KAPITEL VI STIMMEN IM DUNKEL

Draußen am Abgrund war alles anders. Das Raumschiff Unerschrocken jagte durch die ewige Dunkelheit, ein einzelner silberner Funke vor der unendlichen Nacht. Kapitän Johan Schwejksam saß in seinem Kommandantensessel auf der Brücke der Unerschrocken und starrte finster auf den großen Bildschirm an der Stirnseite der Zentrale. Nicht, daß es dort viel zu sehen gegeben hätte. Sein neuer Auftrag hatte ihn hergeführt, an den Rand des Abgrunds, wo die Normalität von Sonnen, Planeten und Leben der endlosen leeren Finsternis der Dunkelwüste wich, in der es weder Licht noch Leben gab. Mit Ausnahme der Wolflingswelt, in deren unergründlichen Tiefen eine Armee von wiedererwachten Hadenmännern wartete und die Anfänge einer neuen Rebellion gegen das Imperium.

Schwejksam preßte die Lippen aufeinander. Sein Mund war nur noch ein blutleerer Strich. Er war als Verlierer von dieser Welt verjagt worden, hatte sich als Versager und in Ungnade vor der Eisernen Hexe verantworten müssen – und doch; Schwejksam verspürte keinerlei Drang, zur Wolflingswelt zurückzukehren und Rache zu nehmen. Unnatürliche Mächte hatten sich in den düsteren Kavernen unter der Oberfläche des Planeten festgesetzt, Mächte und Erscheinungen, die weit über den Verstand eines Menschen hinausgingen. Mächte, die ihn berührt und befleckt hatten. Die Wolflingswelt war ein gefährlicher Ort, und Schwejksam war fest entschlossen, auf gar keinen Fall ohne die Rückendeckung mindestens einer ganzen Imperialen Armee dorthin zurückzukehren. Besser noch der gesamten Imperialen Flotte. Er kannte den Unterschied zwischen Mut und Lebensmüdigkeit nur allzugut. Die Rebellion, die im Innern der Wolflingswelt Gestalt annahm, mußte niedergeschlagen und erstickt werden; das war von größter Wichtigkeit – aber solange er die Eiserne Hexe nicht davon überzeugen konnte, würde Schwejksam einen ausreichenden Sicherheitsabstand zwischen sich und dem einzigen Planeten in der gesamten Dunkelwüste einhalten, auf dem Leben existierte.

Schwejksam seufzte, nicht zum ersten Mal, und verlagerte das Gewicht in seinem Sessel. Seit zehn Stunden befand er sich jetzt auf der Brücke, weit über das Ende seiner Wache hinaus, doch es hatte keinen Sinn, wenn er jetzt in sein Quartier zurückkehrte. Er konnte nicht abschalten, und er konnte nicht schlafen. Zu viele Dinge waren in letzter Zeit geschehen. Beunruhigende Dinge. Seine Mission war ihm geradlinig und einfach erschienen, als Löwenstein ihm den Befehl erteilt hatte: Patrouillieren entlang aller Planeten des Imperiums, auf denen in der Mehrzahl nichtmenschliche, intelligente Rassen lebten, und sicherstellen, daß sie sich nicht mit den Fremden von außerhalb des Imperiums oder mit den Rebellen verbündeten.

Auf der einen Seite sollte Schwejksam Versprechungen machen und bessere Unterstützung zusichern, auf der anderen Seite mit schweren Repressalien drohen, falls sich eine Welt als ungehorsam gegenüber dem Willen der Imperatorin erwies.

Zuckerbrot und Peitsche. Bei Menschen versagte die Methode nie. Aber die wenigen fremden Zivilisationen, die ihre Eingliederung ins menschliche Imperium halbwegs überlebt hatten, waren alles andere als menschlich.

Hier draußen am Abgrund war es still. Weit weg vom Zentrum des Imperiums. Weit weg von allem Verkehr und von bewohnten Planeten. Die Unerschrocken glitt mutterseelenallein durchs All, und manchmal erschien ihrem Kapitän und ihrer Mannschaft die Einsamkeit beinahe unerträglich. Die Hälfte von Schwejksams Leuten nahm Beruhigungsmittel oder betäubte sich mit illegalem Alkohol. Schwejksam drückte ein Auge zu. Sie brauchten alle ein kleines Extra, um die Eiseskälte der endlosen Nacht zu überstehen. Alle, mit Ausnahme von Frost. Sie stand lässig neben Schwejksams Kommandantensitz, so ruhig und gelassen wie immer. Frost hatte für einige Zeit schweigend den Schirm betrachtet. Sie mußte Schwejksam nicht erst erzählen, daß sie ungeduldig auf das Ende der ewigen Monotonie wartete. Frost gehörte zu den Menschen, die ständig etwas tun mußten, und die langen Wochen des Wartens hier draußen am Abgrund waren auch für sie hart. Zwischen den einzelnen Planeten lagen weite Entfernungen, und selbst mit dem neuen Hyperraumantrieb dauerte es noch sehr lange, um sie zu überbrücken. Frost langweilte sich tödlich. Insgeheim dachte Schwejksam, daß er mit der Langeweile ganz gut leben konnte. Nur noch ein paar Planeten, und ihre Mission wäre offiziell abgeschlossen – obwohl sich erst noch zeigen mußte, ob man ihnen die Rückkehr in belebtere Sektoren des Imperiums gestatten würde oder nicht. Schwejksam und seine Leute wußten zu viele Dinge, die Löwenstein lieber nicht in die Öffentlichkeit getragen haben wollte.

Doch es war nicht allein die Einsamkeit und die endlose Langeweile oder die große Entfernung zum Herzen des Imperiums, die Schwejksam zu schaffen machten. Die Rebellion konnte jederzeit beginnen. Sie wurde von Leuten angeführt, die fast so etwas wie Übermenschen geworden waren, und unterstützt von den tödlichen Hadenmännern, den einstigen Feinden der Menschheit. Diese Rebellion, wenn sie erst kam, würde nicht so leicht niederzuschlagen sein wie all die anderen zuvor.

Schwejksam spürte ein brennendes Verlangen, beinahe eine Besessenheit, an seinen rechtmäßigen Platz im Orbit von Golgatha zurückzukehren, wo er die Imperatorin schützen konnte.

Löwenstein hatte seine Berichte über die Rebellen und ihre Anführer auch nicht im entferntesten ernst genug genommen.

Schwejksam hatte versucht, mit Frost über seine Bedenken zu sprechen, in der Erwartung eines verständnisvollen Ohrs, doch sie hatte leichthin die Schultern gezuckt und erwidert, daß es wenigstens für alle genug zu kämpfen gäbe, falls es zu einer Rebellion kam, die das gesamte Imperium überzog. Ganz egal, wer die Gegner waren. Frost hatte schon immer eine eher praktische Ader besessen.

Schwejksam trommelte mit den Fingern auf seiner Armlehne.

Irgendwo tief in seinem Innern rief eine leise, aber hartnäckige Stimme nach einem Drink, um seine flatternden Nerven zu beruhigen, doch er hörte nicht auf sie. Er hatte es ausprobiert, doch es hatte nicht funktioniert. Schwejksam hatte es geschafft, rückwärts aus der Flasche zu klettern – wobei Frost ihm ein wenig geholfen hatte –, und er würde dem Drängen nicht wieder nachgeben. Er hatte sich der Schande des Versagers mit seinem glorreichen Sieg über die Fremden im Orbit von Golgatha entledigt und entgegen aller Erwartungen eine weitere Chance bekommen, um sich zu beweisen, und er wollte verdammt sein, wenn er sich jetzt von seinen eigenen Schwächen besiegen ließ. Es hatte eine Weile gedauert, doch die Mannschaft hatte schließlich begonnen, ihren Kapitän wieder zu respektieren, und das war gut so. Sie waren gute Leute, und sie verdienten einen starken Kapitän. Natürlich gab es noch immer dunkle Ecken, in denen noch dunklere Gerüchte die Runde machten; Ecken, in denen sich die Männer sicher fühlten vor den Überwachungssystemen der Unerschrocken. Unter Deck erzählte man sich, daß Frost und Schwejksam verhext waren.

Das Pech klebte an ihren Fersen. Sie waren Jonasse, alle beide.

In ihrer Umgebung geschahen die unmöglichsten Dinge. Immerhin hatte Schwejksam sein letztes Schiff, die Dunkelwind, bei einem Zusammenstoß mit Piraten verloren, und sein letzter Auftrag auf der Wolflingswelt war genauso unerwartet in die Hose gegangen. Und wie jedermann wußte, so erzählten die Gerüchte, kam ein Unglück selten allein. Die abergläubischeren unter seinen Männern hatten untereinander Wetten abgeschlossen, aber nicht, wann das nächste Mal etwas wirklich vollkommen danebenging, sondern welcher Art der Unglücksfall sein würde.

Schwejksam tolerierte es. Insgesamt betrachtet, war seine Besatzung noch immer wachsam und diszipliniert, und die Männer erfüllten ihre Pflichten auf vollkommen ausreichende Weise. Der Sieg über das Raumschiff der Fremden im Orbit um Golgatha hatte ihre Moral wesentlich gestärkt und ihnen nach dem Debakel auf der Wolflingswelt das Selbstvertrauen zurückgegeben. Die meisten von ihnen hatten während des Angriffs der Fremden auf den Raumhafen und die Hauptstadt von Golgatha einen oder mehrere Freunde verloren oder kannten zumindest jemanden, dem es so ergangen war, und im kollektiven Herzen der Besatzung brannte ein unterschwelliger, aber nichtsdestotrotz heißer und inniger Wunsch nach Rache.

Bisher war Schwejksam imstande gewesen, stets rechtzeitig ein Ventil für die unterdrückte Wut seiner Männer zu finden, doch er zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie sich irgendwann verselbständigen würde. Irgendwann würden ein paar Nichtmenschen auf einer der Imperialen Welten ein falsches Wort zuviel sagen, und dann müßte man sie bestrafen. Schwejksam würde sich zurücklehnen und die Mannschaft in gewalttätige Raserei und wütende Rache verfallen lassen, bis sie genug hatte. Es würde hart für die Nichtmenschen werden, aber im Grunde genommen waren sie schließlich dazu da.

Im großen und ganzen hatte Schwejksam Frost alle Kontakte mit den außerirdischen Rassen des Imperiums überlassen.

Schließlich war sie die Expertin, was den Umgang mit fremden Kulturen betraf. Wenn ihm auch ihre recht extremem Praktiken manchmal ein gewisses Unbehagen bereiteten, so behielt er es für sich. Frost war verantwortlich für die Sicherheit der menschlichen Spezies, und wenn das bedeutete, sowohl brutal als auch effizient gegen Fremde vorzugehen, dann mußte es eben sein. Frost scherte sich einen Dreck darum. Unwillkürlich lächelte Schwejksam. Sicherlich hatte Frost nie eine Ausbildung in Diplomatie erhalten – oder wenn, dann hatte sie längst wieder alles vergessen, was man ihr beigebracht hatte. Ihr Vorgehen war ebenso geradlinig wie einfach: Frost wandte sich an das, was bei den anderen die Autorität verkörperte, stellte im Namen der Imperatorin ihre Forderungen und verkündete Warnungen und Drohungen für den Fall, daß man ihnen nicht nachkam. Aber sie brachte Ergebnisse. Schwejksam mochte seine Vorbehalte gegen ihre Methoden haben, doch er konnte nicht anders, als sie insgeheim zu bewundern. Die Sicherheit der menschlichen Spezies stand immer an oberster Stelle. Basta.

Auch Schwejksam war einst wie Frost gewesen, kalt, schroff und voller Autorität, bis er die Quittung dafür auf einem Hinterweltplaneten namens Unseeli erhalten hatte. Die eingeborene Spezies hatte wegen der extensiven Bergbauaktivitäten des Imperiums auf ihrem Planeten rebelliert. Das Imperium benötigte das Erz aus diesen Minen, und so hatte man den frisch zum Kapitän beförderten Johan Schwejksam abkommandiert, um die Rebellion niederzuschlagen. Ganz egal, mit welchen Mitteln. Er hatte es mit Diplomatie versucht und, als das nichts genutzt hatte, mit Härte, Entschlossenheit und Gewalt und schließlich mit Krieg. Dann hatte sich herausgestellt, daß auf Unseeli geheime Mächte und fremde Kräfte am Werke waren, und Schwejksam war gezwungen gewesen, seine Streitmacht fluchtartig von der Oberfläche abzuziehen. Anschließend hatte er Befehl erteilt, den gesamten Planeten aus dem Orbit heraus zu sengen.

Die fremde Rasse war heute ausgelöscht, doch die Geister der Toten spukten noch immer in den metallenen Wäldern des Planeten.

Schwejksam runzelte die Stirn, als er über seine bisherigen Kontakte mit außerirdischen Spezies nachdachte. Nur wenige waren so verlaufen, wie er es sich gewünscht hätte, doch am Ende hatte er immer bekommen, was das Imperium wollte, ohne noch einmal einen Planeten einäschern zu müssen. Er war nicht sicher, ob er imstande war, wieder einen derartigen Befehl zu erteilen. Obwohl Schwejksam keinen Augenblick daran zweifelte, daß Frost an seiner Stelle den Befehl erteilen würde, sollte sich erneut eine derartige Situation ergeben und er zögern. Und wer wollte schon ein Urteil fällen, wer von ihnen beiden im Endeffekt richtig handelte? Die Menschheit mußte geschützt werden, unter allen Umständen, und während die meisten Kontakte mit fremden Spezies nur eigenartig und merkwürdig verliefen, so gab es doch einige, die Schwejksam zutiefst beunruhigten. Das Leben hatte vielerlei Formen angenommen, und nur wenige davon waren annähernd als humanoid zu bezeichnen, weder in der Gestalt noch im Geist. Manche Rassen blieben schlichtweg undurchschaubar und geheimnisvoll. Schwejksam war sich nicht sicher, ob einige von ihnen überhaupt wußten, daß sie zum Imperium der Menschheit gehörten und Untertanen einer Imperatorin namens Löwenstein XIV waren.

Shanna IV war eine desolate Welt voller endloser Wüsten von festgebackener Erde. Das einzige Wasser befand sich tief unter der Oberfläche. Eine große, heiße Sonne brannte aus einem Himmel herab, der niemals Wolken gekannt hatte, und das einzige Anzeichen von intelligentem Leben waren die großen Pyramiden aus bernsteinartigem Material und verharztem Sand, die vor langer Zeit von den einzigen Bewohnern des Planeten errichtet worden waren. Jede der Pyramiden glich den anderen bis aufs Haar, obwohl manche Tausende von Kilometern auseinander lagen. Hundertdreißig Meter hoch, scharfkantig und mit glatten rötlichen Seitenwänden. Niemand wußte, was sich in ihnen verbarg oder ob es überhaupt ein Innen gab; keine der Investigatorgruppen des Imperiums war imstande gewesen, einen Eingang zu finden. Natürlich hatten sie versucht, einen zu schaffen – schließlich waren sie Investigatoren

–, aber zu ihrer Überraschung hatten sie feststellen müssen, daß die glatten Wände der Pyramiden vollkommen undurchdringlich waren für alles, was das Imperium dagegenwerfen konnte, einschließlich schwerer Energiewaffen. Was für Bernstein und verharzten Sand vollkommen unmöglich hätte sein müssen.

Schließlich beschloß das Imperium, daß ihm eigentlich egal war, was sich im Innern der Pyramiden verbarg, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die gegenwärtigen Bewohner, von denen man nicht wußte, ob sie die Erbauer der Pyramiden waren oder nicht.

Die Ureinwohner waren häßliche, hart gepanzerte Insekten von der Größe einer Männerfaust mit rasiermesserscharfen Mandibeln und entschieden zu vielen Beinen. Sie schienen nicht als Individuen zu denken, doch in Massen waren sie fähig, ein Kollektivbewußtsein zu entwickeln, mit dem man sich – nach einigen Schwierigkeiten – halbwegs verständigen konnte. Und das wiederum kam sehr gelegen, weil die schrecklichen krabbelnden Dinger nach ein paar kleinen Schubsern begonnen hatten, eine Menge organischer Verbindungen zu produzieren, für die das Imperium nützliche Verwendung hatte. Also lieferte man ihnen das Ausgangsmaterial, die Insekten fraßen es und schieden es wieder aus – und machten möglicherweise noch andere Dinge damit in ihren Pyramiden, wenn ihnen keiner zusehen konnte –, und das Resultat war eine Reihe von extrem komplexen chemischen Verbindungen, deren Herstellung in den Labors des Imperiums entsetzlich kostspielig gewesen wäre. Das Imperium profitierte, die Insekten wurden vor äußeren Einflüssen geschützt und ansonsten strikt in Ruhe gelassen, und alle waren zufrieden. Oder zumindest beschwerte sich niemand.

Kapitän Johan Schwejksam und Investigator Frost standen am Fuß einer der massiven Pyramiden und warteten darauf, daß die Vertreter des Insektenvolks erschienen. Der Tag war heiß wie der Ofen eines Krematoriums – und halb so feucht.

Die Luft flimmerte, und die Sonne war zu hell, um nach oben zu blicken, selbst mit starken Filtern über den Augen.

Schwejksam schaltete die Kühlelemente in seiner Uniform noch eine Stufe höher und schirmte seine Augen gegen die harte, unnachgiebige Strahlung der Sonne ab. Schweiß tropfte ihm aus allen Poren, nur um beinahe im gleichen Augenblick wieder in der entsetzlichen Hitze zu verdunsten. Schwejksam blickte nicht zu Frost. Er wußte auch so, daß sie kühl und beherrscht aussah und vollkommen unbeeindruckt von der Hitze und Trockenheit zu sein schien. Sie war schließlich ein Investigator und per definitionem nicht den menschlichen Schwächen und Irrungen unterworfen. Aber schließlich hielt Schwejksam es nicht mehr länger aus, und die Neugier gewann die Oberhand. Wie beiläufig blickte er sich um, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Frost träge mit dem Fuß nach einer der kleinen Gestalten trat, die um sie herum wimmelten. Das Wesen rollte auf den Rücken, und seine langen Beine zappelten für einen Augenblick in der Luft. Dann rollte es sich irgendwie ab und wandte sich erneut seiner Beschäftigung zu. Frost schniefte angewidert.

»Häßliche Dinger. Verdammter Planet. Wenn die Repräsentanten sich nicht bald zeigen, dann benutze ich die verfluchten Käfer als Zielscheibe zum Üben.«

»Das sollte zumindest ihre Aufmerksamkeit erregen«, sagte Schwejksam und grinste unwillkürlich. »Entdecke ich da einen Unterton von Abscheu in Eurer Stimme, Investigator? Ich dachte, Ihr wärt ausgebildet, mit allen Formen fremden Lebens umzugehen?«

»Alles hat seine Grenze«, erwiderte Frost angeekelt. »Und ich schätze, ich habe die meine soeben gefunden. Diese widerlichen kleinen Käfer. Wenn einer auch nur danach aussieht, als wolle er an meinem Bein hochklettern, erschieße ich ihn und alle anderen in einem Umkreis von einem Dutzend Metern gleich mit. Ich habe genug von Insekten, seit wir an Bord des fremden Schiffs im Orbit von Golgatha waren.«

Schwejksam musterte sie aufmerksam. Bei jedem anderen hätte er schwören können, einen Unterton von Entsetzen in der Stimme zu erkennen. Sicher, das Innere des fremden Schiffes war schrecklich gewesen. Schwejksam hatte deswegen noch immer Alpträume. Aber Investigatoren wurden von Kindesbeinen an erzogen, Alpträume zu verursachen, anstatt darunter zu leiden. Schwejksam überlegte sich seine nächsten Worte sehr sorgfältig, und als er schließlich zu sprechen ansetzte, blickte er in eine andere Richtung.

»Es war schlimm in dem fremden Schiff. All die verdammten Insekten, in allen Größen und Formen, und wir mittendrin und ohne Fluchtmöglichkeit. Genug, um jeden vor Entsetzen erstarren zu lassen.«

»Ihr seid ungefähr so subtil wie ein fliegender Felsbrocken, wißt Ihr das?« entgegnete Frost. »Trotzdem, danke für Euer Verständnis.«

Schwejksam blickte sie wieder an. Frost grinste, doch ihre Augen blieben kalt. Er zuckte die Schultern. »Falls Ihr jemals jemanden braucht, mit dem Ihr reden könnt…«

»Ich werde daran denken. Aber meine Probleme sind meine Probleme, und ich komme allein mit ihnen klar.«

»Genau das gleiche dachte ich auch, als ich Stück für Stück im Alkohol ertrank. Ihr habt mir trotzdem herausgeholfen.«

»Weil Ihr nicht wußtet, wie Ihr um Hilfe bitten solltet.«

»Genausowenig wie Ihr«, erwiderte Schwejksam.

