sturm trafen. Sein alter Freund hielt sich ein wenig abseits von den anderen. Auch Sturms Schwert und Kleider waren blutbesudelt. Nur wenig davon schien sein eigenes zu sein. Er atmete schwer, und das Schwert in seiner Hand zitterte. Sturm erwiderte Ohnesorgs Blick, als wäre Jakob ein Fremder. Ohnesorg ging zu ihm, doch als er die Kälte in Sturms Augen bemerkte, blieb er stehen.

»Wer bist du?« fragte Sturm. »Der Jakob Ohnesorg, den ich kannte, konnte so etwas nicht. Kein menschliches Wesen kann das.«

»Ich… ich habe mich verändert«, antwortete Jakob. »Ich bin mehr als früher. Aber ich bin immer noch derselbe.«

»Nein, bist du nicht«, entgegnete Sturm. »Ich weiß nicht mehr, wer du bist.«

Er wandte sich ab und ging ein Stück in den Tunnel hinein.

Ohnesorg ließ ihn ziehen. Es lag eine gewisse Wahrheit in dem, was sein alter Freund gesagt hatte. Jakob hob den Blick und bemerkte, daß die Gespenster-Alice ihn anstarrte. Er zuckte die Schultern, und sie erwiderte die Geste. Dann ging sie Sturm hinterher. In der Zwischenzeit hatte Ruby Reise sich schnarrend und fluchend ein wenig Freiraum geschaffen und war nun dabei, methodisch das Schwert mit etwas zu reinigen, das einmal ein feines seidenes Taschentuch gewesen war. Ruby hielt nicht viel von Kameraderie und überschwenglichen Glückwünschen. Sie würde wahrscheinlich auch keine Lust haben, jetzt mit Jakob zu reden. Ohnesorg zuckte erneut die Schultern. Er hatte nur das getan, was er hatte tun müssen, wie schon viele Male zuvor.

Jakob Ohnesorg konnte noch immer das Herz in der Hand spüren, wie es das letzte Stück seines Lebens herauspumpte, während er laut lachte. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Überhaupt nicht.

Ohnesorg schob den Gedanken beiseite, als ihm eine weitere Idee kam. Er fragte sich, ob die Rebellen nicht mit Absicht einen Weg ausgesucht hatten, auf dem sie mit gepanzerten Tunnelratten der Wolfs zusammentreffen mußten. Nur um zu sehen, wozu der legendäre Jakob Ohnesorg und seine Freunde imstande waren, wenn sie nicht eine Rebellenarmee im Rücken hatten. Es war die Art von Prüfung, wie Jakob sie ausgesucht hätte. Früher. Doch obwohl er stark beeindruckt war, wie die Rebellen sich geschlagen und bereitwillig ihr Leben riskiert hatten, nur um ihn zu prüfen, so war er doch betrübt, daß es keinerlei Gefangene gegeben hatte. Es würde eine Zeit kommen, wo der Haß nur dem endgültigen Sieg im Wege stand.

Am Ende gewann man stets mehr Schlachten, indem man die Kapitulation des Feindes akzeptierte, als daß man ihn bis zum letzten Mann erschlug. Oder ging der Haß so tief hier auf Technos III, daß keine Vernunft mehr möglich war?

Die Kirchentruppen, weithin unter dem Namen ›die Gläubigen‹ bekannt, trainierten auf der großen freien Fläche zwischen dem Fabrikkomplex und dem ersten Graben. Toby Shreck und sein Kameramann Flynn waren dort und nahmen alles auf. Niemand war über ihre Anwesenheit besonders glücklich, aber daran hatten sich Toby und Flynn inzwischen gewöhnt. Offiziell sollten die Truppen der Kirche von Christus dem Krieger und die harten Söldner der Wolfs inzwischen eine integrierte Streitmacht bilden, aber beide Seiten besaßen eine eigene jahrhundertelange Tradition, ganz zu schweigen von heißblütiger Feindschaft untereinander. Folglich entwickelte sich das, was als eine gemeinsame Drill- und Waffenübung gedacht und arrangiert worden war, rasch zu einem vollständigen Chaos, als die Söldner und die Gläubigen versuchten, einander in schierer Gewalttätigkeit zu übertreffen, wenn schon nicht in Geschick.

Kardinal Kassar trug seinen schwarzen gepanzerten Kampfanzug und eine weite purpurne Kappe. Er schrie und brüllte Befehle und Gegenbefehle über die Szenerie, bis das, was von seinem Gesicht noch vorhanden war, puterrot leuchtete. Die Farbe biß sich mit seiner Kleidung und warnte vor zukünftigen Herzproblemen, doch niemand verspürte das Bedürfnis, sich dem Kardinal weit genug zu nähern, um es ihm zu sagen. Kassar fluchte und zeterte, und seine Stimme schien sich überschlagen zu wollen, während er danach trachtete, seine Leute durch die schiere Gewalt seiner Persönlichkeit dazu zu bringen, sich zu benehmen. Doch selbst die schrecklichen Strafen, die er ihnen androhte, reichten nicht aus, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Söldner der Wolfs wollten verdammt sein, wenn sie sich von einer Bande tuntiger Hymnensänger vorführen lassen würden. Die Kirchentruppen auf der anderen Seite waren fest entschlossen, einer Bande von berufsmäßigen Schlägern zu zeigen, was Männer erreichen konnten, die dem Einen Wahren Glauben anhingen. Beide Seiten hielten die Köpfe gesenkt und gingen mehr oder weniger brutal aufeinander los.

Jesuitenkommandos rannten zwischen den Linien hin und her, brüllten Befehle oder unterbrachen mit unparteiischer Bosheit und jeder gerechtfertigten Gewalt Auseinandersetzungen auf beiden Seiten. Sie rannten hierhin und dorthin und blafften ihre Untergebenen an wie Schäferhunde ihre Schafe, aber selbst die Jesuiten konnten nicht überall zugleich sein.

Trotzdem war für beinahe jeden Beobachter klar, daß nur ihre Anstrengungen einen vollständigen Zusammenbruch jeder Autorität verhinderten. Selbst die kampferfahrenen Söldner besaßen genug Verstand, um gegenüber den Jesuiten vorsichtig zu sein. Die Jesuiten waren die Elite der Elite, harte, kaltschnäuzige Killer, von denen man sagte, daß nur die Imperialen Investigatoren ihnen gleichkämen. Sie kämpften in Schlachten neben ihren Leuten und nahmen Körperteile ihrer Feinde als Andenken mit nach Hause.

Kardinal Kassar unterbrach sein angestrengtes Schreien und biß die Zähne zusammen. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, und sein ganzer Körper zitterte angespannt in dem Wunsch, nach vorn zu rennen und die ungehorsamen Bastarde zur Rechenschaft zu ziehen, die vor seinen Augen Amok liefen. Aber das durfte er nicht. Kassar wußte, daß Flynns Kamera ihn ebenso beobachtete wie seine Männer, und er durfte sich nicht den Anschein geben, als würde er die Kontrolle verlieren.

Bisher war wirklich alles auf dieser Mission schiefgegangen, doch der Kardinal hatte jedesmal jemand anderen gefunden, dem er die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Wenn er jetzt öffentlich versagte, würde das den eigentlichen Zweck der gesamten Mission unterminieren, nämlich die Ordnung auf Technos III wiederherzustellen, und, was genauso schlimm wäre, Kassars weiteren Karriereaussichten einen höllischen Schaden zufügen. Also mußte diese Szene hier einen vernünftigen Eindruck erwecken – selbst zu dem Preis, daß der Kardinal wahllos Leute exekutieren mußte als Beweis, daß es ihm Ernst war.

Toby Shreck beobachtete Kassar aus sicherer Entfernung und lächelte zufrieden. Er erkannte einen Mann am Rande des Nervenzusammenbruchs, wenn er einen sah. Toby erkannte auch einen kompletten militärischen Fehlschlag, wenn er sich so unverhüllt zeigte wie hier. Er hatte ein derartiges Chaos nicht mehr erlebt, seit Valentin Wolf einer Militärkapelle eins seiner kleinen Mittelchen in den Mittagstee getan hatte, um sich ein wenig zu amüsieren. Die Aufzeichnungen der daraus resultierenden Ereignisse waren für mehr als sechs Monate ein Bestseller gewesen. Toby warf einen raschen Blick zu seinem Kameramann.

»Sagt mir, daß Ihr das alles aufnehmt, Flynn. Sie könnten uns keine bessere Schau bieten, wenn sie es einstudiert hätten.«

»Nur die Ruhe, Boß. Milliarden von Leuten im gesamten Imperium sind live dabei.«

Toby grinste bei dem magischen Wort ›live‹ Sein letzter Bericht hatte bereits erstklassige Quoten gebracht, die höchsten Zuschauerzahlen, die die Imperialen Nachrichten je erreicht hatten. Einige Stationen wiederholten die Sendung noch immer und bezahlten jede verlangte Summe für dieses Privileg. Flynn und Toby waren bereits im Gespräch für die Verleihung bedeutender Preise und, was noch wichtiger war, größerer Bonusse.

Die Wolfs hatten beinahe einen Herzstillstand erlitten, als sie den Bericht gesehen hatten, besonders den Teil über Mutter Beatrice, und nach ihren Anwälten geschrien, aber Stephanie und Daniel hatten es irgendwie fertiggebracht, die gesamte Schuld Valentin in die Schuhe zu schieben. Sie hatten versprochen, für Änderung zu sorgen, doch bisher war auf Technos III keine wesentliche Besserung eingetreten.

Aber die ganze Geschichte hatte auch ihr Gutes gehabt. Die Wolfs hatten den Imperialen Nachrichten zugestehen müssen, daß Toby und Flynn in Zukunft von allen bedeutsamen Ereignissen live berichten durften. Eine gewaltige Zuschauerschar im gesamten Imperium wartete begierig auf das, was die beiden als nächstes ans Licht bringen würden. Und genau das war Tobys und Flynns größtes Problem. Ein guter Auftritt benötigte eine gute Fortsetzung. Toby hatte nicht erwartet, daß bei der Beobachtung einer militärischen Übung etwas Vernünftiges herauskommen würde. Dennoch hatte er in Ermangelung einer Alternative zugestimmt. Niemand würde ihm jetzt, da er ununterbrochen von Sicherheitsleuten der Wolfs begleitet wurde, noch etwas Wichtiges verraten, und seine Zuschauer wurden allmählich ungeduldig.

Doch jetzt grinste Toby zufrieden. Gerade griff eine Bande von Gläubigen eine Bande von Söldnern an. Die Gläubigen kesselten die Wolf-Leute rasch ein und begannen, die Unterlegenen ein wenig mit den Stiefeln zu bearbeiten. Toby hätte mehr auf die Fähigkeit der Wolfs und Kardinal Kassars vertrauen sollen, alles, aber auch wirklich alles zu vermasseln, was sie anfaßten. Er warf einen erneuten Blick zu Flynn, der das sich darbietende Chaos mit geübter Lässigkeit filmte. Die Kamera schwebte im Augenblick hoch über dem Wirrwarr. Flynn sah mit Hilfe seines Komm-Implantats alles, was sie filmte. Sie schwebte ein Stück zur Seite, als Flynns Aufmerksamkeit auf einen weiteren Ausbruch von Gewalt gelenkt wurde. Trotz all seiner Fehler – und Flynn besaß eine ganze Menge davon – war er ein hervorragender Kameramann. Selbstverständlich war er seit der erstaunlich guten Resonanz auf den ersten Bericht unerträglich anmaßend und arrogant geworden. Toby war froh, daß Flynn nicht in einem schwarzen Baskenjäckchen mit Federboa erschienen war, wie er es angedroht hatte.

»Aufgepaßt, Chef«, sagte Flynn leise. »Da kommt etwas Böses in Eure Richtung.«

Toby blickte sich um und zuckte innerlich zusammen, als er Kardinal Kassar erkannte, der mit entschlossenen Schritten auf ihn zukam. Toby verspürte eine stechende Unruhe, doch er achtete sorgsam darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Leute wie Kassar fraßen sich an Schwächen förmlich fest. Toby verbeugte sich förmlich vor dem Kardinal und schenkte ihm ein so unschuldiges Lächeln, daß er sich beinahe selbst an der Nase herumgeführt hätte.

»Einen schönen guten Morgen, Kardinal. Ist das nicht ein wunderbarer Tag? Ich schätze, der frühe Herbst von Technos III kommt halbwegs zivilisiertem Wetter noch am nächsten.

Bis die Stahlgewitter anfangen natürlich. Können wir Euch irgendwie behilflich sein?«

»Wie wäre es, wenn Ihr diese verdammte Kamera abschaltet, bis wir die Dinge wieder unter Kontrolle haben?«

»Es tut mir leid, Kardinal«, erwiderte Toby freundlich. »Aber die Anordnungen Eurer Vorgesetzten waren unmißverständlich. Wir sollen alles filmen, was am heutigen Tag geschieht.«

Kassar schnaubte, doch er besaß genügend Verstand, nichts darauf zu erwidern. Er hatte die Befehle selbst gesehen. Die Kirche war der Auffassung, daß ein wenig Propaganda ihre unermüdlichen Bestrebungen um größeren Einfluß bei Hofe unterstützen könnte, und Toby, Flynn und die Gläubigen auf Technos III waren ihr als der sicherste Weg zu guten Einschaltquoten erschienen. Die Kirche hatte auch der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß eine gute Dokumentation, in der die Diszipliniertheit und das große Geschick ihrer Truppen zum Ausdruck kamen, den Schaden wieder beheben könnte, den der vorhergehende Bericht der beiden Reporter verursacht hatte.

Kassar hätte die Kirche eines Besseren belehren können…, aber wie üblich hatte man ihn nicht gefragt. Er hatte die Fäuste so fest geballt, daß er spürte, wie die Fingernägel sich in die Haut gruben, doch er zwang sich, den beiden Nachrichtenmännern ein frostiges Lächeln zu schenken.

»Selbstverständlich. Stellt sicher, daß Ihr ausreichend Material zusammenbekommt. Aber ich will jeden Millimeter Eurer Bänder begutachten, bevor er gesendet wird. Die Kirche war so freundlich, mir neue Ausrüstung zukommen zu lassen, die besonders geeignet ist, solche Dinge wie Palimpseste zu erkennen. Und auch alles andere, das Ihr an mir vorbeizuschmuggeln versucht.«

In der sicheren Überzeugung, wenigstens diesmal das letzte Wort gehabt zu haben, wandte sich Kassar um und stapfte zu seinen wirr im Kreis laufenden Truppen zurück. Er räusperte sich, um den Schmerz in der Kehle zu vertreiben. Diesmal würden sie auf das hören, was er ihnen zu sagen hatte. Ansonsten… Ansonsten… Flynn blickte ihm nachdenklich hinterher.

»Meint Ihr, wir hätten ihn daran erinnern sollen, daß wir live senden?«

»Ist es vielleicht unsere Schuld, wenn er seine Befehle nicht sorgfältig liest?« erwiderte Toby brüsk. »Ich kann einfach nicht glauben, daß die Kirche einen derartigen Idioten zum Kardinal ernannt hat.«

»Familiäre Beziehungen«, erklärte Flynn.

»Wie immer, was?« sagte Toby. »Der Mann ist ein Schläger und ein Dummkopf. Mögen ihn denn wenigstens seine eigenen Leute?«

»Macht Ihr Witze? Nur die Jesuitenkommandos haben bisher verhindert, daß jemand eine Splittergranate in seine Toilettenschüssel schmuggeln konnte. Und selbst die Jesuiten haben allmählich die Nase voll von Kassar. Trotzdem hat er seine Bewunderer in der Kirchenhierarchie. Schließlich ist es genau diese äußerste Rücksichtslosigkeit, die einen zur Kirche von Christus dem Krieger führt.«

»Gutes Argument. Zieht Kassar eigentlich jemals zusammen mit seinen Truppen in die Schlacht, oder ist er nur ein feiger Etappenhengst?«

»Gebt dem Mann, was ihm gebührt. Er liebt es, mitten im Getümmel zu stehen. Ich glaube, er hat kein einziges Scharmützel verpaßt, seit er nach Technos III gekommen ist. Bietet ihm eine Gelegenheit, so viele Leute zu töten, wie er nur in die Finger bekommen kann, und er ist glücklich wie eine Muschel.« Flynn unterbrach sich und blickte nachdenklich drein.

»Eigenartiger Ausdruck, wenn man es recht bedenkt. Oder sind Muscheln dafür bekannt, überdurchschnittlich glücklich zu sein?«

»Lenkt nicht vom Thema ab.«

»Welches Thema meint Ihr?«

»Hab’ ich vergessen«, erwiderte Toby. »Filmt einfach weiter.

Die Dinge scheinen sich unglücklicherweise ein wenig zu beruhigen. Vielleicht hat er gedroht, sie alle zu kreuzigen?«

»Würde mich nicht überraschen. Ich hoffe nur, er läßt mir ausreichend Zeit, die Beleuchtung vorher richtig zu justieren.«

Toby seufzte. »Da geht unsere Chance dahin, die Quoten zu behalten. Bald hat er alles wieder unter Kontrolle, jeder gehorcht seinen Befehlen, alle arbeiten vernünftig zusammen, und unsere Zuschauer schalten einfach ab. Es gibt eben keine Gerechtigkeit in der Welt.«

Doch Toby irrte sich gewaltig. Plötzlich gingen überall auf dem Übungsgelände Sprengladungen hoch und zerfetzten die Metallwüste noch weiter. Der Lärm war ohrenbetäubend.

Schwarzer Rauch stieg auf und machte die Verwirrung komplett. Unablässig dröhnten weitere Explosionen auf allen Seiten. Splitter flogen durch die Luft. Kirchentruppen wie Söldner vergaßen jegliche Disziplin und rannten in Deckung. Der schwarze Rauch erfüllte den Himmel, verdunkelte die Sonne, und ein künstliches Zwielicht breitete sich über der Landschaft aus. Überall entflammten Feuer, und niemand war imstande, sich in all dem Lärm und Chaos Gehör zu verschaffen.

Öffnungen erschienen in der Metallwüste, und Rebellen strömten aus neu gegrabenen Tunnels. Sie feuerten mit Energiewaffen, die sie angeblich gar nicht besitzen sollten, und warfen mit Granaten um sich. Die Söldner und die Gläubigen versuchten, sich zu sammeln, doch sie waren viel zu weit versprengt. Die Rebellen fuhren mitten unter sie. Stahl blitzte, und Blut spritzte durch die Luft und sammelte sich in Lachen auf dem metallenen Boden. Toby Shreck beobachtete alles. Sein Unterkiefer hing irgendwo unten zwischen seinen Knien.

»Du heilige Scheiße. Du heilige Scheiße! Flynn, sagt mir, daß Ihr das aufnehmt!«

»Ich nehme es auf. Ich nehme alles auf! Das Licht ist beschissen, und überall hängt Rauch in der Luft, aber ich nehme es auf!«

Die Imperialen Streitkräfte wichen überall zurück. Hier und da fanden kleinere Scharmützel statt, doch die meisten Söldner und Gläubigen hielten die Köpfe gesenkt und rannten einfach nur um ihr Leben. Noch immer gingen neue Sprengsätze hoch, und die Rebellenarmee, die aus den Löchern hervorquoll, schien kein Ende nehmen zu wollen. Jesuiten schrien ihre Männer an, stehenzubleiben und zu kämpfen, doch ihre Worte gingen im Chaos unter. Einige Rebellen warfen sich auf die Jesuiten, und zögernd wichen auch sie zurück, während sie sich der feindlichen Übermacht mit erstaunlicher Schwertkunst widersetzten. Kassar stand mitten im Gedränge und rannte hierhin und dorthin, vollkommen perplex, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Rebellen strömten an ihm vorbei und verfolgten die fliehenden Söldner und Gläubigen. Endlich hatten sich ein paar zusammengerauft und blieben stehen, um zu kämpfen. Bald war die Metallwüste von sich duellierenden kleinen Gestalten übersät. In jenem Augenblick erkannte Toby Shreck ein vertrautes Gesicht in der Menge. Er packte Flynn bei der Schulter und deutete drängend in die entsprechende Richtung.

»Da! Drei Uhr! Wißt Ihr, wer das ist? Der verdammte Jakob Ohnesorg! Der Berufsrebell, leibhaftig und höchstpersönlich und in voller Aktion! Seit dem Fiasko auf Eisfels hat ihn niemand mehr in der Öffentlichkeit gesehen. Ich wußte gar nicht, daß er auf Technos III ist. Wußtet Ihr etwas davon? Ach, ist ja auch egal. Filmt einfach weiter, Flynn. Filmt, was das Zeug hält. Jakob Ohnesorg ist zurück, und wir bringen es live!«

»Wenn das Jakob Ohnesorg ist, dann sieht er für sein Alter verdammt gut aus«, sagte Flynn, während er sich auf die Bewegungen seiner Kamera konzentrierte. »Und brutal. Er hackt sich einen Weg durch die Söldner wie der leibhaftige Tod persönlich. Wer sind die Leute bei ihm?«

»Den alten Mann kenne ich nicht«, erwiderte Toby und zuckte reflexhaft zusammen, als eine weitere Explosion erfolgte.

»Die Frau steckt in einer Kopfgeldjägerkluft, aber ich kenne das Gesicht nicht. Wir können später noch recherchieren. Ihr bleibt bei Ohnesorg. Er ist die Schlagzeile.«

Ein Rebell erschien wie aus dem Nichts vor Toby. Der Reporter quiekte erschreckt auf und wich zurück. Die Augen des Rebellen waren verhangen, und Blut tropfte von seiner Klinge.

Flynn rief seine Kamera herbei und ließ sie schützend zwischen Toby und dem Rebellen schweben. Toby erkannte, daß hinter ihm genauso viele Rebellen warteten wie vor ihm, und blieb erstarrt an Ort und Stelle stehen. Flynn rührte sich ebenfalls nicht. Der Rebell blickte zu Toby und seinem Kameramann, grinste, winkte in die Optik und stürzte in das Chaos davon. Anscheinend wußten selbst die Rebellen um die Vorteile guter Berichterstattung. Toby bekam seinen Atem langsam wieder unter Kontrolle. Er war froh, daß er am Morgen beschlossen hatte, braune Unterwäsche zu tragen.

Irgend jemand blies eine Pfeife. Andere Pfeifen fielen ein, und plötzlich zogen sich die Rebellen zurück, lösten sich aus Kämpfen und brachen die Verfolgung Flüchtender ab. Sie wandten sich um und verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren, in den Tunnels unter der Metallwüste. Vorbereitete Ladungen gingen hinter ihnen hoch und versiegelten die Zugänge. Zurück blieben die Gläubigen, die Söldner und der Kardinal, und sie standen ratlos und betäubt herum und überlegten krampfhaft, von was, zur Hölle, sie da soeben getroffen worden waren. Rauch trieb durch die Luft davon. Hier und da brannten Leichen, die von Energiestrahlen getroffen worden waren. Überall lagen Tote, doch keine Rebellen. Sie hatten ihre Toten und Verwundeten mitgenommen. Alles schien mit einemmal sehr ruhig.

Kassar hob den Blick und sah Flynn, der noch immer filmte.

Er schoß herbei, ein wildes Funkeln in den Augen.

»Ihr da! Hört augenblicklich auf damit! Und gebt den Film heraus! Auf der Stelle!«

»Es tut uns leid, Kardinal«, entgegnete Toby Shreck und schaffte es irgendwie, ein ekstatisches Grinsen aus seinem Gesicht herauszuhalten. »Ich fürchte, das alles wurde live nach draußen übertragen… so, wie Eure Vorgesetzten es wünschten. Möchtet Ihr vielleicht bereits zu diesem Zeitpunkt einen Kommentar abgeben?«

Kassar hob seinen Disruptor und schoß die filmende Kamera aus der Luft.

Flynn funkelte ihn an. »Ihr werdet von meiner Gewerkschaft hören!«

Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm lachten atemlos vor sich hin, während sie sich zusammen mit den Ausgestoßenen durch enge Tunnel zurückzogen. Der Überfall war genau nach Plan verlaufen. Sie hatten minimale Verluste erlitten und dem Gegner gewaltigen Schaden zugefügt. Und darüber hinaus hatten sie sowohl die Wolfs als auch die Kirche gewaltig in Verlegenheit gebracht. Ein Klon aus der Fabrik hatte ihnen den richtigen Zeitpunkt verraten, um sicherzugehen, daß die Kamera der Reporter dabei war und alles filmte. Und jetzt rannten die Rebellen durch die neuen Tunnel zurück in die älteren, etablierten Gebiete, und trotz ihrer Müdigkeit hielten sie ein hohes Tempo aufrecht. Die durch Explosionen zum Einsturz gebrachten Ausgänge würden den Gegner nicht lange aufhalten. Aber das war auch nicht geplant. Die Schlacht war noch nicht vorüber. Hier unten, in der vertrauten Dunkelheit und Beengtheit der Unterwelt, würden die Rebellen ihren Feinden eine letzte, tödliche Lektion erteilen.

Die Tunnel liefen für eine ganze Weile nach unten, bevor der Weg in eine weite Kaverne führte. Ohnesorg kam zum Stehen, als der Weg vor ihm sich in eine Reihe noch engerer Pfade aufteilte, die an den Seiten der Kaverne entlang nach unten führten. Der gewaltige offene Raum war schwindelerregend hoch, als hätte irgend jemand das Innere eines ganzen Berges ausgehöhlt. Die Decke befand sich mehr als hundert Meter über den Rebellen, und der Boden der Kaverne schien mindestens ebenso weit entfernt. Ohnesorg blieb regungslos stehen und blickte sich um, während seine Männer an ihm vorbeidrängten und sicher über die schmalen Pfade nach unten rannten. Die Wände der Kaverne waren größtenteils glatt, poliert von Gott weiß wie vielen Jahrhunderten fließenden Wassers und anderen schmirgelnden Substanzen. Helle Streifen von metallischem Blau, Grün und Gold zogen sich an den Wänden entlang, grelle Spuren längst vergessener Industrieanlagen. Das Licht aus den Lampen der Rebellen glitzerte auf metallenen Stalagmiten und Stalaktiten, die aus wirbelnden gelben Nebeln emporwuchsen, welche den Höhlenboden bedeckten oder schwer von der hohen Decke herabhingen. Ruby und Alexander blieben an Jakobs Seite und drängten ihn leise weiter, doch er stand starr vor Staunen. Es war, als wäre er in eine gewaltige Kathedrale gestolpert, in die weite, versteckte Seele von Technos III. Atemlos blickte er sich um. Ohnesorg fühlte sich wie eine Fliege, die in einem alten, verlassenen Kloster auf einem fleckigen Fenster herumkletterte. Schließlich setzte Jakob sich wieder in Bewegung und folgte der Gespenster-Alice zögernd über eine lange Reihe von Stufen hinab in die nebligen Tiefen.

Ringsum zogen sich die Ausgestoßenen in vorbereitete Verstecke und Hinterhalte zurück. Langsam dämmerte es Ohnesorg, daß dieser Felsendom für die Rebellen nichts Besonderes war. Sie erkannten die Herrlichkeit eines solchen Naturwunders nicht. Die Ausgestoßenen hatten keine Zeit für so etwas.

Für sie war es nur ein guter Ort für eine Falle, ein weiteres Schlachtfeld in ihrem niemals endenden Krieg. Die Gespenster-Alice führte Ohnesorg, Sturm und Ruby Reise zu einer versteckten Aussparung in der Wand, von der aus man einen guten Blick zu dem einzigen Eingang der Höhe hatte. Sie überzeugte sich, daß Sturm halbwegs bequem an ihrer Seite saß, zog den Disruptor aus dem Halfter und setzte sich neben ihn, um zu warten. Die Energiewaffe wirkte in ihrer kleinen knochigen Hand viel zu groß. Dünne Fetzen von gelbem Dampf trieben vom Boden her nach oben. Es roch nach Schwefel. Die Ausgestoßenen waren in ihren Verstecken verschwunden wie schweigende Schatten, und nun warteten sie geduldig mit gezückten Pistolen auf das Erscheinen des Feindes. Die gewaltige Höhle lag still und leise.

Ohnesorg beugte sich zu der Gespenster-Alice hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: »Seit wann existiert diese Höhle?«

»Wer weiß? Jedenfalls länger als wir alle, das ist sicher.«

»Es ist wundervoll hier.«

»Verdammt richtig. Der beste Platz für einen Hinterhalt, den man sich wünschen kann. Wir haben alles unter Kontrolle, was hier unten geschieht. Die Wolf-Truppen haben nicht die leiseste Ahnung, in was sie hineinstolpern, die armen Bastarde. Es wird viel Blut, viel Leid und viele tote Feinde geben. Aber jetzt haltet die Klappe. Sie werden bald hier sein. Ihr könnt immer noch Tourist spielen, wenn wir alle umgebracht haben.«

Das Geräusch rennender Schritte ertönte hoch oben, und Ohnesorg duckte sich mit gezogener Pistole. Es war nicht das erste Mal, daß er einen so wundervollen Ort wie diesen hier in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Zu seiner Zeit hatte Jakob viele Wunder auf vielen Planeten gesehen… und sie übersät mit Toten und Sterbenden hinter sich gelassen. Trotz all seiner edlen Beweggründe dachte er manchmal, daß sein einziges Erbe eine blutige Spur aus Tod und Verwüstung sein würde.

Dann ergossen sich die Truppen der Wolfs und der Kirche in die Kaverne, angeführt von den drei Investigatoren Klinge, Barrister und Klipp, und es war nicht mehr die Zeit für weitere Rückblicke oder Bedauern. Jetzt war die Zeit des Tötens, der Tanz der Schnellen und der Toten, und alles im Namen der edlen Sache, für die die Rebellion stand.

Die große Kaverne erstrahlte blendend hell, als die beiden gegnerischen Seiten das Feuer aus ihren Disruptoren eröffneten. Die grellen Strahlen schossen in Hunderte verschiedener Richtungen, prallten von soliden Metallwänden ab und jagten als Querschläger im Zickzack durch den Raum. Schreie und Schlachtrufe brandeten auf, und Befehle wurden gebrüllt, als die Imperialen Truppen verzweifelt nach Deckung suchten.

Ihre Wut und die Sehnsucht nach Rache hatten sie bis hierher geführt. Sie waren rastlos durch die Dunkelheit hinter einem sie verspottenden Feind hergejagt – und plötzlich brachten tödliche Strahlen sie zu einem unerwarteten Halt, als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer gerannt. Männer fielen tot oder sterbend, manchmal schreiend, manchmal nicht, und still brennende Körper übersäten die schmalen Wege. Die Überlebenden fanden Verstecke, von denen aus sie das Feuer erwidern konnten, bis es in der Kaverne Schließlich still wurde, weil alle Energiewaffen erschöpft waren. Die Pause war nur kurz, die Stille lediglich vom Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden und den leiser werdenden Echos der Energiewaffen unterbrochen. Dann zogen beide Seiten die Schwerter und kamen aus ihren Deckungen hervor, um sich auf dem von Nebelschwaden verhangenen Boden der Kaverne zu begegnen.

Die Ausgestoßenen und ihre Gegner prallten aufeinander, Stahl auf Stahl, Faust gegen Faust. Keine Gnade wurde gewährt, keine erbeten. Das hier war zu einer Blutfehde der Söldner und der Gläubigen geworden. Für die Ausgestoßenen war es nie etwas anderes gewesen. Die beiden Seiten drückten endlos vorwärts, schoben den gelben Nebel wie eine Flutwelle vor sich her, ohne einen Gedanken an Vorsicht oder Überlegung zu verschwenden. Schwerter krachten aufeinander, Blut floß, und der große Flur der Kaverne wurde von einer Masse kämpfender Gestalten bedeckt.

Ohnesorg und Ruby Reise kämpften Rücken an Rücken, wie immer, unschlagbar und unaufhaltsam. Sturm kämpfte hinter ihnen und schwang das Schwert mit dem erlernten Geschick und der Erfahrung vieler Jahre. Feinde umringten die drei, ohne sie überwinden zu können. Ruby Reise tötete ohne Unterlaß und lachte laut, nun, da sie endlich, endlich in ihrem Element war. Ohnesorg kämpfte mit kalter, konzentrierter Präzision, und seine einzige Sorge galt dem schnellstmöglichen Ende des Kampfes. Er kämpfte für die Sache, und er empfand kein Vergnügen beim Töten. Dieses Gefühl war bereits vor langer Zeit in ihm ausgebrannt. Sturm hatte Mühe und war bereits außer Atem. Sein Schwert schien mit jedem Streich schwerer und schwerer zu werden. Aber er war schließlich auch nur ein Mensch.

Am Ende standen sich die drei berühmten Rebellen und die besten Kämpfer der Imperialen Truppen gegenüber. Die Investigatoren Klinge, Barrister und Klipp gegen Ohnesorg und seine beiden Freunde. Die Menge aus kämpfenden Leibern schien sich förmlich zu teilen, um die sechs zusammenzubringen, als wären sie der Mikrokosmos, der den größeren Kampf zu einer Entscheidung bringen könnte. Barrister stand Ruby Reise gegenüber, Klinge Ohnesorg und Klipp Alexander Sturm. Sie verharrten für einen Augenblick in einer Art Bekundung gegenseitigen Respekts, dann gingen sie aufeinander los. Klingen krachten funkenstiebend aufeinander und prallten zurück, und dann trennte die größere Menge wogender Kombattanten die drei kämpfenden Paare langsam wieder und trug sie mit sich fort.