Schwejksam und Frost blickten einander an. Es herrschte eine Nähe zwischen ihnen, die über die mentale Verbindung hinausging, die sie seit ihrem Abenteuer auf der Wolflingswelt teilten. Frosts Augen wurden ein wenig weicher, und Schwejksam dachte für einen Augenblick, daß sie dichter davor stand, sich ihm zu öffnen, als jemals zuvor. Doch der Augenblick ging vorüber, die Weichheit verschwand, und Frost war wieder Investigator. Kalt, zielorientiert und undurchdringlich.

Schwejksam wandte den Blick ab.

»Ihr müßt Geduld haben mit den Abgesandten der Insekten«, sagte er schließlich. »Nach unseren Dateien zu urteilen, besitzen sie ein anderes Konzept von Zeit als wir Menschen. Aber sie reagieren rasch auf entschlossenes Verhalten.«

»Ich muß mit gar nichts Geduld haben«, erwiderte Frost.

»Investigatoren haben keine Geduld mit anderen.«

Schwejksam mußte erneut grinsen. »So nützlich, wie die Dateien auch sein mögen – sie verraten nichts darüber, wie man die Aufmerksamkeit der verdammten Insekten erregt.«

»Wir könnten ein paar von ihnen töten«, schlug Frost vor.

»Zur Hölle, wir könnten eine ganze Menge töten. Niemand würde sie vermissen.«

»Laßt uns das als letzten Ausweg aufsparen«, entgegnete Schwejksam. »Es muß noch einen weniger drastischen Weg geben, den wir vorher ausprobieren sollten.«

Er unterbrach sich, als eine Woge von Insekten auf ihn zustürzte, dick und schwarz, wie ein lebender Teppich. Seine Hand fiel ganz automatisch auf den Griff des Disruptors an der Hüfte. Frost hatte ihre Waffe bereits gezogen und schwenkte sie hin und her auf der Suche nach einem sinnvollen Ziel. Die Woge aus schwarzen Leibern kam ruckartig nur wenige Zentimeter vor Schwejksam zum Stehen und begann dann, sich zu einem hohen Stapel aus krabbelnden Insekten aufzuschichten.

Die kleinen Körper paßten zusammen wie die ineinandergreifenden Teile irgendeiner komplizierten Apparatur, und nach und nach wurde aus dem Stapel eine annähernd humanoide Gestalt, eine dunkle, schimmernde Figur, die genausosehr Karikatur wie Nachahmung war. Der quadratische, flache Schädel drehte sich ruckartig auf dem dicken Hals und blickte zu Schwejksam und Frost, obwohl keine Spur von etwas zu erkennen war, das Augen hätten sein können. Die Gestalt summte kurz, ein ersticktes, häßliches und vollkommen unmenschliches Geräusch. Sie summte erneut, und plötzlich, obwohl sich die Stimmlage nicht verändert hatte, verstanden Schwejksam und Frost die Worte.

»Impe’ium«, summte die dunkle Gestalt, ohne daß ein Mund zu sehen war. »Ve’hö’. Antwo’t.«

Frost steckte die Waffe weg und versuchte, so zu tun, als hätte sie nie eine gezogen. »Ja, wir repräsentieren das Imperium«, sagte sie tonlos. »Hat man Euch informiert, warum wir hier sind?«

Auf Shanna IV gab es eine Imperiale Basis, die von einer Handvoll Wissenschaftler bewohnt wurde und von einer kleinen Abteilung Soldaten, die es alle irgendwie geschafft hatten, ihre Vorgesetzten ziemlich zu ärgern, um nach hier strafversetzt zu werden – doch sowohl Wissenschaftler als auch Soldaten beschränkten den Kontakt mit den Eingeborenen auf ein absolutes Minimum. Möglicherweise hatten sie das Treffen arrangiert, möglicherweise aber auch nicht. Das war typisch für diese Sorte von Basis.

Schwejksam starrte die humanoide Gestalt an, und sie starrte zurück – und obwohl keine Augen in dem flachen, glänzenden Gesicht zu erkennen waren, zweifelte Schwejksam nicht einen Augenblick daran, daß der Vertreter des Insektenvolkes ihn beobachtete. Er konnte den Blick förmlich spüren, wie eine eisige Brise in der kochenden Hitze des Tages. Plötzlich wackelten die Insekten, aus denen die humanoide Gestalt zusammengesetzt war. Hunderte von Beinen spannten sich und erzeugten ein Glänzen, das über den gesamten Körper verlief, und dann war es wieder vorbei. Schwejksam zuckte zusammen, als sich in seiner Stirn ein plötzlicher Kopfschmerz ausbreitete.

Es war, als könnte er beinahe etwas sehen oder hören, das man vor ihm verstecken wollte. Er konzentrierte sich auf das Gefühl. Es war der mentalen Verbindung zu Frost sehr ähnlich. Er blickte zu ihr, um zu sehen, ob sie das gleiche empfand. Frost zeigte ein mürrisches Gesicht, doch das war nichts Ungewöhnliches bei ihr. Mit Sicherheit wirkte sie nicht so verstört, wie Schwejksam sich fühlte. Er griff nach dem vagen Gefühl, versuchte, sich darauf zu konzentrieren, doch es entschlüpfte ihm wie Wasser, das durch die Finger rann, und dann war es verschwunden. Nur der Kopfschmerz blieb.

»‘ebellen«, sagte der Vertreter der Insekten unvermittelt.

»Ve’meiden. Best’afung.«

»Verstanden«, erwiderte Frost. »Wenn jemand versucht, mit Euch in Verbindung zu treten, gleichgültig, ob Rebell oder fremde Rasse, dann sagt Ihr, daß er sich zur Hölle scheren soll, und meldet anschließend den Vorfall der Basis. Unverzüglich.

Verstanden?«

»‘ebellen. Ve’meiden. Best’afung. Chemikalien. Ve’hö’.

Antwo’t.«

Schwejksam wäre erschauert, wenn er nicht in seinem eigenen Schweiß gekocht hätte. Es war etwas an der Art und Weise, wie jedes Wort aus einem anderen Teil der humanoiden Gestalt ertönte, das ihn äußerst nervös machte. Er riß sich zusammen und konzentrierte sich auf seine Aufgabe.

»Ja, wir haben Eure Chemikalien«, antwortete er knapp. »Sie werden am üblichen Platz abgeladen. Das Versorgungsschiff wird die Substanzen aufnehmen, die Ihr produziert habt.« Eine Frage drängte sich in seine Gedanken, und er beschloß, sie zu stellen, bevor er sich die Sache zweimal überlegen konnte.

»Wir haben eine Verwendung für Eure Substanzen, aber was gewinnt Ihr bei diesem Handel?«

Eine lange Pause entstand, und nach einer Weile nahm Schwejksam an, daß der Homunkulus ihm nicht antworten würde. Doch dann ertönten zwei Worte, und die Gestalt fiel vor seinen Augen aneinander, bevor er noch reagieren konnte. Die humanoide Form des Insektenvertreters löste sich von oben nach unten auf und zerfiel in Hunderte von Einzelteilen, die zu Boden stürzten und in alle Richtungen auseinanderstrebten.

Nach wenigen Augenblicken waren sie nicht mehr von den Insekten zu unterscheiden, die bereits vorher dagewesen waren.

Schwejksam spürte keinerlei Bedauern, daß die Unterhaltung zu Ende war und die Wesen ihm den Rücken zuwandten. Ganz besonders nicht nach den beiden Worten, mit denen die Gestalt seine Fragen beantwortet hatte. Chemikalien. Süchtig. Er blickte zu Frost, die noch immer nachdenklich auf die herumkrabbelnden Insekten starrte, die emsig ihren unergründlichen, unverständlichen Aufgaben nachgingen.

»Glaubt Ihr, daß sie sich überhaupt als Individuen begreifen?« fragte er. »Oder werden sie erst bewußt, wenn sie sich zusammenschließen?«

»Niemand weiß das mit Sicherheit«, erwiderte Frost. »Man vermutet, daß ihre gesamte Rasse ein einziges Kollektivbewußtsein bildet, doch bisher hat noch niemand irgend etwas wissenschaftlich beweisen können. Unsere Instrumente entdecken nichts, und Esper bekommen gewaltige Kopfschmerzen, wenn sie zu lauschen versuchen. Diese Gestalten bilden unsere einzige Möglichkeit, mit den Insekten in Verbindung zu treten, und sie verraten uns so wenig wie möglich, ohne uns richtig zornig zu machen.«

»Was ist mit den Wissenschaftlern in der Basis?«

»Sie verbringen die meiste Zeit mit dem Schreiben von Versetzungsgesuchen zu einer anderen Station, und ich mache ihnen daraus nicht den geringsten Vorwurf. Dieser Planet hier zehrt an meinen Nerven.«

Schwejksam hielt seine Gesichtszüge unter Kontrolle, aber nur mit großer Mühe. Die Überraschung hätte nicht größer sein können, wenn Frost ihm gestanden hätte, daß sie pazifistische Neigungen besäße. Der Planet mußte ihr wirklich schwer zu schaffen machen, wenn sie ihm gestand, daß sie sich unbehaglich fühlte. Und das sah Frost überhaupt nicht ähnlich. Er beschloß, ihr und sich selbst einen Gefallen zu tun und das Thema zu wechseln.

»Wußtet Ihr, daß die Chemikalien, die wir diesen Insekten liefern, süchtig machen?«

»Nein«, antwortete Frost. »Aber es ergibt einen Sinn. Wenn die Insekten ein einziges Kollektivbewußtsein besitzen, dann sind sie viel zu weit verteilt, als daß wir sie bedrohen oder ihnen weh tun, geschweige denn sie kontrollieren könnten. Aber das Zurückhalten von Chemikalien, nach denen sie süchtig sind, erfüllt auf sehr elegante Weise den gleichen Zweck. Ein Drogensüchtiger tut alles für seinen nächsten Schuß.«

»Sehr effektiv«, erklärte Schwejksam. »Das Imperium hat schon immer auf Effizienz geschworen. Und wenn man ein wenig Grausamkeit in einen Handel einbringen kann, dann um so besser.« Er blickte auf die Tausenden kleiner Insekten, die ringsum geschäftig wuselten, blindlings trotz der großen Hitze ihren Befehlen gehorchend, um die Bedürfnisse des Imperiums zu befriedigen, und wenn er die Gemeinsamkeit zwischen ihnen und sich auch erkannte, so behielt er es für sich.

Chroma XIII war ein einzigartiger Planet, und das in mehrfacher Hinsicht. Das Prospektorenschiff, das dieses System ursprünglich kartographiert hatte, hätte es beinahe übersehen – rein technisch betrachtet war es vollkommen unmöglich, daß auf einem Planeten in so großer Entfernung von seiner ausgebrannten, sterbenden Sonne Leben existieren konnte. Aber irgend etwas an Chroma XIII erregte die Aufmerksamkeit des Kapitäns, und so sandte er Drohnen auf die Oberfläche hinunter, um Informationen zu sammeln. Und die Ergebnisse, die sie zurückbrachten, reichten vollkommen aus, um auch dem erfahrensten Überwachungsoffizier den Mund offenstehen zu lassen.

Innerhalb des gewaltigen Gasballs von Chroma XIII gab es Leben. Leben ohne Form oder Substanz, aber eindeutig Leben.

Intelligenz, die sich von der physikalischen Existenz losgelöst hatte. Ein Planet voller Widersprüche, dessen bloße Existenz theoretisch unmöglich war.

Schwejksam ließ die Unerschrocken in einen Orbit einschwenken, der so weit von Chroma XIII entfernt war wie nur irgend möglich, und gemeinsam mit Frost beobachtete er auf dem Hauptschirm, wie die Drohnen des Schiffs der Oberfläche des unmöglichen Planeten entgegenfielen. Fremdartige Bilder kamen und gingen auf dem Schirm, als die Übertragung der Kameras von einer Drohne zur nächsten wechselte. Die ganze Zeit über drohten die Komm-Kanäle zusammenzubrechen von der schieren Intensität dessen, was sie weitergaben.

Chroma XIII besaß keine richtige Oberfläche. Es gab überhaupt keinen festen Boden oder Kern. Die Drohnen fielen endlos durch Schichten aus verschiedenen Farben und blendend helle Felder aus Licht, in denen fremdartige Farbenspiele ohne einen für das menschliche Auge erkennbaren Sinn oder Zweck abliefen. Es gab Ebenen aus atemberaubenden Farben, voneinander getrennt und verschieden und Tausende von Kilometern lang, Wirbel von der Größe eines Mondes, in denen eine Farbe langsam in eine andere überging, und ganze Ozeane aus blauem Nebel von so tiefer Intensität, daß das Blau beinahe schwarz aussah. Und wohin man auch blickte, überall wurden die Farben und Schatten von plötzlichen Blitzen durchzuckt, die beinahe zu schnell waren für das menschliche Auge.

»Und diese Lichtblitze sind die Eingeborenen?« erkundigte sich Schwejksam nach einer ganzen Weile.

»Wir vermuten es jedenfalls«, antwortete Frost. »Es ist nicht leicht, irgend etwas mit Sicherheit festzustellen. Aber eines scheint klar zu sein: Die Lichtblitze besitzen einige der Attribute, die wir gewöhnlich mit Leben assoziieren. Sie reagieren auf äußere Einflüsse, sie konsumieren Licht bestimmter Wellenlängen und strahlen es in anderen Wellenlängen wieder ab, und sie scheinen über all das hinaus miteinander zu kommunizieren, obwohl unsere Übersetzungslektronen regelmäßig überlastet zusammenbrachen, wenn sie versuchten, einen Sinn in die Signale zu bringen. Außerdem reproduzieren die Blitze sich ununterbrochen, genauso, wie sie aus völlig unerfindlichen Gründen hin und wieder einfach verschwinden.«

»Also schön«, sagte Schwejksam, entschlossen, sich nicht vollkommen verwirren zu lassen. »Wie treten wir mit ihnen in Verbindung?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte Frost. »Wir sind noch nicht einmal sicher, ob sie von unserer Existenz wissen. Was vielleicht ganz gut so ist. Warum sollten wir sie auf dumme Gedanken bringen?«

Schwejksam musterte Frost von der Seite und hob eine Augenbraue. »Und das Imperium ist zufrieden, wenn wir sie einfach in Ruhe lassen?«

»Es hat den Anschein. Sie besitzen nichts, was wir gebrauchen könnten, geschweige denn wirklich benötigen würden.«

»Und was, zur Hölle, machen wir dann hier?« brauste Schwejksam auf.

»Wir behalten sie im Auge. Wir haben nicht die leiseste Ahnung, wozu sie imstande sind. Sie sind Leben ohne Form, und das könnte auch bedeuten, Leben ohne Grenzen, wie wir sie verstehen. Wer weiß, zu was sie fähig sind, wenn sie uns entdecken? Wenn sie sich entscheiden würden, diese Welt zu verlassen und zu einer bewohnten Welt überzusiedeln, könnten wir in gewaltigen Schwierigkeiten stecken. Diese Lichtblitze enthalten gewaltige elektrische Energien, und wir sind ziemlich sicher, daß dort unten auch noch andere Kräfte existieren. Zusammengefaßt: Wir besitzen nichts, womit wir sie aufhalten könnten, wenn sie beschließen, böse auf uns zu sein. Welchen Sinn macht eine Waffe gegen jemanden, der keine physische Existenz besitzt?«

»Großartig«, seufzte Schwejksam. »Einfach großartig. Noch etwas, über das wir uns den Kopf zerbrechen müssen. Also schön, wir können nicht mit ihnen sprechen, wir können sie nicht bedrohen, und wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob sie unsere Existenz bemerken.«

»Ihr habt es erfaßt«, bestätigte Frost. »Wir können nichts weiter unternehmen, als ein paar hundert Drohnen in die Atmosphäre zu schicken, um die Dinger im Auge zu behalten, und dann verschwinden wir wieder.«

»Kommt zur Flotte und seht das Universum, hieß es immer«, sagte Schwejksam schwer. »Erlebt neue und interessante Lebensformen… und lauft vor ihnen weg. Navigator, bringen Sie uns hier raus. Mir brummt der verdammte Schädel.«

Der letzte Planet auf ihrer Patrouille war Epsilon IX, und das bedeutete Hartanzüge. Die Gravitation betrug fünffach Standard, die Atmosphäre bestand aus einer Mischung hochgiftiger Gase, und der Druck war ähnlich unerträglich wie am Grund eines tiefen Ozeangrabens. Und was am schlimmsten war: Die gesamte Oberfläche schien aus einer einzigen Schmiere zu bestehen; dickem, schleimigem Schlamm, der sich von Pol zu Pol erstreckte. An manchen Stellen war der Schlamm kilometertief, und das waren dann die Ozeane. An anderen Stellen wiederum bedeckte er den Boden nur einige Zentimeter bis einen Meter, und das nannte man dann Land. Es war das reine Chaos. Hin und wieder wuchsen über Nacht Hügel aus dem Schlamm und verbrachten den anschließenden Tag damit, langsam wieder in sich zusammenzufallen.

Hier und dort konnte man gewaltige künstliche Gebilde finden, die vielleicht Maschinen oder Gebäude darstellen sollten, vielleicht aber auch nicht. Die eingeborene intelligente Spezies hatte die Gebilde erschaffen, als ihr danach gewesen war, doch sie hatte sich geweigert zu erklären, woher das Material stammte oder welchen Zweck die Bauwerke erfüllten. Der Schlamm selbst enthielt ein paar äußerst seltene und wertvolle Spurenelemente, und diese wurden von einer eigens dazu konstruierten automatischen Verhüttungsanlage des Imperiums extrahiert. Menschen konnten auf Epsilon IX nicht leben, auch nicht innerhalb einer vollkommen abgeschirmten Basis; von Menschen errichtete Konstruktionen versanken unweigerlich nach einiger Zeit im Schlamm. Sie mußten andauernd wieder geborgen werden, und das verschlang zuviel Geld.

Die Verhüttungsanlage funktionierte nur deswegen, weil die Eingeborenen sich darum kümmerten. Niemand wußte etwas Genaueres über die Spezies. Sie schienen die einzigen Lebewesen auf dem gesamten Planeten zu sein, und das stellte einige sehr interessante oder auch – je nach Blickwinkel – unappetitliche Fragen in den Raum. Zum Beispiel danach, wovon sie lebten. Die Wesen besaßen eine mysteriöse Verbindung zu dem planetenweiten Schlamm, die ihnen gestattete, zu gedeihen und sich zu vermehren, doch sie waren nicht besonders gut darin, eine Erklärung hierfür oder für eines der anderen zahlreichen Rätsel abzuliefern. Sie blieben strikt unter sich, und sie waren sehr erfindungsreich, wenn es darum ging, unangenehme Dinge mit unbefugten Eindringlingen anzustellen.

Schwejksam und Frost nahmen die Pinasse, um zur Oberfläche des Planeten zu gelangen. Kurz darauf schwebte das Beiboot der Unerschrocken kurz über dem Boden in der Luft, während der Kapitän und sein Investigator unbeholfen in den Hartanzügen aus der Schleuse sprangen. Sie landeten in knietiefem Schlamm und wateten langsam durch den Dreck davon, während sie ständig darum kämpften, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und hinzufallen. Unter den Sohlen spürten sie eine Andeutung von festem Grund, aber er hob und senkte sich in unvorhersehbarer Weise unter dem alles bedeckenden Schlamm. Die vorherrschende Farbe war Grau, Schlammgrau, um genauer zu sein, in allen Variationen. Auch der Himmel war grau, und das war… gelinde ausgedrückt… verwirrend, weil der Horizont beinahe unmerklich in die Oberfläche überging. Schwejksams Orientierungssinn war bald hoffnungslos überfordert. Richtungen wie oben und unten, rechts und links verloren jegliche absolute Bedeutung und wurden zu einer Frage der persönlichen Einschätzung. Als Schwejksam sich das letzte Mal so gefühlt hatte, war er bereits eine ganze Woche restlos betranken gewesen.

Der Kapitän schlurfte neben Frost einher, und die Servomotoren ihrer Anzüge wimmerten laut vor Anstrengung, als sie sich gegen die erdrückende Gravitation des Planeten stemmten.

Schwejksam bemerkte mit heimlicher Genugtuung, daß auch Frost ganz offensichtlich Schwierigkeiten hatte, durch den zähen Schlamm voranzukommen. Es war ein gutes Gefühl zu sehen, daß auch Investigatoren ihre Grenzen hatten. Eine Zeitlang wateten sie nebeneinander her, während ihre Umgebung sich ohne erkennbaren Grund hob oder senkte. Frost führte mit beharrlicher Sturheit. Schwejksam vermutete, daß sie wußte, welche Richtung sie einzuschlagen hatten, doch er zog es vor, nicht zu fragen – nur für den Fall, daß er sich in ihr täuschte.