Ohnesorg stemmte sich mit dem Rücken gegen einen metallenen Stalagmiten und hielt dem wütenden Angriff Klinges stand. Er wich den Schlägen aus, denen er ausweichen konnte, und parierte die restlichen, zuversichtlich, daß der Investigator mit der Zeit von ganz alleine müde wurde. Aber Klinge wurde nicht müde. Im Gegenteil. Seine Kraft schien mit jedem Schlag zuzunehmen, genau wie seine Wut mit jedem gescheiterten Angriff. Sein Mund war zu einem freudlosen Grinsen verzerrt, und seine Augen blickten wild. Ohnesorg duckte sich tief, um einem beidhändigen Hieb auszuweichen, und die Klinge des Investigators schnitt sauber durch die Spitze des Stalagmiten hinter Jakob. Allmählich dämmerte dem Berufsrebellen, daß defensives Kämpfen gegen einen Investigator eine gute Methode war, sich selbst umzubringen, gleichgültig, ob man durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen war oder nicht.

Ohnesorg ging in den Zorn-Modus und spürte, wie das Blut durch seine Adern hämmerte. Er warf sich auf den Investigator.

Klinge wich überrascht einen Schritt zurück, doch dann blieb er stehen und verteidigte seine Position, ohne sich einen einzigen weiteren Schritt zurückzuziehen, Zorn oder nicht, Labyrinth oder nicht. Er war schließlich ein Investigator, und selbst ein alternder Investigator war fast allem überlegen, was das Universum ihm entgegenwerfen konnte. Das war seine Aufgabe.

Aber Ohnesorg war durch das Labyrinth des Wahnsinns gegangen, und er war nicht mehr wie fast alles im Universum. Er lächelte ein sehr vernünftiges Lächeln als Erwiderung auf Klinges wahnsinniges Grinsen und ließ seine Deckung für den Bruchteil einer Sekunde sinken. Klinges Schwert schoß beinahe im gleichen Augenblick heran, um den offensichtlichen Vorteil zu nutzen. Ohnesorgs freie Hand bewegte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit, flog hoch und schlug die Klinge des Gegners zur Seite. Für einen beinahe endlosen Augenblick standen beide einander gegenüber, Klinge mit weit offener Deckung, und beide wußten es. Dann fuhr Ohnesorgs Schwert in Klinges Brust und drang auf der Rückseite wieder heraus.

Klinge stieß einen leisen Schmerzensschrei aus, und Blut spritzte aus seinem verzerrten Mund. Dann verließ ihn die Kraft, und er sank auf die Knie. Ohnesorg zog sein Schwert aus dem Gegner. Klinge fiel aufs Gesicht, als hätte nur das Schwert ihn noch gehalten. Ohnesorg enthauptete ihn trotzdem, sicherheitshalber. Klinge war ein Investigator, und man konnte nie wissen.

Ruby fiel im gleichen Augenblick in den Zorn, in dem sie erkannte, daß ihr Gegner ein Investigator war. Barrister mochte der älteste der drei sein, aber er war trotzdem noch immer weitaus gefährlicher, als es die meisten normalen Männer jemals sein würden. So lockte Ruby ihn in ein Corps à Corps, Gesicht an Gesicht über gekreuzten Klingen, und spuckte ihm ins linke Auge. Und in dem einen Bruchteil einer Sekunde, in dem Barrister abgelenkt war, zog Ruby einen Dolch aus dem Gürtel und stieß dem Investigator die Klinge zwischen die Rippen. Sie spürte, wie Blut aus der Wunde schoß und über ihre Hand strömte, bevor er sich von ihr wegstieß. Ruby startete eine wilde Attacke mit all ihrer Zorngestärkten Kraft und Schnelligkeit dahinter, und Barrister wich Schritt für Schritt zurück. Blut strömte bei jeder Bewegung an seiner Seite herab, doch er gab der schweren Wunde nicht nach und parierte weiterhin jeden einzelnen von Rubys Schlägen, das Gesicht gemessen und ruhig. Am Ende mußte Ruby ihre gesamte Kraft aufwenden, um Barristers Klinge zur Seite zu fegen, und all ihre Schnelligkeit, um mit ihrer eigenen einen Treffer an seiner ungeschützten Kehle zu landen.

Erneut spritzte Blut und besudelte Rubys Gesicht. Sie wich einen Schritt zurück und wischte sich das Blut von der Stirn, damit es nicht in die Augen gelangen konnte. Die ehemalige Kopfgeldjägerin grinste böse, als sie erkannte, daß sie den Investigator zur Hälfte geköpft hatte, doch das Grinsen verging so rasch, wie es gekommen war, als sie bemerkte, daß Barrister noch immer stand. Barrister war ein Investigator, und er wollte verdammt sein, wenn er unterging, ohne seinen Gegner mitgenommen zu haben. Der alte Investigator warf sich auf Ruby, das Schwert zu einem gewaltigen Streich gehoben. Ruby ließ sich aufs Knie fallen und duckte sich unter dem Hieb hinweg.

Ihr Kopf ruckte leicht, als die Klinge Barristers ihre Haarspitzen abrasierte. Sie stieß dem Investigator das eigene Schwert tief in den Bauch. Barrister grunzte, wich zurück und befreite sich dabei von Rubys Schwert. Die Kopfgeldjägerin ließ die Waffe fahren und schoß hoch. Sie bekam Barristers Kopf mit beiden Händen zu fassen und zwang ihn rückwärts nach hinten, dann knallte sie ihn mit brutaler Gewalt auf die gezackte Spitze eines Stalagmiten. Die Spitze durchdrang den Kopf des Investigators und trat am rechten Auge wieder aus. Barrister zuckte noch einmal, dann lag er still und hauchte in einem langen, frustrierten Seufzer sein Leben aus. Ruby atmete schwer. Sie hob ihr Schwert wieder auf und musterte den toten Barrister aus sicherer Entfernung. Nur für den Fall. Er war immerhin ein Investigator gewesen, oder? Zufrieden, daß er am Ende wirklich mausetot war, beugte sich Ruby vor und küßte ihn auf die blutigen Lippen. Dann richtete sie sich wieder auf und blickte sich nach Jakob Ohnesorg um.

Der Kampf war so gut wie vorüber. Die Rebellen hatten den Vorteil der Stellung und der Überraschung auf ihrer Seite gehabt, und sie waren mit der Umgebung vertraut. Trotz all ihrer Erfahrung und Wut hatten die Gläubigen und die Söldner der Wolfs niemals auch nur den Hauch einer Chance besessen. Die meisten von ihnen waren tot. Die wenigen Überlebenden hatten einen trotzigen Kreis um Klipp gebildet, den letzten lebenden Investigator. Ruby Reise trat neben Jakob Ohnesorg, der Klipp ansah. Klipp blickte von einem zum andern, während Blut von ihrer Klinge tropfte. Dann grinste sie plötzlich, wandte sich um und rannte über einen unbewachten Weg aus der Kaverne. Die anderen beeilten sich, ihr zu folgen. Die Ausgestoßenen ließen sie gehen. Irgend jemand mußte den Wolfs schließlich vom großen Sieg der Rebellen berichten.

Die Schlacht war vorbei. Die Ausgestoßenen schritten durch die Reihen der Verwundeten, töteten leidenschaftslos die Feinde und taten für ihre Kameraden, was sie konnten. Im Untergrund gab es keinen Platz für Gefangene, und der lange Transport zu den Barmherzigen Schwestern hätte die Verwundeten so oder so umgebracht. Ohnesorg und Ruby steckten die Schwerter weg und gingen, um nach Alexander Sturm zu suchen, den Schwertkämpfer, der seine besten Tage schon lange hinter sich hatte und der das letzte Mal gesehen worden war, als er Investigator Klipp gegenüberstand. Sie bewegten sich zwischen den Toten hindurch und drehten gelegentlich einen Leichnam auf den Rücken, um in das blutbefleckte Gesicht zu blicken, aber Sturm war nicht unter den Gefallenen. Schließlich fanden sie ihn. Er hatte sich in einem getarnten Hohlraum versteckt, ein gutes Stück weg vom Ort des Geschehens. Er war unverletzt. Sturm blickte zu Ruby und Jakob auf, und in seinem Gesicht stand nichts als Wut und Zurückweisung.

»Ich bin weggerannt«, sagte er trotzig. »Jeder mit gesundem Menschenverstand hätte das gleiche getan, wenn er sich einem Investigator gegenüber gesehen hätte. Ich bin nicht übermenschlich schnell oder stark wie ihr beide. Ich war kein Gegner für sie, und wir beide wußten es. Also wandte ich mich zur Flucht, und sie ließ mich gehen. Sie hatte wichtigere Dinge zu tun, als hinter einem alten Mann herzujagen. Wie gefährlich konnte ein alter Trottel schon werden?«

»Du hast dich prima geschlagen, bis sie gekommen ist«, widersprach Ohnesorg. »Du hast gekämpft wie früher.«

»Ich war müde, mir tat alles weh, und ich war völlig außer Atem«, entgegnete Sturm. »Ich kann nicht mehr kämpfen wie früher. Ich bin ein alter Mann, der seine besten Jahre hinter sich hat. Genau wie es bei dir der Fall war. Nur, daß du dich verändert hast. Du bist nicht mehr der gleiche, oder?«

»Alex…«

»Ich habe dich kämpfen sehen. Kein Mensch ist so schnell und stark. Nicht einmal der Jakob Ohnesorg der Legende. Ich erkenne dich nicht mehr wieder, Jakob. Was bist du? Eine Furie? Ein Hadenmann? Ein fremdes Wesen? Ich glaube jedenfalls nicht, daß du noch ein Mensch bist.«

»Ich bin dein Freund«, antwortete Ohnesorg. »Genau wie früher. Ich bin immer dein Freund gewesen.«

»Nein, das bist du nicht. Du siehst von Tag zu Tag jünger aus. Niemand kann dir widerstehen, nicht einmal ein Investigator. Was auch immer du jetzt bist, du hast nichts mehr gemeinsam mit Menschen wie mir. Vielleicht bist du ja wirklich gestorben, als das Imperium dich gefangen hat. Oder zumindest der Jakob Ohnesorg, den ich kannte.«

Sturm schob sich an Ohnesorg und Ruby Reise vorbei und ging davon. Ohnesorg rannte hinterher. »Alex, bitte… Ich brauche dich.«

Ruby legte Ohnesorg eine Hand auf den Arm und unterbrach ihn. »Laß ihn gehen. Er hat recht. Wir sind nicht mehr die gleichen Leute wie früher. Wir sind besser. Und du brauchst ihn nicht. Du hast schließlich mich.«

Ohnesorg blickte lange schweigend in die blutige Maske ihres Gesichts. »Ja«, sagte er am Ende. »Ich habe dich.«

Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern hielt die Klappe des Hospitalzeltes weit offen, so daß die Sanitäter weitere Verwundete ins Zelt tragen konnten. Nach dem überraschenden Angriff der Rebellen hatte es viele Schwerverwundete gegeben. Das Zelt war bereits bis zum Bersten voll. Es gab keinen Platz mehr für weitere Feldbetten. Also hatte Beatrice die vorhandenen Betten hinauswerfen lassen, um mehr Verwundete aufnehmen zu können. Jetzt lagen sie Schulter an Schulter auf blutigen Laken und stöhnten und schrien und wimmerten und warteten auf den Tod. Der Gestank von Blut, Erbrochenem und nackten Eingeweiden war beinahe unerträglich, trotz aller Desinfektionsmittel, die die Schwestern versprühten. Beatrice wußte, daß sie sich nach einer Weile an den Gestank gewöhnen würde, aber das half ihr im Augenblick herzlich wenig. Ihr war schwindlig vor Übelkeit, und sie klammerte sich an die Zeltklappe, um nicht umzufallen. Vielleicht war es auch nur die Hoffnungslosigkeit des ganzen Unterfangens. Beatrice und ihre Leute taten alles, was in ihrer Macht stand, obwohl sie wußten, daß es für die meisten Verwundeten nicht genug sein würde. Nach Toby Shrecks Bericht waren Medikamente, Plasma und Schmerzmittel in rauhen Mengen angekommen, sowohl von der Schwesternschaft als auch von anderen karitativen Vereinigungen und sogar von den zögernden Wolfs, aber keine weiteren Ärzte oder Krankenschwestern. Technos III war nicht so bedeutsam, und man benötigte das Personal andernorts dringender. Niemand hatte ein Blutbad wie dieses erwartet. Beatrice hatte noch nie im Leben so viele Verwundete von einer einzigen Schlacht gesehen.

Normalerweise starben sie einfach. Die neuen Medikamente bedeuteten, daß die Schwestern die Verletzten länger am Leben erhalten konnten, aber das wiederum zog eine größere Belastung für das noch immer beengte Hospitalzelt und die Lebensmittelvorräte nach sich.

Verdammte Rebellen. Verdammte Wolfs. Und verdammte Beatrice, weil sie hergekommen war und gedacht hatte, etwas ändern zu können.

Beatrice wischte mit dem Handrücken über ihre verschwitzte Stirn, ohne zu bemerken, daß sie eine blutige Spur von der besudelten Hand hinterließ. Wenn sie daran dachte, was sie mit einem richtigen medizinischen Labor und der entsprechenden Ausrüstung tun könnte, wurde ihr übel, und sie fühlte sich nutzlos. Also bemühte sie sich, nicht darüber nachzudenken und im übrigen alles zu tun, was in ihren Kräften stand. Beatrice schob ihre Erschöpfung beiseite und ging zurück ins Zelt.

Zurück in die Hölle. Langsam durchquerte sie das Zelt, stieg über Tote und Verwundete und half den Ärzten und Schwestern, wo sie nur konnte. Selbst dann, wenn es nur bedeutete, einem Patienten die Hand zu halten oder eine kühlende Hand auf eine fiebrige Stirn zu legen. Manchmal mußte Beatrice helfen, einen Mann festzuhalten, während die Ärzte operierten.

Sie sparten die Betäubungsmittel für diejenigen Fälle auf, die den Schock der Operation sonst nicht überleben würden. Für schnelle Operationen gaben sie den armen Schweinen in der Regel nur ein Stück Holz oder sonst etwas, auf das sie beißen konnten. Um die Schreie so weit wie möglich zu ersticken.

Beatrice machte weiter, half, wo sie konnte, und betete im stillen zu ihrem Gott, daß er ihr Kraft gab. Die Leichen wurden im gleichen Augenblick nach draußen getragen, in dem sie zu atmen aufhörten. Teilweise, weil der Platz für die Lebenden gebraucht wurde, aber hauptsächlich deswegen, weil die Wolfs de Körper als zukünftige Organspender zu benutzen gedachten.

Sie hatten für die Dienste der Söldner bezahlt, also gehörten ihnen jetzt auch die toten Körper. Kein Wolf würde je eine Möglichkeit zum Profit übersehen. Selbstverständlich würde keiner der armen Bastarde hier davon profitieren. Transplantate waren der Offiziersklasse vorbehalten. Beatrice biß die Zähne zusammen, um nicht laut zu fluchen. Oder zu schreien. Es war äußerst wichtig, daß sie einen ruhigen, zuversichtlichen Eindruck erweckte. Sie mußte so tun, als hätte sie alles unter Kontrolle. Die Patienten brauchten diesen Glauben. Die armen verdammten Schweine.

Beatrice ging weiter. Ihre Schuhe platschten durch große Lachen von Blut und anderen Körperflüssigkeiten. Der Gestank offener Eingeweide und von Kot und Urin war überwältigend.

Plötzlich hielt Beatrice inne. Ihr schien, als würde sie ein Gesicht wiedererkennen. Sie kniete neben dem sich windenden, delirierenden Mann nieder und runzelte nachdenklich die Stirn.

Die Hälfte seines linken Arms fehlte. Er war oberhalb des Ellbogens abgetrennt. Der Mann hatte auch noch andere Schwertwunden erlitten. Beatrice biß sich auf die Lippe. Natürlich kannte sie das Gesicht. Sie hatte es schließlich oft genug im Fabrikkomplex gesehen. Das war kein Söldner und kein Kirchensoldat. Das war ein Klon! Und weil das Imperium nicht gestattete, daß Klone Waffen trugen, mußte es ein entflohener Klon sein. Wahrscheinlich einer der Rebellen, die am letzten Überfall teilgenommen hatten. Sie zuckte die Schultern und stand wieder auf. Beatrice war eine Barmherzige Schwester, und alle Verwundeten waren hier willkommen. Zur Hölle mit dem, was die verdammten Wolfs sagten. Sie winkte eine der Schwestern herbei.

»Dieser hier ist ein Rebell«, sagte sie leise. »Gibt es noch mehr unter den Verwundeten?«

»Bisher sind es zweiunddreißig. Ihr habt befohlen…«

»Ja, das habe ich. Verdeckt ihre Gesichter. Mit Bandagen, wenn es sein muß. Was die Wolfs nicht wissen, macht sie nicht heiß, und wir kommen gut ohne weitere Komplikationen zurecht. Gibt es Neuigkeiten über weiteren Nachschub?«

»Das meiste wird noch immer im Orbit zurückgehalten. Seit dem Überfall gestatten die Wolfs nur noch absolut lebenswichtigen Transporten die Landung. Aus Sicherheitsgründen, wie sie sagen.«

»Bastarde. Ich werde mich noch einmal mit der Schwesternschaft in Verbindung setzen, wenn sich eine Möglichkeit bietet.

Vielleicht können sie ein wenig Druck ausüben.«

»Was machen wir mit den Rebellen, wenn sie sich so weit erholt haben, daß man sie verlegen kann? Wir dürfen sie nicht einfach hier liegenlassen. Wir brauchen den Platz. Und was macht es für einen Sinn, sie zu heilen, wenn wir sie anschließend an die Sicherheitsleute der Wolfs übergeben müssen?«

»Macht Euch deswegen keine Gedanken. Die Rebellen werden ihre Verwundeten stehlen, sobald sie halbwegs sicher transportiert werden können. Das machen sie jedesmal so.«

Beatrice blickte über die Schulter nach hinten, als am Eingang zum Zelt Stimmen laut wurden. Sie sah, wer der Neuankömmling war, und runzelte die Stirn. »Da kommt neuer Ärger.

Macht, daß diese Gesichter verdeckt werden. Rasch!«

Die Schwester nickte hastig und wandte sich ab. Beatrice ging, so rasch sie konnte, zurück zum Eingang und blockierte ihn mit ihrem Körper. Sie nickte der hochroten Nonne zu, alles Weitere ihr zu überlassen. Die Schwester erwiderte Beatrice’ Nicken dankbar und ging davon. Beatrice lächelte den Neuankömmling eisig an.

»Kardinal Kassar! Was verschafft uns die Ehre Eures Besuchs in dieser extrem geschäftigen Zeit?«

»Ihr habt verwundete Rebellen hier drin«, entgegnete Kassar tonlos. »Man hat mir davon berichtet. Ich will, daß sie meinen Leuten zum Verhör übergeben werden. Augenblicklich. Sie sollten eigentlich gar nicht hier sein. Ich habe noch mehr verwundete Männer, die zu Euch kommen werden.«

»Ist denn noch mehr schiefgegangen?«

»Das geht Euch nichts an.«

»Ihr seid derjenige, der mein Zelt mit Verwundeten füllt.

Deshalb geht es mich auch etwas an. Und als Barmherzige Schwester helfe ich jedem, der meine Hilfe braucht. Das ist meine Aufgabe.«

Kassar grinste kalt. »Steckt Euch Eure Aufgabe sonstwohin.

Entweder übergebt Ihr mir augenblicklich diesen Rebellenabschaum, oder ich lasse meine Männer kommen.«

Beatrice nickte gelassen. »Ich habe immer gewußt, daß Ihr ein kleiner Bastard seid, James. Aber laßt Euch nicht von Eurer Wut über eine verlorene Schlacht zu etwas hinreißen, das Ihr später bereuen könntet. Die Schwesternschaft besitzt eine Menge Einfluß in der Kirche, daheim auf Golgatha. Und zur Zeit bin ich die Lieblingstochter der Schwesternschaft. Ich vollbringe große Dinge für ihr Ansehen in der Öffentlichkeit.

Legt Euch mit mir an, und meine Vorgesetzten werden dafür sorgen, daß Eure Vorgesetzten wie eine Lawine auf Euch niedergehen.«

»Wir sind weit weg von Golgatha, Beatrice. Bis Ihr Eure Schwesternschaft benachrichtigt habt, ist längst alles vorbei.

Eure kostbaren Rebellen besitzen Informationen, die ich benötige, und ich werde sie tropfenweise aus ihnen herausquetschen. Sie werden genauso leiden, wie meine Männer gelitten haben. Und es gibt nichts, was Ihr tun könntet, um mich daran zu hindern.«

»Falsch«, widersprach Beatrice. »Werft einen Blick nach unten, Kardinal.«

Sie blickten beide nach unten, und da war Beatrice’ Hand und hielt ein Skalpell ganz leicht gegen Kassars Unterleib gepreßt. Beide standen vollkommen regungslos da.

»Das würdet Ihr nicht wagen«, knurrte Kassar.

»Führt mich nicht in Versuchung«, entgegnete Beatrice.

»Wie Ihr selbst gesagt habt, wir sind ziemlich weit weg von Golgatha. Unfälle geschehen nun mal. Ihr gebt doch einen Dreck auf die Schmerzen Eurer Männer. Ihr versucht nur verzweifelt, wenigstens einen kleinen Erfolg aus diesem unheiligen Chaos für Euch zu verbuchen, damit Eure kostbare Karriere nicht die Toilette hinabgespült wird. Nun, James, Ihr befindet Euch auf meinem Territorium, und hier wird getan, was ich sage. Versucht nur, an mir vorbeizukommen, und ich schwöre, ich schlitze Euch auf, so wahr ich Beatrice heiße.«

Kassar blickte in Beatrice’ entschlossene Augen – und glaubte ihr.

»Ich werde zurückkommen. Mit bewaffneten Männern.«

»Das werdet Ihr nicht. Unsere Unterhaltung wurde von einer versteckten Kamera aufgezeichnet. Wollt Unwirklich, daß Eure Männer zu sehen bekommen, wie Ihr vor nichts weiter als einer einfachen Barmherzigen Schwester den Schwanz eingekniffen habt? Das würde Eurer Karriere endgültig den Todesstoß versetzen. Und jetzt macht, daß Ihr wegkommt. Mir wird übel von Eurem Anblick.«

Kassar nickte ruckhaft und trat vorsichtig einen Schritt zurück. »Das werde ich nicht vergessen, Hexe.«

»So war’s gedacht, Kardinal. Und jetzt verpißt Euch. Auf mich wartet Arbeit.«

Kassar wandte sich um und marschierte davon. Sein steifer Rücken strahlte hilflose Wut aus. Gott mochte der erstbesten Person beistehen, die ihm in der Fabrik über den Weg lief.

Beatrice blickte ihm hinterher, das Skalpell nachdenklich erhoben. Natürlich gab es keine versteckte Kamera, aber Kassar würde es glauben. Er hätte schließlich selbst so gehandelt. Es wäre nicht verkehrt, nach diesem Zwischenfall ein wachsames Auge auf den Kardinal zu richten. Er war ein boshafter Mann und vergaß niemals eine Beleidigung. Doch Beatrice kümmerte das im Augenblick nicht. Es gab Wichtigeres zu tun. Beatrice drehte sich um, als einer der Chirurgen dringend nach ihr rief, und trottete durch Blut und Tod zurück, um zu helfen, wo sie helfen konnte.

Kardinal James Kassar war noch immer vollkommen außer sich, als er zu einem vorher arrangierten Treffen mit dem Halben Mann in dessen Quartieren ging. Er würde die Hexe ans Kreuz nageln. Vielleicht nicht persönlich und ganz bestimmt nicht, bevor er nicht das Band in den Fingern hatte. Es war nicht gut, wenn irgend jemand herausfand, wie sehr sie ihn gedemütigt hatte. Der Kardinal nickte dem Halben Mann knapp zu, der entspannt neben einem Bett stand, von dem Kassar insgeheim vermutete, daß es niemals benutzt wurde. Es war schwer, sich vorzustellen, der Halbe Mann könnte etwas so Menschliches und Verwundbares tun wie Schlafen. Das knisternde und funkensprühende Energiefeld, aus dem seine rechte Körperhälfte bestand, wirkte aus nächster Nähe noch unheimlicher als sonst. Es schien farblos und gleichzeitig aus allen Farben zusammengesetzt zu sein, die es nur gab, und wenn man es zu lange betrachtete, verschluckte es den Blick, bis man darin versank. Kassar hielt die Augen angestrengt auf das gerichtet, was vom Gesicht des Halben Mannes noch übrig war – obwohl selbst diese Hälfte nicht mehr sonderlich menschlich wirkte.

»Laßt uns direkt zur Sache kommen«, sagte Kassar rauh.

»Ich muß mich um das kümmern, was nach dem heutigen Debakel noch von meinen Männern übrig ist. Ihr bringt Instruktionen von meinen Vorgesetzten, wie mit den Wolfs zu verfahren ist?«

»Sehr einfache Instruktionen«, stimmte der Halbe Mann zu.

Als er den Mund zum Sprechen öffnete, konnte Kassar die Energie darin schäumen sehen. Der Kardinal zwang sich dazu, sich auf das zu konzentrieren, was der Halbe Mann sagte. »Ihr werdet an bestimmten strategischen Stellen Bomben legen, die ich von Golgatha mitgebracht habe. Ich besitze eine Karte, die Euch die exakten Positionen zeigt. Die Bomben werden gerade ausreichend Schaden anrichten, um die Produktion des neuen Antriebs zu verzögern, ohne sie ernsthaft zu gefährden. Der Zweck ist, die Wolfs inkompetent erscheinen zu lassen. Die Kirche wird anschließend in einer starken Position sein, um die Kontrolle über die Antriebsproduktion zu übernehmen, im besten Interesse des Imperiums. Anscheinend verspüren Eure Vorgesetzten das Bedürfnis nach noch mehr Einfluß bei Hofe.«

Kassar nickte. »Das sollte nicht schwerfallen. Ich kenne genau den richtigen Mann für diese Aufgabe. Sehr diskret und im Zweifelsfall vollkommen entbehrlich. Ihr gebt mir die Karte und die Bomben, und ich kümmere mich um alles Weitere.

Niemand wird etwas bemerken, bis die Bomben hochgehen.«

Er unterbrach sich und starrte den Halben Mann für einen Augenblick nachdenklich an. »Ihr seid mir früher nie besonders religiös erschienen. Warum riskiert Ihr Eure vielgerühmte Unparteilichkeit, um Bomben für die Kirche hereinzuschmuggeln? Welchen Vorteil zieht Ihr aus dieser Sache?«

»Etwas, das ich sehr dringend benötige. Nichts, das Ihr wissen müßtet.«

»Nun, auch ich will etwas«, sagte Kassar. »Die Ehrwürdige Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern. Sie leitet ein Feldhospital ganz in der Nähe. Ich will, daß sie stirbt.

Langsam und schrecklich. Ihr arrangiert das für mich, und ich halte den Mund über das, was ich weiß.«

»Ich könnte Euch auf der Stelle töten«, erwiderte der Halbe Mann.

»Ihr könnt den Plan nicht ohne meine Hilfe in die Tat umsetzen«, entgegnete Kassar ungerührt. »Ihr besitzt nicht die notwendigen Verbindungen. Nur meine Männer können ohne Aufsicht an die Stellen, wo die Bomben explodieren sollen. Bei jedem anderen beginnen die Wolfs, unangenehme Fragen zu stellen. Ihr braucht mich.«

»Die Qualität der Leute, die in die Kirche eintreten, ist in den letzten Jahren rapide gesunken«, erklärte der Halbe Mann. »Also schön. Ich bin ermächtigt…, flexibel zu reagieren, um den Auftrag auszuführen. Ich werde dafür sorgen, daß Schwester Beatrice ein unerfreuliches Ende findet.«

»Ich sage Euch Bescheid, wenn es soweit ist«, erwiderte Kassar. »Ich muß zuerst herausfinden, ob ein bestimmtes Band existiert.«

»Wie Ihr meint. Aber, Kassar… Versucht nie wieder, mich unter Druck zu setzen. Ich habe sehr wenig Geduld mit Leuten, die mich verärgern. Ihr findet die Karte dort auf dem Schreibtisch, zusammen mit Instruktionen, wo die Bomben sind. Die Zünder müssen so eingestellt werden, daß sie während der Zeremonie zur Eröffnung der Massenproduktion des Antriebs hochgehen. Das Nachrichtenreptil Shreck und sein Kameramann werden dort sein und alles für die Nachwelt festhalten.«

»Gut«, sagte Kassar. »Ich habe selbst eine kleine Überraschung für diesen Shreck vorbereitet. Er wird nicht nur die Neuigkeiten aufzeichnen, er wird ein Teil von ihnen sein.«

Daniel und Stephanie Wolf stritten wieder einmal, obwohl sie wenigstens genügend Verstand besaßen, es diesmal nicht in der Öffentlichkeit zu tun. Stephanie ging in der privaten Empfangshalle der Familie auf und ab und bewarf ihren Bruder mit Worten wie mit Messern. Daniel lehnte schmollend an der eingebauten Bar und starrte in sein Glas. Michael und Lily standen mit großen Drinks in den Händen in respektvollem Abstand beieinander und wurden von ihren Ehegatten wie gewöhnlich vollkommen ignoriert. Die Halle hatte früher den Feldglöcks gehört, und ihr Wappen schimmerte noch immer schwach an einer Wand durch, weil es nicht sauber entfernt worden war, bevor man das Wappen der Wolfs darüber gemalt hatte. Trotz der feindlichen Übernahme durch den Wolf-Clan strahlte der gesamte Fabrikkomplex noch immer eine starke Präsenz der Feldglöcks aus. Sicherheitsleute der Wolfs stießen noch immer auf versteckte Fallen in den Operationszentralen und auf Logikbomben in den Lektronen. Jede Verpflegung mußte von der Außenwelt herangeschafft werden. Was vielleicht erklärte, warum Stephanie bereits schlecht gelaunt gewesen war, bevor die Dinge aus dem Ruder liefen.

Stephanie unterbrach sich für einen Augenblick und schnappte nach Luft. In der Halle entstand eine ominöse Stille. Daniel hatte eine Menge Antworten auf der Zunge, aber er wußte, daß es keinen Sinn machte, seine Schwester zu unterbrechen, solange sie noch in voller Fahrt war. Außerdem mußte das, was er zu sagen hatte, in höchster Lautstärke gebrüllt werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen, und er vertraute der Schalldichtheit der Halle nicht. Angeblich versteckten sich unter dem Personal der Fabrik noch immer Anhänger der Feldglöcks, ganz zu schweigen von Spionen der Kirche. Und es wäre gar nicht gut, wenn irgend jemand mithörte, wie Daniel und seine Schwester Verrat gegen die eigene Familie planten.

Nicht einmal die handverlesenen Männer, die draußen vor der Halle Posten bezogen hatten. Die Wachen waren notwendig, sogar innerhalb der Fabrik, um Schutz vor Sympathisanten der Rebellen und Infiltratoren zu gewähren. Und um sicherzustellen, daß der verdammte Kardinal und seine Leute auf Distanz blieben. Kassars Haß auf die Wolfs im allgemeinen und Valentin im besonderen war wohlbekannt, und es machte überhaupt keinen Sinn, den Kirchenfürsten in Versuchung zu führen.

Schließlich wußte jedermann, daß die Kirche von Christus dem Krieger davon überzeugt war, die Verantwortung für die Produktion des neuen Antriebs gehöre in ihre Hände. Wie üblich lehnte sich die Imperatorin auf ihrem Thron zurück und überließ es den Streitenden, sich untereinander einig zu werden.

»Ich denke, wir sollten nicht in Gegenwart von denen da über die Sache reden«, sagte Daniel schließlich und deutete mit dem Glas in der Hand auf Lily und Michael.

»Sie werden den Mund halten«, erwiderte Stephanie herablassend. »Was gut ist für uns, ist auch gut für sie, und das wissen die beiden. Außerdem ist es wichtig, daß sie von unseren Plänen wissen. Dann können sie nicht aus Unkenntnis das Falsche sagen oder tun. Nicht wahr, meine Lieben? Natürlich habe ich recht. Und jetzt paß auf, Daniel. Wir müssen die Sache noch einmal durchgehen. Der Angriff der Rebellen während der Liveübertragung hat uns verdammt schlecht aussehen lassen. Uns genauso wie Valentin. Es bedeutet einen gefährlichen Rückschlag für unsere Pläne, und uns läuft allmählich die Zeit davon. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, damit wir beide gut aussehen und Valentin als kompletter Trottel dasteht, bevor die Produktion richtig anläuft. Wenn es erst einmal so weit ist, wird Valentin das Lieblingskind der Eisernen Hexe sein, und wir brauchen ein kleines Wunder, um ihn zu vertreiben.«

»Ganz deiner Meinung«, stimmte Daniel zu. »Aber ich will trotzdem nicht, daß wir in Gegenwart von Zeugen darüber sprechen. Ich vertraue dir, daß du nicht redest, ganz gleich, unter welchen Druck man dich setzt, aber für unsere lieben Ehegatten lege ich keine Hand ins Feuer. Wir mögen mit ihnen verheiratet sein, aber das macht sie noch lange nicht zu unserer Familie.«

»Oh, also schön. Wir werden in meinen Privatgemächern weiter darüber sprechen. Michael, Lily, ihr beide bleibt hier, bis wir nach euch schicken. Ihr müßt sowieso keine Einzelheiten erfahren. Macht einfach nur das, was wir euch sagen. Und versucht zur Abwechslung mal nicht die Bar trocken zu trinken.«

Stephanie rauschte majestätisch aus der Halle, im Kielwasser Daniel, wie immer. Lily und Michael warteten, bis sich die Tür fest hinter ihren beiden Ehegatten geschlossen hatte, dann fielen sie sich in die Arme. Münder trafen sich hungrig, Leiber preßten sich aneinander, und die beiden Liebenden umklammerten sich wie Ertrinkende. Seit ihrer Ankunft auf Technos III hatten sie nur wenig Gelegenheit zum Zusammensein gehabt, doch das hatte die Flammen ihrer Leidenschaft nur noch weiter angefacht. Vielleicht, weil es so deutlich machte, daß beide nur einen einzigen Menschen besaßen, auf den sie sich verlassen konnten, und das war der jeweils andere. Schließlich lösten Lily und Michael sich ein wenig voneinander, noch immer gegenseitig in den Armen, schwer in den Mund des anderen atmend, die Augen unverwandt ineinander versenkt.

»Wir müssen es tun«, sagte Lily, die Stimme rauh vor drängendem Verlangen. »Es ist unsere einzige Chance, von ihnen frei zu sein und unser eigenes gemeinsames Leben zu führen, Michael. Ich habe einen Wachposten, der mir aus der Hand frißt. Er kann uns Sprengstoff aus der Waffenkammer besorgen. Hinterher können wir ihn töten und die Schuld auf eingeschleuste Agenten der Rebellen schieben. Danach müssen wir nichts weiter tun, als die Bomben an die richtigen Stellen zu schaffen und zur richtigen Zeit hochgehen zu lassen, und das wird das Ende des lieben Daniel und der lieben Stephanie sein.

Mögen sie verrotten und in der Hölle schmoren.

Niemand wird uns verdächtigen. Es gibt viel zu viele andere offensichtliche Feinde, angefangen bei den Rebellen bis hin zu Kardinal Kassar. Wir werden sehr um unsere Gatten trauern, aber wir werden die einzigen sein, die das hier übernehmen können. Valentin wird nicht den weiten Weg nach Technos III kommen wollen, weg von den giftigen Substanzen, an denen er so sehr hängt, nur um eine blöde Fabrik zu leiten, und wir sind die einzigen aus der Familie, denen er hier vertrauen kann. Sobald wir bewiesen haben, daß wir die Dinge im Griff haben, wird er uns in Ruhe lassen und seine Aufmerksamkeit auf andere Geschäfte richten. Am Ende können wir sogar heiraten.

Valentin wird keine Einwände erheben, nicht, wenn wir ihn darauf hinweisen, daß es der einzige Weg ist, die Fabrik in der Familie zu halten.«

»Hast du eigentlich niemals Schuldgefühle?« fragte Michael.

Er schob Lily plötzlich von sich fort. Sie verlor das Gleichgewicht und stolperte einen Schritt nach hinten. Lily sah sehr zart und zerbrechlich aus mit ihren großen dunklen Augen, schwarz wie die Nacht. Michael hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was er sagen wollte. »Wir sind immerhin mit ihnen verheiratet. Sie machten uns zu Wolfs. Zu Aristokraten. Ich war ein Buchhalter, und du warst eine Bibliothekarin und eine unbedeutende Tarot-Wahrsagerin. Wenn ich dich nicht kennengelernt hätte, wäre ich mehr als glücklich, mit einer Wolf verheiratet zu sein und das luxuriöse Leben eines Aristokraten führen zu dürfen.«

»Aber wir haben uns getroffen«, widersprach Lily und trat wieder so nah heran, daß ihr Atem süß in Michaels Mund duftete. »Und du liebst mich, genau wie ich dich liebe, mehr als das Aristokratsein, mehr als das eigene Leben. Wenn wir nicht Zusammensein können, ist mir alles andere auch egal. Schuldgefühle? Was hat das mit alledem zu tun? Daniel hat niemals versucht, ein Ehemann für mich zu sein. Er hat mich nie geliebt, mich nie gemocht und nie einen Augenblick in meiner Gesellschaft verbracht, wenn er nicht unbedingt mußte. War Stephanie etwa jemals anders? Hat sie sich je einen Dreck um dich gekümmert? Außer als modisches Anhängsel, als großen Muskelberg, mit dem sie bei Hofe prahlen konnte? Jakob Wolf hat unsere Hochzeiten nur deswegen arrangiert, weil er ein paar kleinere Geschäfte in die Familie bringen wollte, die er niemand anderem überlassen konnte. Unsere Familien verkauften ihm die Geschäfte zusammen mit uns wegen der hohen Aussteuer, die er ihnen bot. Niemand hat uns gefragt. Niemand hat uns jemals nach unserer Meinung gefragt.«

Michael nickte zögernd und schloß Lily erneut in die Arme.

Sie kuschelte sich zufrieden an ihn, und eine Weile standen sie schweigend beisammen.

»Nun?« erkundigte sich Lily schließlich. »Wirst du es tun?

Wirst du mir helfen, die Bomben zu plazieren?«

»Natürlich werde ich. Ich konnte dir noch nie etwas abschlagen. Aber Lily… Ich möchte nicht, daß wir uns Illusionen über uns machen. Selbst wenn wir Daniel und Stephanie töten und ungeschoren davonkommen, gibt es keine Zukunft für unsere Liebe. Leute wie wir finden kein glückliches Ende. Valentin und Konstanze werden einen offenen Krieg um die Kontrolle über die Fabrik vom Zaun brechen, und wir werden ihnen dabei nur im Weg stehen. Sie werden nicht erlauben, daß wir heiraten. Sie werden uns eher voneinander trennen und an entgegengesetzte Enden des Universums verfrachten, als daß sie zusehen, wie wir eine gemeinsame Machtbasis gründen. Sie werden unsere Liebe ganz nebenbei zerstören, ohne sich auch nur anzustrengen… weil sie die Macht dazu haben.«

»Es muß nicht so weit kommen«, widersprach Lily, ohne den Kopf zu heben. »Wir sind nur kleine Fische, Michael. Konstanze und Valentin werden so beschäftigt sein, sich gegenseitig zu bekämpfen, daß sie von uns gar keine Notiz nehmen, bis es zu spät ist. Selbst die kleinste Schlange, die unbeobachtet durch das hohe Gras kriecht, kann ein tödliches Gift verspritzen. Wir werden sie stürzen, mein Liebster. Wir werden alle zerstören, weil sie uns nicht mögen.«

»Träum nur weiter, kleines Mädchen«, sagte Michael sanft.

»Vielleicht kommt es ja so, wie du dir denkst, vielleicht aber auch nicht. Es spielt keine Rolle. Ich will lieber mit dir zusammen verdammt sein, als ohne dich leben zu müssen.«

Etwa um die gleiche Zeit, als verschiedene Wolfs verschiedene Ränke schmiedeten, wurde eine normale Propagandaübertragung von Technos III, die ein zögernder Toby Shreck moderierte, von einem plötzlichen Ausbruch von Statik unterbrochen. Die Zuschauer erhaschten einen kurzen Blick auf Toby den Troubadour, der den Blick von der Kamera abwandte und fluchte: »Was, zur Hölle…?«, dann war er ganz im Rauschen der Statik verschwunden, die einen Augenblick später einem neuen Gesicht wich, das die Schirme erfüllte. Ein Mann in den späten Vierzigern, dunkel, attraktiv, hart, aber dennoch charismatisch. Seine Augen blickten fest, sein Lächeln war offen. Als er zu sprechen begann, hörte jedermann ihm zu.

»Guten Abend, verehrte Freunde. Mein Mine ist Jakob Ohnesorg. Einige von Euch mögen bereits von mir gehört haben. Es stimmt, was man sich erzählt. Gegenwärtig helfe ich den Rebellen der dem Wolf-Clan gehörenden Welt Technos III, ihre Freiheit und Würde zurückzugewinnen. Einst war es ihre Welt, aber vor langer Zeit ist sie ihnen von denen mit mehr Macht und Einfluß bei Hofe weggenommen worden. Eine alte Geschichte, nichts, über das man sich heute noch aufregen würde.

Aber auf Technos III befindet sich die Fabrik, in der Löwensteins neuer Raumschiffsantrieb produziert werden soll. Sicher habt Ihr eine Menge über diesen Antrieb gehört und die vielen, vielen Vorteile, die er bringt. Aber wovon man Euch nichts erzählt hat, sind die menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen der Antrieb gebaut wird. Sklavenarbeit und lebenzerstörende Strahlenbelastung.«

Das Bild Ohnesorgs wich dem einer langen Reihe von Menschen, die in einer großen, niedrigen Halle arbeiteten. Die Beleuchtung war schmerzhaft hell, und seltsame Lichter aus keiner erkennbaren Quelle färbten die Luft. Hin und wieder flimmerte die Luft, und Dinge, die zuerst nah gewirkt hatten, befanden sich mit einemmal weit weg – und umgekehrt. Die gesamte Szene wirkte unruhig, als hätte sie jemand mit einer verborgenen, eingeschmuggelten Kamera gefilmt. Männer, Frauen und Kinder arbeiteten gemeinsam, krochen in und über große Konstrukte aus Metall oder Kristall. Langsam und unter großen Mühen bauten sie mit Handwerkszeugen und Instrumenten etwas Stück für Stück zusammen. Viele von ihnen besaßen verdrehte Knochen und Körper. Einigen fehlten Finger. Andere besaßen keine Unterkiefer oder keine Augen, als wären sie von etwas weggefressen worden. Die Szene war noch eine Weile kommentarlos auf den Schirmen zu sehen, um die Wirkung einsinken zu lassen, dann fuhr Jakob Ohnesorgs Stimme fort:

»Ganze Familien arbeiten hier. Sie bauen die Antriebe zusammen. Sie verrichten Arbeiten, die zu kompliziert und zu wichtig sind, um sie Automaten anzuvertrauen. Automaten kommen mit den Arbeitsbedingungen nicht zurecht. Maschinen spielen verrückt und erleiden Fehlfunktionen. Das gleiche gilt für die Lektronen. Nur Menschen sind anpassungsfähig genug.

Die kaum verstandenen Kräfte, die selbst in einem erst teilweise fertiggestellten Hyperraumantrieb herrschen, haben entsetzlich zerstörerische Auswirkungen auf menschliches Gewebe.

Die Familien, die auf diesen Bildern zu sehen sind, arbeiten vierzehn Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Wenn sie zu schwach oder zu mißgestaltet sind, um weiter zu arbeiten, bringt man sie weg und entledigt sich ihrer. Es gibt immer genügend Nachschub. Weil die Menschen, die Ihr auf dem Schirm seht, Klone sind. Und niemand gibt einen verdammten Dreck auf das Schicksal von Klonen. Außer mir. Und außer den Rebellen von Technos III

Die Szene wechselte erneut und zeigte einen weiten Panoramaschwenk über Reihen um Reihen von Rebellen, die in einem Schützengraben Posten bezogen hatten. Es regnete in Strömen.

Männer, Frauen und Kinder standen Seite an Seite, alle bewaffnet und alle bereit zum Kampf. Ihre Gesichter wirkten müde, aber entschlossen. Ohnesorg kommentierte weiter: »Es gibt keine Nichtkombattanten in dieser Rebellion, weil das Imperium sie alle töten würde. Nur, weil sie wagen, eine eigene Meinung zu besitzen. Weil sie es wagen, gegen den Diebstahl und die Verwüstung ihrer Welt zu protestieren. Sie kämpfen um ihr Leben und um ihre Zukunft, ohne Unterlaß, ohne jede Pause. Und ich kämpfe jetzt an ihrer Seite. Genau so, wie ich eines Tages vielleicht an Eurer Seite kämpfen werde, für Euer Leben und Eure Zukunft. Weil es dem Imperium nämlich egal ist, wen es bei seiner endlosen Suche nach immer mehr Reichtum und Macht und Selbstbefriedigung zerstört.«

Jakob Ohnesorg füllte erneut den Schirm. Mitgenommen, aber noch immer leidenschaftlich. Stark, verläßlich, entschlossen. Der Mann mit Narben in den Augen. »Heute nacht, meine Freunde, bringen wir Euch zum ersten Mal in Eurem Leben die Wahrheit. Was hier auf Technos III geschieht, könnte jedem von Euch zustoßen. Wenn irgendein Aristo Euren Planeten haben will, dann kann er ihn sich nehmen, und niemand wird ihn daran hindern. Wenn er dann beschließt, Euch alle zu Tode zu schinden, dann wird niemand eine protestierende Stimme erheben, solange nur alle daran verdienen. Die Imperatorin rafft mehr und mehr Macht an sich und verlangt mehr und mehr von ihren Untertanen, alles im Namen einer Invasion fremder Mächte, die vielleicht niemals stattfinden wird. Das Parlament kann Löwenstein nicht aufhalten. Es ist faul und korrupt geworden, genau wie unsere Aristokraten.

Was Ihr auch immer besitzt, sie können es Euch wegnehmen.

An was auch immer Ihr glaubt, sie können es zerstören. Und sie werden es tun, wenn niemand sie aufhält.

Ich bitte Euch nicht, loszurennen und unserer Rebellion beizutreten. Noch nicht. Vergeßt nur nicht, was Ihr heute gesehen und gehört habt, und denkt darüber nach. Hört nicht auf die Lügen, die das Imperium Euch über uns Rebellen erzählt. Wir sind genau wie Ihr, mit der einzigen Ausnahme, daß wir unser Leben einer einfachen Wahrheit gewidmet haben. Daß nämlich alle Menschen, ob Klone oder Esper oder Normalgeborene, gleich geschaffen sind und das gleiche Recht haben, über ihr Schicksal zu bestimmen. Ihr könnt uns helfen. Wenn Ihr wollt…«

Und in diesem Augenblick wurden im gesamten Imperium die Schirme dunkel. Statik summte und knisterte eine Weile, bevor die lokalen Sender das Programm übernahmen und eilig andere Sendungen zeigten. Später würde man die Unterbrechung des Programms als einen weiteren Streich der Kyberratten abtun. Nichts davon wäre echt gewesen. Niemand mußte sich wegen irgend etwas Gedanken machen. Die Zuschauer würden die wirklichen Umstände auf Technos III bald mit eigenen Augen sehen können, da die Wolfs den Kameras großzügig erlaubten, bei der Fertigstellung des ersten neuen Antriebsaggregats im Rahmen einer Zeremonie in genau zwei Tagen dabeizusein.

Zurück auf Technos III, an der Oberfläche außerhalb des Fabrikkomplexes, senkte Kardinal Kassar mit befriedigtem Grinsen den Disruptor. Ein einziger Schuß hatte ausgereicht, um die Hauptsendeantenne der Fabrik in Stücke zu schießen und alle hinausgehenden Sendungen zu unterbinden. Er blickte sich selbstzufrieden um, als Daniel und Stephanie über den Abhang herangestürmt kamen, dicht gefolgt von Toby und diesem schrecklichen Flynn. Kassar grinste ihnen zu und winkte herrisch in Richtung der zerstörten Antenne.

»Ich möchte meinen, das wird die Rebellen in Zukunft daran hindern, weiterhin ihre vergifteten Lügen durch Eure Antenne nach draußen zu senden. Offen gesagt, ich bin höchst überrascht, daß niemand Sicherungen gegen derartigen Mißbrauch eingebaut hat.«

»Rein zufällig irrt Ihr Euch«, entgegnete Stephanie in einem so kalten Ton, daß ein Schneemann beim Klang ihrer Stimme erzittert wäre. »Wenn die Rebellen ein paar Augenblicke länger auf Sendung geblieben wären, hätten meine Sicherheitsleute die Quelle ihres Signals zurückverfolgen können, und wir wären imstande gewesen, Männer loszuschicken und ihr Material zu zerstören. Aber dank Eurer Heldentat haben wir nicht nur keine Idee, von wo aus die Rebellen gesendet haben, sondern Ihr habt auch soeben unsere einzige Verbindung mit der Außenwelt zerschossen. All unsere anderen Antennen waren mit dieser hier zusammengeschaltet. Ohne sie haben wir keinerlei Verbindung mehr mit dem Imperium. Was bedeutet, daß die Zeremonie, die auf persönlichen Befehl der Herrscherin in zwei Tagen live übertragen werden sollte, nicht mehr stattfinden kann. Es sei denn, Eure Leute finden einen Weg, die verdammte Sendeantenne wieder zusammenzubauen.«

»Ah«, sagte Kassar. »Jaaah…«

»Vielleicht darf ich auch darauf hinweisen«, meldete sich Toby zu Wort, der den Augenblick vielleicht ein wenig zu sehr genoß, »daß ich, hättet Ihr die Antenne nicht zerschossen, sicherlich imstande gewesen wäre, in wenigen Stunden eine Gegendarstellung zu bringen und jeden Schaden zu beheben, ganz gleich, was die Sendung angerichtet haben mag. Eine verdammte Menge Leute werden ziemlich unerfreut über Euch sein, Kardinal, wenn Eure Männer die Antenne nicht wieder zum Funktionieren bringen, und zwar verflucht schnell.«

Kassar blickte auf die zerfetzten Einzelteile der Antenne, die

über den Metallabhang zerstreut herumlagen. »O Scheiße!«

»Ich hätte es nicht besser formulieren können«, stimmte ihm Stephanie zu. »Ich erwarte stündliche Meldungen von Euren Leuten über den Fortschritt der Reparaturen. Und wenn sie zum Zeitpunkt der Einweihungsfeierlichkeiten nicht fertig ist, werde ich Euch persönlich an den Eiern packen. Vorausgesetzt, die Imperatorin ist nicht schneller als ich.«

Stephanie nickte Daniel brüsk zu. Die beiden Geschwister wandten sich um und marschierten über den Abhang zurück ins Fabrikgebäude. Kassar starrte ihnen hinterher und setzte sich dann ebenfalls eilig in Bewegung. Toby und Flynn musterten den zerstörten Sender. Sie wirkten eigentlich ziemlich fröhlich.

»War das wirklich Jakob Ohnesorg? Was meint Ihr?« erkundigte sich Flynn.

»O ja! Ich habe unsere früheren Aufnahmen mit den Daten der Imperialen Nachrichten verglichen. Er ist es, kein Zweifel.

Ein wenig vom Leben gezeichnet, aber wenn man sein Alter und seine Vergangenheit bedenkt, dann sieht er noch verdammt gut aus. Und wenn ich nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, hätte spätestens seine Sendung diesen Zweifel ausgeräumt. Das war der klassische Jakob Ohnesorg. Genau die Art von Operation, für die er so berühmt war.«

»Dann waren diese Aufnahmen von den Klonen in der Fabrik echt?«

Toby blickte Flynn fest in die Augen. »Ich weiß es nicht. Gesetzt den Fall, die Bilder waren echt – dann könnt Ihr sicher sein, daß die Wolfs uns auf der Stelle getötet hätten, wenn wir dabei erwischt worden wären, wie wir wegen eines Exklusivberichts herumschleichen. Es gibt Grenzen, wie man Menschen behandeln kann…, selbst wenn es nur Klone sind. Löwenstein muß diesen neuen Antrieb wirklich dringend benötigen.«

»Also haben wir die Geschichte einfach ignoriert?«

»Seit wann seid Ihr denn so idealistisch? Jeden Tag sterben Menschen im ganzen Imperium. Es gibt nichts, was wir daran

ändern könnten. Hin und wieder bietet sich eine Gelegenheit, eine kleinere Sache zurechtzurücken, zum Beispiel Schwester Beatrice’ Hospital, aber laßt Euch das ja nicht zu Kopf steigen.

Selbst wenn wir es fertigbrächten, Filmmaterial über die Klone bei der Arbeit zu beschaffen, stehen die Chancen gut, daß es niemals gesendet würde. Nicht heute. Und ich gehe jede Wette ein, daß die Imperialen Nachrichten uns auf der Stelle feuern würden. Ihr müßt lernen, Euch mit kleinen Siegen zufriedenzugeben, Flynn. Das heißt, wenn Ihr Euren Kopf gerne auf den Schultern behalten wollt.«

Toby und Flynn standen schweigend eine Weile beisammen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Schließlich rührte sich Flynn als erster. »Wenn Jakob Ohnesorg hier gewinnt, dann könnte das der Beginn der ganz großen Rebellion werden.«

»Gott, wie ich mir das erhoffe«, erwiderte Toby. »So ein Krieg liefert Unmengen von erstklassigem Material. Auf dem Schlachtfeld kann man über Nacht berühmt werden.«

»Sprecht nur für Euch selbst«, sagte Flynn. »In dem Augenblick, wo das Schießen beginnt, tauche ich in Deckung und halte den Kopf unten, und Ihr könnt alleine filmen.«

»Das Schwierige an Euch«, erklärte Toby, als sie sich den Abhang hinunter in Richtung Fabrik in Bewegung setzten, »ist, daß Ihr keinerlei Ehrgeiz besitzt.«

»Mein Ehrgeiz ist es, hundertdrei Jahre alt zu werden«, erwiderte Flynn fest. »Und dann, so hoffe ich, von einer eifersüchtigen Ehefrau erschossen zu werden.«

»Manchmal wundere ich mich über Euch, Flynn«, sagte Toby. »Und manchmal bin ich mir ganz sicher.«

In den frühen Morgenstunden, wenn es traditionellerweise am ruhigsten war, stiegen Jakob Ohnesorg, der professionelle Rebell, und Ruby Reise, die berühmteste Kopfgeldjägerin ihrer Tage (nach ihren eigenen Worten), aus dem vordersten Rebellengraben. Sie setzten sich auf die Kante des Metallfeldes und blickten zu dem gewaltigen Fabrikkomplex hinüber, dessen Silhouette von der aufgehenden Sonne angestrahlt wurde. Die Streitkräfte der Wolfs waren kürzlich weit zurückgetrieben worden und im Augenblick zu sehr mit dem Errichten einer neuen Front beschäftigt, um eine Gefahr darzustellen. Sie waren bisher nicht einmal dazu gekommen, Heckenschützen zu postieren. Ohnesorg und Reise hätten gewußt, wenn welche auf der Lauer gelegen hätten. So also saßen sie lässig nebeneinander und genossen das fremdartige und lebendige Schauspiel des Sonnenaufgangs.

Es war der erste Tag des Sommers, und obwohl die Sonne kaum hinter dem Horizont hervorgekrochen war, wurde es bereits ungemütlich heiß. Ohnesorg und Ruby Reise waren vorgeblich nach oben gegangen, um das Gelände für den täglichen Angriff in Augenschein zu nehmen, aber in Wirklichkeit suchten sie lediglich ein wenig Zeit in der Gesellschaft des anderen.

Unter der Erde war es drangvoll eng, oftmals klaustrophobisch, und nach einer Weile konnten einem selbst die wohlmeinendsten Leute auf die Nerven gehen. Die Ausgestoßenen hatten begonnen, beide wie legendäre Helden zu feiern, Heilsbringer und Retter, die die Rebellen zum unausweichlichen Sieg über die Mächte des Bösen führen würden. Weder Jakob Ohnesorg noch Ruby Reise waren besonders glücklich darüber.

»Ich wollte nie eine Heldin werden«, sagte Ruby entschieden. »Die Bezahlung ist lausig, und die Arbeitsbedingungen sind einfach erbärmlich. Ich wurde zu einer Rebellin, weil man mir einen Löwenanteil an der Beute versprochen hat, wenn das Imperium erst auseinanderfällt. Und weil diese Kuh von Löwenstein ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt hat. Wenn man sieht, wie mich einige dieser Rebellen anstarren, könnte man meinen, ich hätte mit einer Hand den Trick mit den drei Karten ausgeführt, während ich übers Wasser gegangen bin. In mir keimt der entsetzliche Verdacht, daß sie mich demnächst um ein Autogramm bitten.«

»Es liegt in der Natur der Menschen, sich Helden zu suchen«, erwiderte Ohnesorg. »Jemanden, dem man folgen kann und der die harten Entscheidungen für einen trifft. Sie machen uns größer, als wir in Wirklichkeit sind, heften all ihre Träume und Sehnsüchte an uns und werden dann gemein, wenn sich herausstellt, daß wir nicht mehr und nicht weniger menschlich sind als sie selbst. Ich habe all das schon früher erlebt, Ruby. Es ist einer der Gründe, warum ich meinen Beruf als Rebell an den Nagel gehängt habe und davongerannt bin, um mich auf Nebelwelt zu verstecken. Ich wurde es langsam satt, jedermanns Hoffnungen und Erwartungen auf den Schultern zu tragen. Sie waren niemals breit genug dazu. Ich verbrachte die meiste Zeit meines Lebens mit dem Versuch, die Leute dazu zu bringen, selbst die Verantwortung für ihr Leben in die Hand zu nehmen.

Es war eine Sisyphusarbeit. Viel zu oft jubeln sie lieber einem Anführer zu, irgendeinem lächelnden charismatischen Bastard, der ihnen einredet, daß sie viel mehr erreichen können, als sie gedacht haben. Manchmal glaube ich, sie würden Löwenstein nur zu gern vom Thron stoßen und sie gegen den ersten schön redenden Helden austauschen, der ihnen über den Weg läuft.

Sogar mich.«

»Imperator Jakob«, sagte Ruby. »Mir gefällt’s. Du würdest die Dinge in Bewegung bringen.«

»Ich hasse allein schon den Gedanken«, entgegnete Jakob.

»Niemand darf so viel Macht in Händen halten. Nicht einmal ich. Die Versuchung ist zu groß. Ich habe gesehen, wie Macht korrumpiert, selbst wenn Menschen mit den besten Absichten antreten… vielleicht ganz besonders bei Menschen mit den besten Absichten. Es gibt nichts Gefährlicheres auf der Welt als einen Mann, der weiß, daß er recht hat. Am Ende opfert er unzählige Menschen im Namen seiner Überzeugung, gleich, ob Feind oder Freund. Nach meiner Erfahrung darf man keinem einzelnen Menschen trauen, wenn es um Macht geht.

Demokratie funktioniert, weil eine Menge Menschen der gleichen Meinung sind. Im großen und ganzen betrachtet sind die Menschen stets besser beraten, wenn sie einen Anführer absetzen können, der eines Tages anfängt, seinen eigenen Pressemitteilungen zu glauben.«

Für eine Weile blickten Ruby und Jakob schweigend in die Metall wüste hinaus. Der frühe Morgen war eigenartig still nach dem Gebrüll der Schlacht wenige Stunden zuvor. Hier und da brannten Feuer, und an manchen Stellen lagen, durchsiebt von Disruptorfeuer, funkensprühend und verdreht, Imperiale Kriegsmaschinen herum, verlassen, wo sie gefallen waren, und träumten vom Töten. Der Fabrikkomplex war ein dunkler, furchteinflößender Schatten voller dunkler, rötlicher Schimmer, die kamen und gingen wie sich unablässig öffnende und schließende Türen der Hölle. Das schwache Leuchten des Schutzschildes war im heller werdenden Licht des Morgens kaum zu sehen. Wie das Schloß eines Ogers, geschützt durch Magie, angetrieben von Haß und Gewalt und das Blut Unschuldiger verzehrend.

»Was ist nur mit Sturm los?« erkundigte sich Ruby. »Er benimmt sich in letzter Zeit so eigenartig in deiner Gegenwart.

Ich dachte, er wäre dein Freund?«

»Ist er auch«, antwortete Ohnesorg. »Wir kennen uns von Jugend an. Wir haben nebeneinander in mehr Schlachten gekämpft, als ich zählen kann. Du hättest ihn damals sehen sollen, Ruby. Attraktiv, stürmisch, tödlich mit der Klinge in der Hand. Ich war derjenige, über den die Menschen Lieder sangen, aber er war der, dem die Frauen hinterherliefen. Alex war meine rechte Hand und der einzige, auf den ich mich in einem sich ständig ändernden Universum verlassen konnte. Aber jetzt… Ich verändere mich, und er kommt nicht damit klar.«

»Du siehst jünger aus«, bemerkte Ruby.

Es war eine Untertreibung, und sie beide wußten es. Ohnesorg hatte in den letzten Wochen zwanzig Jahre harter Erfahrungen wettgemacht und sah inzwischen aus wie ein Mann Ende Dreißig. Seine Gestalt war mit neuen Muskeln bepackt, und neue Energie brannte in ihm. Sein Gesicht war nicht mehr die hagere, ausgezehrte Maske von einst, obwohl viele der harten Linien geblieben waren. Alles in allem war er inzwischen unendlich weit von dem zerbrochenen Wrack entfernt, das Ruby auf Nebelwelt kennengelernt hatte.

»Ich fühle mich auch jünger«, antwortete Ohnesorg. »Stärker, schneller, ausdauernder. Ich fühle mich wie früher, als ich zu einer Legende wurde.«

»Kann es Eifersucht sein?« fragte Ruby. »Weil du jünger bist und er nicht?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich beginne eben erst, mich an einige Dinge über Alexander zu erinnern. Gegen Ende verlor er das Vertrauen. Er glaubte nicht länger an unsere Sache und war nicht mehr bereit, sein Leben dafür zu geben. Wir haben Jahrzehnte gegen das Imperium gekämpft und nichts erreicht. Alex wollte aufhören und jüngeren Männern Platz machen. Er sehnte sich nach Behaglichkeit und einem leichteren Leben. Er dachte, er hätte es sich verdient. Wir wurden beide zu alt für das Schlachtfeld, obwohl ich es damals nicht zugeben wollte.

Ich führte meine Leute in die Schlacht von Eisfels, und er kam mit mir; nicht aus Überzeugung, sondern aus Loyalität gegenüber einem alten Freund. Er war immer ein guter Mann, wenn es darauf ankam. Wir wurden abgeschlachtet. Ausgelöscht. Ich glaube mich zu erinnern, daß Alex am Ende davonrannte. Ich lief nicht und wurde gefangengenommen. Also hatte Alex wahrscheinlich recht.

Danach verlor ich ihn aus den Augen, bis er als Repräsentant der Untergrundbewegung von Golgatha wieder auftauchte. Ich hätte wissen müssen, daß er unsere Sache niemals vollkommen aufgeben konnte. Doch jetzt sind wir wieder da, kämpfen erneut gemeinsam unseren Kampf – nur, daß ich der gleiche bin wie früher, und er ist es nicht. Ich bin wieder eine Legende, und Alex ist nur ein alter Mann, dem das Schwert zu schwer ist und dem die Luft fehlt. Vielleicht erinnerte er sich nur an Eisfels, als er davonlief und ich nicht. Auf der anderen Seite kann es natürlich auch eine falsche Erinnerung sein. Ich weiß nicht mehr viel über Eisfels oder sonst irgend etwas aus dieser Zeit meines Lebens.«

»Was mich kaum überrascht, wenn man bedenkt, was die Imperialen Hirntechs mit dir angestellt haben«, sagte Ruby.

»Sie hatten dich verdammt lang in den Klauen, und diese kranken Bastarde können jedem den Verstand rauben. Du hast Glück, daß du normal geblieben bist.«

»Manchmal frage ich mich, ob ich das wirklich bin. Es gibt zu viele Orte in meinem Verstand, wo ich nicht mehr hinsehen kann. Die Hirntechs könnten mir alle möglichen Kontrollworte oder Fernsteuerungsmechanismen eingepflanzt haben, und ich würde es erst in dem Augenblick erfahren, wo sie aktiviert werden. Du hast gesehen, was dieser Renegat Ozymandius mit Owen und Hazel in der Stadt der Hadenmänner angestellt hat.

Ich könnte eine Bombe sein, die nur darauf wartet, dort loszugehen, wo sie den größten Schaden anrichtet.«

»Du bist ein ganz schön morbider Kerl, weißt du das?

Manchmal frage ich mich, warum ich bei dir bleibe.«

»Weil ich dich mit meinem Charme und meinem Charisma blende.«

»Du träumst wohl? Aber im Ernst, ich bewundere das, was du aus deinem Leben gemacht hast. Du hast etwas gefunden, an das du glauben konntest, und du hast dein Leben dafür eingesetzt, immer und immer wieder. Ich habe niemals an etwas anderes als an harte Währung geglaubt. Ehre verblaßt, und Mut geht dahin, aber mit Gold kannst du immer deine Rechnungen bezahlen. Vielleicht hoffe ich ja auch nur, daß ein wenig von diesem Heldenkram auf mich abfärbt, wenn ich lange genug bei dir bleibe.«

»Ruby, warum machst du dich immer kleiner, als du bist?«

Sie zuckte die Schultern. »Es ist eine dreckige Arbeit, aber irgend jemand muß sie machen. Stell mir keine Fragen, Jakob.