Die Pinasse schwebte hoch über ihnen, weit genug weg, um keinen der Eingeborenen zu erschrecken, aber noch immer nah genug, um im Notfall sofort herbeischießen und die beiden Menschen evakuieren zu können, sollte es nötig werden.

Schwejksam wurde rasch müde. Selbst mit Hilfe der Servos war es schwierig, aufrecht zu gehen, und das schnelle Tempo trug sein übriges zur raschen Erschöpfung bei. Nach den Instrumenten seines Anzugs zu urteilen, waren die Temperaturen hoch genug, um einige Metalle zum Schmelzen zu bringen.

Schwejksam schwitzte wie ein Schwein, obwohl die Klimaanlage des Anzugs mit höchster Leistung arbeitete, und das Fehlen eines sichtbaren Horizonts verursachte auf Dauer Kopfschmerzen. Er war so mit sich und seiner eigenen Welt aus Schmerz und Verwirrung beschäftigt, daß er erst im allerletzten Augenblick bemerkte, daß Frost stehengeblieben war. Nur dank einer heroischen Anstrengung konnte er vermeiden, gegen Frost zu prallen, und anschließend war er wieder für einige Sekunden vollauf damit beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten. Schließlich atmete Schwejksam tief durch und blickte sich um. Der Ort, an dem sie standen, unterschied sich in nichts von der Gegend, durch die sie bis jetzt gekommen waren. Nirgendwo war eines der Bauwerke der Eingeborenen zu sehen.

Nichts bis auf einen großen Hügel zu ihrer Linken, der langsam in sich zusammensank wie schmelzende Eiskrem.

»Hier ist es?« fragte er schließlich.

»Insofern, als daß es ein ›Es‹ gibt, ja«, erwiderte Frost orakelhaft. »Jedenfalls befinden wir uns an den richtigen Koordinaten. Diese Gegend ist wirklich ekelhaft. Es sieht beinahe aus, als hätte sie jemand aus der Nase geholt.«

Schwejksam zuckte zusammen. »Ihr habt einen ausgeprägten Hang zu eigenartigen Vergleichen, Investigator. Was machen wir jetzt?«

»Wir warten, bis sich jemand bei uns zeigt. Was zweifelsohne eine Zeit dauern wird, wenn man die Umgebung berücksichtigt. Vielleicht hätten wir einen Spaten und einen Eimer mitbringen sollen.«

Frost brach ab, als der Schlamm vor ihr Blasen zu werfen begann und sich wie eine Fontäne in Zeitlupe aufwölbte.

Schwejksam und Frost richteten die eingebauten Disruptoren auf das wachsende Gebilde, während es sich hier und da ausbeulte und an anderen Stellen zusammenzog, um schließlich eine humanoide Form anzunehmen, vollständig bis ins Detail, einschließlich Bekleidung. Natürlich waren sowohl Kleider als auch Hautfarbe in dem unvermeidlichen Grau gehalten, das die einzige Farbe des Planeten zu sein schien. Die Gestalt sah genaugenommen sogar schick aus, in formeller Abendgarderobe, und für einen Augenblick fühlte sich Schwejksam in seinem Hartanzug reichlich übertrieben geschützt. Er konzentrierte sich auf das Gesicht seines Gegenübers. Es war grau und schwitzte kleine Schlammtropfen aus, doch es war ganz ohne Zweifel ein menschliches Gesicht. Die Augen richteten sich auf Schwejksam, dann auf Frost, und schließlich verzog sich der Mund zu einem Lächeln.

»Bevor Ihr fragt«, sagte die Gestalt rasch, »… nein, ich sehe in Wirklichkeit nicht so aus. Ihr seht eine mentale Projektion aus in der Nähe vorkommendem Material. Glaubt mir, Ihr würdet nicht sehen wollen, wie ich in Wirklichkeit aussehe.

Außer natürlich, Ihr habt Spaß daran, Euch zu übergeben. Allerdings schätze ich, daß das in einem Hartanzug nicht besonders lustig ist. Jedenfalls sind die menschlichen Sinne viel zu beschränkt, um meine wahre Schönheit zu erkennen.«

Das Wesen verschränkte die tropfenden Arme vor der Brust und ließ den beiden Menschen einen Augenblick Zeit, damit sie über seine Worte nachdenken konnten. »Also schön, was wollt Ihr denn diesmal wieder von uns? Ich bin beschäftigt.

Und fragt erst gar nicht, womit – Ihr würdet es ja doch nicht verstehen.«

»Wenn Ihr das seid, was dieser Planet unter einem Diplomaten versteht, dann möchte ich Eure Politiker erst gar nicht kennenlernen«, sagte Schwejksam. »Wie kommt es eigentlich, daß Ihr unsere Sprache so gut sprecht?«

»Ich spreche Eure Sprache nicht. Ich verständige mich mit Euch direkt über Euer Bewußtsein, was ich zwar als ziemlich gewöhnlich empfinde, aber man muß eben hin und wieder Abstriche machen, wenn man die Götter zufriedenstellen will. Das war übrigens ein kleiner Scherz, um die Stimmung aufzulockern.«

»Ihr seid Telepath?« erkundigte sich Frost. »Davon stand nichts in unseren Dateien.«

»Bin ich auch nicht. Viel zu primitiv. Wir kommunizieren direkt, obwohl Euer menschlicher Verstand zu beschränkt ist, um alles aufzufangen, was ich übertrage.« Die Gestalt unterbrach sich und runzelte überrascht die Stirn, bevor sie fortfuhr: »Obwohl ich gestehen muß, daß Ihr weitaus empfänglicher seid als die meisten anderen.«

»Spart Euch die Komplimente«, entgegnete Frost. »Wir sind aus geschäftlichen Gründen hier.«

»Nun, ich dachte mir schon beinahe, daß Ihr nicht als Touristen gekommen seid«, erwiderte der Mann aus dem Schlamm.

»Was will Euer Imperium denn diesmal?«

»Ihr werdet Euch nicht mit Rebellen oder Fremden einlassen«, erklärte Frost steif. »Falls sich jemand bei Euch meldet, nehmt Ihr augenblicklich Verbindung mit dem nächsten Imperialen Spionagesatelliten auf. Jede Allianz mit fremden Mächten wird schwere Strafmaßnahmen nach sich ziehen.«

»Und wie sollen diese Strafmaßnahmen aussehen?« erkundigte sich der Mann aus Schlamm. »Wollt Ihr uns vielleicht einsperren? Dazu müßtet Ihr erst einmal fünfdimensionale Gefängnisse bauen können. Oder wollt Ihr uns vielleicht etwas von unserem hübschen Schlamm wegnehmen? Bedient Euch nur, wir haben Millionen Tonnen von dem verdammten Zeug.«

Frost hob die rechte Hand und betätigte den Abzug des in den Arm eingebauten Disruptors. Der Energiestrahl verdampfte den Kopf des Schlamm-Mannes. Schwejksam wollte gegen ihr Vorgehen protestieren, doch dann hielt er inne. Er haßte unnötiges Blutvergießen, aber das hier war Prosts Angelegenheit.

Sie war viel besser qualifiziert als er, wenn es darum ging, sich Eingeborenen gegenüber verständlich zu machen. Der Schlammkerl hätte eben mehr Respekt zeigen sollen, verdammt. Eine Beleidigung Frosts oder Schwejksams war eine Beleidigung des gesamten Imperiums. Und dann wurde Schwejksam bewußt, daß der kopflose Rumpf aus Schlamm nicht zusammengebrochen war. Er stand ungerührt da wie zuvor, als wäre gar nichts gesehen. Flüssiger Schlamm blubberte in seinem Halsstumpf, türmte sich auf, und rasch hatte sich ein neuer Kopf gebildet. Das gleiche Gesicht wie zuvor erschien, und der Mann aus Schlamm blickte Frost vorwurfsvoll an.

»Also hat sich die Imperiale Diplomatie seit dem letzten Besuch nicht besonders weiterentwickelt. Sieben Pluspunkte für Brutalität, mehrere tausend Minuspunkte für mangelnde Selbstbeherrschung. Wenn man einem Barbaren den kleinen Finger gibt… und so weiter. Ich wünschte nur, sie würden uns ein einziges Mal jemanden schicken, der in der Freßhierarchie ein wenig weiter oben steht. Ich hatte schon interessantere Unterhaltungen mit unserem Schlamm. Ihr Menschen könnt Euch verdammt glücklich schätzen, daß unsere Spezies physisch an das Ökosystem dieses Planeten gebunden ist. Wenn wir von hier weg könnten, würden wir Euer Imperium innerhalb einer einzigen Woche übernehmen.«

»Aber Ihr könnt nicht weg, und Ihr werdet gar nichts übernehmen«, entgegnete Frost kühl. »Also vergeßt meine Worte nicht. Keiner spricht mit Fremden oder Rebellen, oder wir denken uns etwas wirklich Unangenehmes für Eure Welt aus. So, das wäre alles. Wir gehen. Viel Spaß noch beim Spielen im Schlamm.«

»Ich sehe keinen Grund für sexuelle Anzüglichkeiten«, erwiderte der Mann aus Schlamm. »Fühlt Euch frei, unsere Welt zu verlassen, wann immer Ihr wollt. Am liebsten gleich. Auf Wiedersehen.«

Schwejksam wollte sich eben umdrehen und loslaufen, doch er hielt inne, als er bemerkte, daß Frost reglos dastand. Er konnte ihr Gesicht hinter dem schwarzen Helm aus Stahl nicht erkennen, doch er wußte genau, daß sie die Kreatur aus Schlamm nachdenklich anstarrte. Schwejksam konnte es förmlich spüren. Die mentale Verbindung zwischen ihnen beiden war plötzlich wieder einmal sehr stark, und er wußte, was ihr durch den Kopf ging. Frost wollte sehen, wie der Eingeborene in Wirklichkeit aussah. Sie wollte seine Gestalt und das Wesen sehen, das sich hinter der Maske aus Schlamm verborgen hatte.

»Hört auf, Frost«, sagte er leise. »Wir müssen es wirklich nicht wissen.«

»Er respektiert uns nicht«, entgegnete sie. »Er fürchtet uns nicht einmal. Ich will wissen, warum.«

»Hört auf Euren Partner«, empfahl der Mann – aus Schlamm.

»Ihr wollt es wirklich nicht wissen. Dieses Bild ist alles, was Ihr zu verstehen imstande seid. Die Wahrheit über mich und meine Rasse würde Euren beschränkten Verstand zerstören.«

Er unterbrach sich abrupt und starrte Frost mit verkniffenem Gesicht an. »Was macht Ihr da? Euer Verstand… er entwindet sich. An Euch ist etwas, das vorher noch nicht da war. Ihr seid kein Mensch. Was seid Ihr?«

Frost starrte das Wesen an, die Stirn in angestrengte Falten gelegt, und suchte in sich nach einer Kraft, von der sie nicht gewußt hatte, daß sie überhaupt da war. Dieses Wesen da, dieser Mann aus Schlamm – irgend etwas war an ihm, etwas Größeres, Mächtigeres… Die schiere Größe machte Frost schwindeln, und ihr Kopf begann zu schmerzen, doch sie wandte den Blick nicht ab. Es war tief unten im Schlamm, und es kam langsam durch die Tiefen hinauf zu ihr. Es besaß Länge und Breite und Tiefe und noch mehr Dimensionen, und vielleicht würde sein Anblick ausreichen, um sie zu Stein erstarren zu lassen wie einen Schmetterling, der von Medusas Blick gefangen wurde, aber Frost konnte nicht, wollte nicht wegsehen. Sie mußte es wissen. Sie mußte wissen, wie… Schwejksam packte Frost bei den Schultern ihres Hartanzugs, wirbelte sie herum und schüttelte sie so hart, wie er nur konnte.

»Hört auf! Seht nicht hin! Ich kann sehen, was Ihr seht, und es ist gefährlich! Wir sind nicht bereit, ein Wesen wie dieses zu erblicken. Allein der Anblick würde ausreichen, um unsere Augen erblinden zu lassen und uns wahnsinnig zu machen!

Seht weg, Investigator. Das ist ein Befehl!«

Schwejksams Verstand streckte einen Fühler aus, ohne daß er so recht wußte, was er tat und vor allem wie, und langsam, ganz langsam zwang er Frosts inneres Auge, sich zu schließen.

Das Bild dessen, was sich unter dem Schlamm verbarg, löste sich plötzlich auf, und die starke mentale Verbindung zwischen Frost und Schwejksam erstarb zu dem üblichen leisen Geräusch im Hinterkopf. Dann waren sie beide wieder in ihren eigenen Köpfen und sahen nur noch das, was ihre physischen Augen wahrnahmen. Frost erschauerte unwillkürlich.

»Danke, Kapitän. Ich… ich hatte mich verloren, jedenfalls für eine Weile.«

»Laßt uns von hier verschwinden, Investigator. Wir haben ihnen ihre Instruktionen überbracht. Alles andere geht uns einen verdammten Dreck an.«

»Wir dürfen nicht zulassen, daß sie uns vertreiben. Wir müssen ihnen klarmachen, wer hier das Sagen hat.«

»Ich habe das beunruhigende Gefühl, als wüßten sie das bereits«, erwiderte Schwejksam. »Laßt uns gehen.«

Wieder auf der Brücke der Unerschrocken, wurde Schwejksam durch die leise, aber drängende Stimme seines Kommunikationsoffiziers aus seinen Gedanken gerissen. Eden Creutz hatte sich an seiner Konsole umgedreht und blickte zu seinem Kapitän, der ein paarmal blinzelte und sich dann Mühe gab, wach und ausgeschlafen zu wirken, als hätte er Creutz bereits die ganze Zeit über zugehört. Es dauerte einen Augenblick, bis Schwejksam bemerkte, daß er Creutz nichts vormachen konnte, dann entspannte er sich mit einem verlegenen Lächeln. Er war froh, daß es Creutz war. Creutz war ein guter Mann.

»Tut mir leid«, sagte Schwejksam. »Ich war lichtjahreweit weg. Wiederholt Eure Worte bitte noch einmal.«

»Es scheint Schwierigkeiten zu geben im Unterdeck, Kapitän«, sagte Creutz. In seinem dunklen Gesicht war nicht die kleinste Spur eines Lächelns zu erkennen, doch seine Augen drückten Verständnis aus. »Vor kurzer Zeit hörten einige Leute seltsame Geräusche in den Privaträumen von Sicherheitsoffizier Stelmach. Ein paar der Männer wollten der Sache auf den Grund gehen und entdeckten, wie Stelmach systematisch das Mobiliar seines Quartiers zertrümmerte. Sie erkundigten sich höflich, ob er ein Problem hätte, und er bewarf sie mit Gegenständen. Die Leute haben sich gegenwärtig aus seiner Reichweite zurückgezogen und warten auf weitere Instruktionen. Er ist schließlich ihr Vorgesetzter. Und rein technisch betrachtet steht nur Ihr als Kapitän dieses Schiffes und Investigator Frost

über ihm und seid ermächtigt, einen wildgewordenen Sicherheitsoffizier zu bändigen.«

Schwejksam wechselte einen Blick mit Frost, die wie üblich neben ihm stand. Sie hob die Augenbrauen. Stelmach neigte dazu, in Notsituationen die Nerven zu verlieren, aber an Bord des Schiffes war er in der Regel kühl, beherrscht und befolgte die Vorschriften haargenau. Böse Zungen sagten ihm nach, daß er nicht einmal seinen Eingeweiden eine Bewegung erlaubte, ohne vorher in den Vorschriften nachzusehen. Also mußte etwas wirklich Ernsthaftes geschehen sein, wenn Stelmach derart die Fassung verlor.

»Ich denke, wir sehen besser nach, Investigator«, sagte Schwejksam. »Er ist verantwortlich für die Sicherheit des Schiffs, und wenn er etwas derartig Bestürzendes entdeckt hat, dann schätze ich, daß ich darüber Bescheid wissen will.«

Frost nickte ruhig. »Wir sind bereits seit geraumer Zeit hier draußen am Abgrund. So weit weg von jeder Zivilisation und jedem Leben sind schon ganz andere Leute zerbrochen.«

»Nicht Stelmach«, widersprach Schwejksam. »Um ihn zu zerbrechen, braucht es schon eine ganze Menge mehr als Kabinenfieber.« Schwejksam erhob sich aus seinem Sessel und übergab seinem Stellvertreter das Kommando. »Investigator, folgt mir. Aber laßt mir die Hände von den Waffen. Ich will Stelmach bei Bewußtsein und imstande, meine Fragen zu beantworten.«

»Spielverderber«, entgegnete Frost.

Gemeinsam verließen Schwejksam und Frost die Brücke und nahmen den Expreßaufzug nach unten zu den Offiziersquartieren. Sie merkten frühzeitig, daß sie sich Stelmachs Quartier näherten. Besatzungsmitglieder standen in den Gängen, einschließlich der Männer und Frauen von der letzten Schicht – sie waren von Stelmachs lautem Fluchen und Schreien geweckt worden. Schwejksam schickte sie freundlich, aber bestimmt wieder in ihre Quartiere und versicherte ihnen, daß er für Ruhe sorgen würde. Frost half denen mit kalten Blicken ein wenig nach, die Schwejksams Aufforderung nur zögernd Folge leisteten. Schließlich erreichten der Kapitän und sein Investigator eine Biegung, hinter der sich ein halbes Dutzend Sicherheitsleute in Deckung drückte. Die Männer wären vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren, als Schwejksam sie von hinten ansprach, doch als sie bemerkten, daß es nur der Kapitän war, entspannten sie sich sichtlich erleichtert. Sie schienen sogar froh zu sein über Frosts Anblick, und das war bestimmt das allererste Mal.

Rasch entwickelte sich unter den sechsen eine Diskussion, wer die Verantwortung trug, und dann wurde einer aus der Mitte nach vorn gestoßen. Der Mann wollte gerade anfangen zu erklären, was sich zugetragen hatte, als er bemerkte, daß er vergessen hatte zu salutieren und versuchte, sein Versäumnis nachzuholen und sich gleichzeitig zu entschuldigen. Dann fing er wieder von vorn mit seinem Bericht an. Das Geräusch eines großen, aber nichtsdestotrotz zerbrechlichen Gegenstands, der in hundert Teile zersprang, ertönte aus dem Durchgang zu Stelmachs Quartier, gefolgt von weiteren zusammenhanglosen Flüchen. Der Soldat vor Schwejksam schluckte und begann ein drittes Mal von vorn.

»Mein Name ist Leutnant Zhang, Sir. Sicherheitsoffizier Stelmach scheint sich… unwohl zu fühlen. Wir haben versucht, dem Problem auf den Grund zu gehen, doch… er weigert sich, mit uns zu sprechen. Außerdem ist er mit einem Disruptor bewaffnet. Vielleicht, wenn Ihr auf ein Wort mit ihm…

Ich bin sicher, er wird auf Euch hören, Kapitän. Und auf Investigator Frost.«

»Rührt Euch, Leutnant«, sagte Schwejksam. »Wir werden die Sache in die Hand nehmen. Ihr zieht Euch mit Euren Leuten zurück hinter die nächste Ecke. Vielleicht ist es Eure Anwesenheit, die ihn so außer sich geraten läßt. Seht zu, daß Ihr diesen Gang an beiden Enden absperrt; ich will, daß niemand uns stört, während wir mit Stelmach reden. Und Leutnant, wir wollen durch nichts und niemanden gestört werden, es sei denn, ein Notfall tritt ein.«

Zhang beeilte sich zu nicken, sammelte seine Leute ein und führte sie eilig, aber würdevoll hinter die Biegung des Ganges und außer Sicht. Stelmach schrie und tobte noch immer in seinem Quartier. Schwejksam bewunderte die Ausdauer seines Sicherheitsoffiziers. Er hatte selbst einige Anfälle von blinder Raserei hinter sich gebracht – in der Zeit, als er noch getrunken hatte –, und er wußte aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, seinen Zorn so lange aufrechtzuerhalten. Schwejksam blickte zu Frost und runzelte mißmutig die Stirn.

»Ich habe gesagt, keine Pistolen, Investigator.«

»Aber er hat eine, Kapitän.«

»Er hat sie bisher noch nicht benutzt. Wir wollen ihn doch nicht auf dumme Gedanken bringen.« Schwejksam funkelte Frost an, bis sie zögernd den Disruptor ins Halfter zurückschob, dann blickte er wieder den Korridor entlang. Inzwischen war es merkwürdig still geworden. »Wißt Ihr, ob Stelmach ein Trinker ist? Ich habe nichts in dieser Richtung gehört, aber ein Mann in seiner Position steht unter gewaltigem Druck, und er besitzt Zugang zu allen möglichen Arten von Alkohol, legal und illegal.«

»Und schlimmer«, ergänzte Frost. »Er hat nämlich außerdem Zugang zu Drogen, die er bei seinen Verhören einsetzt, und noch mehr Drogen, die seine Männer beschlagnahmt haben.