Ich weiß keine Antworten. Ich bin hier, weil ich hier sein will.

Gib dich damit zufrieden.«

»Ich bin nicht der einzige, der sich verändert. Dir geht es genauso, Ruby. Ob es dir nun gefällt oder nicht, du wirst eine Heldin und Teil der Legende wie ich.«

»Verdammt noch mal, ich hoffe nicht. Nach meiner Erfahrung sterben Helden einen ehrenvollen, aber tragischen und vor allem viel zu frühen Tod. Ich schätze, ich lasse diesen Teil der Legende lieber aus. Ich wäre lieber der vertrauenswürdige Kumpan, der die guten Ratschläge erteilt und schlagfertige Antworten zu geben weiß und, nachdem sich der Staub gelegt hat, durch seine von einem Ghostwriter verfaßten und mit Hilfe einer gut gemachten Werbekampagne publik gemachten Memoiren ein Vermögen verdient. Ich spüre jedenfalls keine Veränderungen an mir außer denjenigen, die das Labyrinth des Wahnsinns an mir vollzogen hat. Du bist nicht der einzige, Jakob, der sich jünger fühlt. Bei mir fällt es nicht so auf, aber ich schätze, ich bin gut fünf Jahre jünger geworden. Ich bin schneller, stärker und geistesgegenwärtiger. Wenn ich kämpfe, habe ich das Gefühl, als würden die anderen sich in Zeitlupe bewegen. Außerdem erhole ich mich schneller als früher. Einem Kämpfer fallen solche Dinge auf. Aber Jakob, ich mache mir auch meine Gedanken wegen dieser Verjüngung. Ich meine, wo soll es enden? Werden wir wieder zu Kindern? Oder zu Säuglingen? Was?«

»Was auch immer das Labyrinth des Wahnsinns mit uns angestellt hat, es dauert noch an«, entgegnete Jakob Ohnesorg nachdenklich. »Auch wenn das Labyrinth nicht mehr länger existiert. Wir müssen davon ausgehen, daß ein Zweck hinter alledem steckt. Ich schätze, der Prozeß soll uns verfeinern und die besten und stärksten Seiten von uns hervorbringen, zu denen wir imstande sind. Die Veränderungen finden nicht allein auf physischer Ebene statt, vergiß das nicht.«

»Ja, ich weiß. Ich stehe irgendwie mit dir in Verbindung, und auch mit den anderen. Ich weiß immer genau, wo ihr seid, selbst wenn ihr euch nicht in der Nähe aufhaltet. Manchmal weiß ich sogar, was ihr gerade denkt. Oder fühlt. Du schmutziger alter Kerl! Und manchmal, während eines Kampfes, weiß ich schon vorher, aus welcher Richtung der nächste Angriff kommt, wohin ein Schwertstreich geht oder was hinter mir passiert. Sehr eigenartig. Ich war immer eine gute Kämpferin, aber das Labyrinth macht mich zu weit mehr als das.«

»Mit einfachen Worten«, sagte Ohnesorg, »wir werden zu Übermenschen.«

»Oder nichtmenschlich«, erwiderte Ruby. »Das Labyrinth des Wahnsinns war schließlich auch ein nichtmenschliches Gebilde, oder? Vielleicht war es so programmiert, daß es jeden und alles, was hindurchging, zu einer Kopie der Rasse verwandelte, die es konstruierte. Am Ende wachsen uns sechs Arme und Antennen aus den Ohren.«

»Und du hast den Nerv zu behaupten, ich wäre ein morbider Kerl! Wir wollen uns über diese Dinge Gedanken machen, wenn sie geschehen, ja? Im Augenblick haben wir weiß Gott andere Sorgen.«

»Zum Beispiel?«

»Versteh mich nicht falsch, Ruby, aber… Mir ist aufgefallen, daß du niemals Gefangene machst. Selbst früher, bevor wir hergekommen sind, hast du niemals nur gekämpft, um deine Gegner zu verwunden und aufzuhalten. Du tötest sie immer.«

»So ist es am besten«, erwiderte Ruby brüsk. »Ein toter Mann kann sich nicht plötzlich wieder aufrichten und dir ein Messer zwischen die Rippen stoßen.«

»Ein toter Mann kann sich aber auch nicht unserer Sache anschließen. Und er kann nicht die Irrtümer erkennen, denen er aufgesessen ist. Was, wenn wir dich damals in Nebelhafen getötet hätten, als du uns angegriffen hast? Nein; falls und wenn wir die Löwenstein stürzen wollen, dann müssen wir ihr System durch eines ersetzen, das effizient regieren kann, andernfalls herrscht das Chaos. Und das bedeutet wiederum, daß wir auf die gleichen Leute zurückgreifen müssen, auf die sich bereits Löwenstein verlassen hat, damit die Räder nicht stehenbleiben. Wir können nicht einfach jeden auf der anderen Seite umbringen. Wir werden einige von ihnen brauchen.«

Ruby zuckte die Schultern. »Von diesen Dingen weißt du mehr als ich. Ich weiß nur, wie man Leute umbringt.«

»Sieh mal, du warst eine Kopfgeldjägerin. Hast du denn niemals jemanden lebendig zurückgebracht?«

»Nicht, wenn ich es vermeiden konnte. Zuviel Papierkram.«

Ohnesorg seufzte. »Ich arbeite mit einer Barbarin zusammen.«

Ruby grinste. »Die Zivilisation wird viel zu sehr überbewertet, Jakob. Ich bin wirklich nicht an dieser ganzen Ethik-Scheiße interessiert. Ich bin eine professionelle Killerin. Das ist es, was ich mache. Ansonsten interessiere ich mich nur noch für Beute und Sex. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Du brauchst nichts weiter zu tun, als mir ein Ziel zu zeigen und mich loslassen. Wie zum Beispiel der bevorstehende Überfall auf die Fabrik. Möchtest du, daß ich ihn wieder anführe?«

»Glaub nur ja nicht, ich merke nicht, wenn du das Thema wechselst«, sagte Ohnesorg. »Aber wenn ich an die Blicke denke, die du mir bei der letzten Lagebesprechung zugeworfen hast, dann denke ich, es wäre gesünder für mich, dich gehen zu lassen. Also schön, hier ist die einfache Version: Morgen veranstalten die Wolfs eine größere Zeremonie zur Eröffnung der Massenproduktion des neuen Hyperraumantriebs. Alle Holosender berichten live von diesem Ereignis. Die Imperatorin selbst wird an ihrem Fernseher sitzen und zusehen. Um eine einwandfreie und ungestörte Übertragung sicherzustellen, müssen sie den Schutzschirm abschalten, der die Fabrik umgibt.

Und das wird der Zeitpunkt sein, an dem wir hineingehen und alles angreifen, was kein Klon ist. Wir werden ihre Verteidigung überrennen, die Klonarbeiter befreien, alle Maschinen in Sichtweite zerstören und machen, daß wir wieder hinauskommen, als sei der leibhaftige Teufel hinter uns her, während ihre Sicherheitskräfte noch darüber nachdenken, was ihnen auf den Kopf gefallen ist. Und die gesamte Aktion wird live übertragen. Es wird ein großer Coup für unsere Rebellion sein. Wir sollten eine Menge Zulauf erhalten. Und so sicher wie die Hölle werden wir die Produktion des Hyperraumantriebs lahmlegen, bis sie den Schaden repariert haben und ein Schiff neue Klonarbeiter bringt. Und dann schlagen wir erneut zu.«

»Der Überfall wird den Ausgestoßenen einiges geben«, sagte Ruby. »Sie sehen, wozu sie imstande sind, und sie werden zu einem Machtfaktor. Zu einer Kraft, mit der das Imperium rechnen und mit der es vielleicht sogar verhandeln muß, wenn es die neuen Antriebe will. Richtig?«

»Sehr gut, Ruby! Ich mache noch eine Taktikerin aus dir.

Aber das bringt uns wieder zum Thema zurück. Warum ich nicht will, daß die Ausgestoßenen uns als ihre Helden betrachten. Wenn wir ihnen erst bewiesen haben, daß sie stark genug sind, um den Wolfs in den Hintern zu treten, ist unsere Aufgabe auf Technos III erledigt. Aber es ist lebenswichtig, daß diese Leute begreifen, wozu sie imstande sind, bevor wir zu einer anderen Mission aufbrechen. Daß sie auch ohne uns gewinnen können. Sie benötigen nichts weiter als einen Anstoß von außen und jemanden, der ihnen neue Kampftaktiken zeigte. Ich wollte nie ein Anführer sein, Ruby, geschweige denn ein Held.

Ich wollte nur für das Recht der Menschen auf Freiheit kämpfen. Sogar die Freiheit von Heldenverehrung. Helden sind großartig, wenn es darum geht, das Böse und die Ungerechtigkeit zu bekämpfen, aber in der Praxis sind sie immer verdammt miese politische Führer.«

»Ich kämpfe nur, weil ich gut darin bin«, antwortete Ruby.

»Und weil es mir Spaß macht.«

»Daran werden wir noch arbeiten müssen«, erwiderte Ohnesorg.

Ruby grinste. »Warum willst du Perfektion verbessern?«

Investigator Klipp stand lässig im Privatgemach des Halben Mannes und fragte sich im stillen, was, zur Hölle, er zu dieser unchristlichen Stunde so früh am Morgen von ihr wollte.

Ihr fielen unwillkürlich die Augen zu, und sie mußte ein Gähnen unterdrücken. Klipp hatte den starken Verdacht, daß der Halbe Mann noch nicht im Bett gelegen hatte, wenn er überhaupt jemals schlief. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da konnte Klipp den ganzen Tag lang kämpfen und mit wenigen Stunden Schlaf in der Nacht auskommen, aber das war schon einige Jahre her. Sie wurde langsamer und brauchte mehr und mehr Schlaf zwischen den einzelnen Aufträgen. Achtundvierzig war kein Alter, von welchem Standpunkt auch immer, doch Investigatoren hatten stets die Besten der Besten zu sein. So stand es in der Beschreibung des Berufsbildes.

Klipp blickte sich unauffällig im Zimmer um, während sie wartete. Spartanisch wäre noch geschmeichelt gewesen; es gab nicht die geringste Spur von persönlicher Atmosphäre oder gar Menschlichkeit in der gesamten Einrichtung. Keinerlei persönliche Gegenstände. Es hätte jedermanns Zimmer sein können oder auch niemandes. Der Halbe Mann saß im einzigen vorhandenen Sessel, und sein einzelnes Auge starrte direkt auf die gegenüberliegende Wand. Er konzentrierte sich auf etwas, wovon Klipp wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung hatte.

Klipp gab sich Mühe, den Halben Mann nicht anzustarren, doch es fiel ihr verdammt schwer. Das brodelnde Energiegebilde, aus dem seine recht Körperhälfte bestand, war von endloser Faszination. Wenn man lange genug hinblickte, sah man Dinge. Beunruhigende Dinge. Aber man konnte den Blick einfach nicht abwenden. Plötzlich drehte der Halbe Mann sich zu ihr um, und nur ihre langjährige Ausbildung verhinderte, daß sie zusammenzuckte.

»Ich weiß, Investigator«, sagte er mit seiner überraschend normalen Stimme. »Es ist viel zu früh am Morgen, und es gibt sicherlich produktivere Dinge, die Ihr mit Eurer Zeit anstellen könntet. Aber ich muß mit Euch sprechen. Setzt Euch. Es macht das Zimmer so ungemütlich, wenn Ihr die ganze Zeit herumsteht.«

Klipp blickte sich automatisch nach einem Stuhl um, obwohl sie bereits wußte, daß es keinen gab. Dann wurde ihr klar, daß er das Bett gemeint hatte. Sie nahm vorsichtig auf der Kante Platz, hielt den Rücken gerade und blickte den Halben Mann aufmerksam an. Er war nicht gerade bekannt dafür, gesprächig zu sein, also war das, was er ihr mitzuteilen hatte, höchstwahrscheinlich von elementarer Bedeutung für ihre Mission auf Technos III. Der Halbe Mann seufzte leise, und sein halber Mund verbog sich zu einem Ausdruck, der vielleicht ein Lächeln darstellen sollte.

»Entspannt Euch, Klipp, ich habe nicht vor, Euch zu fressen.

Trotz aller Gerüchte, die Euch vielleicht zu Ohren gekommen sind. Ich muß einfach nur mit jemandem reden. Es gibt nicht viele Menschen, mit denen ich reden kann. Die meisten denken, ich wäre kalt und unmenschlich, und es kommt meinen Zwecken gelegen, diese Meinung zu bestärken. Größtenteils stimmt es auch. Aber ich habe noch immer meine menschliche Seite, wenn Ihr den Ausdruck entschuldigt, und hin und wieder brauche ich jemanden, mit dem ich von Mensch zu Mensch reden kann. Ich kannte Euren Großvater.«

Klipp blickte den Halben Mann unsicher an. Der plötzliche Themawechsel überraschte sie. »Wahrscheinlich besser als ich selbst, Sir. Es wird nicht gern gesehen, wenn Investigatoren familiäre Bindungen besitzen. Es könnte uns von unserer Arbeit ablenken.«

»Wahrscheinlich ist es auch nicht gern gesehen, daß ich jetzt mit Euch spreche. Euer Großvater war ein guter Mann. Hervorragender Raumschiffoffizier. Er hätte sicher einen guten Kapitän abgegeben, wenn er nur aus der richtigen Familie gekommen wäre. Als ich hörte, daß man Euch zu dieser Mission abkommandieren würde, brachte Euer Name eine Glocke in mir zum Klingeln. Also sah ich in den Akten nach. Ihr habt eine beeindruckende Karriere hinter Euch, Klipp. Bis man Euch hierher schickte, doch das trifft, glaube ich, auf viele Leute zu.

Jedenfalls dachte ich, wenn ich hier mit irgend jemandem sprechen könnte, dann mit Euch. Und ich muß mit jemandem reden. Ihr versteht sicher, daß alles, was in diesem Raum besprochen wird, nur für unsere Ohren bestimmt ist? Falls Ihr dagegen verstoßt, werdet Ihr augenblicklich exekutiert.«

»Jawohl, Sir. Selbstverständlich, Sir. Über was wolltet Ihr mit mir sprechen, Sir?«

»Über meine Vergangenheit. Der, der ich einmal war. Als ich noch ein junger Mann war wie alle anderen auch und mein Name noch Vincent Schnell lautete. Sie machten einen Scherz daraus; es hieß, ich sei schnell genug, um in Schwierigkeiten zu geraten, aber kaum schnell genug, um wieder hinauszugelangen. Am Ende stellte es sich als bittere Wahrheit heraus, aber heute erzählt sich niemand mehr den alten Scherz. Niemand wagt es. Aber es war auch damals schon nicht besonders lustig. Ich unterhalte mich hin und wieder mit Menschen im Privaten. Es hilft mir festzustellen, wie menschlich ich noch bin. Ich fürchte ständig, daß ich den Rest meines Menschseins auch noch verlieren könnte und daß ich vielleicht eines Tages einen Punkt erreiche, an dem es mir egal wird. Ihr werdet es nicht bemerkt haben, aber meine Energiehälfte wächst jeden Tag um einen winzigen Bruchteil, und meine menschliche schwindet um den gleichen Betrag. Man braucht schon einen Rechner, um den Prozeß exakt auszumessen, aber er findet nichtsdestotrotz statt. Ich werde weniger, Stück für Stück. Ich habe noch eine ganze Menge Zeit, bis es soweit ist, wenn der Prozeß sich nicht aus irgendeinem Grund beschleunigt. Aber was von mir noch übrig ist, ist sowieso nicht mehr allzu menschlich.

Ich esse und trinke nicht mehr. Kälte und Hitze machen mir nichts aus. Ich bin viel älter, als ich eigentlich hätte werden dürfen. Die Energiestrukrur hält mich am Leben, obwohl ich schon vor langer Zeit hätte sterben müssen. Manchmal frage ich mich, was die Fremden planen, daß sie mich so lange am Leben halten. Ich habe mehr als einmal versucht, mir das Leben zu nehmen, aber es geht nicht. Meine Energiehälfte gestartet es nicht. Und das ist der Grund, aus dem ich jetzt mit Euch rede, Investigator. Wenn nach Eurer Meinung die Energiehälfte die Kontrolle über mich gewinnt, dann möchte ich, daß Ihr mich tötet. Zerstört meine menschliche Hälfte vollständig, und zwar mit anhaltendem Disruptorfeuer. Das sollte reichen. Ich frage Euch, weil Ihr eine der wenigen Personen auf diesem Planeten seid, die zu dieser Aufgabe imstande sind und deren Urteilsvermögen ich trauen kann… und weil Ihr die gleichen Augen habt wie Euer Großvater. Er war ein guter Mann. Er hätte mich getötet, wenn er es für nötig erachtet hätte. Was ist mit Euch?«

»Wenn es das ist, was Ihr wünscht«, antwortete Klipp langsam. »Ich kann mich Eurer Logik nicht verschließen. Ihr würdet eine höllische Bedrohung für das Imperium darstellen, wenn Ihr außer Kontrolle geratet. Löwenstein wird mich töten lassen, weil ich sie Eurer Dienste beraubt habe, aber das ist mein Problem. Ich bin Investigator, und ich habe meinen Eid stets ernst genommen. Mein Leben für die Menschheit. Wenn Ihr in der Stimmung seid zu reden, Sir… Könnt Ihr mir etwas über die Fremden erzählen, die Euch so verändert haben? Die offiziellen Berichte schweigen sich aus. Selbst diejenigen, zu denen nur wir Investigatoren Zugang besitzen.«

»Lange Zeit erinnerte ich mich an überhaupt nichts«, begann der Halbe Mann. Seine Stimme klang sehr leise, und er blickte Klipp nicht an, als er fortfuhr. »Vielleicht, weil ich mich an nichts erinnern wollte. Dann kamen Bruchstücke wieder, in meinen Träumen. In letzter Zeit kommen die Träume häufiger, und ich erinnere mich an mehr. Ich weiß nicht, ob das etwas zu bedeuten hat. Ich hoffe nicht. Ich weiß nur eines ganz sicher: Sie sind noch dort draußen, irgendwo, und sie warten.

Vergeßt die offizielle, schöngefärbte Geschichte, Investigator. Ich sage Euch, was wirklich geschah. Ihr Schiff erschien aus dem Nichts. Es war riesig, und unser Sternenkreuzer sah dagegen aus wie eine Ameise vor einem Berg. Seine Form ergab keinen Sinn. Wir versuchten, mit ihm in Kontakt zu treten, und es eröffnete das Feuer auf uns mit Waffen, die uns noch nie zuvor begegnet waren. Sie bliesen unsere Schilde weg, als wären sie gar nicht da, und schossen unseren Sternenkreuzer zusammen. Es dauerte nur ein paar Sekunden. Wer Glück hatte, starb bei den Explosionen. Der Rest meiner Mannschaft starb, als er Vakuum zu atmen versuchte. Und ich erwachte im Bauch des fremden Schiffes und war auf einem OP-Tisch festgeschnallt. Maschinen senkten sich auf mich herab, mit langen, schlanken Klingen und anderen Werkzeugen zum Schneiden, Heben und Brechen. Sie schnitten mich auf, um zu sehen, wie ich funktionierte, und wühlten in meinen Eingeweiden herum, daß das Blut nur so spritzte. Ich schrie, doch niemand hörte mich. Ich wollte sterben, doch die Maschinen verhinderten es.

Ich weiß nicht mehr, wie lange das so weiterging. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Ich wurde mehr als einmal verrückt, aber die Maschinen brachten mich immer wieder zur Vernunft.

Bis man mir schließlich erlaubte, das Bewußtsein zu verlieren.

Als ich wieder aufwachte, war nur noch eine Hälfte von mir übrig. Meine linke Seite war völlig intakt, nicht die kleinste Narbe, doch meine rechte Seite war einem Energiegebilde von annähernd menschlicher Form gewichen. Es gehorchte meinen Gedanken, aber ich konnte es nicht spüren. Es gehörte nicht zu mir, nicht wirklich jedenfalls. Die Bänder, die mich festgehalten hatten, waren verschwunden, und ich erhob mich vom OP-Tisch. Keine Spur mehr von all dem Blut, das ich verloren hatte. Ich verließ den Raum und ging durch das Schiff.

Es war gewaltig. Nichts war mit menschlichen Maßstäben zu beschreiben. Es gab Formen und Strukturen, doch sie machten keinen Sinn. Es gab Technologie, Maschinen überall, aber ich verstand nicht, wozu sie geschaffen waren. Irgendwo schrie irgend etwas, ein schrilles, schreckliches Geräusch, und es hörte überhaupt nicht auf. Vielleicht war es Schmerz oder Entsetzen oder Triumph, ich weiß es nicht. Und obwohl es niemals eine Pause machte, um Atem zu schöpfen, bezweifelte ich nicht einen Augenblick lang, daß es organisch war. Irgend etwas Lebendiges. Allein das Schreien hätte ausgereicht, einen normalen Menschen in den Wahnsinn zu treiben, doch ich hatte bereits so viel durchgemacht, daß ich diesmal nicht zerbrach.

Ich mußte stark sein. Ich mußte überleben. Ich mußte das Imperium warnen.

Ich fand die Fremden. Oder sie fanden mich. Selbst heute noch erinnere ich mich deutlich an sie. Nur Eindrücke, Einzelheiten, Hinweise. Vielleicht erfordert ihr Begreifen mehr, als irgendein menschlicher Verstand ertragen kann. Selbst heute noch. Sie waren groß und nichthumanoid, und sie waren mit unglaublichen Apparaten innig verbunden. Ich weiß immer noch nicht, ob nicht das Schiff selbst auf eine gewisse Art und Weise lebendig war.

Es dauerte eine Weile, bis die Fremden meine Gegenwart bemerkten. Wir kommunizierten, obwohl ich nicht sagen kann, wie. Sie sind weit fortgeschrittener als wir. Ihr Verstand arbeitet in mehr als drei Dimensionen. Ich denke, sie sehen die Zukunft genauso deutlich vor sich wie die Vergangenheit, als gäbe es keinen Unterschied dazwischen. Andauernd starben geringere Kreaturen in den Tiefen ihres Schiffes. Ihre Lebensenergie bildete den Antrieb. Sie starben und wurden wieder ins Leben zurückgerufen, immer und immer wieder. Ihre Qualen endeten niemals. Die Fremden zeigten mir auch andere Dinge, aber die meisten verstand ich nicht. Alles war abscheulich und entsetzlich, böse weit über alles hinaus, was die Menschheit jemals getan hat oder zu tun imstande ist.«

Der Halbe Mann unterbrach sich, das einzelne Auge fest zusammengekniffen, und für lange Zeit herrschte Stille in dem kleinen Raum. Klipp regte sich unbehaglich.

»Haben sie Euch gesagt, warum sie… warum sie das mit Euch gemacht haben?«

»Nein. Oder wenn, dann habe ich es nicht verstanden. Es gab eine Menge Dinge, die ich nicht verstand. Schließlich hatten sie mir alles erzählt, was sie mir sagen wollten, oder sie wurden meiner überdrüssig. Ich wachte zusammengekrümmt an Bord einer Rettungskapsel meines Schiffes auf. Ich befand mich im Orbit um eine der Welten am Rand. Ein Schiff nahm mich auf, und ich kehrte nach Hause zurück. In ein Imperium, in dem in der Zwischenzeit drei Jahre vergangen waren, und zu einer endlosen Serie von Verhören. Ihr kennt den Rest der Geschichte. Die Imperialen Esper prüften den Wahrheitsgehalt meiner Geschichte, bestätigten, daß ich weder log noch verrückt war, und ich wurde zum Imperialen Sprecher für Angelegenheiten außerirdischer Rassen. Wer wußte besser als ich, wozu sie imstande waren? Ich bestimmte die Politik für Kontakte mit Fremden und Kontrollen auf allen bekannten Welten.

Ich habe das Imperium stark gemacht. Wir müssen stark sein und bereit, weil die Fremden, die mich entführten und verwandelten, eines Tages zurückkehren werden. Wir waren damals nicht bereit, gegen sie zu kämpfen, und vielleicht sind wir es auch heute noch nicht, aber wir müssen es zumindest versuchen. Sie sind gewaltig und mächtig und abgrundtief böse. Sie müssen daran gehindert werden, der Menschheit das anzutun, was sie mir antaten.

In der Zwischenzeit tue ich, was ich kann. Natürlich besteht immer die Gefahr, daß ich genau das mache, was die Fremden von mir wollten. Woher soll ich auch wissen, welche Befehle sie in meinem Gehirn verankerten? Oder wieviel Einfluß die Energiehälfte über meinen Verstand besitzt? Wieviel von allem meine eigenen Beweggründe sind und wieviel die ihren. Bleibt immer in meiner Nähe, Investigator, und beobachtet mich gut.

Und wenn es sein muß, dann tötet mich. Ich will kein Judas an der gesamten menschlichen Rasse werden.

Manchmal frage ich mich, was aus meiner anderen Hälfte geworden ist. Wenn sie überhaupt noch lebt, irgendwo. Vielleicht geben die Fremden sie mir zurück, wenn sie eines Tages wiederkehren. Eine letzte Versuchung, eine Waffe, um mich zu kontrollieren. Schließlich bin ich nur ein Mensch. Also lege ich mein Leben in Eure Hände, Investigator, wie ich es mit anderen vor Euch auch schon gemacht habe. Tut, was notwendig ist, Klipp, was es auch immer kosten mag.«

»Wie Ihr befehlt«, erwiderte Klipp. »Ich schwöre es, bei meiner Ehre und meinem Gewissen. So habt Ihr mich ausgebildet, oder? Aber nur aus Interesse – was geschah mit den anderen vor mir?«

»Ich überlebte sie«, antwortete der Halbe Mann. »Ich lebe schon eine verdammt lange Zeit.«

»Natürlich. Gibt es… gibt es noch etwas, das ich für Euch tun kann? Noch einen anderen Grund, aus dem Ihr mich habt kommen lassen?«

»Ja, aber nicht das, was Ihr vielleicht denkt. Diese Bedürfnisse wurden mir zusammen mit allen anderen genommen. Ich brauche Euch für eine sensible Aufgabe später am Tag. Während alle anderen mit den Vorbereitungen für die Zeremonie beschäftigt sind, werdet Ihr die Ehrwürdige Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern töten. Es soll aussehen, als hätten die Rebellen sie ermordet. Beatrice hat zu viele Leute mit Einfluß verärgert, und sie wünschen ihren Tod. Und da ich ihre Unterstützung benötige, um die gegenwärtige Mission zu erfüllen, muß Beatrice sterben. Macht es rasch, aber blutig, und seid diskret. Wir wollen nicht den Zorn der Barmherzigen Schwestern auf uns lenken.«

»Verstanden«, erwiderte Klipp. Sie erhob sich und verbeugte sich knapp vor dem Halben Mann. »Ich werde die Sache in die Hand nehmen. Ruht Euch aus, Sir. Auf uns wartet noch eine Menge Arbeit, wenn wir die Rebellion hier niederschlagen wollen.«

»Wir müssen sie niederschlagen«, betonte der Halbe Mann.

»Die Fremden warten noch immer dort draußen. Das Imperium braucht diesen neuen Antrieb, wenn es eine Chance haben soll.

Und ich kann mir nicht leisten, wegen kleiner Zänkereien wie dieser meine Aufgabe aus den Augen zu verlieren.«

Kardinal James Kassar stapfte in der kochenden Sommerhitze vor seinen versammelten Kirchentruppen auf und ab und reagierte seine Wut ab. Die Truppen standen steif in Habtacht und ignorierten die Hitze und den Schweiß, der auf ihrer Haut beinahe ebenso rasch verdunstete, wie er entstand. Einige waren ohnmächtig geworden, doch man hatte sie an Ort und Stelle liegengelassen. Sie würden später ausgepeitscht werden. Kassar redete und brüllte und schrie seit gut einer halben Stunde, und er zeigte noch immer keine Anzeichen von Ermüdung. Er redete, nur hin und wieder von einem Gebet um Exhortation unterbrochen, vom Stolz und der Reinheit der Kirche von Christus dem Krieger und der äußersten Verderbtheit ihrer zahlreichen Feinde. Kassar hatte sich in einen Zustand der Wut und Frustration geredet, doch seine Truppen waren nicht sonderlich beeindruckt. Sie hatten das alles schon mehr als einmal erlebt.

Kassar konnte es nach Belieben ein- und ausschalten.

Trotzdem achteten die Soldaten peinlich darauf, nicht unaufmerksam zu erscheinen. Zum Teil, weil es von der verdammten Hitze ablenkte, aber hauptsächlich, weil die Jesuiten zwischen den Reihen hindurchschlichen in der Hoffnung, jemand Unaufmerksamen zu überraschen, so daß sie ihn nach vorn zerren und ein schreckliches Exempel an ihm statuieren konnten. An diesem Morgen gingen sie jedoch leer aus. Zum ersten Mal hatte der Kardinal etwas zu sagen, das wirklich interessant war, ganz zu schweigen von lebenswichtig. Kassar hatte sich entschlossen, seine Männer erneut hinunter in die Tunnels unter der Oberfläche von Technos III zu schicken, um die Rebellen auszulöschen und ihren Stolz zurückzugewinnen, nachdem sie in der Vergangenheit so herbe Niederlagen hatten hinnehmen müssen. Selbstverständlich würde diesmal alles anders sein. Keine kleine Gruppe in gepanzerten Kampfanzügen, sondern die gesamte Streitmacht der Kirche, ohne Panzer, nur mit Handwaffen ausgerüstet und mit einer neuen Kampfdroge, die auszuprobieren die Kirche kaum erwarten konnte.

Die Soldaten hätten sich gerne verstohlene Blicke zugeworfen, um herauszufinden, wie ihre Kameraden diese Neuigkeit aufnahmen, aber die Jesuiten schlichen noch immer zwischen den Reihen herum, und so starrte jeder stur geradeaus.

»Der Kampfpanzer war ein Fehler«, räumte der Kardinal soeben ein und blieb für einen Augenblick still stehen, so daß er herablassend auf seine Soldaten blicken konnte. »In den Tunnels gibt es nicht genügend Raum zum Manövrieren, und die eingebauten Disruptoren sind vollkommen nutzlos. Der Panzer zwingt einen Mann nur in die Knie und behindert ihn in seinen Bewegungen. Diesmal werdet Ihr nur mit leichter Ausrüstung vorrücken, schnell und jederzeit zum Zuschlagen bereit. Die neue Kampfdroge wurde in unseren eigenen Kirchenlabors hergestellt. Sie stärkt den Glauben und das Selbstvertrauen eines Mannes, macht ihn schneller, stärker und gemeiner. Seine Kraft wiegt die von zehn anderen auf, weil sein Herz rein ist.

Ein reiner Mann mit der neuen Kampfdroge in den Adern kann nur mit einer Keule bewaffnet einer ganzen Armee widerstehen, und Ihr werdet ganz ausgezeichnet bewaffnet sein. Diese gottverfluchten Rebellen werden nicht einmal wissen, wie ihnen geschieht.

Meine Freunde, wir müssen diese Schlacht gewinnen. Nicht allein deswegen, weil die Sicherheit des Imperiums auf dieser Fabrik und dem von ihr produzierten neuen Antrieb ruht, sondern weil unsere Feinde bei Hof und sonstwo unsere Niederlage beim letzten Angriff der Rebellen für ihre eigene Propaganda ausschlachten, um uns von unserem rechtmäßigen Platz an der Seite der Imperatorin Löwenstein zu vertreiben. Wir müssen unseren Stolz zurückgewinnen, was es auch kosten mag.

Vergeßt nicht: Wer im Namen der Kirche kämpft, ist eines Platzes im Himmel sicher. Wenn wir versagen oder wenn unser Glaube wankt, dann werden die Überlebenden nach Golgatha zurückkehren und der Inquisition unterworfen. Ich weiß, daß jeder von Euch lieber sterben würde, als in Ungnade heimzukehren.«

Kassar legte eine Pause ein und blickte über seine Truppen, und als sie seinen Blick unverzagt erwiderten, nickte er stolz.

»Die Jesuiten werden jetzt herumgehen, die neue Droge austeilen und jeder Gruppe ihre Befehle geben. Ihr versammelt Euch in einer halben Stunde wieder hier an dieser Stelle, in voller Ausrüstung und unter Waffen, bereit, die Droge auf Befehl Eurer Jesuitenführer einzunehmen. Ich bedaure, daß ich nicht bei Euch sein kann, aber drängende Pflichten, die keinen Aufschub dulden, erwarten mich an anderer Stelle. Aber im Geiste werde ich bei Euch sein. Macht, daß ich stolz auf Euch bin.

Macht, daß die Kirche stolz auf Euch ist. Steigt in die Finsternis hinab, und tötet alles Lebendige, das Ihr dort unten findet.

Für Gottes Ruhm und den des Imperiums, tötet jeden verdammten Rebellen, Mann, Frau und Kind, bis auf dieser Welt niemand mehr übrig ist, der uns trotzen kann.«

Tief unten unter der Oberfläche von Technos III, im sicheren Schutz der Tunnel und Kavernen, die aus den vielen Schichten von Metall und Schrott gegraben worden waren, ging das Leben der Rebellen seinen normalen Gang. Die Leute arbeiteten und wachten in Schichten, so daß der Fortschritt niemals langsamer wurde und niemand sie mit heruntergelassenen Hosen überraschen konnte. Die Ausgestoßenen besaßen viele Feinde, nicht nur in der Welt an der Oberfläche, sondern auch in der Tiefe, und sie hatten gelernt, immer bereit zu sein. Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm wurden von der Gespenster-Alice auf einen weiteren Rundgang mitgenommen, um die Notwendigkeit für Unterstützung von außen noch einmal zu betonen.

»Wir können uns selbst ernähren und kleiden, und wir nehmen uns aus der Oberwelt, was auch immer wir brauchen, aber es herrscht dennoch stets Mangel«, klagte die Gespenster-Alice. »Unser Leben besteht nicht aus Komfort. Wir werden in den Kampf hineingeboren und geben unsere Leben darin. Nur wenige von uns werden alt, es sei denn, sie sind verrückt wie ich. Wir sind in allererster Linie Kämpfer und sonst nichts.

Selbst in unseren tiefsten, am besten geschützten Verstecken gibt es nur wenig Zeit für Entspannung. Die Tunnel müssen gewartet, Nahrung muß gejagt und zubereitet und unser Territorium geschützt werden. Wir haben Schulen. Wir klinken uns in die Lektronen der Fabrik ein. Wir sind keine Barbaren, aber der Kampf kommt immer an erster Stelle. Wir wechseln uns ab in den Gräben und erdulden das Wetter an der Oberfläche. Ihr sagt, Ihr braucht unsere Hilfe, um die Produktion des neuen Antriebs zu verhindern. Dann schickt uns auch Energiewaffen und Kämpfer. Den Rest erledigen wir dann schon.«

Gespenster-Alice unterbrach sich, als Ruby Reise plötzlich stehenblieb. Alle anderen blieben ebenfalls stehen und blickten zu ihr zurück. Die Kopfgeldjägerin hatte sich nur wenig Mühe gegeben, ihre Langeweile zu verbergen, und sie war nur mitgekommen, weil Jakob Ohnesorg darauf bestanden hatte. Aber die säuerliche Leere war mit einemmal aus ihrem Gesicht gewichen. Sie blickte konzentriert geradeaus, die im blassen, hageren Gesicht groß erscheinenden Augen in unbestimmte Ferne gerichtet.

»Irgend jemand kommt«, sagte sie leise. »Eine große Streitmacht von oben.«

Sturm blickte sich rasch um. »Ich höre nichts.«

»Ich kann es spüren«, erwiderte Ruby. »Jakob?«

»Ja. Ich spüre es ebenfalls. Eine verdammt große Streitmacht ist nach hier unterwegs. Sie ist bereits in die oberen Tunnel vorgedrungen. Alice, schlagt Alarm. Ich habe den starken Verdacht, daß wir in ernsten Schwierigkeiten stecken. Ruby, du gehst voran.«

Sie rannte bereits, das Schwert in der Hand, bevor er zu Ende gesprochen hatte. Jakob stürzte hinter Ruby her und ließ Sturm zurück, der sich nach Kräften bemühte, Schritt zu halten. Bald schon strömten Ausgestoßene aus Seitentunnels hinzu, mit allen möglichen Arten von Waffen in den Händen. Es blieb keine Zeit oder Luft zum Reden. Es reichte vollkommen aus, daß die Tunnel angegriffen wurden. Alle wußten, was sie zu tun hatten.

Sie hatten ihr ganzes Leben für eine solche Situation geübt.

Schweigend rannten sie weiter, das einzige Geräusch das beständig anwachsende Donnern ihrer Stiefel auf dem stählernen Tunnelboden. Das Donnern wurde lauter, als mehr und mehr Ausgestoßene sich anschlossen und unerbittlich in Richtung der oberen Tunnel stürmten. Bis sie schließlich auf den Feind trafen, die Gläubigen, die sich einen blutigen Weg durch die zahlenmäßig unterlegenen Verteidiger bahnten. Die Ausgestoßenen heulten ihre Wut heraus und warfen sich auf die Kirchentruppen. Stahl hämmerte auf Stahl, Blut spritzte, und bald waren die Tunnel erfüllt vom Kampfgetümmel.

Die Gläubigen stürmten unablässig vor, schrien ihre Gesänge und Schlachtrufe hinaus, die Augen weit und wild in den gespannten Gesichtern. Die Kampfdrogen brannten in ihren Adern und feuerten sie an. Sie waren stärker als normale Menschen, unschlagbare Sendboten Gottes, die eine heilige Pflicht erfüllten. Der Sieg war unausweichlich. Sie krachten in die Reihen der Rebellen, schwangen Schwerter und Äxte, und ihre drogengeborene Kraft fegte die Waffen der Feinde beiseite. Es gab weder Zeit noch Raum für einzelne Duelle. Beide Seiten kämpften und fochten, wo sich in der wogenden, sich langsam über das große Labyrinth aus Gängen und Kavernen ausbreitenden Masse nur eine Gelegenheit bot. Klingen hoben und senkten sich, und Männer und Frauen fielen und wurden zu Tode getrampelt. Einige der Rebellen versuchten, mit den jüngsten Kindern die Flucht zu ergreifen, doch die Gläubigen schienen überall zu sein und blockierten mit gezogenen Schwertern jeden Fluchtweg. Und die Droge in ihnen kannte keine Gnade für Frauen oder Kinder. In allen Korridoren wurde gekämpft und geschrien, und Blut bespritzte Wände und Decken. Die Luft wurde heiß, stickig und drückend, und es stank nach Schweiß und Blut und aufgeschlitzten Gedärmen.

Ohnesorg und Ruby Reise kämpften einmal mehr Rücken an Rücken, umringt von Feinden, die sich wie bissige Hunde auf sie stürzten. Sturm war in der Woge aus Leibern abgedrängt worden. Ohnesorg fand nicht die Zeit, sich über das Schicksal seines alten Freundes Gedanken zu machen. Von allen Seiten stürmten die Gegner heran auf der Suche nach einer Lücke, einem Fehler in Jakobs Verteidigung, um ihn unter sich zu begraben. Er schwang das Schwert, so gut es in dem beengten Raum nur ging, legte all seine Kraft in die kurzen Hiebe und Streiche, und seine Feinde fielen zu Dutzenden. Doch es kamen ständig neue nach. Ohnesorg rief den Zorn herbei, das uralte Geheimnis des Todtsteltzer-Clans, das er im Labyrinth des Wahnsinns von Owen übernommen hatte, und am Rand seines Verstandes spürte er, wie auch Ruby in Zorn fiel. Neue Kräfte durchströmten beide, mehr als genug, um der chemischen Kraft der Droge zu begegnen, die so wild in den Adern der Gläubigen brannte.

Und ringsherum und in den Gängen darüber und darunter, in den zahlreichen Tunnels und Wohnquartieren und Kavernen der Rebellen kämpften Ausgestoßene und Gläubige gegeneinander und fielen, gleichwertige Gegner in Wut, Raserei und Entschlossenheit, unfähig vorzurücken, unfähig zu weichen, ganz egal, wie hoch der Preis in Blut und Tod war, den sie dafür zu zahlen hatten. Ganze Tunnel wurden von Toten und Sterbenden verstopft, und Männer und Frauen mußten über Leichenberge steigen, um zu ihren Feinden zu gelangen. Rebellen sahen ihre Familien sterben, Frauen und Kinder, ohne Erbarmen niedergestochen und erschlagen, und sie kämpften um so wilder. Wutschreie hallten mindestens genausooft durch die Gänge wie Schmerzensschreie, und der Lärm wurde ohrenbetäubend.

Ohnesorg und Ruby Reise kämpften weiter, an Ort und Stelle festgehalten von der schieren Anzahl ihrer Gegner. Es gab keinen Raum zum Ausweichen, und sie erlitten zahlreiche Wunden, während die Gläubigen fielen und immer neue anstürmten.

Ohnesorg kämpfte mit kalter, leidenschaftsloser Präzision. Er wußte, daß all seine neugefundene Jugend und Kraft und der Zorn zusammen ihn nicht davor bewahren würden, diesmal am Ende zu verlieren. Die Gläubigen waren einfach zu viele. Sie kämpften wie Berserker, achteten nicht auf die Wunden, die sie erlitten, oder ob sie lebten oder starben, solange nur der Feind vor ihnen fiel. Weitere Ausgestoßene strömten herbei, aus kilometerweit entfernten Gebieten, und am Ende würden sie genug sein, um den Kirchentruppen Einhalt zu gebieten und sie zu bezwingen, doch bis dahin wären viel zu viele Männer, Frauen und Kinder von den Gläubigen niedergemetzelt worden, und das Blut der Unschuldigen würde die Tunnelwände für immer beflecken.

Ohnesorg dämmerte allmählich die Erkenntnis, daß er sterben würde. Gefangen im beengten Raum der düsteren Tunnel, weit entfernt von Himmel, Sonne und offenem Land, und der Gedanke versetzte ihn in rasende Wut. Er hatte noch so viele Pläne gehabt, inspiriert von seiner zweiten Jugend, und so viel würde ungetan bleiben, weil er so sicher gewesen war, daß ihm noch genügend Zeit blieb, irgendwann in der Zukunft. Und jetzt war ihm die Zeit ausgegangen. Ohnesorg würde hier unten sterben, nicht weil er verzagte oder schwach war, sondern aus dem einfachen Grund, weil die Übermacht so erdrückend war.

Und Ruby… auch Ruby würde sterben. Dieser Gedanke versetzte Jakob wie kein anderer in beinahe besinnungslose Wut.

Er trauerte um den unzweifelhaften Verlust seines alten Freundes Alexander und die vergebliche Hoffnung der Rebellen von Technos III, aber am Ende war es der Gedanke an Ruby Reise, die tot und zerbrochen auf dem blutbesudelten Boden lag, der alles andere in seinem Schrei nach Rache und Vergeltung erstickte.

Jakobs Bewußtsein zerbrach die Ketten seines Körpers und griff hinaus, um Ruby zu berühren und sich mit ihr zu vereinigen. Ihre Gedanken krachten zusammen, verschmolzen, vermischten sich und wurden zu einem Ganzen, das weit größer war als die Summe seiner Teile. Ein blendend helles Licht entflammte rings um die beiden und verschlang die Gläubigen, die nicht rasch genug zurückweichen konnten. Sie gingen in Flammen auf, brannten wie gleißende Fackeln, und ihr Fleisch schmolz dahin wie Wachs in der Sonne. Die Hitze verschlang die Kirchentruppen in Sekunden, brachte ihre Schwerter und Rüstungen zum Schmelzen und breitete sich in einer Woge spontaner Explosionen durch die Tunnels aus. Nur die Ausgestoßenen wurden verschont, obwohl die Hitze der brennenden Leiber sie zurücktrieb, die Arme hochgerissen, um die Gesichter zu schützen. Die Gläubigen schrien und starben, und plötzlich wandten sich die Überlebenden ab und flohen, rannten zurück in Richtung Oberfläche und Sicherheit. Die Woge aus mörderischer Hitze verfolgte sie, schnappte nach den Hacken der Langsamen und setzte ihre Haare in Brand. Entsetzliche Schatten tanzten über die Wände, als die Gläubigen voller Panik schreiend flohen, als wäre der leibhaftige Teufel hinter ihnen her. Und vielleicht war er das ja auch.

Die überlebenden Kirchensoldaten schnappten sich Frauen und Kinder und hielten sie vor den Leib gepreßt, um vor dem Höllenfeuer Schutz zu finden. Die Taktik ging auf, und mehr und mehr Geiseln wurden genommen, bis die Gläubigen schließlich die oberen Ebenen der Tunnels erreicht hatten und keine Ausgestoßenen mehr da waren. Sie brachen hinaus an die Oberfläche, klammerten sich verzweifelt an die sich wehrenden Gefangenen, und das Höllenfeuer blieb hinter ihnen zurück.

Männer rannten herbei, um ihnen zu helfen, und wurden mit Tränen in den Augen, keuchenden Flüchen und hysterischem Lachen begrüßt. Dreihundertsiebenundzwanzig Geiseln hatten sie mitgenommen, hauptsächlich Frauen und Kinder. Und das war das Ende von Kardinal Kassars großer Offensive gegen die Rebellen von Technos III.

Tief unten standen Jakob Ohnesorg und Ruby Reise in einem trübe erleuchteten Korridor beisammen. Das Feuer war erloschen, und sie waren in ihre eigenen Körper zurückgekehrt.

Ringsum lagen schwelende Leichen, so weit das Auge reichte, und die Luft war dick vom Gestank verbrannten Fleisches. Ruby und Jakob blickten sich an, wieder ein Mann und eine Frau und sonst nichts. Wenigstens hofften sie das. Ihr Bewußtsein war den Flammen gefolgt, und sie wußten genau, was sie getan hatten. Schweigend standen sie beisammen und starrten sich in die Augen. So fanden die Gespenster-Alice und Alexander Sturm die beiden, als sie vorsichtig über Leichenberge herbeikletterten. Sie blieben in sicherer Entfernung stehen und warteten darauf, daß Ruby und Jakob von ihnen Notiz nahmen.

Sturm mußte gegen den Impuls ankämpfen, einige Schritte zurückzuweichen. Beide sahen jünger aus und wilder, schienen mehr als Menschen zu sein, als hätte die entsetzliche Hitze, die sie geschaffen hatten, auf geheimnisvolle Weise die Unreinheit in ihnen weggesengt. In ihre Augen zu blicken war, als blickte man direkt in die Sonne.

»Sie sind alle weg«, sagte Alexander mit rauher Stimme.

»Wir haben begonnen, in den Tunnels aufzuräumen, doch es wird eine Zeitlang dauern. Es sind eine ganze Menge Leichen, die beiseite geschafft werden müssen.«

»Die Überlebenden haben Geiseln mitgenommen«, berichtete die Gespenster-Alice. »Wir wissen noch nicht, wen oder wie viele. Wir müssen zuerst herausfinden, wer alles gefallen ist.

Gott allein weiß, was die Wolfs mit ihren Gefangenen anstellen werden. Sie haben noch nie zuvor Gefangene gemacht.«

»Beruhigt Euch«, entgegnete Jakob Ohnesorg. »Wir werden sie befreien.« Als er zu sprechen begann, erlosch das Feuer in seinen Augen langsam, bis er wieder ein ganz normal aussehender Mann war. »Gebt allen Bescheid. Sobald der Schutzschirm für die Übertragung der Zeremonie heute nacht erlischt, werden wir einen massierten Angriff starten. Wir alle. Wir werden die Klone und unsere Kameraden befreien, die Feier unterbrechen und die Produktionsstraßen für den Raumschiffantrieb zerstören. Und alles wird live übertragen. Das sollte jedermann klarmachen, wer hier in Wirklichkeit das Sagen hat.«

»Jakob, das ist verdammt noch mal leichter gesagt als getan«, gab Alexander Sturm zu bedenken. »Die Ausgestoßenen haben schon früher zahlreiche massierte Angriffe unternommen, aber sie wurden stets zurückgeschlagen.«

»Sie hatten nie Ruby und mich als Anführer«, erwiderte Ohnesorg. »Wir sorgen schon dafür, daß es diesmal anders ausgeht. Wo ist nur deine Begeisterung geblieben, Alex? Du und ich, wir beide werden in der ersten Reihe stehen und den Angriff kommandieren. Es wird sein wie früher, in den guten alten Zeiten.«

»Hoffentlich nicht«, brummte Sturm und blickte Ohnesorg fest in die Augen. »Gütiger Himmel, hoffentlich nicht.«

Bis zur Zeremonie dauerte es noch gut zwei Stunden, doch Daniel und Stephanie waren bereits damit beschäftigt, sich auf die Schau vorzubereiten. Die richtige Kleidung war von großer Bedeutung bei derartigen Anlässen. Die beiden Geschwister befanden sich in Stephanies Gemächern; Daniel hatte Schwierigkeiten beim Binden seiner Krawatte gehabt und war zu seiner Schwester gekommen, damit sie ihm half. Stephanie hatte nicht weiter überrascht den Kopf geschüttelt und ihrem Bruder mit kurzen, geübten Griffen die Krawatte angelegt. Daniel stand ruhig da, während sie sich am Rest seiner formellen Garderobe zu schaffen machte, und blickte sich im Zimmer seiner Schwester um. Hier war mehr Luxus angehäuft, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben zu sehen bekamen, aber nach Stephanies Ansicht war das Zimmer noch immer eher spartanisch eingerichtet, und das verkündete sie auch bei jeder passenden Gelegenheit. Sie war schließlich eine Wolf und daran gewöhnt, stets nur das Allerbeste zur Verfügung zu haben. Daniel ging es recht ähnlich, aber er machte nicht so viel Wirbel darum wie seine Schwester. Er hatte andere Dinge im Kopf.

»Weißt du, eigentlich müßtest du inzwischen deine Krawatte selbst binden können«, sagte Stephanie milde tadelnd, nachdem sie zurückgetreten war, um ihre Arbeit für einen Augenblick zu begutachten. »Ich weiß, es ist dir unerträglich, Diener so nah an dich heranzulassen, aber dazu ist ja auch Lily da.

Schließlich ist sie deine Frau, nicht wahr?«

»Ich habe keine Ahnung, wo sie steckt«, entgegnete Daniel.

»Sie ist nie da, wenn, ich sie brauche. Nicht, daß ich einen Dreck darauf gebe. Ihr endloses Geplapper raubt mir den letzten Nerv. Nicht ein einziges vernünftiges Wort kommt aus ihrem Mund. Manchmal denke ich, Vater hat sie als meine Frau ausgesucht, um sich einen Scherz zu erlauben.«

»Ich weiß, was du meinst«, stimmte Stephanie ihrem Bruder zu. »Michael ist keine Spur besser. Gut gebaut, aber zwischen den Ohren hat er nichts außer seinem Appetit. Er vergißt ständig Besorgungen oder Verabredungen, und dann hat er auch noch den Nerv zu schmollen, wenn ich ihn anschreie. Er ist ganz gut im Bett, aber er besitzt die Persönlichkeit und den Charme eines weichgekochten Eis. Wir hätten niemals unser Einverständnis zu diesen Hochzeiten geben sollen.«

»Uns blieb doch gar keine andere Wahl. Du hast doch sein Testament gesehen; entweder wir heiraten, oder wir werden enterbt. Und wir benötigten die Geschäfte, die damit einhergingen.«

»Wir haben die Geschäfte jetzt. So, das wäre geschafft. Faß deine Krawatte nicht mehr an, unter gar keinen Umständen.

Hast du verstanden? Gut. Du hast sicher recht, natürlich. Unsere Ehegatten sind so nützlich wie… ach, ich weiß nicht. Such dir irgend etwas wirklich Nutzloses aus.«

»Lily und Michael«, sagte Daniel, und Stephanie mußte grinsen, wenn auch nur schwach.

»Richtig«, bestätigte sie trocken. »Ich würde mich in der nächsten Sekunde scheiden lassen, wenn ich nicht sicher wäre, daß er die Gelegenheit ausnutzt und mich bis auf den letzten Kredit aussaugt, wenn er schon seine Finger nicht im Familiengeschäft lassen kann. Wir hätten auf Eheverträgen und Gütertrennung bestehen sollen, aber das Testament unseres lieben Herrn Papa ließ das nicht zu. Aber egal. Es ist mein Geschäft, und es ist mein Geld, und Michael kriegt nichts davon in die Finger. Vorher ist er tot und verfault leise in seinem Grab.«

»Na, das ist doch mal eine Idee«, sagte Daniel. Stephanie blickte rasch auf, um zu sehen, ob ihr Bruder den Gedanken aufnahm, aber sie erkannte an seinem gedankenverlorenen Blick, daß er nur höflich gewesen und längst bei einem anderen Thema war. »Stephanie, wie lange müssen wir noch hier auf Technos III bleiben, wenn die Zeremonie vorüber ist?«

»Daniel, das haben wir doch bereits alles besprochen. Mindestens noch zwei Monate, vielleicht sogar drei. Selbst wenn wir die kleine Überraschung mit einrechnen, die wir geplant haben, wird es noch eine Zeitlang dauern, dem lieben Valentin die Kontrolle über die Fabrik zu entwinden.«

»Dazu brauchst du mich nicht hier. Du brauchst mich überhaupt nicht hier. Ich muß weg. Ich habe etwas viel Wichtigeres zu tun.«

»Danny…«

»Unser Vater ist noch immer irgendwo dort draußen. Ich kann ihn finden, ich weiß es. Hinter mir stehen alle Ressourcen der Wolfs.«

»Danny, unser Vater ist tot. Er starb im Kampf mit den Feldglöcks. Du hast nur den Körper gesehen. Was du und ich bei Hof gesehen haben, war ein Geistkrieger, sonst nichts. Ein Körper mit implantierten Lektronen, die ihn in Bewegung halten und sprechen lassen.«

»Nein! Es war er! Er hat mich erkannt. Er lebt noch und ist in diesem verwesenden Körper gefangen! Ich muß ihn finden, koste es, was es wolle.«

»Hör auf damit, Danny. Unser Vater ist Vergangenheit, in welchem Zustand er sich auch jetzt befinden mag. Wir müssen den Blick in die Zukunft richten. Er hat sich nie um uns geschert. Ihm ging es nur darum, daß jemand die Gene der Familie weitergibt. Ich brauche dich. Ich brauche deine Unterstützung, hier und am Hof. Ich kann Valentin nicht von seinem Sockel stürzen und diese Familie allein regieren. Ich brauche deine Hilfe, Daniel! Ich habe sie immer gebraucht, das weißt du!«

»Warum? Damit ich an deiner Seite stehe und einen guten Eindruck erwecke? Duelle wegen deiner Ehre ausfechte? Dir die Hand halte, wenn die Dinge ein wenig rauh werden? Dazu hast du Michael, und wenn der nichts taugt, kannst du jemand anderen einstellen. Die einzigen wirklichen Kämpfe drehen sich um Geld und Politik, und von beidem habe ich noch nie etwas verstanden. Ich muß gehen, Stephanie. Vater braucht mich. Niemand sonst wird ihm helfen. Die meisten Menschen sind froh, daß er tot ist. Ich bin alles, was er noch hat.«

»Unser Vater ist tot! Wie oft muß ich dir das noch sagen?

Wann geht das endlich in deinen dicken Schädel? Was wir gesehen haben, war nichts als ein billiger Trick von Shub, und du bist darauf hereingefallen.«

»Ich dachte, wenigstens du würdest mir glauben! Du denkst auch, daß ich verrückt bin!«

Daniels Gesicht lief rot an, und er begann zu weinen wie ein Kind. Stephanie seufzte, trat einen Schritt vor und nahm ihn in die Arme. Er hielt sie fest an sich gedrückt, das Gesicht heiß an ihrem Hals.

»Ich kann ihn nicht im Stich lassen«, sagte er mit erstickter Stimme. »Er hat mich noch nie für irgend etwas gebraucht, und er ging und starb, bevor ich ihm Lebewohl sagen konnte. Bevor ich ihm sagen konnte, daß ich ihn liebe.«

»Vergiß Vater«, entgegnete Stephanie. »Du brauchst ihn nicht länger. Du hast jetzt mich.«

Stephanie schob Daniel ein wenig von sich und küßte ihn auf den Mund, mit einer Leidenschaft, die weit über das hinausging, was eine Schwester für einen Bruder empfinden sollte.

Daniel legte die Hände auf ihre Schultern und schob sie sanft, aber bestimmt von sich.

»Nein. Das ist nicht recht, Stephanie.«

»Wir sind Wolfs, Danny. Wir können tun, was immer wir wollen. Wir entscheiden, was recht ist und was nicht.«

»Nicht das. Wir Wolfs haben noch nie… so etwas getan.

Selbst wir müssen bestimmte Regeln befolgen, sonst bricht alles zusammen. Außerdem, wenn es herauskäme, und du weißt, daß es irgendwann herauskäme, würden wir allen Respekt bei den anderen Clans verlieren. Wenn wir zu schwach sind, unser eigenes Verlangen zu kontrollieren, dann sind wir auch zu schwach, unsere Familie zu leiten. Das würden sie denken, und sie hätten recht damit. Ich liebe dich, Stephanie, und ich werde dich immer lieben – als Schwester. Ich werde bei dir bleiben, solange du mich brauchst. Danach bin ich weg.

Versuche nicht, mich daran zu hindern. Ich liebe dich, aber er ist mein Vater.«

»Laß uns gehen«, sagte Stephanie, ohne Daniel anzublicken.

»Wir müssen uns noch mit Kardinal Kassar und dem Halben Mann treffen, bevor die Zeremonie beginnt.«

Am Ende trafen sich alle in der großen Empfangshalle wieder.

Irgendeine optimistische Seele hatte ein paar bunte Flaggen und Banner aufgehängt, und Diener in voller Livree waren damit beschäftigt, ein kleines Büffet vorzubereiten. Es gab auch große Mengen von Wein und Champagner, wenn schon nicht in großer Qualität. Kardinal Kassar schien das meiste davon allein zu trinken. Die Nachricht vom Schicksal seiner Männer in den Tunnels der Rebellen war rasch bis zu ihm vorgedrungen, und obwohl er sich alle Mühe gab, die Aktion jedermann lauthals als einen großen Sieg anzupreisen, schien es klar, daß er niemandem etwas vormachen konnte, nicht einmal sich selbst. Daniel und Stephanie beobachteten ungeduldig, wie der Kardinal sich aufplusterte und eifrig das Glas schwenkte, während er mehr und mehr Einzelheiten von sich gab, die nur seiner Phantasie entsprungen sein konnten. Der Halbe Mann behielt seine Gedanken wie immer für sich, und Investigator Klipp an seiner Seite schwieg diplomatisch.

»Zu Hunderten haben wir die Rebellen niedergemacht«, sagte Kassar gerade laut. »Vielleicht sogar zu Tausenden. Schwer zu sagen, ohne daß man alle Leichen nach oben schafft. Schön, wir haben auch ein paar gute Leute verloren, aber wir sind diejenigen, die Gefangene mit nach Hause gebracht haben. Dreihundertsiebenundzwanzig von ihnen. Ich habe beschlossen, sie alle am Schluß der Zeremonie exekutieren zu lassen. Ein gutes Ende der Schau, und es wird jedermann deutlich zeigen, wer hier auf Technos III das Sagen hat.«

»Ich habe Eure Gefangenen gesehen«, entgegnete Stephanie.

»Beinahe ausschließlich Frauen und Kinder und ein paar verwundete Männer. Das wird sicher einen großartigen Eindruck auf die Milliarden Zuschauer machen. Wollt Ihr nicht noch ein paar kleine Hunde und Katzen vor laufenden Kameras niedermetzeln, um den Eindruck zu vervollständigen? Ich meine, Kinder! Was ist nur in Euch gefahren, Kassar? Konnten Eure Leute nicht genug Krüppel und Zurückgebliebene finden?«

Kassar funkelte Stephanie an. »Ein Rebell ist ein Rebell! Die Exekutionen werden ein Zeichen unserer Autorität setzen und der Moral der Rebellen einen empfindlichen Schlag versetzen.«

»Ich kann nicht sagen, daß ich der gleichen Meinung bin«, meldete sich Daniel zu Wort. »Frauen und Kinder kaltblütig zu ermorden! Das kommt überhaupt nicht beim Publikum an, wißt Ihr?«

»Wir spielen hier nicht nach Euren dekadenten höfischen Regeln, Knabe«, giftete der Kardinal mit gefährlich rotem Gesicht. »Das hier ist Sache der Kirche. Versucht besser nicht, Euch in die Exekutionen einzumischen, oder ich sorge dafür, daß meine Truppen Euch aufgreifen.«

»So viel Tod fasziniert Euch wohl, Kardinal?« fragte Stephanie. »Ihr genießt den Gedanken an das viele Blutvergießen.«

»Ihr etwa nicht?« Der Kardinal rümpfte herablassend die Nase. »Ich dachte immer, Ihr Wolfs hättet stärkere Nerven.«

»Wir befinden uns im gleichen Raum wie Ihr, oder etwa nicht?« konterte Daniel.

Kassar wollte gerade eine passende Antwort darauf geben, als ihm ein verräterisches Funkeln in Daniels Augen auffiel. Er hielt inne. Jedermann kannte den Ruf Daniels als Duellist, und Kassars Männer waren außer Reichweite. Der Halbe Mann und sein Investigator würden vermutlich auf seiner Seite stehen, aber…

»Mir sind ebenfalls einige Berichte zugegangen«, sagte Stephanie. »Über das, was unten in den Tunnels geschehen ist.

Laut meinen Quellen haben die Rebellen Euch mit einer neuen Esper-Waffe in die Flucht geschlagen.«

»Gerüchte, nichts als Gerüchte!« schnappte Kassar. »Haltlose Übertreibungen. Ihr solltet es wirklich besser wissen, anstatt auf Geschwätz zu hören. Die Ausgestoßenen besitzen keine Esper, ganz zu schweigen von Esper-Waffen.«

»Aber sie haben Jakob Ohnesorg auf ihrer Seite«, gab Daniel zu bedenken.

»Das behaupten sie!« erwiderte Kassar. »Ich freue mich schon darauf, diesen Ohnesorg hängen zu sehen. Ich meine, er ist schließlich nur an alter Mann, der kaum mehr für irgend jemanden eine Gefahr darstellt. Seine Mißerfolge haben ihn gezeichnet, und er sucht verzweifelt nach einem letzten Erfolg.

Das Imperium hat ihm auf Eisfels in den Arsch getreten, und meine Leute werden hier auf Technos III das gleiche tun. Niemand kann den Gläubigen widerstehen. Genauso, wie niemand der Kirche widerstehen kann.«

Plötzlich fielen ihm die Bomben ein, die er in der Fabrik deponiert hatte, und er mußte grinsen. Sie würden keinen richtigen Schaden anrichten, aber es würde mehr als ausreichen, um die Produktion des neuen Antriebs lahmzulegen, die Wolfs als Dummköpfe dastehen zu lassen und den Grundstein für die Übernahme von Technos III durch die Kirche zu legen. Und dann würde niemand mehr nach ein paar Truppenverbänden fragen, die bei einer unglücklichen Operation verlorengegangen waren.

Der Halbe Mann stand schweigend ein wenig abseits und verfolgte das Streitgespräch. Er verspürte nicht den Wunsch, daran teilzunehmen. Der Halbe Mann machte einen harten, bedrohlichen Eindruck mit Investigator Klipp an der Seite wie ein angriffslustiger Kampfhund, und er wußte es. Die Leute hier waren in letzter Zeit zu vertrauensselig geworden, und man mußte sie daran erinnern, wer die wirkliche Macht in Händen hielt. Der Halbe Mann verspürte das Bedürfnis, einen starken Eindruck zu erwecken, nachdem er Klipp gegenüber so schwatzhaft gewesen war. Seit den Verhören nach seiner Rückkehr hatte er nicht mehr so viel über seine Vergangenheit gesprochen, und er wußte nicht genau, warum er ausgerechnet Klipp so viel erzählt hatte. Vielleicht, weil die Träume in letzter Zeit lebhafter geworden waren. Vielleicht auch nur, weil Klipps Großvater so ein guter Freund gewesen war. Der Halbe Mann sehnte sich mehr als je zuvor nach einem Freund. Er mußte sich keine Gedanken machen, daß Klipp reden würde.

Sie war Investigator, und sie war dem Mann treu ergeben, der sie ausgebildet und ihrem Leben Form gegeben hatte. Daran zweifelte der Halbe Mann nicht einen Augenblick. Deshalb hatte er ihr auch den Befehl erteilt, Kassar beim Deponieren der Bomben in der Fabrik zu beobachten. Er konnte darauf vertrauen, daß Klipp ihre Arbeit sorgfältig verrichtete.

In diesem Augenblick erschienen Michael und Lily in der Halle, wie gewöhnlich zu spät. Sie hatten sich ein wenig Mühe gegeben, dem Anlaß entsprechend gekleidet aufzutreten, aber nicht viel. Ihre Garderobe war von edelstem Schnitt und Material, aber ohne den notwendigen Elan der Träger machte sie nicht sonderlich viel her. Auf Michaels Krawatte waren frische Weinflecken zu sehen, und Lilys lange silberne Perücke war ein wenig verrutscht. Sie kicherten laut, als sie in die Versammlung platzten, doch gaben sie sich Mühe, damit aufzuhören, als ihnen die kühle, formelle Atmosphäre in der Halle bewußt wurde. Sie warfen unschuldige Blicke in die Runde und hielten dann schnurstracks auf den Wein zu. Daniel starrte böse hinter ihnen her.