Ständig kreist irgendwelcher Stoff unter den Besatzungsmitgliedern. In seiner Akte steht nichts von Drogenmißbrauch in irgendeiner Form, aber er hat auch Zugriff auf seine Akte. Ich kann nicht sagen, daß ich den Mann besonders gut kenne.

Nicht viele kennen Stelmach. Der Posten des Sicherheitsoffiziers ist schließlich auch nicht gerade die ideale Position, um sich bei anderen beliebt zu machen.«

»Aber die Männer respektieren ihn, nicht wahr?«

»Oh, ich denke schon. Allein die Tatsache, daß bisher niemand versucht hat, eine Splittergranate in sein Zimmer zu werfen, während er schläft, ist ein ziemlich gutes Zeichen, daß die Mannschaft ihn respektiert. Und daß seine Leute ihre Arbeit verstehen.«

Schwejksam und Frost gingen rasch den leeren Korridor hinab und blieben kurz vor Stelmachs Tür stehen. Schwejksam bedeutete Investigator Frost mit einer Handbewegung, neben ihn zu treten. Sie drückten sich beide mit dem Rücken an die Wand neben der Tür. Rein technisch betrachtet, mußte Schwejksam nichts weiter tun, als sich zu zeigen und Stelmach zu befehlen, sich zu beruhigen und sein Verhalten zu erklären.

Falls der Sicherheitsoffizier diesem Befehl nicht augenblicklich nachkäme, erwartete ihn ein Kriegsgerichtsverfahren wegen Insubordination. Praktisch betrachtet, hatte Schwejksam das dumme Gefühl, daß er, falls er so vorging, am Ende mehr den Kopf einziehen und in Deckung bleiben würde als mit Stelmach reden. Vorausgesetzt natürlich, Stelmach besaß wirklich eine Waffe. Die Vorschriften verboten den Einsatz von Energiewaffen an Bord ausdrücklich, außer im allergrößten Notfall.

Andererseits war Stelmach der Sicherheitsoffizier der Unerschrocken, und wenn er eine Waffe wollte, dann gab es nicht viele Leute an Bord, die genügend Autorität besaßen, ihm diesen Wunsch zu verweigern. Schwejksam trug stets einen Disruptor, genau wie Frost. Die Vorschriften verlangten es so vom Kapitän eines Schiffes und seinem Investigator, nicht zuletzt für den Fall einer Situation wie dieser hier. Aber während seiner ganzen Zeit als Kapitän hatte Schwejksam nie eine Waffe gegen ein Besatzungsmitglied gezogen, und er würde den Teufel tun, jetzt damit anzufangen. Zur Hölle mit den verdammten Vorschriften.

In Stelmachs Quartier herrschte noch immer vollkommene Stille. Schwejksam erhob seine Stimme und achtete darauf, ruhig und selbstsicher zu klingen.

»Stelmach, hier spricht der Kapitän. Ich habe Investigator Frost bei mir. Wir müssen mit Euch reden.«

Keine Antwort. Schwejksam strengte sein Gehör an und vernahm schweres Atmen von innerhalb der Kabine. Vielleicht war Stelmach bewußtlos geworden vom vielen Trinken oder den Drogen oder einfach aus Erschöpfung. Vielleicht wartete er aber auch nur darauf, daß irgendein Trottel den Kopf durch die Tür steckte, damit er ihn wegschießen konnte. Schwejksam leckte sich über die trockenen Lippen und schluckte. Dann versuchte er es erneut.

»Stelmach, hier spricht der Kapitän. Könnt Ihr mich hören?«

»Ja, Kapitän. Ich kann Euch hören.« Die Stimme des Sicherheitsoffiziers war ein heiseres Raspeln, ein leises, schmerzerfülltes Geräusch, als hätte er sich die Stimmbänder vom vielen Schreien verletzt. »Verschwindet, Schwejksam. Ich will Euch nicht sehen. Ich will niemanden sehen und mit niemandem reden!«

»Das haben wir inzwischen mitbekommen«, antwortete Schwejksam. »Aber früher oder später werden wir reden müssen, das wißt Ihr selbst. Also wie ist es… Werdet Ihr mich jetzt auf eine Unterhaltung einladen, oder muß ich den Investigator zu Euch schicken, um Euch zur Vernunft zu bringen?

Meine Methode schadet Euch und dem Mobiliar ein gutes Stück weniger. Seht mal, was auch immer das Problem sein mag – ich kann Euch nicht helfen, wenn ich hier draußen herumstehe. Und Ihr benötigt Hilfe, oder wollt Ihr das etwa bestreiten?«

Eine lange Pause entstand. Als Stelmach schließlich antwortete, klang seine Stimme müde und niedergeschlagen, als hätte ihn sämtliche Energie schlagartig verlassen. »Also schön, kommt herein. Bringen wir es hinter uns.«

Stelmachs Worte enthielten einen merkwürdigen Unterton, doch Schwejksam beschloß, trotzdem ins Quartier des Sicherheitsoffiziers zu gehen. Er hatte sowieso keine andere Wahl. Er wandte sich zu Frost um und flüsterte: »Ich gehe zuerst. Ihr gebt mir Rückendeckung. Haltet Eure Hände von den Waffen fern. Wir wollen ihn nicht unnötig erschrecken.«

»Ich sollte besser als erste gehen«, widersprach Frost. »Ich bin entbehrlicher als Ihr.«

»Ich will Euch nicht beleidigen, Investigator…, aber Ihr neigt dazu, einen ziemlich starken Eindruck zu hinterlassen. In seinem Zustand reicht vielleicht ein einziger Blick auf Euch, damit er das Feuer eröffnet. Außerdem bin ich, soweit es ihn betrifft, eher ein Vorgesetzter als Ihr. Stelmach hat sich in der Vergangenheit immer an das gehalten, was seine Vorgesetzten ihm sagten. Und bevor Ihr fragt – nein, ich werde keinen Schutzschild benutzen, und das gleiche gilt auch für Euch. Ich will nicht, daß er glaubt, wir würden ihm nicht vertrauen.«

»Oh, das wollen wir wirklich nicht«, erwiderte Frost sarkastisch. »Kein Gedanke! Aber wenn er nur eine falsche Bewegung macht, kann er seine Einzelteile von den Wänden abkratzen.«

»Wir wollen die Sache ruhig und überlegt angehen, Investigator. Ich will nicht, daß er getötet wird. Sicher, er ist unbequem wie Hämorrhoiden, aber er macht seine Arbeit gut. Und fähige Sicherheitsoffiziere sind schwer zu kriegen. Außerdem ist er einer der wenigen, die Erfahrung damit haben, wie man einen Schläfer kontrolliert. Ich werde entscheiden, ob und wieviel Gewalt erforderlich ist. Und jetzt setzt ein nettes Lächeln auf. Wir wollen ihn doch nicht erschrecken.« Frost entblößte ihre Zähne, und Schwejksam zuckte zusammen. Sie sah aus, als wollte sie ihn beißen. »Also gut, vergeßt das mit dem Lächeln wieder. Es steht Euch nicht. Überlaßt das Reden mir, und macht Euch nichts aus dem, was er sagt. Ich will wissen, was Stelmach in diesen Zustand versetzt hat.«

Frost zuckte die Schultern. Sie hielt die Hände demonstrativ weit weg von den Waffen. Schwejksam war es zufrieden. Er trat einen Schritt vor und marschierte durch die offene Tür in Stelmachs Kabine. Frost hielt sich so dicht hinter ihm, daß er ihren Atem in seinem Nacken spüren konnte. Schwejksam grinste und nickte Stelmach zu, der mit herabgesunkenem Kopf und hängenden Schultern auf der Kante seines Bettes saß. Seine Waffe lag ein Stück weit entfernt auf dem Boden, außer Reichweite. Schwejksam entspannte sich ein wenig und blickte sich in Stelmachs Quartier um.

Das Zimmer war ein einziges Chaos. Der Sicherheitsoffizier hatte alles, was nicht angeschraubt oder fester Bestandteil des Schiffes war, heruntergerissen und durch die Gegend geworfen. Der einzige Tisch und der dazugehörige Stuhl waren umgekippt, und die zerbrochenen Überreste von Stelmachs persönlichen Sachen lagen zusammen mit allem anderen auf dem Boden verstreut. Das Bett war aus der Kabinenwand herabgelassen worden und hatte den Tobsuchtsanfall scheinbar unbeschadet überstanden, was man von der Bettwäsche allerdings nicht behaupten konnte. Sie war in Fetzen gerissen worden und lag bei den anderen Trümmern auf dem Boden. Stelmach saß auf dem unbezogenen Bett, und er sah alles andere als gefährlich aus. Schwejksam beschloß, trotzdem vorsichtig und behutsam vorzugehen. Er konnte Frost hinter sich spüren. Sie war gespannt wie ein Kampfhund an einer kurzen Leine. Schwejksam trat einen Schritt vor, und Stelmach hob endlich den Blick.

Sein Gesicht wirkte müde und mitgenommen. Der Sicherheitsoffizier sah aus, als wäre er über Nacht um zehn Jahre gealtert.

»Kommt herein, Kapitän. Investigator. Entschuldigt die Unordnung, aber das Zimmermädchen hat heute seinen freien Tag.«

»Ich habe Schlimmeres gesehen«, entgegnete Schwejksam.

»Aber Ihr wart sehr… beschäftigt, Stelmach. Gibt es einen bestimmten Grund dafür?«

»Was spielt das denn für eine Rolle?« murrte Stelmach. »Ich kenne die Vorschriften. Ich gehöre in den Bunker. Macht schon und sperrt mich ein. Ich bin fertig hier.«

»Ich denke nicht, daß ich jemanden verurteile, bevor er eine faire Anhörung hatte«, erwiderte der Kapitän behutsam. »Also erklärt Euch, Stelmach. Was ist der Grund für das hier?«

»Es ist privat, Kapitän. Eine Familienangelegenheit. Ich möchte nicht darüber reden.«

»Redet trotzdem, Stelmach. Wenn ich schon den besten Sicherheitsoffizier verlieren soll, den ich je hatte, dann will ich auch den Grund dafür wissen.«

Stelmach blickte an Schwejksam vorbei zu Frost. »Muß sie auch dabeisein?«

»Sie macht sich lediglich Sorgen wegen meiner Sicherheit«, antwortete Schwejksam. »Aber sie kann selbstverständlich draußen auf dem Korridor warten, wenn Euch das lieber ist.«

»Laßt nur«, sagte Stelmach. »Es macht sowieso keinen Unterschied.« Er lehnte sich gegen die Rückwand seines Bettes, und als er weitersprach, klang seine Stimme unendlich müde.

»Ich habe heute morgen einen Brief erhalten. Von meiner Familie. Wir standen uns immer sehr nah, seit mein Vater starb.

Ich war damals noch ein Kind. Es gab eine Demonstration, irgend etwas Politisches, und es kam zu Ausschreitungen. Irgend jemand warf irgend etwas, irgend jemand anderes eröffnete das Feuer, und mein Vater, der Polizist, war tot, noch bevor er den Boden berührte. Mutter zog uns groß, hielt uns zusammen und tat, was immer notwendig war, um uns ein Dach über dem Kopf, Kleider auf dem Leib und Essen im Magen zu geben. Ich war der Jüngste. Ich habe niemals neue Kleider getragen, bevor ich zur Flotte ging. Wir wurden erzogen, meinen Vater als Heiligen zu verehren, und Mutter brachte uns bei, nichts, aber auch gar nichts Politisches zu unternehmen. Sie brachte uns alle im Staatsdienst unter, sobald wir alt genug dazu waren. Es war ein sicherer Arbeitsplatz, was auch immer sonst geschehen mochte.

Meine Schwester Athena war die Älteste. Sie brachten sie weg, als sie zehn war, und bildeten sie zum Investigator aus.

Seither haben wir nie wieder von ihr gehört. Meine Brüder Stolzfried und Ehrheld machten ebenfalls Karriere. Stolzfried ist Major in der Armee, und Ehrheld ist Gruppenleiter bei den Jesuitenkommandos. Sie schreiben regelmäßig nach Hause und schicken Geld, wann immer sie können. Ich bin das schwarze Schaf. Ein Versager. Meine Karriere ist zu Ende. Nach dem Debakel auf der Wolflingswelt hatte ich Glück, daß ich nicht exekutiert wurde, aber ich werde niemals mehr als ein Sicherheitsoffizier sein, selbst dann nicht, wenn man mich öffentlich von aller Schuld freispricht. Selbst meine Forschung an der Kontrolle der Schläfer von Grendel wurde von anderen übernommen. Soweit es meine Familie betrifft, habe ich ihr durch mein Versagen große Schande bereitet. Meine Mutter hat geschrieben, daß ich nicht wieder nach Hause kommen soll. Sie hat mich aus der Familie ausgestoßen, mich enterbt und alle Erinnerungen an mich aus der Geschichte unserer Familie entfernt. Sie erzählt jedem, der nach mir fragt, daß sie niemals einen Sohn namens Kühnhold besessen hat.

Ich habe immer mein Bestes gegeben. Ich befolgte die Vorschriften und tat alles, was man mir befahl. Ich gab mir große Mühe, ein guter Soldat zu werden, und lebte ein Leben für das Imperium. Und was habe ich nun davon? Ich bin Sicherheitsoffizier auf einem Schiff, das am Abgrund seine Zeit verbringt, nirgendwohin fährt und nichts unternimmt – wenigstens nichts, das irgendwie von Bedeutung wäre. Macht mit mir, was Ihr wollt. Es ist mir egal.«

Stelmach blickte unvermittelt auf und starrte Schwejksam und Frost an. Auf seinen Wangen hatten sich hektische rote Flecken gebildet, und seine Augen waren vom Weinen geschwollen, doch sie blickten noch immer wach. »Ich hasse dieses Schiff. Ich hasse Euch, Kapitän, und Euch, Investigator.

Alle beide. Wenn ich Euch unter Kontrolle gehalten hätte, was eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre, hätten die Dinge sich vielleicht anders entwickelt. Aber ich ließ zu, daß Ihr mit mir diskutiert und daß Investigator Frost mich einschüchtert, und alles ging daneben. Ich hasse mein Leben, oder das, was davon noch übrig ist. Und am meisten hasse ich mich selbst, weil ich ein derartiger Schwächling bin. Meine Mutter hat geschrieben, mein Vater hätte auf mich gespuckt, wenn er hätte sehen können, was aus mir geworden ist. Ich denke, sie hat recht. Er hätte ganz bestimmt mehr Courage gezeigt, mehr… irgendwas.

Manchmal kommt er zu mir in meine Kabine und setzt sich in den frühen Morgenstunden auf meine Bettkante, und dann erzählt er mir, wie sehr er sich meinetwegen schämt. Er sieht noch immer jung und energisch aus, wie in den Holos aus der Zeit, bevor er ermordet wurde. Ich bin inzwischen älter, als er damals war, aber für ihn werde ich stets ein Kind bleiben. Ich ertrage dieses Quartier nicht mehr. Ich habe Angst vor dem Einschlafen. Steckt mich in den Bunker. Oder befehlt Frost, mich einfach auf der Stelle zu erschießen und der Schande, die ich meiner Familie zufüge, ein Ende zu bereiten. Frost würde es bestimmt gerne tun. Es ist mir egal. Mir ist alles egal.«

Schließlich verstummte Stelmach, und sein Kopf sank wieder nach unten, als er zu Boden blickte. Er weinte nicht. Er war viel zu erschöpft dazu. Schwejksam wußte nicht, was er sagen sollte. Er hatte in den Akten über Stelmachs Kindheit gelesen und versucht herauszufinden, warum, um alles in der Welt, jemand seinem Kind den Namen Kühnhold gegeben hatte, aber die reinen Fakten hatten bis zu diesem Zeitpunkt keinen rechten Sinn ergeben. Schwejksam fühlte sich verlegen und beschämt, daß er so direkt mit dem privaten Schmerz und der Schande eines anderen konfrontiert worden war. Das waren Dinge, die man normalerweise nur einem engen Freund oder einem Partner verriet, doch Stelmach war Sicherheitsoffizier, und Sicherheitsoffiziere besaßen keine Freunde oder Partner, denen sie ihr Herz ausschütten konnten… Und jetzt besaß er auch keine Familie mehr. Das war also der Grund, aus dem Stelmach seine Kabine zerstört hatte. Es war die einzige Möglichkeit für ihn gewesen, seine Wut herauszulassen. Und wahrscheinlich hatte er gewollt, daß man ihn dafür bestrafte.

Schwejksam wußte nicht, wie er reagieren sollte. Er konnte den Mann nicht einfach in Arrest nehmen und in den Bunker sperren lassen, selbst wenn es laut Vorschriften das Richtige war. Er war nicht mit Stelmach befreundet, und er mochte den Mann nicht einmal, aber Stelmach war ein Mitglied der Besatzung seines Schiffes, und als Kapitän der Unerschrocken war Schwejksam verantwortlich für das Wohlergehen eines jeden Mannes an Bord und so auch für diesen Mann – wie ein Vater für einen Sohn, der einen Fehler begangen hatte. Der Gedanke brachte eine neue Saite in Schwejksam zum Schwingen.

»Kühnhold, hört mir zu. Wir sind jetzt Eure Familie. Dieses Schiff und diese Mannschaft. Ihr gehört zu uns. Und wenn irgend jemand darüber zu entscheiden hat, ob Ihr ein Versager seid, dann bin ich das und sonst niemand. Und ich habe mir noch kein Urteil gebildet. Ihr habt überlebt, wo eine Menge anderer gestorben sind. Und Ihr wart der erste Mann, der je einen Schläfer unter ein Joch gezwungen hat. Das kann Euch niemand nehmen, ganz egal, was andere denken. Ihr seid kein Versager, bevor ich es nicht sage. Ich bin Eure Familie, und ich bin Euer Vater, und das erste, was ich Euch zu sagen habe, ist… Räum dein Zimmer auf, mein Junge!«

Stelmach hob verblüfft den Kopf. Dann brach er in lautes Lachen aus. Es war ein volles, erleichtertes Lachen, das die Düsterkeit und die finstere Stimmung vertrieb, die in der Kabine gehangen hatten. Schwejksam begann sich zu entspannen.

Er lächelte Frost an, und obwohl sie nicht zurücklächelte, wirkte sie doch etwas weniger kühl und distanziert als üblich. Stelmachs Lachen wurde wieder leiser, doch bevor er irgend etwas sagen konnte, summte das Komm-Implantat im Ohr des Kapitäns. Schwejksam bedeutete Stelmach mit einer Handbewegung, einen Augenblick zu warten, und nahm das Gespräch an.

»Schwejksam hier. Besser, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt.«

»Ich fürchte, das tut es, Kapitän«, erklang die Stimme seines Stellvertreters. »Ich denke, Ihr kommt besser so schnell wie möglich auf die Brücke. Wir haben anscheinend ein Problem hier.«

»Was für ein Problem?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte, Sir. Aber ich würde mich ein ganzes Stück wohler fühlen, wenn Ihr wieder übernehmen könntet. Da draußen… Irgend etwas ist da draußen.«

Die Verbindung endete abrupt, und nur ein kaum hörbares statisches Rauschen blieb in Schwejksams Kopf zurück. Er schaltete das Komm-Implantat ab und legte die Stirn in nachdenkliche Falten. Schwejksam war beunruhigt, ohne einen Grund dafür nennen zu können. Irgend etwas hatte in der Stimme seines Stellvertreters gelegen… Der Mann hatte fast geklungen, als hätte er Angst. Schwejksams erster Gedanke war der an ein fremdes Schiff, doch in diesem Fall hätte sein Stellvertreter längst Alarmstufe Rot verhängt. Die Falten auf der Stirn des Kapitäns vertieften sich noch. Er blickte zu Frost und Stelmach, die ihn erwartungsvoll ansahen.

»Vergeßt das mit dem Aufräumen«, sagte er tonlos. »Wir werden auf der Brücke gebraucht. Also los, Leute!«

»Selbstverständlich, Kapitän«, erwiderte Stelmach und verließ als erster seine Kabine. Sie marschierten gemeinsam durch den Korridor, drei Berufsoffiziere aus der gleichen großen Familie – einer Familie, deren Sorgen und Nöte immer an erster Stelle kamen.

Wieder auf der Brücke, nickte Schwejksam seinem Stellvertreter zu und ließ sich in den Kommandositz sinken. Frost und Stelmach bezogen rechts und links von ihm Position, bereit, falls er sie brauchen sollte. Die Atmosphäre in der Zentrale war so gespannt, daß man beinahe die Funken tanzen sah. Alle waren auf ihren Posten und mit ihren Instrumenten beschäftigt, aber sie wirkten zu aufgeregt, zu konzentriert… beinahe, als hätten sie Angst, woanders hinzusehen. Der Hauptschirm zeigte die Route der Unerschrocken bis zum und entlang des Abgrunds. Ab einer bestimmten Stelle brach das Licht der Sterne einfach ab, als wäre es auf eine unsichtbare Mauer geprallt, und dahinter befand sich das Nichts der Dunkelwüste, die äußerste, vollkommene Schwärze, in der keine Sonne jemals schien. Es war schwer, den Blick längere Zeit darauf zu richten, doch die Augen bewegten sich unwillkürlich immer wieder zu dieser Stelle. Schwejksam runzelte die Stirn und funkelte seinen Stellvertreter an.

»Mir scheint, alles ist in bester Ordnung. Nichts auf dem Schirm, alle Instrumente funktionieren… Wo liegt das Problem?«

Der Stellvertreter rutschte unbehaglich in seinem Sitz hin und her. »Fragt den Kommunikationsoffizier, Sir. Er hat mich als erster darauf aufmerksam gemacht.«

Schwejksam wandte sich um und blickte zu Creutz, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Nun, Mister?«

»Es… es ist schwierig zu erklären, Kapitän.« Creutz drehte sich von seiner Station weg, um den Kapitän direkt anzublicken. »Ich habe… ich höre Geräusche. Schon seit einer geraumen Zeit. Stimmen im Äther, die nach mir rufen. Dort draußen sind Leute, Sir, obwohl das unmöglich ist. Ich habe die Sensoren kontrolliert. Außer uns ist niemand in der Nähe. Aber… aber ich höre es nicht allein.«

Creutz unterbrach sich und blickte unglücklich zu Schwejksam, um eine Reaktion zu erkennen. Der Kapitän der Unerschrocken achtete sorgsam darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Daran, wie schwer Creutz sich tat, mit der Sache herauszurücken, erkannte Schwejksam, wie Ernst dem jungen Offizier damit war. Das Gesicht des Kommunikationsoffiziers wirkte abgespannt und erschöpft, und auf seiner Stirn hatten sich kleine glitzernde Schweißperlen gebildet. Schwejksam wußte, daß die anderen Offiziere in der Zentrale auf seinen Rücken starrten und seine Reaktion abwarteten, auch ohne daß er sich umblickte. Vor einer Weile noch wäre er davon überzeugt gewesen, daß sie ihn auf den Arm nehmen wollten, um zu sehen, wie weit sie gehen durften, doch inzwischen dachte er nicht mehr so. Schwejksam konnte spüren, wie Ernst es ihnen allen war, und obwohl jedermann sich Mühe gab, es zu verbergen – jeder in der Zentrale war zumindest besorgt, wenn nicht mehr. Schwejksam spürte auch, wie sich in seinem Rücken ein schwaches Prickeln entwickelte. Das waren alles kampferprobte Veteranen, und sie waren nicht so leicht einzuschüchtern. Er schlug die Beine lässig übereinander und spürte gleichzeitig eine wachsende Spannung im Unterleib. Draußen am Abgrund geschahen seltsame Dinge. Jeder wußte das. Der Kapitän nickte Creutz zu und bedeutete ihm fortzufahren.

»Ich habe die Stimmen nicht als einziger gehört, Sir. Andere haben das gleiche erlebt. Schon seit Tagen geht das nun so.

Auf allen Kanälen, von den offiziellen bis hin zu den schiffsinternen Kabinenfrequenzen. Stimmen ertönen, wo es keine geben dürfte, und sie flüstern und murmeln gerade deutlich genug, um die Männer zu erschrecken, ohne einen rechten Sinn zu ergeben. An der Ausrüstung liegt es nicht, Sir; ich habe alles überprüft und nochmals überprüft, und sie funktioniert fehlerlos. Dann dachte ich, daß mir irgend jemand einen Streich spielt, aber ich kenne jeden einzelnen dummen Trick in- und auswendig. Also habe ich mit anderen darüber gesprochen, und ich fand heraus, daß sie genau das gleiche erlebten. So geht das nun, seit wir uns dem Rand des Abgrunds genähert haben.

Es sind nicht allein die Stimmen. Es ist, als würden wir beobachtet, die ganze Zeit über, und damit meine ich nicht die Überwachungskameras an Bord. Daran sind wir alle gewöhnt.

Es ist mehr wie… Es ist, als wäre jemand anderes mit einem im Zimmer, obwohl man allein ist. Als stünde jemand anderes über dein Bett gebeugt, während du schläfst, und er beobachtet dich und wartet. Ständig habe ich das Gefühl, als würde irgend etwas nicht stimmen und als müßten wir etwas unternehmen… etwas Wichtiges, etwas Lebenswichtiges…«

»Alpträume hier draußen am Abgrund sind nichts Neues«, antwortete Schwejksam vorsichtig. »Die Dunkelwüste ist noch immer sehr mysteriös. Wir wissen nicht einmal, ob zu große Nähe den Verstand beeinflußt, und wir sind jetzt bereits recht lange hier draußen.«

»Das dachte ich im ersten Augenblick auch, Sir«, sagte Creutz. »Wir alle dachten das. Dieses Phänomen wurde schon häufiger und von anderen Schiffen beobachtet, die sich zu lange in der Nähe des Abgrunds aufgehalten haben. Plötzlich sieht oder hört man Dinge. Üblicherweise wird es als Kabinenfieber diagnostiziert. Der Schiffsarzt gibt den Männern und Frauen ein paar Beruhigungsmittel, und das stellt die Leute ruhig, bis man den Rand wieder hinter sich gelassen hat. Aber ich habe einige genauere Überprüfungen durchgeführt, Sir. Als ich die Bänder der Zentrale noch einmal abhörte, und zwar die Stellen, an denen ich laut meinen Instrumenten diese Stimmen gehört habe, da waren keine Signale zu erkennen. Nichts. Absolute Stille.«

Schwejksam hob eine Augenbraue. »Vielleicht eine Form von ESP-Kommunikation?«

»Der Schiffsesper sagt nein, Sir. Wenn an Bord oder auch nur in der Nähe des Schiffes psionische Energien außer seinen eigenen existierten, dann würde er es wissen. Aber das ist noch nicht alles. Es… es ist schwierig, diese Geräusche aufzuzeichnen, Sir. Sie sind häufig nicht deutlich genug, um etwas zu verstehen. Aber während Ihr nicht auf der Brücke wart, fing ich eine ganze Reihe von Signalen auf, und diesmal gelang es mir, sie mit dem Recorder aufzuzeichnen. Hört selbst, Kapitän.«

Creutz drehte sich zu seiner Konsole um und tippte einen Befehl in die Tastatur. Ein lautes Knistern erfüllte mit einemmal die Zentrale, Statik, die aus den Lautsprechern drang. Schwejksam bemerkte, daß jeder in der Zentrale ebenfalls aufmerksam lauschte. Die Gesichter seiner Leute waren starr von Anspannung und kaum verhohlener Furcht. Schwejksams Unterleib zog sich erneut zusammen. Was, zur Hölle, konnte denn an ein paar Stimmen so furchteinflößend sein? Und dann erklang eine Stimme zwischen dem Rauschen der Statik. Eine kalte, tote Stimme, doch sie klang entschlossen, sich Gehör zu verschaffen.

»Es ist dunkel hier. Die Vögel brennen.«

Eine kurze Pause, dann ertönten weitere Stimmen. Eine nach der anderen, verschiedene, langsame, verhaltene Stimmen, alle vom gleichen verzweifelten Drang besessen, sich Gehör zu verschaffen.

»Helft mir! Helft mir! Irgend etwas hält meine Hand fest und läßt nicht mehr los!«

»Es kommt! Es kommt in Eure Richtung, und niemand kann es aufhalten.«

»Es beobachtet dich von hinter dem Spiegel.«

»Höre auf mich! Tote Hände schlagen gegen deine Mauern!

Höre auf mich!«

»Sie kommen. Sie kommen aus der Dunkelheit, und sie kommen in einem Totenschiff.«

Die letzte Stimme brach abrupt ab, und dann war nur noch das statische Rauschen zu hören. Creutz schaltete die Aufzeichnung ab und drehte sich wieder zu Schwejksam um.

»Was auch immer es sein mag, Sir, es wird schlimmer. Bis jetzt sind das hier die deutlichsten Aufnahmen. Ich habe versucht, die früheren Aufzeichnungen mit Hilfe der Lektronen zu verstärken, aber es hat nichts gebracht. Fast, als hätte der Rechner nichts hören können. Ich hatte keine Ahnung, wie weitläufig das Problem inzwischen geworden war, bis ich herumzufragen begann. Ich glaube, keiner hat gewußt, was es war.

Jeder dachte, er würde allmählich verrückt, und niemand hat mit jemand anderem darüber gesprochen.«

»Was Ihr da aufgezeichnet habt…, ist es typisch für das, was die Stimmen sagen?« erkundigte sich Schwejksam zögernd.

»Ziemlich, jawohl, Sir. Alles ergibt eine Art Sinn, aber was es bezwecken soll, weiß der Himmel allein.«

»Und was meint Ihr, woher die Stimmen kommen?« fragte Schwejksam.

Creutz’ Gesichtszüge spannten sich, doch sein Blick blieb fest. Als er antwortete, klang seine Stimme ruhig und leidenschaftslos. »Ich denke, es sind die Stimmen der Toten, Sir. Sie versuchen verzweifelt, mit uns in Verbindung zu treten. Sie wollen uns warnen… vor irgend etwas. Einige der Besatzungsmitglieder, mit denen ich mich unterhielt, behaupteten, manche Stimmen erkannt zu haben. Sie stammen allesamt von Leuten, von denen bekannt ist, daß sie tot sind. Freunde oder Verwandte. Menschen, die lange nicht mehr leben. Ich hörte meinen Großvater. Er war Besatzungsmitglied der Verfechter, die vor mehr als hundert Jahren hier draußen am Rand der Dunkelwüste verschwand. Und jetzt, wo wir uns im gleichen Sektor befinden, scheint alles wieder von vorn zu beginnen.

Die Stimmen der Toten, die verzweifelt versuchen, mit uns in Kontakt zu treten und uns zu warnen, bevor es zu spät ist. Bevor Ihr etwas sagt, Kapitän: Ja, ich weiß genau, wie das in Euren Ohren klingen muß. Aber wir alle haben diese Stimmen gehört, Sir. Habt Ihr denn nichts gespürt? Habt Ihr gar nichts Seltsames gehört oder bemerkt in den langen Stunden der Nacht?«

»Nein«, erwiderte Schwejksam. »Ich kann beim besten Willen nicht sagen, daß ich etwas bemerkt hätte.« Er blickte fragend zu Frost. Sie schüttelte entschieden den Kopf. Dann blickte er zur anderen Seite. »Stelmach?«

»Ich bin nicht sicher, Sir«, antwortete der Sicherheitsoffizier zögernd. »Ich habe meinen Vater gesehen, aber ich dachte die ganze Zeit über, es wären nur meine Träume gewesen. Und einmal, als ich am frühen Morgen wach wurde, dachte ich, meine Schwester wäre im gleichen Zimmer. Sie stand über mir, über mein Bett gebeugt, und sie… beschützte mich vor irgend etwas.«

»Also schön«, sagte Schwejksam. »Wir wollen nicht vom Thema abschweifen. Ich bezweifle nicht, daß wir es mit einem höchst realen Phänomen zu tun haben. Aber was auch immer Ihr hört, es sind ganz sicher nicht die lieben Verstorbenen, die auf ein Schwätzchen vorbeigekommen sind. Ich vermute eher, daß wir es mit einer Form von psionischer Kommunikation zu tun haben, die uns völlig unbekannt ist und die der Verstand als Stimmen oder Gefühle interpretiert. Vor einigen Jahren gab es einen Bericht darüber, dessen Inhalt eigentlich jedermann an Bord vertraut sein sollte… Es ging um die Möglichkeit, daß sich in der Dunkelwüste neue Lebensformen entwickeln. Der Urheber des Berichts war der Meinung, daß in den Abgründen der Dunkelwüste, zwischen den gefrorenen Planeten, gewisse Lebensformen entstehen könnten. Eine neue Form von Leben, möglich nur durch die unnatürlichen Bedingungen, die in der Dunkelwüste herrschen. Und wenn das niemanden berührt, wie wäre es damit; ein subtiler Angriff der Fremden? Wir rechnen damit, daß weitere Schiffe der Fremden durch die Dunkelwüste hindurch in das Imperium einzudringen versuchen. Es könnte sich also sehr gut um eine neue Art psionischer Waffe handeln, die speziell dazu geschaffen wurde, uns zu ängstigen und zu verwirren. Und wie es aussieht, ist es eine verdammt wirksame Waffe.«

Schwejksam ließ den Blick über die Brücke schweifen. Er konnte sehen, wie seine Ideen Wurzeln schlugen. Die Männer und Frauen blickten sich an, lächelten und entspannten sich, während sie über seine Vorschläge nachdachten und sich mit ihnen anfreundeten. Ein leises Gemurmel setzte ein, als die Furcht sichtbar von ihnen abfiel. Selbst Creutz nickte zustimmend. Schwejksam ließ sie für ein paar Minuten reden und lachen, bevor er wieder Disziplin anmahnte.

»Creutz, aktiviert die Langstreckensensoren«, befahl er schließlich. »Wenn sich dort draußen in der Dunkelwüste ein fremdes Schiff versteckt, dann will ich es wissen.«

Creutz nickte und beugte sich unverzüglich über seine Konsole, um die Sensoren hochzufahren. Er hatte sie bisher nicht benutzt, weil sie so gewaltige Mengen an Energie verbrauchten, aber theoretisch konnten sie ein Sandkorn noch in einer Entfernung von einem halben Lichtjahr entdecken. Schwejksam lehnte sich zurück und überließ Creutz die Ortung. Die Chancen, daß er etwas fand, standen nicht besonders hoch, doch die Arbeit an der Ortungsanlage sollte ein Stück dazu beitragen, daß die Mannschaft sich besser und vor allem sicherer fühlte.

»Ich bin fast enttäuscht«, sagte Frost leise. »So viel Aufregung, und alles nur wegen ein paar nächtlicher Alpträume. Das nächste Mal wollen sie, daß man sie an der Hand nimmt, wenn sie eine Straße überqueren müssen.«

»Wir sind nicht alle mit Euren eisernen Nerven ausgestattet, Investigator«, sagte Schwejksam. »Und es gehört zu meiner Arbeit, daß ich mich mit den Problemen der Mannschaft auseinandersetze, ob sie nun echt sind oder eingebildet. Allerdings finde ich es interessant, daß weder Ihr noch ich diese Stimmen gehört haben.«

»Unser Bewußtsein ist viel… disziplinierter als früher«, erwiderte Frost. »Vielleicht sind wir nicht so leicht an der Nase herumzuführen.«

»Vielleicht. Trotzdem, ich werde Creutz sagen, daß er noch ein paar Minuten mit den Sensoren weitermachen soll. Und dann…«

»Unbekanntes Schiff voraus, Kapitän!« rief Creutz plötzlich.

»Es befindet sich an der Grenze unserer Ortungsreichweite, aber es kommt direkt auf uns zu, Sir. Und es ist unglaublich schnell!«

»Alarmstufe Gelb!« befahl Schwejksam. »Aufgepaßt, Leute.

Creutz, legt das Bild auf den Hauptschirm.«

»Es befindet sich noch in der Dunkelwüste, Sir«, erwiderte Creutz. »Wir können es noch eine ganze Weile nicht sehen.«

»Kann es ein Schiff der Fremden sein?« fragte Frost.

»Unbekannt, Investigator«, antwortete Creutz. »Aber nach seiner Geschwindigkeit zu urteilen, wird es ziemlich bald hier sein.«

Schwejksam musterte die Finsternis auf dem Bildschirm und achtete darauf, daß er nach außen weiterhin ruhig und gelassen wirkte. Ringsum herrschte aufgeregtes Gemurmel, als die Mannschaft Waffen und Schilde einsatzbereit machte. Überall an Bord gingen Männer und Frauen auf ihre Gefechtsstationen und meldeten Bereitschaft. Schwejksam lächelte schwach. Die finstere Stimmung in der Zentrale war schlagartig verschwunden. Das unbekannte Schiff mochte eine Bedrohung darstellen, aber es war immerhin eine Bedrohung, die jeder verstand.

»Das Schiff verlangsamt seine Fahrt, Sir«, meldete Creutz.

»Ich denke, es weiß, wo wir uns befinden. Inzwischen hat es fast den Rand der Dunkelwüste erreicht. Wir sollten jeden Augenblick ein visuelles Signal erhalten…«

Creutz brach ab, als das Schiff auf dem Schirm auftauchte und direkt hinter dem Rand stoppte. Es war eine einfache Kugel, gespickt mit glitzernden, bedrohlich wirkenden Aufbauten.

Es war auch ein sehr vertrauter Anblick. Ganz definitiv ein Schiff des Imperiums.

»Einzelheiten kommen herein, Sir«, meldete Creutz. »Es handelt sich um einen Imperialen Sternenkreuzer der G Klasse.« Überrascht warf der Kommunikationsoffizier Schwejksam einen Blick zu, bevor er seine Instrumente ein weiteres Mal überprüfte. »Kein Zweifel möglich, Sir. Aber… die Flotte besitzt schon seit Anfang des Jahrhunderts keinen Kreuzer der CKlasse mehr. Seine Schilde sind unten, doch er macht keinerlei Anstalten, Kontakt mit uns aufzunehmen. Ich sende auf den Standardfrequenzen, aber niemand antwortet… Das Schiff sieht aus, als wäre es in gutem Zustand. Keine Anzeichen äußerer Beschädigung.«

»Könnte es ein Piratenschiff sein?« fragte Stelmach.

»Kaum«, antwortete Frost für Schwejksam. »Sie würden sich bestimmt nicht mit einem Schiff abgeben, das so langsam ist wie ein Kreuzer der C-Klasse. Piraten verlassen sich im allgemeinen darauf, daß sie schneller sind als ihre Verfolger. Wenn das da ein Imperiales Schiff ist – was, zur Hölle, macht ein alter Kahn wie dieser hier draußen am Abgrund

»Vielleicht ist es ein Geisterschiff?« warf Schwejksam ein und bereute im gleichen Augenblick seine Worte. Er mußte sich nicht umsehen, um zu spüren, wie die Spannung in der Zentrale anstieg. »Creutz, das Schiff sollte eine Kennung auf der Hülle tragen. Sucht danach, und seht in den Datenbänken nach, ob Ihr einen dazugehörigen Namen finden könnt.«

»Das habe ich bereits getan, Sir«, antwortete Creutz. Seine Stimme klang hoch und schrill. »Es ist die Verfechter, Sir! Das Schiff, auf dem mein Großvater gedient hat. Den Berichten zufolge ist sie vor einhundertsieben Jahren zusammen mit der Besatzung spurlos verschwunden.«

»Das ist unmöglich!« flüsterte Schwejksam wie betäubt. »Ich erinnere mich an diese Geschichte. Was auch immer mit der Verfechter geschehen ist, es ist eines der großen, ungelösten Rätsel der Flotte. Aber seine letzte berichtete Position liegt auf der entgegengesetzten Seite des Imperiums! Wie, zur Hölle, kommt die Verfechter in die Dunkelwüste

»Eine gute Frage, Kapitän«, sagte Frost. »Ich weiß noch eine: Wer steuert das Schiff jetzt? Es ist aus eigener Kraft durch die Dunkelwüste gekommen, und irgend jemand muß es zum Halten gebracht haben, hier, direkt vor unserer Nase. Und weiter: Da sie oder es oder was auch immer wissen muß, daß wir wissen, daß jemand an Bord ist – wieso antwortet niemand auf unsere Signale?«

»Es ist bestimmt eine Falle«, sagte Stelmach. »Könnte es ein getarntes Schiff der Fremden sein?«

»Wenn Ihr ein Holo meint – nein, das ist es nicht«, sagte Creutz. »Die äußere Hülle ist fest.«

»Fremde oder nicht«, meinte Schwejksam, »ich würde sagen, die Chancen stehen äußerst gut, daß wir hier den Grund für die beunruhigenden Phänomene der letzten Zeit vor uns sehen. Das Aussehen des Schiffs könnte ebenfalls dazugehören. Psychologische Kriegführung. Creutz, gebt Alarmstufe Rot. Alle Schilde hoch! Wenn es sich um ein getarntes Schiff der Fremden handelt, werden wir ihm nicht die Chance geben, uns mit heruntergelassener Hose zu erwischen wie sein Schwesterschiff über Golgatha. Alle Waffen aufs Ziel richten, aber niemand feuert ohne meinen ausdrücklichen Befehl.«

Hektische Aktivität erfüllte die Brücke, als die Mannschaft sich beeilte, Schwejksams Befehlen nachzukommen. Keiner hatte vergessen, wie das andere Schiff im Orbit über Golgatha versucht hatte, sie abzuschießen. Jetzt war die Zeit gekommen, es den anderen heimzuzahlen. Frost beugte sich zu Schwejksam herab.