»Was, zum Teufel, findet ihr denn so verdammt lustig?« wollte er wissen. »Noch ein wenig später, und ihr hättet das Treffen ganz verpaßt.«

»Und wäre das nicht eine Schande gewesen?« erwiderte Lily, ohne sich zu ihrem Gatten umzublicken. Sie schenkte sich ein großes Glas Wein ein. »Mach dir keine Sorgen, mein Liebling.

Ich bin sicher, niemand hat uns vermißt. Wir haben noch reichlich Zeit bis zum Beginn der Zeremonie, Und das ist schließlich alles, wozu du mich brauchst, oder nicht? Ich würde die Zeremonie um nichts in der Welt verpassen wollen. Ich liebe eine gute Zeremonie.«

Lily und Michael wechselten ein weiteres Lächeln und dachten an die Bomben der Chojiros, die sie in der Fabrik deponiert hatten. Es würde eine Zeremonie werden, die niemand so schnell wieder vergaß.

»Möglicherweise gibt es ein Problem mit der Zeremonie«, meldete sich Stephanie zu Wort, und alle blickten überrascht zu ihr. »Die Gegenwart von Toby Shreck und seinem Kameramann hat sich als Ärgernis für jeden herausgestellt. Er sollte nützliche Propaganda für uns machen, aber anscheinend hat ihm das niemand gesagt. Ich bin sicher, ich muß keinen der hier Anwesenden an die Auswirkungen seiner letzten Sendungen erinnern. Unglücklicherweise hat er Zuschauer in den höchsten Ämtern, einschließlich Löwenstein persönlich, und als Resultat davon hat er das exklusive Recht erhalten, die Zeremonie live zu übertragen. Ich hatte gehofft, ich könnte einen kleinen Unfall in letzter Minute arrangieren, aber da er nun der einzige Kommentator ist, der sich auf Technos III befindet, können wir nicht auf ihn verzichten. Die Zeremonie muß übertragen werden, und so viele Menschen wie nur irgend möglich müssen sie sehen.«

»Oh, sicher«, sagte Kassar. »Alle möglichen Leute werden uns dabei zusehen.«

»Macht Euch wegen Shreck keine Gedanken«, beruhigte der Halbe Mann. »Ich werde Investigator Klipp direkt neben ihm postieren. Das sollte ausreichen, um ihn seine Worte mit Bedacht wählen zu lassen.«

»Ich nehme an, die Sendeantenne wurde ersetzt?« fragte Daniel.

»Ja«, antwortete Stephanie. »Schon vor einiger Zeit. Ich wünschte, du würdest die Memoranden häufiger lesen, Daniel.

Der Kardinal war so freundlich, uns einige seiner technischen Mitarbeiter als Helfer zur Verfügung zu stellen.«

»Das sollte man auch verdammt noch mal erwarten«, brummte Daniel. »Schließlich hat er das Ding ja auch in die Luft gejagt.«

»Dafür habe ich mich bereits entschuldigt«, sagte Kassar frostig. »Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen.«

»Das ändert nichts an der Tatsache«, beharrte Daniel.

»Ihr habt doch immer zu allem eine Meinung, junger Wolf«, wechselte der Halbe Mann unvermittelt das Thema. »Vielleicht könnt Ihr mir ja auch einen Rat geben, wie der bevorstehende Krieg mit den Fremden zu führen ist?«

Eine Pause entstand, und jedermann fragte sich, wieso, zur Hölle, die Konversation plötzlich in diese Richtung abgeglitten war. Es war nicht völlig unerwartet geschehen, wenn man das Hauptanliegen des Halben Mannes bedachte, aber trotzdem war niemand sicher, was ihn diesmal auf die Palme gebracht hatte. Allerdings waren alle – wenn auch aus den verschiedensten Gründen – um eine Entschuldigung froh, endlich das Thema wechseln zu können.

»Ich bin gar nicht so sicher, ob es einen Krieg geben wird«, sagte Daniel nach kurzer Bedenkzeit. »Die Fremden haben uns bisher in Ruhe gelassen. Ich sehe keinen Grund, warum sie das nicht auch weiterhin tun sollten. Wenn sie sich allerdings zeigen, dann ist die Antwort offensichtlich. Wir ziehen jeden Gewöhnlichen zum Militär ein, pumpen alle mit Kampfdrogen voll bis zum Kragen und schicken sie aus, um den Fremden die Scheiße in sechs verschiedenen Farben aus dem Arsch zu treten. Verluste stellen kein Problem dar. Wir haben im Imperium einen schier unerschöpflichen Vorrat an Kanonenfutter.«

»Nein«, widersprach der Halbe Mann. »Das ist keine Antwort. Es ist niemals gut, den niederen Klassen Waffen in die Hände zu drücken. Sie könnten anfangen, sich über ihren Stand Gedanken zu machen. Kanonen und Gewöhnliche passen einfach nicht zusammen. Sie haben noch nie zusammengepaßt.«

»Und wie sieht dann Euer großartiger Plan aus?« erkundigte sich Daniel.

Der Halbe Mann fixierte ihn mit einem kalten Blick aus seinem einzelnen Auge. »Investigatoren. Ich habe sie seit Dekaden darin ausgebildet, mit den Fremden umzugehen. Laßt mich eine Armee von Investigatoren ausbilden, und ich werde Euch eine Streitmacht zeigen, die kein Angriff der Fremden jemals überwinden wird.«

Eine weitere ausgedehnte Pause entstand, als jeder über eine Armee von sturen, kaltblütigen Mordmaschinen nachdachte, die nur dem Halben Mann und sonst niemandem gehorchten.

Ein Investigator allein wirkte schon einschüchternd genug, aber der Gedanke an eine Armee von ihnen reichte aus, um jedem die Eingeweide zu verdrehen. Daniel für seinen Teil zum Beispiel dachte, daß er lieber einer ganzen Armee von Fremden splitterfasernackt mit auf dem Rücken zusammengebundenen Beinen gegenübertreten wollte, aber er besaß genug Geistesgegenwart, das nicht laut zu sagen. Die anderen überlegten noch immer angestrengt, wieso der Halbe Mann ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt so ein Thema zur Sprache gebracht hatte.

War das seine Art, ihnen zu sagen, daß er eine Machtbasis besaß, die selbst durch die Massenproduktion des neuen Antriebs nicht unterminiert werden konnte? Sie dachten noch immer darüber nach, als die Tür aufschwang und Toby Shreck hereingestürzt kam, voller Energie wie immer. Flynn glitt hinter ihm her, eine neue Holokamera auf den Schultern. Die anderen drängten sich instinktiv zusammen und präsentierten eine vereinigte Front gegen den gemeinsamen Feind.

»So mag ich es«, sagte Toby unbekümmert. »Schöne Gruppenbilder! Entspannt Euch, Leute. Wir übertragen nicht, bevor die Zeremonie beginnt. Und das live, aber ich bin sicher, ich muß niemanden extra daran erinnern. Nicht wahr, Kardinal?

Ich hoffe, alle sind soweit fertig, denn der Rest der Fabrik ist es auch. Der gesamte Stab und die Kirchentruppen, die zur Zeit nicht flach auf dem Rücken liegen und leise vor sich hin stöhnen, haben sich draußen versammelt und stehen in dichten Reihen. Sie kochen in der sommerlichen Hitze und beten ganz ohne Zweifel, daß der Monsun bald einsetzt. Die Gefangenen des Kardinals sind in Reih und Glied angekettet worden. Sie haben einen ziemlichen Zauber veranstaltet, aber irgendeine freundliche Seele hat ihnen ein verdammt starkes Beruhigungsmittel verabreicht, und jetzt können sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Exekution wird bestimmt ein großartiges Spektakel, Kardinal. Das Volk liebt seinen blutigen Zeitvertreib. Selbst wenn die Opfer beinahe ausschließlich aus Frauen und Kindern bestehen. Was ist geschehen, Kardinal?

Waren die Rebellenmänner vielleicht alle zum Angeln ausgeflogen?«

»Eines Tages werdet Ihr Euch nicht wieder herausreden, wenn Eure Zunge Euch in Schwierigkeiten gebracht hat«, zischte Kassar. Er spuckte jedes einzelne Wort wie Eis hervor.

»Und ich bete nur, daß ich dabei bin, um Euch die vorlaute Zunge aus dem Rachen zu reißen.«

»Ihr ändert Euch auch niemals, Kardinal«, erwiderte Toby.

»Aber das gehört anscheinend zu Eurem Charme.« Er blickte zu Stephanie hinüber. »Dürfte ich vorschlagen, daß wir uns langsam in Bewegung setzen? Es ist niemals klug, ein so großes Publikum über Gebühr warten zu lassen. Ganz besonders dann nicht, wenn die Imperatorin Löwenstein ebenfalls unter den Zuschauern ist.«

Die Zeremonie, so war beinahe im letzten Augenblick beschlossen worden, würde trotz des Wetters im Freien abgehalten werden, so daß die beeindruckende Silhouette der Fabrik von all den Milliarden Zuschauern gesehen und bewundert werden konnte. Eine der Fertigungsstraßen war bis nach draußen vor das Hauptportal verlängert worden, damit man den ersten am Fließband produzierten Antrieb, der die Fabrik verließ, der wartenden Menge präsentieren konnte. Die wartende Menge bestand in diesem Fall aus dem zunehmend rebellisch werdenden Stab der Fabrik und den Kirchentruppen, in denen von Minute zu Minute die Bereitschaft wuchs, für ein Glas kaltes Wasser zu morden. Die meisten Gläubigen waren vom Schiff im Orbit herabgeschafft worden, damit die Masse auch groß genug wirkte. Sie schienen nicht im geringsten glücklich über ihr Hiersein. Tiefe Entrüstung machte sich in ihren Reihen breit, und selbst die wenigen verbliebenen Jesuiten konnten sie kaum unterdrücken.

Die Produktion des Antriebs hinkte dem Zeitplan bereits Monate hinterher, und jedermann wußte es. Die Ausgestoßenen hatten in letzter Zeit so häufig angegriffen, daß sie den Fertigungsprozeß tatsächlich bei mehr als einer Gelegenheit vollständig zum Erliegen gebracht hatten. Obwohl man das natürlich niemals öffentlich zugegeben hätte. Selbst unter den Feldglöcks nicht. Die offizielle Begründung lautete stets ›Kinderkrankheiten‹, wie sie bei der Entwicklung einer neuen Technologie nicht anders zu erwarten waren. Nur wenige Eingeweihte wußten, daß der Antrieb von einer nur teilweise verstandenen fremden Technologie abstammte und die beunruhigende Angewohnheit besaß, die Klone zu töten, die an der Maschinerie arbeiteten, und diese Leute hielten den Mund geschlossen. Die meisten von ihnen waren nämlich tot, und der Rest hatte keine Lust, ihnen zu folgen.

Toby hielt Flynn in Trab, damit er die Zeremonie aus so vielen Blickwinkeln filmte wie nur irgend möglich, ohne daß den Zuschauern schwindlig wurde. Er achtete sorgfältig darauf, den Hauptdarstellern gleichermaßen Beachtung zu schenken, um spätere Schadensersatzforderungen zu vermeiden, und er sorgte auch dafür, daß Flynn einen beträchtlichen Sicherheitsabstand zu Kardinal Kassar nicht unterschritt. Zum Glück war die Gewerkschaft bereit gewesen, Flynn per Notfall-Expreß eine neue Kamera für die Zeremonie zu senden. Und wenn eine filmende Kamera, die einem mit dem Disruptor von der Schulter geschossen wurde, keinen Notfall darstellte, dann wußte Toby nicht, was überhaupt einer war. Überraschenderweise hatte Flynn sich damals gar nicht so sehr aufgeregt. »Zur Hölle«, hatte er gesagt, »ich habe schon ›Demokratie jetzt‹Protestkundgebungen gefilmt. Das ist vielleicht eine bösartige Bande, bei Gott. Seither erschreckt mich nichts mehr so leicht.« Toby hatte gegrinst und die Schultern gezuckt, genau wie jetzt auch, und seine Arbeit fortgesetzt. Toby konnte nicht anders, als zu überlegen, wieviel die Imperialen Nachrichten auf den Tisch gelegt hatten, um seine exklusive und live übertragene Berichterstattung zu finanzieren. Es war keine großartige Neuigkeit. Auf der anderen Seite waren genügend prominente Persönlichkeiten anwesend, und zusammen mit der Erinnerung an den letzten, live übertragenen Angriff der Rebellen sollte das völlig ausreichen, um eine verdammt große Zuschauerschar zu mobilisieren. Einschließlich der Herrscherin persönlich. Was bedeutete, daß seine Übertragung eine große Feder an der Mütze der Imperialen Nachrichten werden konnte.

Wenn Toby es nicht vermasselte. Und er war fest entschlossen, es nicht zu vermasseln… teilweise auch deshalb, weil man ihm leise, aber bestimmt gesagt hatte, daß er andernfalls besser erst gar nicht nach Hause kommen sollte. Außer in mehreren Teilen vielleicht.

Also arbeitete Toby sich den Hintern wund, führte schnelle Interviews durch, wo sich eine Gelegenheit bot, kombiniert mit interessanten Aufnahmen von der wartenden Menge und den Gefangenen vor dem Fabrikkomplex, um die langen, gesalbten Reden von allen und jedem, der irgend etwas darstellte oder das zumindest von sich annahm, ein wenig zu beleben. Er war ein wenig außer sich, weil es ihm nicht gelungen war, ein Interview mit dem legendären Halben Mann zu bekommen, aber Investigator Klipp hatte sich alle Mühe gegeben, Toby in mehr als respektvoller Distanz zu halten.

Toby hatte versucht, durch Erwähnung der Bedeutung einer freien Presse und des Namens der Herrscherin doch noch sein Ziel zu erreichen, aber Klipp hatte ihn mit einem derartigen Blick angesehen, daß in Toby der spontane Entschluß herangereift war, doch lieber ganz rasch woandershin zu gehen, bevor Klipp Flynns neue Kamera packen und sie in eine von Tobys Körperöffnungen schieben konnte.

Lily und Michael lächelten in die Kamera, sobald sie in ihre Richtung wies, und hielten sich ansonsten unauffällig im Hintergrund. Die Versuchung, ständig auf die Uhr zu blicken, war für beide fast überwältigend, und sie neigten zu nervösen Zuckungen, wenn plötzliche laute Geräusche ertönten. Doch selbst ihre aufgeregte Erwartung konnte sie im Angesicht der Ansprachen nicht lange wach halten. Michael begann mit offenen Augen zu dösen, eine Kunst, die er zur Perfektion entwickelt hatte, während er zwangsweise langweiligen, endlosen Reden bei Hof hatte lauschen müssen. Er stand kurz davor, endgültig einzunicken, als Lily ihm plötzlich den Ellbogen in die Rippen stieß. Sein Kopf ruckte hoch, und er funkelte sie wütend an, während er sich die Seite rieb.

»Mach das nicht! Es tut weh!«

»Sei still, du großes Kind. Paß auf. Siehst du diesen Lakai mit dem Tablett voller Drinks?«

»Natürlich sehe ich ihn. Ich bin schließlich nicht blind.«

»Dann beobachte ihn weiter. Eins dieser Gläser, das mit den purpurnen Flecken im Schaum, ist für den lieben Daniel bestimmt, Und in diesem Glas befindet sich genug Gift, um ein ganzes Regiment von Nonnen umzubringen.«

»Bist du verrückt?« Köpfe fuhren herum und starrten Daniel an. Er erwiderte die Blicke mit einem kurzen, bedeutungslosen Lächeln, bevor er mit gesenkter Stimme fortfuhr. »Hast du den Verstand verloren, Lily? Du schaffst es noch, daß man uns beide exekutiert!«

»Beruhige dich, Michael. Ich weiß, was ich tue. Die Chojiros sind der Meinung, daß wir unsere Gatten nicht mit den Bomben in die Luft jagen dürfen, also mußte ich einen anderen Plan entwickeln. Das Gift ist nicht nachweisbar, wenn man nicht ganz genau weiß, wonach man suchen muß, und bis sie den Leichnam zu einem entsprechend ausgerüsteten pathologischen Labor geschickt haben, werden die letzten Spuren verschwunden sein. Der Kellner steht unter einem posthypnotischen Befehl. Ich habe dir gleich gesagt, daß meine Hexenkünste gelegen kommen würden. Der Lakai wird sich an nichts mehr erinnern, nachdem er Daniel das richtige Glas gereicht hat. Du siehst also, ich habe an alles gedacht.«

»Nicht ganz«, erwiderte Michael und kämpfte schwer gegen das Bedürfnis, Lily am Hals zu packen und zu würgen, bis ihre Augen hervorquollen. »Jeder wird wissen, daß wir es waren, weil wir die einzigen sind, die ein Motiv haben. Sie werden als erstes einen Esper kommen lassen, der in unsere Köpfe blickt, nur für den Fall!«

»Unsinn! Daniels Tod wird den Rebellen in die Schuhe geschoben werden. Genau wie alles andere, was hier geschehen wird. Und ich werde endlich frei sein. Wenn alles nach Plan verläuft, können wir den gleichen Trick später noch bei Stephanie versuchen.«

Michael war sprachlos. Er stand nur da und starrte wie betäubt auf den Kellner, der sein Tablett mit Drinks an den verschiedenen Gästen vorüber trug und es jedesmal unauffällig so drehte, daß sie stets das Glas nahmen, das ihnen gerade am nächsten stand und nicht das mit dem Gift darin. Lily grinste breit und drückte Michaels Arm mit beiden Händen… und erschrak um so mehr, als der Halbe Mann das Glas ignorierte, das ihm präsentiert wurde, und nach dem Glas mit dem Gift darin griff. Lilys Augen weiteten sich. Sie schlug die Hand vor den Mund, um die entsetzten Schreie zu ersticken. Michael dachte, er müßte auf der Stelle ohnmächtig werden. Daniel Wolf umzubringen war eine Sache. Aber den äußerst wichtigen und über hervorragende Beziehungen verfügenden Halben Mann zu töten war eine ganz andere. Die Imperatorin würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Verantwortlichen zu finden. Was mit einem gründlichen Verhör jedes einzelnen Anwesenden durch Esper anfangen würde. Und ›Verzeihung, es war ein Versehen‹ konnte ja wohl nicht als Ausrede oder Erklärung dienen. Doch es gab nichts, was die beiden hätten tun können. Sie konnten nichts sagen, ohne sich selbst zu verraten. Also standen sie nur hilflos da und beobachteten, wie der Halbe Mann das Glas an den halben Mund hob und einen tiefen Schluck trank.

»Wie lange dauert es, bis das Gift wirkt?« flüsterte Michael.

»Die Wirkung sollte augenblicklich einsetzen«, antwortete Lily genauso leise. »Ganz besonders, wenn man bedenkt, wieviel ich hineingetan habe. Ich bin überrascht, daß das Glas nicht geschmolzen ist.«

Der Halbe Mann leerte das Glas und gab es dem Kellner zurück. »Sehr gut«, hörten sie ihn sagen. »Gibt es noch mehr davon?«

Lily schüttelte ungläubig den Kopf, als der Kellner weiterging und Daniel ein harmloses Glas Wein brachte. »Ich glaube das einfach nicht«, sagte sie. »Der Halbe Mann trinkt nie. Jedermann weiß das.«

»Vielleicht war ihm nie zuvor so heiß«, entgegnete Michael.

»Mir geht es jedenfalls verdammt noch mal so.«

»Und warum kommt kein schwarzer Rauch aus seinen Ohren… seinem Ohr?«

Michael zuckte die Schultern. »Mir scheint, Gift steht ebenfalls auf der langen Liste von Dingen, die den Halben Mann nicht umbringen. Bleib mal vor mir stehen, ja? Ich brauche ein bißchen Deckung, weil ich kotzen muß.« Er unterbrach sich, als Lily erneut seinen Arm packte. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«

»Ich weiß es nicht. Irgend etwas Schlimmes passiert gleich.

Ich fühle es.«

»Lily…«

»Meine Hexenkräfte irren sich nie.«

»Natürlich passiert gleich etwas Schlimmes. Wir haben die Bomben gelegt, oder hast du das vergessen? Und jetzt halte verdammt noch mal endlich den Mund, bevor du unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenkst. Und laß meinen Arm los. Ich spüre meine Finger nicht mehr.«

Lily zog eine Grimasse und wandte ihrem Liebhaber den Rücken zu. Michael seufzte dankbar. Die Ansprachen gingen weiter. Sie dauerten viel länger als geplant, wie Ansprachen das nun mal so an sich haben. Einige der Gefangenen und Mitglieder des Stabes der Fabrik verloren wegen der Hitze das Bewußtsein und wurden mit verschieden brutalen Methoden wieder zu sich gebracht, wenn die Kamera gerade nicht auf sie gerichtet war. Die Zeit verging. Eine Menge Leute hatte begonnen, unruhig auf die Uhren zu blicken. Toby zum Beispiel, während er hoffte, daß die Zuschauer nicht wegschalten würden, wenigstens bis zu den Exekutionen. Er runzelte unwillkürlich die Stirn. Er war nicht sicher, was er von der Sache halten sollte. Einerseits waren es ganz definitiv Rebellen, Kriminelle, aber andererseits waren die meisten Frauen und Kinder. Toby Shreck hatte in seinem Leben eine Menge fragwürdiger Dinge gutgeheißen. Das kam davon, wenn man für Gregor Shreck arbeitete. Aber die kaltblütige Ermordung von Kindern ging einen Schritt zu weit, selbst für jemanden wie Toby. Er hatte angestrengt nachgedacht, was er dagegen unternehmen könnte, und ihm schien, daß er nur eine einzige Chance hatte. Er mußte in der allerletzten Minute vor die Kamera treten und die Imperatorin direkt um Gnade für die Kinder anflehen. Die beobachtenden Milliarden würden es fressen, und Löwenstein würde vielleicht die Vorteile erkennen, die ein warmherziges, gütiges Auftreten in der Öffentlichkeit nach sich ziehen würde. Jedenfalls war es die einzige und letzte Hoffnung für die Kinder. Für die Frauen und die verletzten Männer konnte er nichts tun. Das Publikum wollte und mußte Blut sehen.

Und so blickten alle immer und immer wieder auf die Uhren und veranstalteten im Kopf wilde Rechnungen, während sie darauf warteten, daß die Zeit für die geplanten Überraschungen kam. Sie alle waren so mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß niemand die Gestalt von Investigator Klipp bemerkte, die leise von der Bildfläche verschwand, um eine geheime Mission auszuführen.

Die Ehrwürdige Mutter Beatrice saß auf einem Klappstuhl vor dem Hospitalzelt, genoß die frische Luft und trank Wein direkt aus der Flasche. Selbst die abendliche Hitze war noch eine Wohltat nach dem klaustrophobischen Leichenhallengestank im Innern des Zeltes. Inzwischen gab es wieder mehr Platz, nachdem die am schlimmsten Verwundeten gestorben waren, doch das Zelt war noch immer von Wand zu Wand vollgestopft mit menschlichem Leid. Beatrice seufzte und nahm einen weiteren tiefen Schluck. Sie rettete mehr Patienten, als sie verlor, aber nur gerade eben so. Hinter ihr schwang die Tür für einen Augenblick auf und ließ einen Schwall von nach billigem Desinfektionsmittel stinkender Luft hinaus, das kaum den Geruch von Blut, Kot und Faulbrand zu über decken imstande war.

Beatrice erschauerte, und ihre Hände zitterten noch eine ganze Weile länger. Sie hatte so viel Tod und Schmerz erlebt, daß es sie ganz krank machte. Sollte sich eine Weile jemand anderes um alles kümmern. Beatrice wußte, daß ihre Kraft schließlich wiederkommen würde, und dann würde sie aufstehen und in die Hölle zurückkehren, aber im Augenblick war es einfach zuviel verlangt. Sie saß auf ihrem Stuhl, trank ihren Wein und blickte sarkastisch zu der großen Feier hinüber, die vor der Fabrik stattfand. Man hatte sie eingeladen, aber sie wollte verdammt sein, wenn sie ihnen die Befriedigung ihres Besuchs geben würde. Das wäre bei nahe einem Gutheißen ihres kleinen billigen Krieges gleichgekommen.

Plötzlich näherten sich Schritte, die Beatrice aus ihren Gedanken rüttelten. Sie blickte sich um und erkannte Investigator Klipp, die ohne Eile den flachen Abhang zu Beatrice hinaufkam. Beatrice runzelte die Stirn. Was, zur Hölle, wollte Klipp von ihr? Investigatoren pflegten Wunden nicht zu beachten, die nicht unmittelbar lebensbedrohend waren, und sie waren auch nicht gerade berühmt für ihre Krankenbesuche. Beatrice musterte Klipp, während sie sich dem Zelt näherte. Eine grimmig dreinblickende Frau, aber natürlich waren Investigatoren auch nicht gerade berühmt für einen ausgeprägten Sinn für Humor.

Klipp erreichte Beatrice und blieb stehen. Sie atmete nicht einmal schneller nach dem Aufstieg. Klipp nickte kurz. Beatrice erwiderte den Gruß, doch ihr war nicht danach, sich zu erheben.

»Ein schöner Abend für einen Spaziergang, Investigator.

Was führt Euch hierher? Ist die Zeremonie zu langweilig?«

»Etwas in der Art«, antwortete Klipp und warf einen Blick auf den Zelteingang. »Viel zu tun?«

»Immer. Beim Kampf draußen auf dem Feld mag es vielleicht Pausen geben, aber hier geht der Kampf um die Verwundeten ohne Unterbrechung weiter. Natürlich interessiert Ihr Euch nicht dafür, wie man Menschenleben rettet, Investigator.

Es ist nicht gerade Euer Spezialgebiet, nicht wahr?«

»Nein. Aber es scheint eine harte Arbeit zu sein. Und unerfreulich, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Man muß harte Entscheidungen fällen, wem man helfen kann und wem nicht… und wen man opfern muß, um andere zu retten. Ich kann das verstehen.

Es erinnert mich manchmal sehr an meine eigene Arbeit.«

Beatrice runzelte erneut die Stirn. Sie gewann beinahe den Eindruck, als versuchte Klipp, ihr etwas zu erklären. Die Ehrwürdige Mutter zuckte die Schultern und bot Klipp die Flasche an. »Ein Schluck gefällig, Investigator? Es ist gut für die Seele, so sagt man.«

»Nein, danke, Ehrwürdige Mutter. Ich trinke nicht während der Arbeit.«

Beatrice erkannte die Absicht des Investigators, als Klipp das Schwert herausriß. Sie warf sich seitwärts vom Stuhl. Die einzige Arbeit eines Investigators war das Töten. Die Klinge zischte an der Stelle durch die Luft, wo Beatrice noch einen Augenblick zuvor gesessen hatte. Beatrice prallte auf den Boden und rollte sich ab. Sie rappelte sich wieder auf und schwenkte wild die Weinflasche. Wein schoß aus der engen Öffnung und traf Klipp in einem satten Schwall mitten in die Augen. Klipp war für einen Augenblick geblendet. Trotzdem hieb sie ein zweites Mal zu, aber Beatrice hatte sich bereits wieder bewegt. Sie hämmerte die Flasche auf Klipps Schädel.

Die Flasche ging nicht zu Bruch, aber der weibliche Investigator sank unter der Wucht von Beatrice’ Schlag auf die Knie und schüttelte benommen den Kopf. Beatrice schlug erneut zu, mit aller Kraft, und diesmal zersplitterte die Flasche auf Klipps Schädel. Klipp fiel vornüber, und Beatrice wandte sich zur Flucht. Sie rannte ziellos davon, noch immer den abgebrochenen Flaschenhals in der Hand, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, wo sie noch in Sicherheit war. Klipps Befehle mußten von jemandem ganz weit oben kommen, jemandem, der es riskieren konnte, die Schwesternschaft zu verärgern, und das bedeutete, daß sie keinerlei Freunde mehr auf Technos III besaß. Beatrice hatte praktisch jedermann bei der einen oder anderen Gelegenheit verärgert. Nein. Sie besaß noch immer einen Freund. Einen Freund mit Einfluß, wenn schon nicht mit Macht. Toby Shreck. Sie rannte den Hügel hinab in Richtung der Fabrik und der Zeremonie. Wenn es ihr gelang, vor den Holokameras um Gnade und Schutz zu betteln, dann würden de Wolfs sie beschützen, ob sie wollten oder nicht, oder die Rache der gesamten Schwesternschaft auf sich ziehen. Beatrice rannte weiter, so schnell sie konnte, und der Wein, den sie getrunken hatte, schwamm schwer in ihrem Kopf und Magen. Sie versuchte, nicht auf das Geräusch der verfolgenden Schritte zu achten, das nicht allzuweit hinter ihr erklang.

Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm bewegten sich lautlos durch einen neu geschaffenen Tunnel tief unter Technos III. Oben, auf der Oberfläche aus zerfetztem Metall, starteten die Ausgestoßenen in diesem Augenblick einen Überraschungsangriff auf die Wachen, die nicht an der Zeremonie teilnahmen, um sie zu beschäftigen, während Ohnesorgs kleine Gruppe unbemerkt unter den äußeren Verteidigungseinrichtungen der Fabrik hindurchschlüpfte. Der Tunnel lag sehr tief und führte sowohl unter den Schützengräben der Rebellen als auch der Wolfs hindurch, um hinter den innersten Kreisen der Hölle, in allernächster Nähe zur Fabrik, wieder an die Oberfläche zurückzukehren. Die Truppen der Wolfs würden den neuen Tunnel früh genug entdecken, aber erst, wenn der Angriff vorüber wäre, und bis dahin wären Jakob und seine Kameraden bereits in die Fabrik eingedrungen und der Tunnel hinter ihnen wieder eingestürzt. Theoretisch zumindest.

»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Sturm. »Sie gefällt mir ganz und gar nicht. Ihre Techniker hätten uns längst entdecken müssen. Die Wachen können jeden Augenblick hier sein.«

»Nicht, solange die Aus gestoßenen sie beschäftigen«, erwiderte Ohnesorg. »Und hör endlich auf, andauernd zu jammern, Alex. Du klingst schon wie meine vierte Frau, möge sie in Frieden ruhen.«

»Ist sie tot?« erkundigte sich Ruby.

»Nein«, entgegnete Ohnesorg. »Das war nur Wunschdenken.«

»Ich habe dich damals vor ihr gewarnt«, sagte Sturm. »Aber du hast ja nicht auf mich hören wollen. Wie immer. Dieser Plan ist völlig verrückt, Jakob! Er kann nicht funktionieren!«

»Das sagst du über alle meine Pläne.«

»Und ich habe für gewöhnlich recht.«

Ohnesorg seufzte. »Sieh mal, vergiß doch einfach für einen Augenblick alle Wenns und Abers. Es ist wirklich ganz einfach. Die Ausgestoßenen beschäftigen die Wachen, und alle anderen sind bei der Zeremonie. Der Schutzschirm ist für die Dauer der Übertragung abgeschaltet. Wir schlüpfen hinein, befreien die Klone und schaffen sie hinaus, bevor irgend jemand etwas bemerkt. Was soll schon dabei schiefgehen?«

»Ich habe eine Liste angefertigt«, erwiderte Sturm. »Aber ich schätze, du wirst sie nicht sehen wollen.«

»Jetzt halt mal die Luft an«, mischte sich Ruby ein. »Oder muß ich erst dazwischengehen? Du bist viel zu laut, Sturm.

Irgend jemand könnte dich hören.«

»Wer denn?« fragte Sturm. »Nach Jakobs Meisterplan ist niemand in der Nähe.«

»Es besteht immer die Möglichkeit, daß einer der Wachtposten sich nicht an die Regeln hält und irgendwo herumlungert, wo er nicht sein sollte«, entgegnete Ohnesorg. »Nur weil es ein wirklich ganz hervorragender Plan ist, bedeutet das noch lange nicht, daß es keine… Komplikationen geben kann. Haben dir meine Plane wirklich nie gefallen, Alex?«

»Kein verdammtes Stück. Sie waren immer unnötig kompliziert und extrem gefährlich, ganz besonders für die armen Burschen, die sie ausführen mußten.«

»Ich habe von meinen Leuten nie verlangt, etwas zu tun, was ich nicht auch selbst getan hätte, und das weißt du. Verdammt noch mal, ich führe diese verdeckten Operationen genausooft an wie nicht. Egal. Wenn meine Pläne so schlecht sind, warum hast du dich dann immer wieder freiwillig gemeldet, daran teilzunehmen?«

»Damals war ich ein junger Mann. Und du warst mein Freund.«

Ohnesorg blieb stehen und blickte zu Sturm. Ruby verharrte ebenfalls und trat instinktiv dicht neben Ohnesorg, während der Berufsrebell seinen alten Freund nachdenklich musterte. Sturm erwiderte den Blick beinahe trotzig. Das dämmrige Licht malte tiefe Schatten in sein Gesicht. Einen Augenblick lang dachte Ohnesorg, einer völlig fremden Person gegenüberzustehen, einer Person, die er nie zuvor gesehen hatte. Und in diesem Augenblick wurde ihm auch bewußt, daß Alexander ihn genauso wahrnahm.