»Ich muß sagen, Kapitän, daß die Möglichkeit, es könnte sich um ein feindliches Schiff handeln, äußerst gering ist. Unsere Ortungsergebnisse weisen eindeutig darauf hin, daß wir die lang vermißte Verfechter vor uns haben.«

»Ich will keine Panik auf meiner Brücke«, entgegnete Schwejksam leise. »Ich persönlich bin der Meinung, daß beide Möglichkeiten ziemlich unwahrscheinlich sind. Ich denke eher, es handelt sich um eine Falle. Vielleicht sogar ein erster Schuß der neuen Rebellion. Aber ganz egal, was es ist – ich will, daß meine Leute bereit sind, das Ding aus dem All zu blasen, wenn es auch nur eine einzige falsche Bewegung macht. Mister Creutz, was sagen Eure Instrumente jetzt?«

»Das ist alles sehr verwirrend, Kapitän«, antwortete Creutz und betrachtete mit verkniffenem Gesicht die Schirme in seiner Konsole. »Die meisten Systeme der Verfechter scheinen heruntergefahren zu sein. Keine Schutzschilde, keine aktivierten Waffen… und keine Lebenserhaltungssysteme. Keine Atmosphäre an Bord und kalt wie weiß Gott was. Es hängt einfach da wie tot. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es hierhin gekommen ist. Alle meine Anzeigen sagen übereinstimmend, daß der Antrieb der Verfechter kalt ist. Keine Spur von Benutzung… seit verdammt langer Zeit nicht mehr.«

»Irgendwelche Hinweise auf Lebensformen?«

»Nichts, Kapitän. Weder menschliche noch andere. Natürlich besteht die Möglichkeit, daß es ein altes Pestschiff ist.«

Schwejksam funkelte ihn böse an. »Geisterschiff, Pestschiff… Ihr seid wirklich ein aufmunternder Bursche, Mister Creutz, wißt Ihr das? Wir werden einen Blick aus der Nähe riskieren.

Alarmstufe Rot bleibt bestehen, und die Langstreckensensoren sollen weitersuchen. Wenn dort draußen ein Schiff war, dann kann es auch ein zweites geben, und ich will nicht, daß es uns überrascht, während wir abgelenkt sind. Investigator, stellt eine Entermannschaft zusammen. Ihr und ich werden die Pinasse nehmen und übersetzen. Wir werden nachsehen, was es mit der Verfechter auf sich hat.«

»Ich schätze, ich verschwende nur meinen Atem, wenn ich darauf hinweise, daß Ihr als Kapitän Euer Leben nicht durch das Betreten eines fremden Schiffes riskieren solltet?« sagte Frost.

»Da schätzt Ihr richtig, Investigator«, erwiderte Schwejksam.

»Was auch immer an Bord des anderen Schiffs wartet – ich benötige Informationen aus erster Hand, bevor ich eine Entscheidung treffen kann. Stelmach, mögt Ihr uns vielleicht begleiten?«

»Nein, wirklich nicht«, entgegnete Stelmach. »So hoch ist mein Sold nicht, als daß ich mich für derartige Missionen freiwillig melden würde. Genaugenommen ist kein Sold hoch genug. Ich wünsche Euch eine gute Reise, Kapitän. Ich warte hier auf Eure Rückkehr.«

»Kapitän«, sagte Creutz, »bitte um Erlaubnis, mich der Entermannschaft anschließen zu dürfen. Wenn das wirklich die Verfechter ist, das Schiff meines Großvaters…«

»Wir benötigen keinen Kommunikationsoffizier«, unterbrach Frost.

»Aber vielleicht benötigen wir jemanden, der eine falsche Verfechter von einer echten unterscheiden kann«, widersprach Schwejksam. »Also schön, Creutz, macht Euch bereit. Ihr seid dabei. Auf geht’s, Leute.«

Sie setzten in der Pinasse zu dem Schiff über, das vielleicht die vermißte Verfechter war. Schwejksam, Frost, Creutz und sechs Sicherheitsleute, alle in Hartanzügen. Die Sensoren der Unerschrocken hatten ganz eindeutig gezeigt, daß an Bord der Verfechter kein Lebenserhaltungssystem arbeitete. Schwejksam schaltete sich über sein Komm-Implantat in die Sensoren der Pinasse und betrachtete die Verfechter nachdenklich, während sie sich langsam näherten. Es war, als würde die Außenhülle der Pinasse durchsichtig werden, wohin Schwejksam auch sah, und ihm freien Ausblick auf das mysteriöse Schiff gewähren.

Im Vergleich zu den modernen, schlanken Sternenkreuzern wirkte es schwerfällig und plump. Die alte C-Klasse war ein Kompromiß zwischen Geschwindigkeit und Bewaffnung gewesen und hatte sich am Ende als untauglich in beiderlei Hinsicht erwiesen. Deswegen hatte man sie relativ bald gegen die D-Klasse ausgewechselt. Trotzdem war die Verfechter so etwas wie eine Legende in der Flotte. Sie hatte zu den Imperialen Erkundungsschiffen gehört, die sich am weitesten vorgetastet und neue Welten nach fremden Zivilisationen abgesucht hatten.

Vierzehn kolonisierbare Welten hatte sie in ihrer kurzen Dienstzeit entdeckt, bevor sie einmal zu oft zum Abgrund gereist war und niemals wiederkehrte.

Bis heute. Schwejksam konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob es wirklich nur Zufall war, daß die Verfechter ausgerechnet zu einem für das Imperium so kritischen Zeitpunkt wieder auftauchte. Wie eine Botschaft aus der Vergangenheit, als vieles noch anders ausgesehen hatte. Schwejksam schob den Gedanken beiseite. Er hatte geschworen, dem Eisernen Thron zu dienen, gleichgültig, wer gerade darauf saß, weil es das Imperium war, das beschützt und erhalten werden mußte.

Alle Alternativen waren schlimmer. Lieber eine korrupte Zivilisation als ein zerstörtes Imperium, das in Barbarei versank.

Schwejksam verdrängte auch diesen Gedanken und konzentrierte sich auf das gewaltige Raumschiff, das wie ein großer weißer Wal in einem schwarzen Meer vor ihm hing. Langsam wurde es größer und füllte den umgebenden Raum aus, bis Schwejksam den Abgrund und die dahinterliegende Dunkelwüste nicht mehr sehen konnte. Schließlich verharrte die Pinasse auf der Stelle, nur ein paar Meter von der Hülle der Verfechter entfernt.

»Versucht ein letztes Mal, über die Standardfrequenzen mit ihr in Kontakt zu treten«, sagte Schwejksam leise, ohne die Augen von der riesigen metallenen Wand vor sich zu nehmen.

»Noch immer keine Antwort, Kapitän«, erwiderte Creutz nach einer ganzen Weile. »Die Sensoren der Pinasse bestätigen eindeutig, daß nirgendwo an Bord Lebensformen anzutreffen sind.«

»Versucht die Luftschleuse der Verfechter mit einem allgemeinen Überlagerungssignal zu öffnen«, befahl Schwejksam.

Creutz beugte sich über seine Instrumente und schüttelte schließlich den Kopf. »Keine Reaktion, Sir. Alle Systeme scheinen abgeschaltet zu sein. Wir werden sie manuell öffnen müssen.«

»Das überrascht mich nicht.« Schwejksam unterbrach die Verbindung zu den Sensoren der Pinasse, und die Außenhülle des Beibootes wurde wieder undurchsichtig. Er blickte seinen Leuten einen nach dem andern in die Augen, damit sie sehen konnten, wie ruhig und selbstsicher ihr Kapitän war. »Also schön, Männer, aufgepaßt. Wir nehmen die Hartanzüge und verlassen die Pinasse durch die Schleuse. Investigator Frost wird vorausgehen. Wir befinden uns direkt neben der Hauptschleuse der Verfechter, also müssen wir nichts weiter tun als rausgehen und sie öffnen. Creutz wird die Luke manuell betätigen, und dann wird Frost als erste die Schleuse betreten. Sie wird allein gehen und die Situation analysieren. Sobald sie meldet, daß alles in Ordnung ist, werden wir ihr einer nach dem anderen folgen, so rasch wir können. Niemand weiß, in welchem Zustand der Mechanismus nach dieser langen Zeit ist, und ich will nicht, daß irgend jemand draußen zurückbleibt.«

»Was machen wir, wenn Investigator Frost etwas zustößt?« fragte Creutz.

»Dann zieht Ihr Euch zurück zur Unerschrocken und blast die Verfechter aus dem All«, erklärte Frost. »Weil Ihr so sicher wie die Hölle nicht damit fertig werdet, wenn ich es nicht schaffe.«

»Sobald wir im Innern sind«, fuhr Schwejksam fort, als hätte die Unterbrechung nicht stattgefunden, »machen wir uns auf den Weg zur Brücke und aktivieren alle Systeme, die noch funktionsfähig sind. Wir bleiben zusammen, aber ohne zu drängeln. Und haltet die Augen offen. Die Verfechter ist als gegnerisches Schiff zu betrachten, bis wir zu anderen Schlüssen gelangt sind. Ihr seid autorisiert, mit Waffengewalt gegen alles vorzugehen, was sich bewegt, mit Ausnahme natürlich Eurer Mannschaftskameraden. Also werdet nicht leichtsinnig.

Frost, Ihr geht voraus.«

Frost nickte und trat an die innere Schleusenluke der Pinasse.

Eine kurze Pause entstand. Jeder zog seinen Helm auf und stellte sicher, daß die Dichtungen saßen. Schließlich öffnete Frost die Luke und trat in die Schleuse, gefolgt von Schwejksam und Creutz. Die drei Hartanzüge füllten die kleine Kammer beinahe vollständig aus. Geduldig warteten sie, bis die Luft abgepumpt war, und dann betätigte Frost den Mechanismus für die Außenluke. Sie glitt langsam, beinahe gemächlich zur Seite und gab den Blick auf die Hülle der Verfechter frei, kaum einen Meter voraus. Schwejksam winkte Frost zu, und sie trat an die äußerste Kante der Schleuse vor. Dann streckte Frost die Hand nach dem kleinen Rad aus, das an der Außenluke der Verfechter angebracht war, und suchte nach festem Halt.

Schwejksam trat hinzu, um ihr Unterstützung zu gewähren, sobald sie zu drehen anfing. Die künstliche Schwerkraft an Bord der Pinasse reichte nicht über die Luftschleuse hinaus.

Frosts gepanzerter Handschuh schloß sich um das Rad und drehte es Zentimeter um Zentimeter. Langsam schoben sich die Lukentüren zur Seite, und plötzlich flammte helles Licht in der Schleuse auf. Schwejksam entspannte sich ein wenig. Zumindest einige der Systeme der Verfechter schienen noch zu funktionieren. Die Türen schoben sich weiter zur Seite, und schließlich war Frost imstande, sich durch den Spalt in die Schleusenkammer der Verfechter zu schieben. Die Türen schlossen sich wieder, und jetzt konnte Schwejksam nur noch warten. Aber er konnte Frosts Anwesenheit durch die gemeinsame mentale Verbindung spüren, und Frosts Gelassenheit half ihm, die Ruhe zu bewahren.

»Die Luftschleuse arbeitet tadellos«, erklang unvermittelt die Stimme des Investigators in Schwejksams Komm-Implantat.

»Ich habe Licht und Gravitation, aber keine Luft. Die Pumpen arbeiten, doch es scheint, sie haben keine Luft zum Fluten.

Jetzt öffnen sich die inneren Türen. Auch hier brennt das Licht.

Nun stehe ich im Gang hinter der Schleuse. Nirgendwo eine Bewegung. Immer noch keine Luft, und die Temperatur ist sehr niedrig. Ihr könnt jetzt kommen. Die Empfangsparty scheint auszufallen.«

»Bleibt, wo Ihr seid«, sagte Schwejksam. »Wir sind gleich bei Euch.«

Schwejksam öffnete erneut die Außentür der Schleuse, und gemeinsam mit Creutz betrat er die Verfechter. Die Sicherheitsleute folgten ihnen, so rasch sie konnten. Der Korridor hinter der Schleuse war hell erleuchtet, aber ungemütlich schmal, und die niedrige Decke schien auf die Helme ihrer Hartanzüge zu drücken. Die Wände waren bedeckt mit Kabeln, Schalttafeln und dichtgepackten Instrumenten. Die Ingenieure des Imperiums hatten jedes Extra und jede Verbesserung eingebaut, die es damals gegeben hatte, bis zur letzten Minute.

Nichts von alledem sah richtig veraltet aus. Die Unerschrocken mochte vielleicht effizienter durchdacht sein, aber die meisten Systeme waren noch immer die gleichen wie vor hundert Jahren. Wenn etwas erst einmal funktionierte, dann hielt das Imperium auch daran fest.

»Interessant«, bemerkte Frost. Schwejksam wandte sich automatisch zu ihr um, obwohl er nichts weiter von ihr sehen konnte als den glatten stählernen Helm. »Nach den Sensoren meines Anzugs zu urteilen, sind Licht und Gravitation lediglich lokale Phänomene. Der gesamte Rest des Schiffes ist noch immer außer Betrieb. Woraus ich schließe, daß irgend jemand von unserem Besuch an Bord weiß.«

»Könnten es die Schiffslektronen sein?« fragte Creutz.

»Nein«, antwortete Frost. »Ich denke nicht. Sie hätten alle Lebenserhaltungssysteme gleichzeitig hochgefahren.«

»Versucht einen Rundspruch über Euer Komm-Implantat«, sagte Schwejksam. »Vielleicht antwortet jemand.«

»Hier spricht Investigator Frost vom Imperialen Sternenkreuzer Unerschrocken. Ich repräsentiere das Imperium. Bitte melden Sie sich.«

Sie warteten lange Zeit, doch niemand antwortete. Der Komm-Kanal war tot. Nicht einmal Statik war zu hören.

Schwejksam spürte, wie es in seinem Rücken kribbelte, spürte den Druck unsichtbarer Augen, die ihn beobachteten. Das Wort Geisterschiff kam ihm wieder in den Sinn, zusammen mit den halb scherzhaft gemeinten Geschichten, die in seiner Kadettenzeit die Runde gemacht hatten. Raumfahrerlatein von toten Schiffen, die von toten Besatzungen bevölkert wurden und still durch die ewige Nacht fuhren auf Reisen, die niemals endeten.

Skelette in der Zentrale, tote Männer, die an ihren Stationen verfaulten, unterwegs zu einem Ziel, das kein Lebender jemals verstehen konnte. Schwejksam mußte lächeln. Ihm war gar nicht zu Bewußtsein gekommen, daß diese dummen Geschichten einen derartigen Eindruck auf ihn gemacht hatten.

»Laßt uns zur Zentrale gehen, Leute«, sagte er steif. »Vielleicht finden wir dort ein paar Antworten auf unsere Fragen.

Investigator, Ihr geht voraus.«

Frost schaltete sich auf eine Karte der Topographie des alten Schiffes, die der Zentralrechner der Unerschrocken aus seinen Datenbanken ausgegraben hatte, und setzte sich den Korridor hinab in Bewegung. Vor ihnen gingen Lichter an, und hinter ihnen gingen sie automatisch wieder aus, so daß sie sich ständig in einem erleuchteten Fleck bewegten, der von Dunkelheit umgeben war. Die Gravitation blieb konstant auf Standard und die Temperatur unverändert in der Nähe des absoluten Nullpunkts. Auch eine Atmosphäre schien es nirgendwo zu geben.

Schwejksam ließ die Sicherheitsleute jeden Raum und jede Kammer überprüfen, an denen sie vorbeikamen, doch obwohl es hin und wieder Hinweise auf menschliche Benutzung gab, blieb die Besatzung spurlos verschwunden.

Überall fanden sich ungemachte Betten und nicht zu Ende gegessene Mahlzeiten, Kartenspiele, die mitten im Spiel abgebrochen worden zu sein schienen, und Türen, die offenstanden – beinahe, als hätte die Besatzung vor hundert Jahren sich geschlossen erhoben und wäre aus ihrem Leben davonmarschiert, um niemals wieder zurückzukehren.

Schwejksam hatte immer wieder das Gefühl, Bewegungen am Rand seines Gesichtsfeldes zu erhaschen, doch jedesmal, wenn er genauer hinsah, war nichts da.

Die Schatten tanzten beunruhigend um die kleine Gruppe von Leuten, die tiefer und tiefer ins Innere der Verfechter vordrang.

Mit den schweren Hartanzügen wirkten die Soldaten eigenartig deplaziert in den engen Mannschaftsquartieren, und alle ohne Ausnahme hatten das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl die Sicherheitskameras des Schiffes ganz eindeutig nicht arbeiteten. Die Sicherheitsleute verbrachten beinahe ebensoviel Zeit damit, den Weg nach hinten zu sichern, wie sie nach vorn sahen. Frost war natürlich die einzige, die anscheinend unbekümmert durch die leeren Korridore schritt, ruhig und ungerührt wie immer. Schwejksam hielt sich dicht hinter ihr.

Schließlich erreichte die Gruppe den zentralen Aufzugsschacht, und Schwejksam dankte dem Herrn im Himmel, daß die Lifts noch funktionierten. Es gab auch Rampen, aber der Weg zur Brücke wäre recht lang geworden. Der Kapitän der Unerschrocken teilte seine Leute in zwei Gruppen auf, und sie fuhren in getrennten Aufzügen zur Brücke hinauf. Es dauerte ungemütlich lange, bis die beengten Metallkäfige endlich ankamen, nicht zuletzt, weil die Lifts aus unerfindlichen Gründen darauf bestanden, auf jedem Zwischendeck anzuhalten.

Schließlich hatten sie es doch geschafft, und die Lifttüren öffneten sich zur Brücke. Schwejksam führte seine Gruppe mit einem Gefühl, das dicht an Erleichterung herankam. Wenn es irgendwo an Bord dieses Schiffes Antworten gab, dann sollte er imstande sein, sie hier zu finden.

Der Kommandantensitz war leer. Kein Skelett und kein verrottender Leichnam saß darin, genausowenig wie an den Konsolen. Kein Zeichen der Besatzung. Es schien überhaupt niemals eine Besatzung gegeben zu haben. Alles war genau so, wie Schwejksam es erwartet hatte, und doch spürte er deswegen unerklärlicherweise so etwas wie Enttäuschung. Irgend etwas Kataklystisches mußte hier an Bord der Verfechter geschehen sein, um die Brücke so zu verlassen, wie es anscheinend geschehen war. Und doch gab es nirgendwo Hinweise auf einen Angriff oder Meuterei, keinerlei Zeichen von Beschädigungen und keine Spuren von Hast. Creutz beugte sich über die Komm-Station und versuchte, die Geräte warmlaufen zu lassen, doch bald wandte er sich wieder ab.

»Alles ist abgeschaltet, Kapitän«, sagte er. »Gebt mir eine Stunde oder zwei, und ich sollte einige Apparate zum Leben erwecken können. Die Hälfte der Systeme muß von Grund auf neu programmiert werden, ansonsten scheint alles zu funktionieren.«

»Der Autopilot ist eingeschaltet«, meldete sich Frost. »Irgend jemand muß de Koordinaten eingegeben haben, die das Schiff herbrachten.«

»Halt, einen Augenblick!« ertönte Creutz’ Stimme in ihren Helmen. »Ich habe die Sicherheitskameras zum Laufen gebracht. Es sollte eigentlich unmöglich sein, aber… Beobachtet die Monitore.«

Die kleine Gruppe scharte sich um Creutz und starrte auf eine Reihe von drei Monitoren, die zu seiner Station gehörten. Sie wurden nach kurzer Zeit hell, als hätte man sie gerade erst abgeschaltet. Creutz schaltete rasch von einer Kamera zur nächsten, quer durch das gesamte Schiff, und ein Bild nach dem anderen erschien auf den Schirmen, knapp lang genug, um ein Gefühl für die bedrückende Leere überall an Bord zu vermitteln. Über die Korridore zum Maschinenraum, von der Krankenstation zu den Mannschaftsquartieren, überall herrschte Stille. Nichts rührte sich. Schwejksam erschauerte ein über das andere Mal vom Anblick dieses leeren, verlassenen Schiffes.