»Ich war dein Freund?« sagte Ohnesorg langsam. »Soll das heißen, wir sind keine Freunde mehr?«

Sturm hielt seinem Blick stand. »Ich weiß es nicht. Ich dachte immer, ich würde dich verstehen, aber du hast dich verändert, Jakob. Sieh dich doch an. Du bist jünger, stärker und schneller geworden. Das ist unnatürlich. Ich kann nicht einmal mehr deinen Gedankengängen folgen. Was wird nur aus dir, Jakob?«

»Ich selbst«, entgegnete Ohnesorg. »Genau so, wie ich einst war. Ich bin wieder in den besten Jahren. Eine zweite Chance, die Dinge richtig zu machen. Es tut mir leid, Alex, ich bin wieder jung geworden, während du noch immer alt bist. Das ist alles, was dahintersteckt, nicht wahr? Ich bin wieder der strahlende Held von einst, und du bist allein zurückgeblieben. Aber das ändert noch lange nichts an meiner Freundschaft zu dir. Es bedeutet auch nicht, daß ich dich nicht mehr brauche. Nur die Art und Weise, wie ich dich brauche, hat sich geändert. Bleib bei mir, Alex. Bitte. Du erinnerst mich an das, was ich einmal war.«

»Und du erinnerst mich an das, was ich einmal war«, entgegnete Sturm. »An einen Mann, der ich nicht mehr bin. Mach weiter, Jakob. Du führst, und ich folge dir. Wie ich es immer getan habe.«

»O Gott, verschont mich!« rief Ruby. »Noch mehr von diesem sentimentalen Kameradengeschwätz, und ich muß kotzen!

Können wir nicht endlich weitergehen? Wir haben einen Zeitplan einzuhalten, oder habt ihr das vergessen?«

»Ruby, meine Liebe, du hast überhaupt kein Herz«, sagte Ohnesorg und wandte sich ab, um erneut die Führung zu übernehmen.

»Verdammt richtig«, stimmte Ruby ihm zu. »Ein Herz ist nur im Weg, wenn es um wichtige Dinge geht. Wie zum Beispiel Leute umbringen und Beute machen. Und jetzt setz endlich deinen alten Arsch in Bewegung, Sturm, sonst trete ich dir hinein, daß er dir zu den Ohren wieder herauskommt.«

Sturm schniefte indigniert und tat, wie ihm geheißen. »Eines Tages wirst auch du alt sein, mein Mädchen.«

»Das bezweifle ich stark«, erwiderte Ruby. »Und dein Mädchen bin ich schon lange nicht.«

»Das ist zumindest sicher«, sagte Ohnesorg.

Die Ehrwürdige Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern rannte über die Metallwüste. Ihre Robe flatterte im Wind. Beatrice kochte in der Sommerhitze bei lebendigem Leib, und das Atmen schmerzte in den überanstrengten Lungen, aber sie wagte nicht, langsamer zu werden. Investigator Klipp konnte nicht weit hinter ihr sein. An der Ostseite der Fabrik war ein Kampf entbrannt, wie es aussah, ein weiterer Angriff der Rebellen, und das bedeutete, daß sie nicht auf direktem Weg zur Zeremonie rennen konnte, wie ursprünglich geplant. Beatrice würde die Fabrik durch das kleinere Westtor betreten und sich einen Weg nach Osten und zur Zeremonie suchen müssen. Das war vielleicht sogar besser. Klipp würde sie früher oder später sicher eingeholt haben, aber im Wirrwarr der Maschinen und Gänge könnte Beatrice ihre Verfolgerin vielleicht abschütteln. Neue Kraft floß in ihre Beine, als sie nach Westen davonrannte.

Die meisten der Wachen waren verschwunden, entweder, um der Zeremonie beizuwohnen, oder dem Angriff der Rebellen zu begegnen, doch drei Jesuiten in dunklen Roben und übergezogenen Kapuzen bewachten den Eingang. Sie sahen dunkel und bedrohlich aus mit ihren Disruptorpistolen und Schwertern an den Hüften, aber Beatrice gab einen verdammten Dreck darauf.

Ein Investigator auf den Fersen half dem Verstand auf wunderbare Weise, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren. Wie das leibhaftige Entsetzen es eben so an sich hat.

Beatrice kam stolpernd vor den Jesuiten zum Stehen und hob abwehrend die Hand, um ihren Fragen zuvorzukommen, während sie verzweifelt um Atem rang. Da die Jesuiten nicht im gleichen Augenblick auf sie zu schießen begonnen hatten, in dem sie Beatrice erkannt hatten, wußten sie höchstwahrscheinlich nichts von dem Exekutionsbefehl, der über sie verhängt worden war. Die Ehrwürdige Mutter konnte den Jesuiten nicht davon erzählen und dann noch auf ihren Schutz hoffen. Sie würden einfach annehmen, daß sie irgend etwas verbrochen hatte, wenn ein Investigator hinter ihr her war. Außerdem glaubten Jesuiten sowieso, daß jeder irgendeines Verbrechens schuldig war.

»Jemand ist hinter mir her«, erklärte Beatrice schließlich. »Es muß ein Rebell sein. Haltet ihn bitte eine Weile auf, während ich reingehe und Hilfe hole.«

»Nein«, entgegnete der ranghöchste Jesuit. »Wir haben unsere Befehle. Niemand betritt oder verläßt die Fabrik, solange der Schirm abgeschaltet ist. Ohne Ausnahme.«

»Aber er ist direkt hinter mir! Er wird mich töten!«

»Darüber hättet Ihr nachdenken sollen, bevor Ihr damit begonnen habt, Rebellen in Eurem Hospital zu behandeln«, sagte der Jesuit. »Was auch immer da vorgeht, ich zweifle keinen Augenblick daran, daß Ihr Euch die Suppe selbst eingebrockt habt. Wenn Ihr mögt, nehmen wir Euch in Schutzhaft. Ich bin sicher, wir finden eine hübsche Zelle für Euch, bis der Kardinal Zeit hat, Euch zu besuchen.«

»Zur Hölle!« schimpfte Beatrice. »Ich habe keine Zeit für diesen Mist!«

Beatrice trat dem Anführer der Jesuiten mitten zwischen die Beine und schwenkte den beiden anderen mit der zerbrochenen Flasche vor dem Gesicht herum. Die Gotteskrieger wichen instinktiv zurück, als der Ranghöchste mit einem tiefen Stöhnen zusammenbrach, und Beatrice schoß zwischen ihnen hindurch in die Fabrik. Sie rannte durch die Korridore und vertraute ganz auf ihre Erinnerung an die wenigen Male, die sie zuvor bereits hier gewesen war, um nach Medikamenten und Hilfe durch die Krankenabteilung der Fabrik zu betteln. Jetzt war es wichtiger als je zuvor, daß sie es bis zur Zeremonie schaffte. Mit drei wütenden Jesuiten und einem Investigator auf den Fersen lag der einzig sichere Ort der Welt im Aufnahmebereich von Toby Shrecks Kamera.

Beatrice rannte durch Korridor um Korridor, immer tiefer in die Anlage hinein, voller Furcht, nach hinten zu sehen. Ihre Verfolger würden keinen Schuß mit dem Disruptor im Innern der Fabrik riskieren; es gab zu viele Stellen, wo ein unglücklicher Querschläger wirklich bösen Schaden anrichten konnte.

Dann blieb Beatrice unvermittelt stehen, als ihr ein Gedanke kam. Die Anlage besaß ihr eigenes internes Sicherheitssystem.

Überall befanden sich Kameras. Klipp mußte nichts weiter tun, als ihre Genehmigung zum Aufschalten auf das System zu benutzen, und sie würde augenblicklich wissen, wo ihr Opfer sich gerade befand und in welche Richtung es lief. Was bedeutete, daß Beatrice Klipp unbedingt auf eine falsche Fährte locken mußte, bevor sie den Weg zur Zeremonie einschlagen konnte.

Die Ehrwürdige Mutter riß sich die Haube vom Kopf und benutzte sie, um den Schweiß von der Stirn zu wischen. Denk nach, verdammt! Wenn du deine Spuren verwischen willst…, dann verstecke dich in einer Menschenmenge! Und die nächstgelegene Menschenmenge befand sich in den Quartieren der Klone. Man hatte sie sicher nicht zu der Feier eingeladen. Also die Robe abstreifen und lange genug in der Menge untertauchen, um die Spur zu verwischen. Danach auf dem schnellsten Weg zur Zeremonie. Es konnte funktionieren. Vielleicht. Beatrice atmete tief durch und rannte weiter, und ihre Hoffnung wurde mit jedem Schritt kleiner und verzweifelter.

Investigator Klipp klinkte sich mit Hilfe ihres Komm-Implantats in das Sicherheitssystem der Fabrik, überging die Paßwortabfrage und suchte nach Anzeichen von Bewegung. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Klipp die Schwester entdeckt hatte, und noch ein paar mehr, bis sie herausgefunden hatte, in welche Richtung sie rannte. Klipp grinste schwach und hielt mühsam ihre Wut im Zaum. Die drei Jesuiten, die sie im Schlepptau hatte, brauchten nicht zu erfahren, daß eine Barmherzige Schwester einen Investigator beinahe bewußtlos geschlagen hatte. Selbst wenn der Investigator an einer degenerativen Nervenerkrankung litt. Klipps Kopf dröhnte noch immer von den beiden schweren Treffern, die sie hatte hinnehmen müssen, aber sie ignorierte den Schmerz. Es war nichts als Schmerz. Klipp würde sich ein ganzes Stück besser fühlen, wenn die Schwester erst leblos zu ihren Füßen lag. Sie funkelte die drei Jesuiten an, von denen einer recht wackelig auf den Beinen stand.

»Sie ist in Richtung der Klonquartiere unterwegs. Sie scheint nicht zu wissen, daß es nur zwei Zugänge gibt. Außerdem haben wir Glück, weil sie einen Umweg eingeschlagen hat. Ihr drei geht voraus und riegelt den gegenüberliegenden Eingang ab, und ich verfolge die Schwester und treibe sie quer durch die Quartiere auf Euch zu. Meint Ihr, daß Ihr sie diesmal aufhalten könnt, oder soll ich den Kardinal rufen, damit er Euch die Handchen hält, während Ihr Eure Arbeit erledigt?«

»Wir werden sie aufhalten«, antwortete der ranghöchste Jesuit entschlossen. »Wenn sie auch nur den Anschein erweckt, einen Trick zu versuchen, stechen wir sie nieder.«

»Das werdet Ihr nicht«, entgegnete Klipp. »Ihr werdet sie lediglich festhalten, bis ich eintreffe. Ich werde sie selbst töten.

Das ist die Sache eines Investigators. Kein Grund für die Kirche, stärker in die Geschichte verwickelt zu werden als unbedingt notwendig. Habt Ihr mich verstanden? Gut. Dann setzt Euch in Bewegung. Wenn sie vor Euch am anderen Ausgang ist, werde ich sehr böse mit Euch sein.«

Die drei Jesuiten warfen sich rasche Seitenblicke zu, bevor sie sich eiligst den Korridor hinab in Bewegung setzten. Selbst ein Jesuit besaß genügend Verstand, um sich von einem Investigator einschüchtern zu lassen. Klipp grinste schwach und machte sich auf den Weg zum Quartier der Klone. Die Beute saß in der Falle, auch wenn sie es noch nicht wußte. Jetzt blieb nur noch das Aufscheuchen und Stellen.

Die Jesuiten waren noch gar nicht weit gekommen, als ihr Anführer plötzlich stehenblieb und sich umblickte. Die anderen beiden verharrten ebenfalls, die Hände auf den Griffen der Schwerter an den Hüften. Der Korridor vor ihnen lag leer und still.

»Was ist los?« fragte der jüngste der drei. »Brauchst du schon wieder eine Pause? Investigator Klipp hat klar und deutlich gesagt…«

»Halt verdammt noch mal endlich die Klappe, und streng die Ohren an!« knurrte der ranghöchste Jesuit. »Ich glaube, ich habe etwas gehört.«

»So, glaubt Ihr also?« fragte Jakob Ohnesorg und trat hinter der Ecke hervor, an der die drei soeben vorbeigekommen waren. Der Anführer der Jesuiten wirbelte herum, das Schwert in der Hand. Ohnesorg trat ihm mit Wucht zwischen die Beine.

Der Jesuit brach zusammen wie vom Blitz getroffen, und Ohnesorg trat ihm gegen den Kopf. Die folgende Bewußtlosigkeit erschien dem Jesuiten beinahe wie eine Erleichterung. Ruby Reise schlug den jüngsten Jesuiten zu Boden, und Sturm hieb den verbliebenen von hinten nieder, während der arme Bursche noch immer versuchte herauszufinden, in welche Richtung er zuerst blicken sollte. Ruby blickte auf die drei bewußtlosen Gestalten herab und rümpfte hörbar die Nase.

»Jesuiten. Ich mochte sie schon in der Schule nicht, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Wir sollten sie töten und als allgemeine Warnung in Stücke schneiden.«

»Vielleicht später«, sagte Ohnesorg. »Im Augenblick benötigen wir ihre Roben, und ich will nicht, daß sie voller Blutflecken sind. Außerdem ist das eine gute Gelegenheit für dich, einmal Selbstkontrolle zu üben. Wir müssen diese Leute nicht töten. Wir benötigen lediglich ihre Kleider. Als Jesuiten verkleidet, können wir uns in der gesamten Fabrik frei bewegen und müssen uns keine Gedanken machen, wie wir die Sicherheitskameras umgehen.«

»Ich nehme an, du behauptest als nächstes, das alles geplant zu haben«, murrte Sturm säuerlich.

»Ich habe zumindest erwartet, daß ein derartiger Fall eintreten könnte«, erwiderte Ohnesorg leichthin. »Ich halte meine Pläne gerne flexibel. Zieht ihnen jetzt endlich diese Roben aus.«

Ruby und Alex grinsten Jakob an und machten sich gemeinsam daran, die Jesuiten ihrer Roben zu entledigen. Ein gewisses Hin und Her entstand, als sie herauszufinden versuchten, welche Robe wem am besten paßte. Keines der Kleidungsstücke war sonderlich bequem, aber schließlich trug jeder etwas, mit dem er leben konnte. Ruby blickte auf den noch immer bewußtlosen Anführer der Jesuiten herab und kicherte boshaft.

»Das also tragen sie unter ihren langen Gewändern. Das hat mich schon immer interessiert.«

»Ich muß schon sagen, es ist eine Weile her, daß ich Unterwäsche von solch verblüffender Farbe gesehen habe«, bemerkte Sturm. »Wo kriegt er nur die nötige Hilfe her, um die ganzen Schnüre zu binden?«

»Spar dir deine Witze für später auf«, sagte Ohnesorg. »Je früher wir die Klone befreien und nach draußen schaffen, desto besser. Die Agenten der Ausgestoßenen haben ihr Leben riskiert, um den Weg auszuarbeiten, den wir benutzen werden, und ich will nicht, daß ihre Mühe umsonst gewesen ist. Ruby, du hast die Karte; geh voraus.«

»Nein, ich hab’ sie nicht.«

»Ich habe die Karte«, sagte Sturm. »Gütiger Himmel, wie bist du nur je ohne mich zurechtgekommen, Jakob?«

Beatrice wußte zwar, wo die Klonquartiere lagen, aber sie war noch nie zuvor dort gewesen. Nur wenige Menschen gingen dorthin. Klone wurden strikt von normalen Menschen getrennt gehalten. Doch der Eingang war unverschlossen und unbewacht, beinahe, als würde Beatrice von ihnen erwartet. Oder von jemand anderem, wenn schon nicht den Klonen. Der Gedanke ließ sie erstarren, aber schließlich eilte sie weiter. Ihr blieb keine andere Wahl. Sie konnte nirgendwo sonst hin.

Hinter den Barrieren und elektrischen Türen lag das spröde, funktionelle Gebiet der Klone. Beatrice hatte gedacht, sie wüßte aus den Geschichten von Klonpatienten und Rebellen, was sie erwartete, aber nichts davon hatte sie auf die Wirklichkeit vorbereiten können. Es gab keine Zimmer und keine Privatquartiere. Die Klone lebten in Stahlkäfigen und Pferchen, aufeinandergestapelt wie in einer großen Hühnerbatterie. Es gab keinen Zentimeter freien Raums außer dem schmalen Gang, durch den sie gerade marschierte. In der Luft lag der schwere, fast überwältigende Gestank dicht zusammengedrängter Körper. Beatrice war an den Gestank im Hospitalzelt gewöhnt, und trotzdem mußte sie gegen den Wunsch ankämpfen, eine Hand vor Nase und Mund zu legen.

Während sie durch den Gang stapfte, näherten sich Gesichter den Gittern der Pferche und beobachteten sie. Einigen fehlten Nase oder Ohren, andere besaßen keine Unterkiefer. Zerfressen und weggefault durch die unverstandenen Kräfte, mit denen sie arbeiteten. Die Klone gaben leise miauende Geräusche von sich wie gequälte junge Katzen, und Beatrice blieb unwillkürlich stehen. Es gab nichts, das sie tun konnte, um den Klonen zu helfen, und sie konnten ihr nicht helfen. Beatrice konnte sich nicht unter die Klone mischen. Was bedeutete, daß sie auf dem schnellsten Weg wieder hier raus mußte, bevor Investigator Klipp sie fand. Aber sie konnte nicht einfach weggehen und so tun, als hätte sie all das Leid nicht gesehen. Die Ehrwürdige Mutter blickte sich um, die Hände zu Fäusten geballt und in einem Konflikt gefangen, aus dem ihr Gewissen sie nicht wieder freilassen würde.

Und dann hörte Beatrice Schritte, die sich rasch näherten. Ihr Herz begann zu rasen, und sie umklammerte den Hals der zerbrochenen Flasche. Beatrice hatte zu lange gezögert. Klipp hatte sie aufgespürt. Sie blickte sich verzweifelt um, doch sie wußte, daß Davonlaufen keinen Sinn mehr machte. Beatrice war vollkommen erschöpft, und Klipp… war ein Investigator.

Beatrice schluckte mühsam und bereitete sich auf den letzten Kampf vor. Sie wußte, daß es aussichtslos sein würde, aber sie wollte verdammt sein, wenn sie nicht wenigstens versuchte, sich zu wehren. Die Ehrwürdige Mutter blickte in die zerstörten Gesichter der Klone und bedeutete ihnen, sich vom Gang zurückzuziehen.

»Seht nicht hin«, sagte sie leise. »Es wird euch nicht gefallen.«

Und dann standen plötzlich die drei Jesuiten in ihren Roben vor ihr und vernarrten überrascht, als hätten sie nicht erwartet, Beatrice hier zu finden. Sie fuchtelte mit der zerbrochenen Flasche vor ihren Gesichtern herum und bemühte sich um einen herausfordernden Tonfall, obwohl ihr erbärmlich zumute war.

»Also schön, dann kommt nur her! Ihr habt doch nicht geglaubt, ich würde mich nicht wehren, oder? Ihr müßt mich schon töten, bevor ihr mich dieser Kuh von Investigator übergeben könnt.«

»Hier scheint ein Mißverständnis vorzuliegen«, erwiderte einer der Jesuiten milde. Er schob die Kapuze zurück, und ein warmes Gesicht mit einem freundlichen Stirnrunzeln kam darunter zum Vorschein. »Mein Name ist Alexander Sturm. Ich arbeite zur Zeit mit den Rebellen von Technos III zusammen.

Darf ich erfahren, wer Ihr seid?«

»Die Ehrwürdige Mutter Beatrice von den Barmherzigen Schwestern«, antwortete Beatrice automatisch. »Woher soll ich wissen, daß Ihr wirklich diejenigen seid, die Ihr zu sein vorgebt?«

»Nun«, erwiderte Sturm, »die Tatsache, daß wir nicht versucht haben, Euch zu töten, sollte für uns sprechen. Meint Ihr, Ihr könntet diese furchteinflößende Flasche senken? Ich bin sicher, wir alle würden uns ein gutes Stück sicherer fühlen.« Er schenkte der Ehrwürdigen Mutter ein überwältigend charmantes Lächelnd, und sie senkte langsam die Flasche. Sturm nickte anerkennend. »Erlaubt mir, Euch meine beiden Begleiter vorzustellen: Ruby Reise und Jakob Ohnesorg.«

Beim zweiten Namen blinzelte Beatrice überrascht. Die beiden schoben die Kapuzen in den Nacken. Die Frau war Beatrice völlig unbekannt, wenn man von dem Ruf absah, der ihr vorauseilte, aber jedermann kannte Jakob Ohnesorg. Er wirkte ein gutes Stück jünger, als sie erwartet hatte, aber es war ganz definitiv der berühmte Rebell. Beatrice entspannte sich schlagartig und stieß den Atem aus, als sie sich endlich wieder einigermaßen sicher fühlte. »Gütiger Himmel, Ihr seid es wirklich!

Was, zur Hölle, macht Ihr hier?«

»Wir befreien die Klone«, antwortete Ohnesorg in sachlichem Ton. »Würde es Euch etwas ausmachen, uns dabei zu helfen? Ich habe das Gefühl, daß Ihr in unserer Gesellschaft ein gutes Stück sicherer seid.«

»Da habt Ihr verdammt recht«, sagte Beatrice. »Ein verfluchter Investigator ist mir auf den Fersen. Irgend jemand weit oben will meinen Kopf. Aber ich kann Euch nicht helfen. Die Barmherzigen Schwestern müssen immer neutral bleiben.«

»Wenn jemand einen Investigator hinter Euch hergeschickt hat, dann können wir meiner Meinung nach ruhig davon ausgehen, daß Eure Neutralität bereits verletzt worden ist«, entgegnete Ohnesorg. »Außerdem, könnt Ihr einfach dabeistehen und zusehen, wie dieses Entsetzen weitergeht?«

Beatrice blickte zu den Klonen, die in ihren Pferchen zusammengedrängt hockten wie Tiere. »Nein«, seufzte sie schließlich. »Nein, das kann ich nicht.«

»Das ist gut für Euch, Schwester«, sagte Sturm. »Und habt keine Angst. Wir werden Euch beschützen.«

»Ach, wirklich?« spottete Investigator Klipp. »Das würde ich nur allzu gerne sehen.« Alle wandten sich um und erblickten Klipp. Sie stand direkt hinter der kleinen Gruppe, das Schwert in der Hand. Klipp wirkte entspannt und mehr als tödlich.

»Gut, daß ich versucht habe, mit den Jesuiten in Kontakt zu treten. Ich dachte mir bereits, daß ihnen etwas zugestoßen sein mußte, als ich keine Antwort erhielt. Ich war hinter einer Barmherzigen Schwester her, und jetzt habe ich außerdem noch drei berüchtigte Rebellen und Verbrecher, die ich töten kann, einer davon sogar der legendäre Jakob Ohnesorg. Heute muß mein Glückstag sein. Also schön, wer will zuerst sterben?«

Ruby wechselte einen Blick mit Jakob. »Laß sie mir! Ich hatte letztes Mal nicht die Zeit, den Tod des Investigators zu genießen.«

»Tut mir leid«, widersprach Ohnesorg. »Wir haben auch jetzt nicht die Zeit.« Plötzlich hielt er einen Disruptor in der Hand und zielte auf Klipp. »Sagt gute Nacht, Investigator.«

Ruby funkelte ihn wütend an. »Wage es ja nicht, Jakob Ohnesorg! Wenn du sie tötest, rede ich nie wieder mit dir. Ich wollte schon immer einmal einem Investigator in einem fairen Duell gegenübertreten.«

Ohnesorg wollte den Kopf schütteln, als Klipps Schwert durch die Luft surrte und ihm mit der flachen Seite der Klinge den Disruptor aus der Hand schlug. Jacob schüttelte vorsichtig die kribbelnden Finger, blickte zu der kalt grinsenden Klipp und nickte Ruby schließlich zu. »Ich konnte dir noch nie einen Wunsch abschlagen, meine Liebe. Aber beeil dich bitte. Wir haben auch noch andere Dinge zu erledigen.«

Klipp lachte laut auf. »Ich weiß nicht, was ihr Leute geraucht habt, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß es etwas Illegales gewesen sein muß. Nichts anderes könnte euch so weit von der Wirklichkeit abbringen. Also schön, fangen wir an, Mädchen.

Wenn ich dich getötet habe, sind deine Freunde an der Reihe.

Und den Kopf von Jakob Ohnesorg werde ich als Trophäe mit nach Hause nehmen.«

»Davon träumst du nur, Investigator«, knurrte Ruby. »Fangen wir an.«

Klipp und Ruby prallten aufeinander, Kopf an Kopf, mit fliegenden Klingen, und niemand würde um Gnade betteln – oder sie gewähren. Die Schwerter krachten unaufhörlich gegeneinander, und Funken stoben durch die Luft. Beide waren äußerst talentiert und hatten durch rauhe Umstände größtes Geschick erworben, und die Geschwindigkeit, mit der sie sich trafen und wieder voneinander lösten, war in der Tat atemberaubend. Ruby lachte lautlos, während ihr Schwert überall zugleich zu sein schien. Das war es, wofür sie lebte. In solchen Augenblicken fühlte sie sich am lebendigsten. Ruby hätte den Zorn anrufen können, aber sie verzichtete darauf. Sie hätte mit übernatürlicher Kraft und Schnelligkeit kämpfen können, aber sie wollte nicht. Ruby Reise wollte den Investigator in einem fairen Kampf schlagen, um zu beweisen, daß sie die Beste war.

Klipp schwang das Schwert zweihändig in einem weiten Bogen, der Ruby geköpft hätte, doch Ruby duckte sich im letzten Augenblick unter dem Hieb hindurch. Sie drängte Klipp in die Offensive, forcierte den Angriff, so stark sie konnte, aber Klipp stand da und parierte alles. Der Investigator wich keinen einzigen Schritt zurück. Unablässig hämmerten die Schwerter aufeinander, und beide Kontrahenten bluteten bereits aus zahlreichen kleineren Wunden, doch keiner war imstande, für längere Zeit die Oberhand zu behalten. Aber Ruby wurde allmählich müde und ein wenig langsamer, und Klipp nicht. Ruby war Kopfgeldjägerin, in der härtesten aller Schulen zur Kämpferin ausgebildet, doch Klipp, selbst wenn man die Krankheit berücksichtigte, war Investigator. Langsam, Fuß um Fuß, drängte sie Ruby zurück. Klipps Klinge leckte immer und immer wieder Blut, ohne daß Ruby einen Gegentreffer landen konnte.

Allmählich dämmerte der Kopfgeldjägerin, daß sie ihren Meister gefunden hatte. Und vielleicht würde sie sogar sterben, wenn sie nicht in den Zorn fiel. Der Zorn würde ihr den Vorteil verschaffen, den sie benötigte. Nein! dachte sie wild entschlossen. Ich kann es auch so schaffen. Ich kann es ohne irgendwelche Gaben aus einem fremdartigen Labyrinth. Klipp schwang das Schwert mit unerwarteter Kraft, und Ruby verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht. Sie wich stolpernd zurück, versuchte sich zu erholen, und Klipp holte zum tödlichen Schlag aus. In diesem Augenblick schoß Rubys Klinge vor, getrieben von der Kraft und Schnelligkeit des Zorns, obwohl sie ihn nicht heraufbeschworen hatte. Der Stoß durchbohrte Klipps Brust, und die Klinge trat am Rücken wieder hervor. Blut sprudelte aus Klipps Mund, und mit einem Ausdruck äußersten Erstaunens sank sie auf die Knie. Ruby riß das Schwert heraus. Klipp fiel aufs Gesicht und rührte sich nicht mehr.

»Nein!« kreischte Ruby wütend. »Nein! Das wollte ich nicht!« Außer sich vor Wut hackte sie immer und immer wieder mit dem Schwert auf den Leichnam ein und fluchte und tobte. Sie hatte den Zorn nicht heraufbeschworen. Er war ungebeten gekommen und unerwünscht. Ob Ruby wollte oder nicht, das Labyrinth ließ sie nicht mehr einfach nur Mensch sein. Schließlich hielt sie über dem verstümmelten Leichnam inne und schnappte nach Luft.

»Ist sie immer so?« erkundigte sich Beatrice.

»Nicht immer«, erwiderte Jakob Ohnesorg. »Aber immer öfter. Ruby? Bist du in Ordnung?«

»Nein!« antwortete Ruby. »Ich denke nicht.« Sie steckte das Schwert in die Scheide, ohne die Klinge zu säubern, dann hob sie den Kopf und blickte sich um. »Moment mal! Ich habe plötzlich ein verdammt unangenehmes Gefühl. Irgend etwas stimmt hier nicht.«

Ohnesorg blickte sie nachdenklich an. Er nahm ihre Worte ernst, denn auch er hatte hin und wieder Vorahnungen. »Du meinst hier, im Quartier der Klone?«

»Nein. Weiter verteilt.«

Sturm blickte sich nervös um. »Könnten Wachen auf dem Weg hierher sein?«

»Woher soll ich das wissen? Jakob, du mußt deinen Geist mit mir vereinen! Zusammen sind wir stärker.«

Rubys und Jacobs Augen trafen sich, und ihr Bewußtsein verschmolz. Ihre Gesichter wurden zu leeren Masken, als ihre Gedanken nach draußen sprangen und die Umgebung prüften.

Beatrice blickte Sturm fragend an. »Ich wußte nicht, daß sie Esper sind?«

»Sind sie auch nicht«, antwortete Sturm. »Aber fragt mich nicht, was sie sind.«

Ohnesorg und Ruby Reise kehrten in ihre Körper zurück und blickten sich ungläubig an. »Ich glaube das einfach nicht«, sagte Ohnesorg.

»Was denn?« fragte Sturm. »Was glaubst du nicht?«

»Überall sind Bomben versteckt«, antwortete Ruby für Jakob. »In der gesamten Fabrik.«

»Wenigstens drei größere Ansammlungen«, ergänzte Ohnesorg. »Sie sind so plaziert, daß sie den größtmöglichen Schaden anrichten, und sie werden bald hochgehen. Jede einzelne hätte ausgereicht, die Produktion des Antriebs zu unterbrechen, aber Gott allein weiß, wieviel Schaden sie alle zusammen anrichten werden. Schön, das war’s. Wir sind raus hier. Alex, benutze die Kodes, die man uns gegeben hat, und öffne die Pferche. Wir müssen die Klone befreien, solange noch Zeit dazu ist.«

»Wartet«, unterbrach ihn Beatrice. »Wißt Ihr, daß man Eure Leute während der Zeremonie exekutieren wird?«

»Sicher«, sagte Ohnesorg. »Macht Euch deswegen keine Gedanken. Wir werden uns als nächstes um sie kümmern.«

»Dazu bleibt keine Zeit. Die Exekutionen wurden vorverlegt, um sicherzugehen, daß sie in die beste Sendezeit fallen.«

»Verdammt«, knurrte Ohnesorg. »Man kann sich heutzutage aber wirklich auf nichts mehr verlassen. Also schön. Schwester Beatrice, Ihr schafft zusammen mit Alex die Klone von hier fort. Da sie durch die Bomben ganz eindeutig in großer Gefahr schweben, könnt Ihr das tun, ohne die Neutralität der Schwesternschaft zu gefährden. Ruby und ich werden uns um die Gefangenen kümmern.«

»Wie denn das?« fragte Alexander.

»Ich arbeite an einem Plan«, erwiderte Ohnesorg.

»Nervenkitzel, Aufregung und Rettungen in letzter Minute«, sagte Ruby. »Ist es nicht herrlich, ein Gesetzloser zu sein?«

In der kochenden Hitze vor der Fabrik nahm die Zeremonie ihren geplanten Lauf. Alle Redner hatten ihren eigenen Anteil am Werk gewürdigt, Kassar hatte noch niemanden niedergeschlagen, und Toby Shreck und Flynn filmten alles und übertrugen es live zu den Zuschauern im gesamten Imperium.

Wichtige Leute saßen an den Holoschirmen und sahen zu, sogar die Imperatorin persönlich. Die anderen Zuschauer warteten gespannt auf eine größere Panne oder einen Rebellenangriff wie beim letzten Mal. Toby kommentierte mit leiser Stimme und litt wie alle anderen auch unter den langweiligen Ansprachen. Wenn nicht bald die Exekutionen folgten, würden die Zuschauer das Interesse verlieren. Ein neuer Hyperraumantrieb mochte ja genau das sein, was das Imperium brauchte, aber er lockte deswegen noch lange keinen Zuschauer hinter dem Ofen hervor.