Der Kapitän versuchte, sich Einzelheiten über die Geschichte der Verfechter ins Gedächtnis zurückzurufen, die über die reine Legende hinausgingen. Der Kapitän, Thomas Pearce, war ein in jeder Hinsicht harter Offizier gewesen. Immer genau nach Vorschrift und so hart gegen sich selbst wie gegen andere. Alle hatten darin übereingestimmt, daß er sein Schiff perfekt unter Kontrolle gehabt hatte… bis zu dem Tag, als es verschwunden war. Er wäre niemals einfach so von Bord gegangen, ganz gleich, was seine Mannschaft tat. Pearce hätte zuerst den Selbstzerstörungsmechanismus in Gang gesetzt. Schwejksam fragte sich, was Pearce wohl jetzt an seiner Stelle denken würde, wenn er so viele verlassene, unbesetzte Stationen sehen könnte. Nein, er wäre nicht einfach so von Bord gegangen.

Irgend jemand oder irgend etwas mußte ihn mit Gewalt von Bord geschleift haben.

»Hallo«, sagte Creutz plötzlich. »Was haben wir denn da?«

Er hantierte an den Kontrollen, murmelte leise vor sich hin und tippte unbeholfen mit dem dicken Handschuh auf der Tastatur herum. Hartanzüge waren nicht für feinmotorische Arbeiten geschaffen. »Ich schätze, wir haben etwas gefunden, Kapitän.

Die Kameras im Frachthangar sind außer Betrieb, doch ich erhalte einige Informationen über die internen Schiffssensoren.

Im Frachtraum ist etwas. Eine ganze Menge sogar, Sir.«

»Das ist wohl kaum ungewöhnlich für einen Frachtraum, meint Ihr nicht?« sagte Frost.

»Ich denke schon, Investigator. Jedenfalls, wenn das Schiffsmanifest davon überzeugt ist, daß die Verfechter auf dieser Mission keinerlei Fracht an Bord hatte. Und was noch interessanter ist – all diese Dinger besitzen annähernd menschliche Formen.«

»Lebenszeichen?« erkundigte sich Schwejksam.

»Bisher nicht, Sir. Aber was auch immer es sein mag, es sind Hunderte.«

»Dann würde ich sagen, wir gehen mal nachsehen«, sagte Schwejksam. »Wir haben sowieso nichts Besseres zu tun.«

Schwejksam ließ vier der Sicherheitsleute auf der Brücke zurück, um die Monitore im Auge zu behalten und die Instrumente weiter zu überprüfen, und führte den Rest seiner Mannschaft zurück zum Aufzug. Der Weg hinunter in den Frachthangar zog sich endlos dahin, aber wenigstens hielt der Aufzug diesmal nicht auf jedem Deck. Schwejksam beschloß, das als gutes Omen zu betrachten.

Endlich öffneten sich die Türen zum Frachthangar, und Frost ließ die anderen im Lift warten, während sie zuerst die Lage überprüfte. Schwejksam und die Sicherheitsleute mußten ungemütlich lange warten, bis Frost ihnen winkte herauszukommen. Der Hangar war leer, doch die Beleuchtung brannte bereits, als sie in den weiten Raum traten – beinahe, als hätte jemand sie erwartet.

Der Hangar war gewaltig. Komplizierte Markierungen zierten die stählernen Wände. Die drei Männer waren auf der untersten Ebene hervorgekommen, wie Mäuse, die aus ihren Löchern krochen. Frost winkte der Gruppe, dicht beisammen zu bleiben, während sie die Aufzugstüren offen verkeilte für den Fall, daß sie es plötzlich eilig haben sollten. Was Schwejksam anging, so hätte sie sich den Wink ersparen können. Ihm war in seinem ganzen Leben nie weniger danach gewesen, auf eigene Faust etwas zu unternehmen. Aber als Kapitän erwartete man von ihm, daß er mit gutem Beispiel voranging, also trat er selbstbewußt vor, sobald Frost ihnen das Zeichen gab.

Die schiere Größe des Hangars wirkte überwältigend.

Schwejksams Aufmerksamkeit wurde unverzüglich von der einzigen Fracht des Hangars angezogen: Hunderte langer, verspiegelter Zylinder, jeder von der ungefähren Größe und Form eines Sarges. Irgend jemand hatte sie in Reihen dicht an dicht abgelegt, und sie formten ein vollkommenes Quadrat.

Schwejksam überprüfte die Särge aus sicherer Entfernung mit den schwachen Sensoren seines Anzugs, doch die Zylinder gaben keine Informationen über ihren Inhalt preis. Der Kapitän konnte nicht einmal sagen, aus welchem Material sie bestanden oder was sich in ihnen befand.

»Das ist die Besatzung, nicht wahr?« fragte Creutz leise.

»Könnte sein«, antwortete Schwejksam. »Die Zahl stimmt jedenfalls ungefähr. Es gibt nur einen Weg, um es mit Sicherheit zu erfahren. Investigator…«

»Ich bin schon unterwegs, Kapitän«, sagte Frost und trat kampflustig vor.

Schwejksam bedeutete den beiden Sicherheitsleuten und Creutz, bei ihm zu bleiben. »Laßt Euch nur Zeit, Investigator.

Vergeßt nicht, daß die Zylinder mit Fallen versehen sein könnten.«

»Ich werd’s versuchen«, erwiderte Frost. »Und jetzt seid bitte still. Ich muß mich konzentrieren.«

Frost blieb dicht vor der ersten Reihe von Särgen stehen und schniefte angewidert, als ihre Sensoren selbst auf diese geringe Entfernung noch immer keine nützlichen Informationen liefern wollten. Jeder der Zylinder war etwa zwei Meter lang und besaß die richtigen Proportionen für einen Sarg. Reichlich Platz für einen Körper im Innern – oder für eine Reihe unangenehmer Überraschungen. Frost kniete neben dem nächstliegenden Zylinder nieder und erlebte die erste Überraschung, als sie feststellte, daß die verspiegelte Oberfläche keine Reflexion von ihr zeigte. Sie untersuchte die Kanten des Zylinders sorgfältig und erlebte die zweite Überraschung. Es gab keinerlei Zeichen von Nähten oder Öffnungen. Der gesamte Zylinder schien aus einem einzigen Stück zu bestehen. Vielleicht… im etwas herum geformt. Der Begriff Kokon drängte sich ihr unwillkürlich auf und echote mit einer Schwere durch ihre Gedanken, der sie sich nicht entziehen konnte. Frost richtete sich wieder auf und blickte auf die Reihen von Zylindern, die sich vor ihr erstreckten. Sie hatte ursprünglich vorgehabt, einen davon mit Gewalt zu öffnen, nötigenfalls sogar mit dem Disruptor, und darauf zu vertrauen, daß der Hartanzug sie schützen würde, aber allmählich beschlich sie das dumme Gefühl, daß genau das von ihr erwartet wurde. Mehr und mehr sah der gesamte Hangar wie eine einzige große Falle aus. Die Zylinder waren zu verlokkend, das Licht brannte zu hell…, als wäre der gesamte Hangar eine Bühne, die darauf wartete, daß das Schauspiel begann.

Frost streckte vorsichtig die gepanzerte Hand aus, um auf den Deckel des Zylinders zu klopfen und ihre Hand versank in dem glänzenden Material, als wäre es flüssiges Quecksilber. Und dann packte irgend etwas im Innern des Sarges ihre Hand und drückte fest zu. Frost stolperte überrascht und kämpfte um ihr Gleichgewicht, als ihr Arm tiefer in den Sarg hineingezogen wurde. Rasch stemmte sie sich gegen den Boden und zog zurück, aber wer oder was auch immer sie gepackt hatte, es ließ nicht los. Frost konnte den Druck um ihre Hand selbst durch den gepanzerten Anzug hindurch spüren. Sie biß die Zähne zusammen und knurrte vor Anstrengung, als sie sich mit aller Kraft dagegen stemmte. Die Servomotoren des Anzugs heulten auf, und dann kam ihr Arm langsam wieder zum Vorschein und schließlich die Hand – die von einer weißen menschlichen Totenhand umklammert wurde.

Der Zug an ihrem Arm ließ plötzlich nach, und ein weißes Gesicht erschien durch den verspiegelten Deckel hindurch wie ein Ertrunkener, dessen Leiche die Wasseroberfläche durchbricht. Dann war der gesamte Körper des Toten aus dem Sarg heraus und stand grinsend vor Frost, noch immer ihre Hand mit der seinen umklammernd. Zuerst dachte sie, es wäre eine Furie, eine dieser Mordmaschinen Shubs, die sich mit einer menschlichen Haut tarnten, doch dann erblickte sie die Narben schwerer chirurgischer Eingriffe, die deutlich auf dem rasierten Schädel zu erkennen waren, und mit einemmal wußte Investigator Frost, was der Besatzung der Verfechter zugestoßen war. Der Mann war ein Geistkrieger.

Rings um Frost herum erhoben sich jetzt tote Männer aus ihren Särgen wie bleiche häßliche Schmetterlinge, die aus ihren Kokons kletterten. Der Mann vor ihr trug eine veraltete Flottenuniform, abgewetzt und fleckig von altem Blut an den Stellen, an denen er seine tödlichen Wunden erhalten hatte. Seine Haut war leichenblaß, und obwohl er unglaublich breit grinste, zeigte sein Gesicht keinerlei Emotionen, und seine starren Augen blickten leblos. Frost hörte, wie Schwejksam ihr zurief, sie solle sich zurückziehen, doch der Blick des Geistkriegers hielt sie mit hypnotischer Kraft fest wie ein Haken, an dem sie zwar zappeln, von dem sie sich aber nicht losreißen konnte. Überall kamen inzwischen weitere Geistkrieger aus den Särgen, lautlos, bedächtig und mit Bewegungen voller unbeirrbarer Zielstrebigkeit.

Plötzlich riß ein Energiestrahl dem Mann, der sie festhielt, den Kopf ab, und der enthauptete Rumpf fiel auf die Knie. Als der Blick des Toten sie nicht länger fesselte, kam Frost wieder zu sich. Sie wich einen Schritt zurück und schüttelte die gefangene Hand, aber die bleichen Finger hielten sie noch immer fest, egal, wie sehr sie sich anstrengte. Sie zog mit der Linken das Schwert und schlug wild auf die bleiche Hand ein. Die Klinge schnitt glatt durch das Gelenk, und befreit stolperte Frost rückwärts. Die abgetrennte Hand umklammerte noch immer ihren Handschuh, und Frost mußte jeden Finger einzeln durchschneiden, während sie zu Schwejksam und den anderen zurückrannte.

Inzwischen feuerten alle aus den eingebauten Disruptoren ihrer Anzüge, und tote Körper wurden auseinandergerissen und durch die Gegend gewirbelt – aber noch immer bewegten sich Hunderte weiterer Geistkrieger zielstrebig voran. Frost bezog Position zwischen Schwejksam und Creutz. Sie war viel zu wütend, um Furcht oder Besorgnis zu empfinden. Sie hatte gegen jede bekannte außerirdische Rasse gekämpft und gedacht, daß es nichts mehr im gesamten Imperium gäbe, daß sie umwerfen könnte…, aber irgend etwas im Blick des toten Mannes hatte sie so sicher festgehalten wie eine Kette. Wenn Schwejksam ihm nicht den Kopf abgeschossen hätte, würde Frost noch immer regungslos dastehen und darauf warten, daß die Geistkrieger sie überwältigten und wegzogen, um sie anschließend zu einem der ihren zu machen. Frost zweifelte nicht daran, daß es Schwejksam gewesen war, der sie befreit hatte.

Sie hätte das gleiche für ihn getan. Investigator Frost atmete tief durch und versuchte sich ein wenig zu beruhigen.

»Also schön«, sagte sie, so ruhig sie konnte. »Jetzt wissen wir zumindest, was aus der Besatzung der Verfechter geworden ist. Irgendwie haben die verfluchten Bastarde von Shub sie in die Finger bekommen, ihnen die Gehirne ausgeschabt und den Schädel mit ihren schmutzigen Lektronen gefüllt. Wir sind auf ein ganzes Schiff voller Geistkrieger gestoßen.«

» Shub liegt auf der entgegengesetzten Seite des Imperiums«, gab Schwejksam zu bedenken. »Aber lassen wir das fürs erste.

Es wird noch zwei Minuten dauern, bis unsere Disruptoren wieder feuerbereit sind, und in mir regt sich der starke Verdacht, daß diese Kreaturen in der Zwischenzeit etwas verdammt Unangenehmes mit uns vorhaben. Also zieht Eure Schwerter, Leute, und laßt uns von hier verschwinden. Wir machen, daß wir wegkommen, als sei der Teufel persönlich hinter uns her.«

Hinter ihm ertönte ein dumpfer Schlag, als die Aufzugtüren sich schlossen.

»Das ist unmöglich!« sagte Frost. »Ich habe sie blockiert!«

»Irgend jemand beobachtet uns«, erklärte Creutz. »Und wer auch immer das ist, er will nicht, daß wir jetzt schon gehen.«

»Ich versuche, mit der Brücke Verbindung aufzunehmen«, sagte Schwejksam. »Vielleicht können sie von dort aus die Türen öffnen. Brücke, hier spricht Schwejksam. Könnt Ihr mich hören?«

Keine Antwort, nur rätselhafte Stille.

»Anscheinend hat man sie bereits geschnappt«, knurrte Creutz. »Wir sind auf uns selbst angewiesen.«

Die toten Männer standen da und beobachteten die kleine Gruppe. Reihe um Reihe, Hunderte, und kein einziger bewegte sich. Eine einzelne Gestalt in einer veralteten Kapitänsuniform trat vor. Schwejksam rief sich das Bild von Kapitän Thomas ins Gedächtnis, doch das Gesicht des Geistkriegers hatte nichts Menschliches mehr an sich. Ein Auge fehlte und war durch eine Kameralinse ersetzt worden. Narben brutaler Chirurgie verunstalteten seine Stirn. Der Geistkrieger kam heran und blieb in sicherer Distanz vor Schwejksam stehen. Der Tote grinste breit, als wüßte er, was ein Lächeln zu bedeuten hatte, aber nicht, wie man lächelte. Er war nicht für Dinge wie Konversation und Diplomatie geschaffen. Geistkrieger kämpften auf der Seite Shubs gegen die Menschheit, sowohl wegen des vernichtenden psychologischen Effekts auf den Gegner als auch wegen rein funktionaler Überlegenheit. Der Tote trug ein Schwert und einen Disruptor an der Hüfte, aber bisher hatte er keine Anstalten gemacht, die Waffen zu ziehen. Schwejksam schluckte beunruhigt. Das bedeutete, daß man sie lebendig wollte. Pearce’ Lippen bewegten sich, und Schwejksam hörte eine leiernde, entsetzlich unmenschliche Stimme in seinem Komm-Implantat. Es war eine Maschine, die da durch eine menschliche Kehle zu ihm sprach.

»Kapitän Schwejksam, Investigator Frost. Ihr müßt mit uns kommen.«

»Wieso wir?« erkundigte sich Schwejksam.

»Ja, wieso?« stimmte Creutz dem Kapitän zu. »Ich fühle mich übergangen.«

»Ihr beide seid anders«, sagte Pearce, während er Frost und Schwejksam unverwandt mit seinem toten Auge fixierte. »Verändert. Es ist erforderlich, daß wir mehr darüber herausfinden.«

»Tut uns leid«, entgegnete Frost. »Wir haben andere Pläne.

Meldet Euch bei unserer Sekretärin und bittet um einen Termin. Kapitän, Ihr öffnet die Aufzugtüren. Ich beschäftige sie solange.«

Frost trat vor, das Schwert in beiden Händen, und schwang es mit all ihrer Kraft. Hätte der Schlag sein Ziel erreicht, hätte sie Pearce sicher enthauptet. Aber der Geistkrieger hob den Arm in einem unglaublichen Reflex und blockte ihren Hieb ab. Die Klinge drang tief ein und verkantete an splitterndem Knochen, und in genau dem Sekundenbruchteil, als Frost ihr Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden hatte, schoß die andere Hand des toten Mannes vor und schlug Frost die Waffe aus der Hand.

Frost knurrte überrascht und stieß mit dem gepanzerten Handschuh ihres Anzugs nach Pearce’ Kehle. Die Servomotoren verstärkten ihren Angriff noch, und sie konnte das ekelhafte Krachen spüren, als ihre Faust Pearce das Genick brach. Sein Kopf hing in einem unmöglichen Winkel zur Seite, doch es schien ihm nicht das geringste auszumachen. Er warf Frosts Schwert achtlos zur Seite und streckte beide Arme vor, um sie bei den Schultern zu packen. Frost trat ihm die Beine unter dem Leib weg, und er stürzte schwer auf den stählernen Boden.

In diesem Augenblick setzten die anderen Geistkrieger sich ohne jede Hast in Bewegung. Frost wußte, daß es einfach zu viele waren, um sie aufhalten zu können.

Sie überprüfte das Chronometer in ihrem Helm und setzte erneut ihre Disruptoren ein. Energiestrahlen schossen aus ihren Handschuhen und wirbelten die Geistkrieger durcheinander wie welke Blätter in einem Herbststurm. Aber dann verstummten Frosts Waffen, und die Geistkrieger rückten noch immer vor. Auch Pearce war inzwischen wieder auf den Beinen und streckte die Arme nach Investigator Frost aus. Sie hob das Schwert vom Boden auf, fest entschlossen, lieber zu sterben, als sich in die verfluchten Labors von Shub verschleppen zu lassen.

Schwejksam und Creutz waren inzwischen bei der Aufzugtür angekommen und setzten die ganze Kraft der Servomotoren ein, um die Tür aufzustemmen. Die beiden Sicherheitsleute stürzten in die Kabine, rissen den Kontrollmechanismus aus seiner Verankerung und machten sich an der Steuerung zu schaffen. Schwejksam hätte sich gerne umgedreht und nach Frost gesehen, aber er benötigte all seine Kraft, um die Tür geöffnet zu halten. Die Türflügel drückten mit einer fast böswilligen Energie gegen seine Handflächen, und Schwejksam konnte deutlich das leise Wimmern der überanstrengten Servomotoren hören. Sein Anzug war wie die der anderen nur ein relativ leichtes Erkundungsmodell, dazu geschaffen, seinen Träger vor Umwelteinflüssen zu schützen, und nicht das schwere, besser ausgerüstete Kampfmodell. Er würde nicht mehr lange durchhalten.

Plötzlich schrie einer der Sicherheitsleute befriedigt auf, und unvermittelt verschwand der Druck der Tür. Schwejksam und Creutz ließen los und beeilten sich, in die Kabine zu treten. Sie drehten sich um und eröffneten wie ein Mann das Feuer aus den Disruptoren. Energiestrahlen zerfetzten die Geistkrieger, die Frost zu nahe gekommen waren.

»Schwingt Euren Hintern herum und kommt!« rief Schwejksam. »Wir verschwinden von hier.«

Frost wandte sich um und rannte, ohne zu zögern, los. Es war nicht unehrenhaft oder feige, vor einer solchen Übermacht von Geistkriegern davonzulaufen. Sie würden so lange weiter anstürmen, wie ihre Lektronenimplantate intakt blieben, ohne Rücksicht auf den Zustand des Körpers, den sie steuerten. Die einzige Antwort auf eine derartige Menge von Geistkriegern war massives Feuer aus Disruptorkanonen. Frost warf sich in die Kabine des Aufzugs, und die Türen glitten hinter ihr zu.

Fäuste schlugen von außen dagegen, und das Metall verbeulte sich, doch Schwejksam hatte bereits den Knopf gedrückt. Er hämmerte sicherheitshalber noch ein paarmal auf den Knopf, und alle atmeten tief durch, als der Aufzug sich endlich nach oben in Bewegung setzte.

» Unerschrocken, hier spricht Schwejksam. Könnt Ihr mich hören?«

»Laut und deutlich, Kapitän.«

»Überprüft die Brücke der Verfechter. Befinden sich Menschen dort?«

»Negativ, Kapitän.«

»Verdammt. Also schön, wir ziehen uns auf die Pinasse zurück. Die Verfechter wimmelt nur so von Geistkriegern Shubs.

Ihr werdet weder der Pinasse noch irgendeinem Beiboot der Verfechter erlauben, an der Unerschrocken anzudocken, bevor Eure Sensoren nicht eindeutig festgestellt haben, daß nur lebende Menschen an Bord sind. Sobald wir angedockt haben, werdet Ihr das Feuer auf die Verfechter eröffnen, bis nichts mehr außer ein paar glühenden Atomen von ihr übrig ist. Falls wir es nicht schaffen sollten, rechtzeitig zurückzukehren, und falls die Unerschrocken in Gefahr gerät, dann vergeßt uns und eröffnet einfach so das Feuer. Wir sind entbehrlich. Habt Ihr das verstanden, Unerschrocken

»Verstanden, Kapitän«, antwortete die Stimme des ersten Offiziers. »Wir geben Euch so viel Zeit wie nur irgend möglich, aber Ihr müßt angedockt sein, bevor wir das Feuer eröffnen, sonst werdet Ihr geröstet.«

»Das weiß ich selbst. Die Sicherheit der Unerschrocken steht an erster Stelle. Bestätigt den Befehl.«

»Bestätigt, Kapitän. Viel Glück, Sir.«

Der Aufzug wurde plötzlich langsamer, und beinahe hätten seine Insassen das Gleichgewicht verloren. Der Mann an den Kontrollen fluchte leidenschaftlich. »Irgend etwas versucht, mir die Kontrolle wieder zu entreißen. Ich weiß nicht, wie lange der Lift noch meinen Kommandos gehorchen wird, Kapitän.«

»Haltet auf dem nächsten Deck«, befahl Schwejksam. »Wir steigen aus. Wir dürfen nicht riskieren, wieder nach unten befördert zu werden.«

Der Mann nickte zustimmend, und die Kabine hielt ruckend an. Die Türen glitten zur Seite, und Schwejksam und seine Leute betraten mit gezückten Schwertern einen leeren Korridor. Schwejksam projizierte die Karte der Verfechter einmal mehr auf die Innenseite seines Helms und überprüfte ihre Position. Sie befanden sich sieben Decks unterhalb der Schleuse.