Alles in allem liefen die Dinge glatter, als Toby erwartet hatte. Wie abgesprochen blieb der Halbe Mann im Blickfeld der Kamera und zog sich nicht wie sonst üblich in den Hintergrund zurück. Er sagte zwar nichts und hielt sich auch sonst zurück, aber er trat heutzutage so selten in der Öffentlichkeit auf, daß jedes Erscheinen eine interessante Neuigkeit war. Toby hatte sich die allergrößte Mühe gegeben, den Halben Mann zu überreden, genau wie er Flynn überredet hatte, nicht seinen allerbesten Freizeitanzug zu tragen. Gute Zuschauerquoten kamen nicht von allein zustande.

Die Wolfs standen im Vordergrund, jeder mit seinem Ehegatten, und nickten und lächelten die ganze Zeit über und waren auch sonst überraschend nett zueinander. Schauspieler hatten schon für schwächere Leistungen die höchsten Auszeichnungen gewonnen. Unterschwellig lag eine spürbare Spannung in der Luft, doch das kam nicht unerwartet und würde auf den Holoschirmen hoffentlich nicht zu erkennen sein. Toby fiel auf, daß alle ständig auf ihre Uhren blickten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Wahrscheinlich warteten sie schon ungeduldig auf die Exekutionen. Toby grinste vor sich hin. Die Wolfs konnten schließlich nichts von seiner geplanten dramatischen Bitte um Gnade ahnen.

Die Ränge der Kirchentruppen und Sicherheitsleute aus der Fabrik standen noch immer steif in Habtacht und boten einen hübschen Anblick. Nur wenige waren noch wegen der Hitze in Ohnmacht gefallen, aber das würde die Zuschauer nicht weiter stören. Es gab der ganzen Sache einen dramatischen Aspekt und erweckte Mitgefühl. Toby hatte überlegt, ob er ein paar Leute bestechen sollte, damit noch mehr in Ohnmacht fielen, doch dann hatte er beschlossen, daß die Hitze auch so für genügend Bewußtlose sorgen würde. Er hatte sich nicht getäuscht. Die Gefangenen sahen aus wie der reine Pöbel. Tiere in Ketten. Wahrscheinlich mit voller Absicht so hergerichtet.

Die Wolfs ließen niemals eine gute Gelegenheit für Propaganda aus.

Daniel Wolf trat vor, um die letzte Ansprache zu halten. Er las die Worte mit der Wärme und Spontaneität eines besonders dicken Holzklotzes vom Teleprompter ab. Flynn zoomte ein wenig dichter heran, damit nur Kopf und Schultern des Mannes zu sehen waren und seine nervös zuckenden Hände den Zuschauern verborgen blieben. Toby lauschte aufmerksam und nickte hin und wieder zustimmend. Es war eine gute Ansprache. Beinahe so gut wie der Stoff, den Toby früher für Gregor Shreck und seine Familie geschrieben hatte. Er blickte zu der Rampe hinüber, die aus der Fabrik hervorkam. Der erste fertiggestellte Hyperraumantrieb wartete auf dem Band, ein großes, häßliches Ding, bereit, auf das Stichwort hin vorzurollen. Toby ließ sich zu einem befriedigten Grinsen hinreißen. Nach diesem Bericht würde er in Zukunft aus den allerbesten journalistischen Angeboten auswählen können. Es war eine gute Schau, wenn auch ein wenig zu unkontrovers und langweilig, mit der seine Arbeit auf Technos III endete. Trotzdem. Schade, daß nichts Dramatisches mehr passiert war.

Jakob Ohnesorg und Ruby Reise kamen im anonymen Schutz der Jesuitenroben gut voran. Sie stapften hastig an den Sicherheitskameras vorbei. Die meisten der wenigen Wachen, die auf ihren Posten verblieben waren, winkten die beiden einfach durch. Man stritt nicht mit Jesuiten, es sei denn, man wollte das nächste Wochenende mit einer höchst erfindungsreichen, erniedrigenden Bußübung verbringen. Ohnesorg murmelte ununterbrochen leise vor sich hin und hoffte, daß es wie religiöse Gebete klang. Er segnete kreuzschlagend alles, was sich bewegte oder auch nur so aussah, und hielt im übrigen den Kopf gesenkt. Ohnesorg hatte schon immer den Teil seiner Pläne am meisten genossen, in dem es um Tarnung und Täuschung gegangen war. Es kam dem frustrierten Schauspieler in Jakob entgegen. Obwohl er manchmal dachte, daß sein Leben als Berufsrebell die größte Rolle überhaupt war.

Ruby trottete einfach neben Jakob her, gab sich Mühe, die Hände von den unter ihrer Robe verborgenen Waffen zu lassen und nicht in den gewohnten weit ausgreifenden Schritt zu verfallen. Auf ihre Weise spielte auch sie eine Rolle. Es lag überhaupt nicht in ihrer Natur, leise, unauffällig und demütig zu erscheinen. Sosehr Jakob sie auch liebte, selbst er mußte zugeben, daß Ruby nicht gerade flexibel war. Wenn man es nicht schlagen, stehlen oder mit ihm schlafen konnte, dann fiel ihr meist keine Alternative ein.

Schließlich erreichten die beiden Rebellen den Haupteingang, der zu dem Vorplatz und der Zeremonie führte. Ein Kirchensoldat in voller Kampfmontur trat ihnen in den Weg. Er war beinahe so breit wie groß, bewaffnet mit Schwert und Pistole, und auf seinem Gesicht stand das blöde Grinsen eines Mannes, dem es erlaubt war, Leute herumzukommandieren, die normalerweise seine Vorgesetzten waren. Ohnesorg segnete ihn zweimal mit dramatisch ausholender Geste, doch der Soldat schien unbeeindruckt.

»Es tut mir leid, Vater. Ihr kennt die Vorschriften. Niemand darf hier durch, wenn die Zeremonie erst begonnen hat. Ihr werdet von den Bildschirmen aus zusehen müssen. Und jetzt setzt Euch in Bewegung.«

Ohnesorg bedeutete dem Gläubigen, sich zu ihm vorzubeugen, und wartete, bis der Kopf des Mannes dicht vor seiner Kapuze war. Dann sagte er mit feierlicher Stimme: »Wußtet Ihr eigentlich, daß wir Jesuiten einen eigenen, ganz besonderen Händedruck kennen?« Im gleichen Augenblick streckte er die Hand aus, packte die Eier des Mannes und drückte zu. Die Augen drohten dem Riesen aus dem Kopf zu fallen. Er holte tief Luft, um zu schreien, aber irgendwie brachte er keinen Ton hervor. Dann ging er in die Knie. Ruby nahm ihm den Helm ab und schlug ihm den Kolben ihres Disruptors über den Schädel.

Der Gläubige fiel vornüber, und Ohnesorg schlug ein weiteres feierliches Kreuz über dem Bewußtlosen. »Aus mir hätte ein großartiger Freimaurer werden können«, seufzte er wehmütig.

Ruby und Jacob schlenderten unbekümmert zum Tor hinaus und bezogen am Rand des Geschehens Position. Kassar schoß ihnen einen giftigen Blick zu, weil sie sich verspätet hatten, doch er beließ es dabei. Die restlichen Anwesenden ignorierten die beiden Jesuiten geflissentlich. Daniel Wolf war noch immer bei seiner Rede. Sie hörte sich schlimm an. Ohnesorg blickte beiläufig zu den Gefangenen hinüber, die auf ihre Hinrichtung warteten, und runzelte die Stirn, als er die Ketten sah, mit denen sie angebunden waren. Schwere Ketten aus massivem Stahl und mit sperrigen Schlössern gesichert, die man mit nichts weniger als dem richtigen Schlüssel oder einem Disruptor öffnen konnte. Ohnesorgs Stirnrunzeln vertiefte sich noch.

Niemand hatte Ketten erwähnt.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Menge betrachtete Toby Shreck ebenfalls die Gefangenen und nahm Einzelheiten in sich auf. Viele wiesen blaue Flecken und blutverkrustete Wunden von erst kürzlich erfolgten Mißhandlungen auf. Sogar die Kinder. Die Augen der Gefangenen waren glasig von starken Beruhigungsmitteln, damit sie keine Schwierigkeiten machen konnten. Jedenfalls nicht genug, daß man sie niederschlagen mußte. Das würde der Exekution jeden Spaß nehmen. Toby schnitt eine Grimasse und drehte sich um, als Daniel Wolf plötzlich seine Ansprache unterbrach. Der Teleprompter war unvermittelt dunkel geworden, und Stephanie warf Toby einen bedeutungsvollen Blick zu. Also gab Toby seinem Kameramann einen Wink, die Aufzeichnung zu unterbrechen, anstatt den jungen Wolf wie einen kompletten Idioten dastehen zu lassen, der seine eigene Rede nicht kannte. Später würde man sich mit technischen Schwierigkeiten entschuldigen. Und es kam Toby nicht ganz ungelegen, wenn die mächtige und einflußreiche Stephanie Wolf ihm einen Gefallen schuldete. Flynn kam herbei, stellte sich zu Toby, und sie musterten gemeinsam die Gefangenen.

»Ich kann einfach nicht glauben, daß sie auch die Kinder töten wollen«, flüsterte Flynn. »Ich wünschte nur, wir könnten etwas dagegen unternehmen.«

»Können wir«, flüsterte Toby zurück. »Sobald Daniel seine Rede beendet hat, werde ich vor der Kamera einen Gnadenappell für die Kinder direkt an die Imperatorin richten.«

»Ihr habt ein gutes Herz, Chef«, sagte Flynn. »Aber es wird nicht funktionieren. Kassar hat zuviel von seinem Stolz in die Waagschale geworfen, nachdem seinen Leuten in den Tunnels die Köpfe abgerissen wurden. Er wird sagen, es handele sich um eine reine Kirchenangelegenheit. Niemand legt sich heutzutage mit der Kirche an, wenn er gerne noch etwas länger atmen möchte. Wahrscheinlich wird er Euch ebenfalls hinrichten lassen, weil Ihr die Frechheit besessen habt zu fragen. Nein, Chef.

Wir können nichts weiter tun, außer zu filmen, was hier geschieht, und hoffen, daß es den Zuschauern so ans Herz geht, daß man den Kardinal daran hindert, etwas Derartiges zu wiederholen. Aber Geld würde ich nicht darauf setzen. Heutzutage lieben die Menschen ihre blutige Unterhaltung viel zu sehr.«

»Auch ich war einmal ein Anhänger der Arena«, gestand Toby. »Ich hatte sogar eine Jahreskarte und einen guten Platz.

Aber das war eine andere Sache. Die Gladiatoren hatten wenigstens eine Chance, sich zu wehren, meistens jedenfalls. Das hier ist reines Abschlachten, und ich habe schon viel zuviel Blut auf Technos III gesehen. Ich weiß nicht, Flynn. Ich habe immer gedacht, daß ich mich nicht in die Politik einmische, aber das hier…«

»Wir können überhaupt nichts ändern, Boß. Steht es einfach durch, macht Eure Arbeit, und hofft, daß unser nächster Auftrag uns zu einer etwas zivilisierteren Welt führt.«

»Ich wollte von einem Kriegsschauplatz berichten«, sagte Toby, »weil Kriege die besten Geschichten liefern. Ich hätte niemals mit so etwas wie hier gerechnet.«

»Das tut niemand«, entgegnete Flynn. »Und deswegen berichten wir immer wieder von Kriegsschauplätzen.«

Irgend jemand brachte den Teleprompter wieder ans Laufen, indem er gegen eine empfindliche Stelle trat. Flynn schaltete die Kamera wieder ein, und Daniel beendete seine Ansprache.

Alles applaudierte höflich. Daniel nickte Kardinal Kassar zu und trat zurück, damit der Kardinal mit den Exekutionen beginnen konnte. Der Kardinal starrte düster in die Kamera und grinste kalt.

»An diesem Tag werden dreihundertsiebenundzwanzig Rebellen sterben, als Exempel für all diejenigen, die sich der Autorität der Staatskirche und ihrer allerkaiserlichsten Majestät Löwenstein XIV widersetzen. Der Großteil der Rebellen wird durch einen elektrischen Stromschlag sterben, den wir durch ihre Ketten leiten, doch die Anführer werden einer nach dem anderen enthauptet werden, als Sühne für all die Gläubigen, die im Kampf gegen die Feinde der Kirche gefallen sind. Tretet vor, Henker, und tut Eure Pflicht.«

»Oha«, sagte Ruby. »Er meint uns!«

»Kein Wunder, daß niemand sich mit uns anlegen wollte«, entgegnete Jakob.

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir treten ganz langsam vor und hoffen, daß mir etwas einfällt, bevor wir dort sind.«

»Du hast besser einen verdammt guten Einfall«, knurrte Ruby.

»Hab’ ich, hab’ ich, keine Sorge. Ich bin berühmt für meine guten Einfälle.«

»Du bist aber auch berühmt dafür, in den Hintern getreten zu werden, und gerade in diesem Augenblick stehen wir verflucht vielen schwerbewaffneten Soldaten gegenüber, die alle gespannt zu uns rübersehen. Könnten wir bitte ein wenig langsamer gehen?«

»Ruby, noch ein wenig langsamer, und wir bewegen uns rückwärts. Kassar durchbohrt uns bereits mit den Augen vor Wut.«

»Ach, geh!« sagte Ruby. »Ich mache mir gleich in die Hosen vor Angst.«

Ruby und Jakob erreichten das niedrige Podium, das man vor den Gefangenen errichtet hatte, verbeugten sich vor Kassar und blickten auf die beiden gewaltigen Schwerter, die neben den Enthauptungsblöcken standen. Die Blöcke erweckten ganz den Eindruck, als wären sie bereits oft benutzt worden. Ohnesorg blickte zu den Gefangenen, und sie starrten so trotzig zurück, wie sie nur konnten. Einige der jüngeren Kinder begannen zu weinen, nicht sicher, was als nächstes geschehen würde, obwohl sie die plötzlich angespannte Atmosphäre bemerkten. Für einen Augenblick, der sich scheinbar endlos in die Länge zu ziehen schien, herrschte nur Schweigen und Spannung. Kassar stapfte zum Podium.

»Was machen wir jetzt?« zischte Ruby. »Jakob, was machen wir jetzt? «

»Beginnt mit den Exekutionen!« fauchte Kassar. »Oder wir beginnen mit den Euren…« Er unterbrach sich, packte Jakob Ohnesorgs Kapuze und riß sie herunter. »Ihr!«

»Ich!« entgegnete Jakob und boxte dem Kardinal auf den Mund. Dann packte er den verdutzten Kassar, wirbelte ihn herum und hielt ihn als Schild vor sich. Ein Aufschrei ging durch die hilflos zusehenden Kirchensoldaten. Ohnesorg grinste in Flynns Kamera. »Lang lebe die Rebellion!«

»Oh, hervorragender Plan«, brummte Ruby, warf die Jesuitenrobe ab und zog Schwert und Disruptor. »Wirklich sehr ausgeklügelt. Ich selbst hätte keinen besseren entwickeln können.«

Die Kirchentruppen brachen aus ihrer Formation aus und rannten auf die drei Gestalten auf dem Podium zu, dichtauf gefolgt von den Sicherheitskräften der Wolfs. Alle hatten Schwerter in den Händen. Ruby wandte sich den Anstürmenden mit heißem Feuer in den Augen zu. Einige der Gefangenen stießen heisere Jubelrufe aus. Ohnesorg blickte auf seine Uhr.

Toby Shreck drehte sich nach Flynn um. »Sagt mir, daß Ihr das aufnehmt!«

»Ich nehme es auf, Boß, ich nehme es auf! Es geht alles live nach draußen! Ist das der, von dem ich denke, daß er es ist?«

»Ich kenne die Frau nicht, aber der Mann ist Jakob Ohnesorg, wie er leibt und lebt. Ich hätte wissen sollen, daß er eine seiner berühmten Rettungsaktionen in letzter Minute startet. Der Mann hat ein Patent darauf.«

»Ich hasse es, Euer Szenario zu versauen, Boß, aber die beiden sind nur zu zweit, und die anderen sind mehrere hundert.

Geisel oder nicht Geisel, Ohnesorg hat nicht die Spur einer Chance.«

»Na und, zur Hölle!« erwiderte Toby. »Es wird eine großartige Schau. Wir werden wundervolle Auszeichnungen bekommen, Flynn. Wo… wo, zur Hölle, kommen die denn her?«

Die waren Hunderte und Aberhunderte von Rebellen, die mit einemmal aus bislang verborgenen Tunnels am Rand der Fabrik strömten. Ohnesorg grinste. Genau zur rechten Zeit. Während ihre Kameraden die Verteidiger der Fabrik auf der anderen Seite des Geländes abgelenkt und beschäftigt hatten, hatten die restlichen Rebellen sich wie wahnsinnig durch die Erde gegraben, um rechtzeitig vor der Exekution auf der Bildflache zu erscheinen. Sie schwärmten über die zerklüftete Metallebene aus, schwenkten Schwerter und Pistolen und brüllten ihre wilden Schlachtrufe heraus. Die Kirchentruppen und Söldner machten kehrt, vergaßen Ruby Reise und Jakob Ohnesorg völlig und bereiteten sich auf den Zusammenprall mit den Rebellen vor. Disruptoren feuerten, Energiestrahlen zuckten durch die Luft, und Menschen zerplatzten in Fontänen aus Gewebe, Knochen und Blut. Dann prallten die beiden Streitkräfte aufeinander, eine wogende Masse aus Leibern, die in diese und jene Richtung drängte. Es gab nur noch Raum für Zweikämpfe Schwert an Schwert, Kopf an Kopf und das blutige Rasen aufeinanderprallender Weltanschauungen.

Ruby blickte Jakob an. »Ich vermute, du wirst jetzt sagen, daß du das alles geplant hast?«

»Aber natürlich! Obwohl die Zeit ein wenig knapp geworden ist. Such in Kassars Taschen, ob er einen Schlüssel für die Schlösser bei sich hat.«

In diesem Augenblick trat der Halbe Mann vor. Er wischte alles beiseite, was ihm im Weg stand, und hielt schnurstracks und mit erhobenem Schwert auf Jakob Ohnesorg zu. Ohnesorg stieß Kassar von sich, riß den Disruptor aus seinem Halfter und schoß. Der Halbe Mann hob den rechten Arm aus Energie und blockte Jakobs Schuß mühelos ab. Der Strahl zuckte als harmloser Querschläger in den Himmel. Und so standen sie sich gegenüber, zwei Männer, die von fremden Mächten geformt worden waren, und keiner von beiden war noch ein einfacher Mensch. Die Macht des Labyrinths des Wahnsinns brannte in Jakob, aber er hatte trotzdem alle Mühe, den Kampf nicht zu verlieren. Was auch immer die Fremden sonst noch mit dem Halben Mann angestellt hatten, sie hatten einen hervorragenden Kämpfer aus ihm gemacht. Er war schon länger ein Soldat und Krieger, als Jakob Ohnesorg überhaupt lebte, und er wurde niemals müde. Unablässig krachten ihre Schwerter aufeinander, und keiner der beiden wich auch nur einen Millimeter zurück.

In der Zwischenzeit war Kardinal Kassar aus seiner Benommenheit erwacht und kämpfte gegen Ruby. Zunächst war er ihr herablassend gegenübergetreten, doch rasch kämpfte er ums nackte Überleben. Kassar rief sich alle Tricks und Erfahrung ins Gedächtnis, die er als Elitekämpfer der Kirche gesammelt hatte, und fand, daß es nicht reichte. Ruby trieb ihn zurück, Schritt um Schritt, wischte seine Verteidigung mit müheloser Leichtigkeit beiseite und brachte ihm Verletzungen bei, ganz wie sie wollte. Und obwohl sie die Kraft des Zorns aufwallen spürte, hielt sie ihn dennoch zurück und verweigerte die Vorteile, die er bot. Ruby brauchte nichts außer Ruby, hatte niemals etwas anderes gebraucht, und sie allein würde entscheiden, ob sie ihre zusätzlichen Gaben nutzte oder nicht. Die Kopfgeldjägerin grinste Kassar in das schwitzende Gesicht. Sie hätte ihn jederzeit töten können, und beide wußten es. Aber sie wollte, daß es noch eine Zeitlang dauerte. Ruby Reise vergnügte sich.

Daniel Wolf zog das Schwert, bereit, sich in den Kampf zu stürzen, und hielt inne, als er bemerkte, wie verängstigt Stephanie war. Er mußte bei ihr bleiben. Sie brauchte seinen Schutz. Daniel warf einen raschen Blick zum Haupteingang der Fabrik, aber inzwischen blockierten bereits zu viele Rebellen den Weg. Nirgendwo war eine Deckung. Ihm blieb nur die Hoffnung, daß niemand von ihnen Notiz nahm. Daniel zog seine Schwester hinter den Teleprompter, ließ sie niederknien und stand beschützend über ihr, fest entschlossen, niemanden an Stephanie heranzulassen, es sei denn, über seine Leiche.

Lily und Michael klammerten sich aneinander und starrten mit Panik in den Augen um sich. Eine kleine Gruppe von Rebellen löste sich aus der kämpfenden Masse und stürmte in ihre Richtung. Lily schob Michael von sich weg, starrte die Rebellen trotzig an und rief ihre Hexenkräfte zu Hilfe. Doch ihr schwaches ESP brachte nur einen säuselnden Wind zustande, der die Rebellen kaum aufhalten würde. Einer von ihnen ging mit dem Schwert auf Lily los, und Michael warf sich in den Weg. Das Schwert fuhr durch seine Kehle und an der anderen Seite wieder heraus. Blut spritzte auf Lilys entsetztes Gesicht.

Michael ging röchelnd zu Boden. Lily kauerte sich hysterisch schreiend über ihn, bis ein Ausgestoßener auf dem Weg zur Befreiung der Gefangenen sie in einem Reflex ebenfalls niederstach. Lily und Michael starben gemeinsam, weit weg von zu Hause, zwei Kinder in der gewalttätigen Welt der Erwachsenen, die sie niemals richtig verstanden hatten.

Der Halbe Mann begriff schließlich, daß er Jakob Ohnesorg nicht so einfach besiegen konnte, wie er gedacht hatte, ließ von seinem Gegner ab und rannte davon. Er hatte eine bessere Idee, und außerdem ging die Sicherheit der Fabrik über alles, nachdem die Rebellen schon so nah gekommen waren. Der Halbe Mann rannte in das Gebäude und mähte alles nieder, was ihm in den Weg kam. Zuerst würde er die Zeitzünder an Kassars Bomben abschalten, dann würde er den Schutzschild der Fabrik hochfahren. Die meisten Rebellen würden so draußen bleiben. Die innerhalb des Schirms Gefangenen würden fallen, und die Fabrik wäre wieder sicher. Er grinste mit seinem halben Mund. Mochte Jakob Ohnesorg mit seinem Schwert auf einen Energieschirm losgehen und sehen, was er davon hatte.

Es gab bessere Methoden, einen Krieg zu gewinnen.

Während der Halbe Mann im Fabrikkomplex verschwand, führten Alexander Sturm und Mutter Beatrice die befreiten Klone nach draußen. Die Klone warfen einen verängstigten Blick auf das Gemetzel und Chaos, das sich vor ihnen erstreckte, so weit das Auge reichte, und blieben wie erstarrt im Eingang stehen. Sturm und Beatrice schrien ihnen zu, die Köpfe unten zu halten und in Deckung zu bleiben. Während die Klone sich dicht zusammendrängten, studierten Schwester Beatrice und Alexander Sturm nachdenklich die Situation. Ein paar der angreifenden Rebellen versuchten, die Gefangenen zu befreien, doch die schweren Schlösser und Ketten setzten ihnen erheblichen Widerstand entgegen.

»Sie sollten sich besser beeilen«, sagte Beatrice. »Solange die Gefangenen in Ketten liegen, können die Wolfs sie mit einem einzigen Knopfdruck rösten. Und jeden anderen gleich mit, der rein zufällig im gleichen Augenblick die Ketten oder Schlösser berührt.«

»Gutes Argument«, entgegnete Sturm. »Ich glaube, ich gehe besser und helfe ihnen. Ich war schon immer gut im Öffnen von Schlössern. Jeder braucht eben sein Hobby.«

»Ihr seid ein tapferer Mann, Alexander Sturm«, sagte Beatrice.

»Da habt Ihr verdammt recht«, erwiderte Alexander. »Jakob ist nicht die einzige Legende in dieser Gegend, wißt Ihr?«

Kassar wich weiter vor Ruby zurück. Er war vollkommen außer Atem und blutete aus zahlreichen Wunden. Der Kardinal hielt noch immer sein Schwert, doch es zitterte unkontrolliert.

Ruby setzte ihm grinsend nach. Sie hatte für den Augenblick genug Spaß gehabt, und jetzt war es an der Zeit, daß der Kardinal starb. Kassar erkannte die Entschlossenheit in Rubys Augen und hielt abwehrend die andere Hand vor sich gestreckt.

»Zurück, Hexe! Die Kontrollen für die Hinrichtung der Gefangenen sind in meinen Handschuh eingebaut. Einen Schritt näher, und sie sind alle tot.«

»Du bluffst«, erwiderte Ruby gelassen. »Wenn das stimmen würde, hättest du es inzwischen längst getan.«

Kassar grinste. »Bring mich nicht in Versuchung. Was werden deine kostbaren Rebellenfreunde von dir denken, wenn sie erfahren, daß du die Gefangenen hättest retten können, es aber nicht getan hast?«

Ruby zuckte die Schultern, sprang unvermittelt vor und brachte das Schwert mit unglaublicher Wucht ins Ziel. Die schwere Klinge schnitt sauber durch Kassars Handgelenk, und die abgetrennte Hand fiel zuckend zu Boden. Kassar stieß einen irren Schrei aus, ließ das Schwert fallen und hielt den Stumpf seines Arms umklammert, um die Wunde zu verschließen. Blut spritzte zwischen seinen Fingern hindurch.

»Ich habe noch nie einen verdammten Dreck darum gegeben, was andere Leute von mir denken«, brummte Ruby Reise.

»Ich bin reich!« stieß der Kardinal zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Gesicht war weiß wie ein Totenschädel. »Nennt Euren Preis.«

»Das gefällt mir schon besser. Wieviel hast du denn?«

»Wieviel wollt Ihr?«

»Alles. Wo ist es?«

»In einem Safe. In meinen Gemächern. Gold. Der Sold für meine Soldaten. Laßt mich gehen, und es gehört Euch.«

Ruby dachte einen Augenblick nach. »Danke für den Tip, Kardinal. Ich werde später nachsehen. Und jetzt sagt auf Wiedersehen.«

Ihr Schwert sauste beidhändig in weitem Bogen herum und schlug Kassar den Kopf ab. Er rollte hüpfend ins umgebende Gedränge und war rasch unter trampelnden Füßen verschwunden. Ruby lächelte zufrieden. Ein guter Kampf, und Gold hinterher. Der Tag versprach noch einiges. Sie durchsuchte die Taschen der Leiche, fand einen Schlüsselbund und ging, ein fröhliches Lied summend, um bei der Befreiung der Gefangenen zu helfen.

Der Kampf dauerte an. Die Rebellen warfen die Imperialen Truppen beinahe nach Belieben zurück, bis am Ende ein Sicherheitsoffizier die gute Idee hatte, sich zu ergeben. Die Idee verbreitete sich mit atemberaubender Geschwindigkeit unter den anderen Soldaten, und bald wurden überall Schwerter zu Boden geworfen und Hände hochgerissen. Mit einemmal war die Schlacht vorüber. Ruby und Sturm befreiten die letzten Gefangenen, und Beatrice führte die befreiten Klone aus der Fabrik. Laute Rufe der Freude und Erleichterung hallten über den Platz, als die Rebellen ihre Lieben befreit fanden, und Umarmungen und Tränen wurden bald zum Tagesbefehl erhoben.

Toby und Flynn filmten ununterbrochen und übertrugen das Geschehen einem Imperium, das sprachlos vor Staunen zusah.

Und dann flog die Fabrik in die Luft.

Der erste Satz Bomben löste alle anderen direkt mit aus, und innerhalb von Sekunden war aus der Fabrik ein einziger blendender Feuerball geworden. Der Kern des Bauwerks wurde zu einem flammenden Inferno, und glühende Splitter regneten in großem Umkreis herab. Die Außenwände hielten dem aufgestauten Druck nicht länger stand und flogen auseinander. Tödliche Hitze, gefolgt von einem Strom rotglühender Splitter, brach hervor. Hunderte von Menschen vor der Fabrik standen ohne jeden Schutz und ohne Deckung da. Sie waren nur Sekunden vom sicheren Tod entfernt, als Ruby und Jakob einmal mehr ihren Geist verschmolzen und einen Schutzschild errichteten, der die Flammen und die Wucht der Explosion eindämmen sollte. Der Feuersturm trommelte auf den Schild, hämmerte auf ihren Verstand ein, doch er hielt noch immer, als die Kraft des Infernos langsam erstarb und kein Schild mehr notwendig war. Erst dann verschwand er wieder, und Ruby Reise und Jakob Ohnesorg sanken auf die Knie. Blut strömte ihnen aus Nase, Mund und Ohren, während sie sich aneinander klammerten und bereits wieder zu Kräften kamen. Die Hitze war schier unerträglich geworden, aber die Gefahr war vorüber.

Die Fabrik brannte lichterloh, und gewaltige Flammen schossen in den Himmel. Nach einer Weile gesellte sich Alexander Sturm zu den beiden.

»Erstaunlich«, sagte er. »Gibt es überhaupt irgend etwas, das ihr nicht könnt?«

»Ja«, erwiderte Ruby mit rauher Stimme. »Zum Beispiel einen ganzen Safe voller Gold retten, der gerade mit der Fabrik in die Luft geflogen ist. Verdammt! Ich hatte mich bereits so darauf gefreut!«

Einige Zeit später führten Ruby, Alexander und ein noch immer lachender Jakob Ohnesorg die Rebellen und Klone zurück in die Tunnels unter Technos III. Die überlebenden Streitkräfte des Imperiums, alle entwaffnet, saßen herum, warfen sich ratlose Blicke zu und warteten darauf, daß jemand entschied, was als nächstes zu tun war. Da trat aus dem Inferno, aus dem knisternden, krachenden Trümmerhaufen, aus der Hölle, die alles war, was von der Fabrik noch stand, der Halbe Mann, vollkommen unberührt von der Hitze, und stapfte ohne besondere Eile durch die Flammen. Er ging zu Daniel und Stephanie Wolf und schüttelte langsam den Kopf.

»Ausgebildete, erfahrene Kirchentruppen, geschlagen wie Amateure. Drei Investigatoren tot. Die Fabrik vollkommen zerstört. Löwenstein wird überhaupt nicht erfreut sein. Ich an Eurer Stelle würde mir spätestens jetzt Gedanken über ein paar wirklich phantasievolle Erklärungen machen.«

Mit diesen Worten wandte er sich ab und begann, dem kläglichen Rest Imperialer Truppen Befehle zuzustellen. Stephanie starrte dumpf auf die brennenden Überreste ihrer Fabrik. »Alles dahin. Restlos alles. Wir müssen ganz von vorn anfangen.

Falls die Imperatorin uns den Antrieb nicht nach diesem Fiasko wegnimmt.«

»Und unsere beiden Ehegatten sind tot«, sagte Daniel.

»Wenigstens ist etwas Gutes bei der Sache herausgekommen.« Stephanie starrte in die emporschießenden Flammen.

»Unsere Bomben können unmöglich so viel Schaden angerichtet haben. Irgend jemand anderes hat seine Finger im Spiel gehabt.«

»Wahrscheinlich«, stimmte Daniel ihr zu. »Aber ich glaube nicht, daß wir jemals herausfinden werden, was sich hier wirklich zugetragen hat. Aber das ist auch egal. Es ist vorbei. Ich werde hier nicht mehr gebraucht. Endlich bin ich frei und kann nach Vater suchen.«

Und mit diesen Worten stand er auf und ging davon, ohne noch einen Blick zurückzuwerfen. »Danny!« rief Stephanie ihrem Bruder verzweifelt hinterher. »Komm zurück! Du kannst mich doch jetzt nicht einfach allein lassen! Ich brauche dich doch, Danny! Komm zurück, du Bastard!«

Flynn filmte auch diese Szene. Toby Shreck stand neben ihm und grinste dümmlich. »Live, Flynn! Wir haben alles live übertragen! Wir werden jeden verdammten Preis gewinnen, den es gibt, und noch einige mehr, die extra für uns geschaffen werden. Ich habe mich nicht mehr so wohl gefühlt, seit eine unserer Dienerinnen mir im zarten Alter von Vierzehn gezeigt hat, was was ist.«

»Ich weiß nicht, wie es mit Euch steht«, sagte Flynn, als er endlich die Kamera senkte. »Aber mein Stundenhonorar ist soeben gestiegen. Gewaltig gestiegen.«

»Verdammt richtig«, erwiderte Toby. »Ich frage mich, was wir als nächstes bringen sollen…«

»Macht Euch deswegen keine Gedanken«, meldete sich der Halbe Mann zu Wort. »Mir fällt ganz bestimmt etwas ein.«

Toby und Flynn sahen sich an. »Ich weiß nicht, was Ihr denkt«, sagte Toby, »aber ich denke, Ruhm und Reichtum wurden gerade auf unbestimmte Zeit verschoben.«

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