Es war ein ziemlich weites Stück Weg bis zurück zur Pinasse.

Sie würden die Laufstege benutzen müssen und hoffen, daß die Geistkrieger keinen Weg finden würden, um sie aufzuhalten.

Er schaltete die Projektion der Karte wieder ab und blickte seine beiden Sicherheitsleute an. Ihre glatten Helme verrieten keinerlei Gefühle, während sie dastanden und auf seine Befehle warteten.

»Es ist sinnlos, noch einmal zurück zur Brücke zu gehen«, sagte er tonlos. »Eure Kameraden sind tot. Ich kannte nicht einmal ihre Namen. Nennt mir Eure.«

Einer der Männer deutete auf sich und dann auf seinen Gefährten. »Korporal Abrams und Korporal Fein, Sir. Stört Euch nicht an Fein. Er redet nicht viel.«

»Erfreut, Euch kennenzulernen, Korporale. Falls wir lebend zur Unerschrocken zurückkehren, seid Ihr beide Sergeanten.

Und jetzt los. Frost, Ihr übernehmt die Führung. Creutz, Ihr sichert nach hinten.«

Sie rannten los. Zurück durch die verlassenen Korridore eines toten Schiffs, das Hämmern ihrer schweren Panzerstiefel auf dem metallenen Decksboden ein konstantes Donnergrollen wie die Prophezeiung eines herannahenden Sturms. Schwejksam warf erneut einen Blick auf die Kartenprojektion auf der Innenseite seines Helms und zählte die Decks ab, während sie sich der Schleuse näherten, wo die Pinasse wartete. Sein Herz hämmerte, und die Lungen schmerzten. Selbst mit den Servomotoren war der Anzug noch plump und schwer, ganz und gar nicht zum Laufen geeignet. Schwejksam knurrte wütend in seinem Helm und gab sich vergeblich Mühe, den Schritt weiter zu beschleunigen. Es dauerte einfach zu lang. Die Geistkrieger konnten direkt hinter ihnen sein. Er überprüfte die Sensoren seines Anzugs, doch inner – halb seiner beschränkten Reichweite gab es keine Spur von Bewegung. Was mit großer Wahrscheinlichkeit bedeutete, daß die toten Krieger eine Abkürzung kannten. Schwejksam warf einen weiteren Blick auf die Karte, doch er konnte keine schnellere Route entdecken als die, welche Frost bereits ausgewählt hatte. Sie würden als erste bei der Pinasse ankommen. Sie mußten einfach.

Schließlich lag nur noch ein Korridor zwischen den Menschen und der Sicherheit. Die ganze Gruppe schien von neuer Energie erfüllt, die sie um die letzte Ecke trieb – wo sie bestürzt anhielten. Schwejksam stand wie betäubt da, ein Dutzend Meter von der Luftschleuse entfernt, im Kopf das Dröhnen seines eigenen rauhen Atems, im Herzen schiere Verzweiflung.

Zwischen seiner kleinen Streitmacht und der Schleuse warteten sie. Mindestens hundert Geistkrieger, vollkommen ungeschützt gegen die Kälte und das Vakuum, und der tote Kapitän Pearce an der Spitze.

Nein! dachte Schwejksam dumpf, das ist vollkommen unmöglich. Es gibt keinen Weg, wie sie schneller herkommen konnten.

Aber dort standen die toten Männer, und vielleicht kannten sie Wege, die lebende Wesen nicht benutzen konnten.

Schwejksams Gedanken rasten, als er wie verrückt über einen Ausweg nachdachte, über irgend etwas, wie er den Klauen der sicheren Niederlage vielleicht doch noch einen Sieg entreißen konnte. Pearce grinste Frost und Schwejksam mit haltlos auf der Schulter liegendem Kopf an.

»Es ist vorbei«, sagte er. »Ihr müßt mit uns kommen. Die Laboratorien warten.«

»Zur Hölle mit Euch«, entgegnete Frost gelassen. Sie zog eine Splittergranate aus dem Gürtel, riß den Sicherungsbolzen heraus und warf sie mitten unter die dicht gedrängten Geistkrieger. Die Toten hatten kaum Zeit zu reagieren, bevor die Granate explodierte und alles zerfetzte, was sich in unmittelbarer Umgebung befand. Leichenteile wurden von der Wucht der Explosion durch die Gegend geschleudert, während Frost und der Rest der Gruppe kaum etwas spürten. Die schweren Anzüge schützten sie vollkommen.

Schwejksam lachte laut auf. Sie waren wieder im Spiel. Er stapfte los in Richtung Luftschleuse und trat zerfetzte Körper zur Seite. Schwejksam bediente die Kontrollen, und langsam glitt die innere Tür der Luftschleuse auf.

»Bewegung, Leute, wir verschwinden von hier!«

Abrams und Fein warfen sich in die Kammer. Creutz wollte ihnen hinterher, als sich einer der Geistkrieger vor ihm erhob und den Weg versperrte. Creutz hob das Schwert und zögerte, als er ein bekanntes Gesicht sah. Es dauerte einen Augenblick, bis er es zuordnen konnte.

»Großvater…?«

Der Geistkrieger hob einen altmodischen Disruptor, preßte ihn gegen Creutz’ gepanzerten Leib und drückte ab. Der Strahl fuhr durch den Hartanzug und trat auf der Rückseite wieder aus. Creutz schrie vor Schmerz und Entsetzen laut auf und krümmte sich. Schwejksam hob das Schwert und schlug mit der ganzen verstärkten Kraft der Servomechanismen zu. Die Klinge trennte den Kopf des Geistkriegers sauber vom Rumpf.

Der Körper fiel kraftlos zu Boden. Schwejksam steckte das Schwert wieder ein und packte Creutz bei den Schultern. Er zog den stöhnenden Creutz in die Schleuse und wandte sich nach Frost um, die mit dem Rücken zur Schleuse dastand, das Schwert in der Hand.

»Los, Investigator. Macht, daß Ihr hereinkommt. Wir verschwinden.«

»Ich komme nicht mit Euch, Kapitän«, widersprach Frost, ohne sich umzudrehen. Ihre Stimme erklang so klar in Schwejksams Komm-Implantat, als stünde sie direkt neben ihm. »Ich muß hierbleiben und verhindern, daß einer dieser Bastarde die Kontrollen von innen her blockieren kann. Ich muß sie aufhalten, damit Ihr zur Pinasse kommt. Ich wußte es bereits die ganze Zeit. Ihr denkt eben nie weit genug voraus, Kapitän.«

»Wir werden es riskieren«, sagte Schwejksam. »Jetzt macht, daß Ihr in die Schleuse kommt. Das ist ein Befehl. Wir gehen nicht ohne Euch.«

»Ihr müßt«, erwiderte Frost leidenschaftslos. »Es ist von allergrößter Bedeutung, daß Ihr entkommt und berichten könnt, was hier geschehen ist. Das Imperium muß erfahren, daß Shub gestohlene Schiffe mit toten Besatzungen einsetzt. Sobald Ihr an Bord der Unerschrocken in Sicherheit seid, müßt Ihr dieses Schiff hier aus dem All blasen.«

»Ich kann das Feuer nicht eröffnen, solange Ihr an Bord seid!«

»Natürlich könnt Ihr! Es ist die einzige logische Möglichkeit!«

»Ihr habt mich auf der Brücke der Sturmwind auch nicht sterben lassen.«

»Das war etwas anderes. Es steht zuviel auf dem Spiel, Kapitän. Und sie werden keinen Geistkrieger aus mir machen können. Bitte, John. Es ist die einzige Möglichkeit.«

Mit dem Ellbogen preßte sie den Knopf für die Luftschleuse, und die Türen schlossen sich. Schwejksam erhaschte einen letzten Blick auf Investigator Frost, die sich den herannahenden Geistkriegern entgegenwarf, und dann waren die Türen zu, und sie war weg. Er wandte sich um und betätigte den Mechanismus für die Außentüren, ohne ein Wort zu sagen. Er wußte nicht, ob er seine Stimme unter Kontrolle hatte. Seine Arme und Beine zitterten im Anzug, und es war nicht allein die Anspannung der letzten Minuten. Creutz stöhnte noch immer. Die beiden Soldaten hatten behelfsmäßige Siegel auf die Einschußlöcher in seinem Anzug geklebt, so daß er durch das Vakuum zur Pinasse übersetzen konnte. Einer der beiden gab Schwejksam ein Zeichen, und der Kapitän öffnete die Außentüren. Es dauerte nur wenige Augenblicke, um den leeren Raum zwischen der Verfechter und der Schleuse der Pinasse zu durchqueren und in das wartende Beiboot zu gelangen. Creutz verstummte schließlich, als die Medikamente zu wirken begannen, die der Anzug in seinen Kreislauf pumpte. Abrams und Fein sicherten ihn in einem Sitz und schnallten sich anschließend selbst fest. Schwejksam übernahm den Pilotensitz und öffnete die Notfrequenz der Pinasse.

» Unerschrocken, hier spricht Kapitän Schwejksam. Ich bin auf dem Rückweg. Bei mir sind noch drei Männer, einer davon schwer verletzt. Außer uns hat niemand überlebt. Die Verfechter ist verseucht mit Geistkriegern. Sobald wir abgelegt haben, werdet Ihr das Feuer auf das Schiff eröffnen. Zerstört die Verfechter. Bestätigung.«

»Hier Unerschrocken«, antwortete die Stimme des Ersten Offiziers. »Ich bestätige. Wir zerstören die Verfechter, sobald Ihr angedockt habt.«

Es dauerte nur einige Minuten, die Pinasse längsseits der Unerschrocken zu steuern und anzulegen, doch Schwejksam kam es vor wie eine Ewigkeit. Die ganze Zeit über sah er vor seinem geistigen Auge eine einzelne, heroische Gestalt, die gegen eine Armee von Toten kämpfte und auf einen raschen Tod durch die Geschütze der Unerschrocken hoffte. Er schaltete sich in die Hauptsensoren des Schiffes und beobachtete, wie Geschütz um Geschütz das Feuer auf die Verfechter eröffnete.

Ihre Schilde wurden zwar augenblicklich hochgefahren, doch sie waren alt und nicht besonders stark. Die überlegene Feuerkraft der Unerschrocken fetzte sie rasch zur Seite. Immer und immer wieder trafen Disruptorstrahlen das Totenschiff und rissen tiefe Löcher in die Hülle. Energieblitze entwichen lautlos durch die Lecks in die Dunkelheit, und schließlich verging die Verfechter in einem blutig roten Ball aus Höllenfeuer. Das Wrack leuchtete noch eine Weile hell vor der Schwärze der ewigen Nacht. Lebewohl, Frost, dachte Schwejksam. Ich werde dich vermissen.

Er unterbrach die Verbindung zu den Sensoren und ließ sich in seinem Sitz zurücksinken. Mit einemmal fühlte er sich unendlich müde. Die beiden Sicherheitsleute brachten den inzwischen bewußtlosen Creutz zur Schleuse. Schwejksam konnte nicht glauben, daß Frost inzwischen bereits tot war. Die mentale Verbindung ließ ihn noch immer ihre Gegenwart spüren wie einen Geist in seinem Kopf, aber das würde wahrscheinlich mit der Zeit vergehen wie der Phantomschmerz in einem amputierten Bein.

»Kapitän, hier spricht Stelmach«, meldete sich eine vertraute Stimme in seinem Ohr. »Wir fangen eigenartige Signale hier in der Zentrale auf. Und von überall gehen Meldungen über Kampfhandlungen an Bord des Schiffes ein. Eindringlinge, die aus dem Nichts erschienen sind und unsere Leute töten. Überall Signale von abgefeuerten Energiewaffen, Sir. Gott im Himmel, Kapitän, das sind Geistkrieger!«

»Nein«, widersprach Schwejksam. »Das ist unmöglich.«

»Aber es stimmt, Sir! Ich kann sie in den Überwachungskameras sehen! Wie, zur Hölle, konnten sie von der explodierenden Verfechter entkommen? Wir haben keine ablegenden Beiboote beobachtet!«

»Teleportation«, sagte Schwejksam. »Die Bastarde sind von Bord teleportiert. Das ist es, was ich vergaß! Erinnert Ihr Euch an das, was wir am Hof gesehen haben? Shub besitzt das Geheimnis der Langstreckenteleportation. Errichtet interne Schutzschilde im gesamten Schiff, und isoliert die infiltrierten Bereiche, und stellt Reparaturmannschaften bereit für den Fall, daß Disruptorfeuer die Schiffshülle durchbricht… Und wärmt den Selbstzerstörungsmechanismus schon einmal vor, nur für den Fall.«

Also ist Frost für nichts und wieder nichts gestorben, dachte Schwejksam.

»Und Stelmach, wo ist der nächstgelegene Kampfschauplatz?«

»Es gibt zwei oder drei in Eurer unmittelbaren Nähe, Sir. Die größte Gruppe befindet sich in Sektor Delta, eine Ebene tiefer.

Meine Sicherheitsleute sind noch nicht dort. Ihr bleibt besser in Deckung, bis ich die Meldung erhalte, daß der Sektor gesäubert ist.«

»Zur Hölle damit!« fluchte Schwejksam. »Das ist mein Schiff, und ich gehe dorthin, wo ich gebraucht werde. Außerdem habe ich noch eine Rechnung mit diesen verfluchten Bastarden offen. Schwejksam Ende.«

Schwejksam rannte den Korridor hinab, so schnell der Anzug es erlaubte. Die ganze Zeit über dachte er an nichts anderes, als die Geistkrieger für Frosts Tod bezahlen zu lassen. Er würde einen Berg von Köpfen abschlagen, ihr zu Ehren. Es würde ihr gefallen. Aber es wäre nicht genug. Nichts wäre jemals genug.

Schwejksam nahm den Aufzug nach unten, während er die Hände immer wieder ungeduldig zu Fäusten ballte. Die Türen öffneten sich, und das Geräusch von Energiestrahlen und Schreien und Rufen drang an seine Ohren. Er rannte los. Der Kampf fand nicht allzuweit von der Außenhülle entfernt statt, und ein einziger schlecht gezielter Schuß würde vollkommen ausreichen, die Hülle zu perforieren. Die anschließende explosive Dekompression würde den Geistkriegern wahrscheinlich nicht viel ausmachen, aber Schwejksams Leuten würde sie ziemlich übel mitspielen. Plötzlich war er verdammt froh, daß er noch immer seinen Anzug anhatte.

Schwejksam umrundete eine Ecke und erblickte eine schwankende Gruppe menschlicher Verteidiger, die sich verzweifelt gegen eine große Übermacht von Geistkriegern zur Wehr setzte. Überall lagen reglose Körper und Verwundete.

Mitten unter den untoten Kriegern stand eine trotzige Gestalt in einem mitgenommenen Hartanzug und hielt mit einer langen, silbern schimmernden Klinge furchtbare Ernte unter ihnen.

Schwejksam grinste so breit, daß es beinahe weh tat. Er mußte die Abzeichen auf dem Anzug nicht erst sehen, um zu wissen, wer hinter dem glatten Helm steckte. Kein Wunder, daß er noch immer ihre Gegenwart über die mentale Verbindung hatte spüren können. Als die Geistkrieger von der Verfechter teleportiert waren, hatten sie Frost einfach mitgenommen! Wahrscheinlich, weil sie eine so wertvolle Beute nicht aufgeben wollten. Schwejksam stieß den Schlachtruf seines Clans aus und warf sich mitten ins Getümmel, während er mit wilden Hieben nach rechts und links einen Weg durch die Untoten schnitt. Er lachte laut, als er schließlich Rücken an Rücken mit der gepanzerten Gestalt zu stehen kam, und gemeinsam fochten sie so wild und entschlossen, daß die Geistkrieger noch nicht einmal mehr in ihre Nähe kamen.

»Hallo«, erklang Frosts Stimme in Schwejksams Ohr. »Habt Ihr mich vermißt?«

»Keine Sekunde«, log Schwejksam. »Ich wußte, daß Ihr viel zu beschäftigt wart, um zu sterben.«

»Das war es, worum es die ganze Zeit ging«, sagte Frost zwischen den Hieben. »Sie benutzten die Verfechter lediglich als Lockvogel. Die eigenartigen Stimmen… Das alles war ein Täuschungsmanöver, um die Unerschrocken zu übernehmen.

Wir beide sollten zu Geistkriegern gemacht werden, sorgfältig konserviert und maskiert. Damit hätte Shub eine Möglichkeit gehabt, jemanden in unmittelbare Nähe der Imperatorin selbst zu bringen. Aus diesem Grund haben sie mich gerettet, als die Verfechter in die Luft flog. Hinterlistige Bastarde, das. Ich muß sagen, ich bin ziemlich beeindruckt.«

Schwejksam war zu beschäftigt, um etwas zu erwidern. Kapitän Pearce war wieder einmal aufgetaucht. Sein Kopf hing noch immer schief, aber er schien genauso entschlossen wie zuvor. In der Hand hielt er einen altmodischen Disruptor, den Schwejksam ihm jedoch mit einer schnellen, beinahe lässigen Bewegung aus der Hand schlug. Die beiden Kapitäne, der lebende und der untote, bekämpften sich wütend, und ihre Schwerter krachten immer und immer wieder mit beinahe unmenschlicher Geschwindigkeit aufeinander. Pearce besaß weitaus mehr Kraft und Geschick, als ein normaler menschlicher Gegner je hätte aufbringen können, doch Schwejksam hatte sich im Labyrinth des Wahnsinns verändert, und er war mehr als nur ein normaler Mensch. Die Servomechanismen seines Anzugs ächzten, während der Kapitän der Unerschrocken die Angriffe des Geistkriegers parierte und ihn schließlich in die Verteidigung zwang. Und dann hob Schwejksam das Schwert in einer einzigen blitzartigen Bewegung und ließ es mit voller Wucht auf Pearce’ Schädel hinunterfahren, und die schwere Klinge hämmerte tief in den Knochen und kam erst in Höhe der Augenhöhlen zum Stillstand. Pearce zuckte konvulsivisch, als sein Lektronenimplantat einen Kurzschluß erlitt und versagte. Schwejksam riß das Schwert wieder heraus, und Pearce sank zuckend zu Boden. Diesmal würde er nicht wieder aufstehen.

Doch noch immer stürmten weitere Geistkrieger an.

Schwejksam kämpfte weiter, Rücken an Rücken mit Frost, kühl, und ruhig und beinahe gefaßt. Kraft und Schnelligkeit brannten in ihm, und er fühlte sich, als könne er für immer so weiterkämpfen. Einmal mehr war er mit Frost verbunden, auf jeder nur denkbaren physischen und psychischen Ebene, und gemeinsam kämpften sie in einem Zustand, bei dem die Summe der Teile weit mehr war als jeder einzelne von ihnen.

Plötzlich war niemand mehr da, gegen den sie kämpfen konnten. Überall lagen enthauptete Geistkrieger zerbrochen und reglos herum, und die überlebenden Besatzungsmitglieder jubelten ihrem Kapitän und Frost frenetisch zu. Ein Gefühl, das zumindest für Frost neu war, dachte Schwejksam, als er sich überrascht umblickte. Üblicherweise waren de Leute nur froh, wenn ein Investigator den Raum verließ. Er sah Frost an, die sich im gleichen Augenblick zu ihm umgedreht hatte, und beide zogen ihre Helme ab. Ihre Augen trafen sich mit einem Ausdruck des Verstehens und der gegenseitigen Zuneigung, den keiner von beiden jemals vergessen würde.

»Wir sind nicht einmal sonderlich außer Atem«, flüsterte Schwejksam ihr zu. »Was geschieht nur mit uns?«

»Wir werden besser«, erwiderte Frost.

»Vielleicht unmenschlich.«

Frost zuckte die Schultern, so gut es mit dem schweren Anzug ging. »Menschlich zu sein wird manchmal überbewertet, schätze ich.«

Schwejksam dachte noch immer über eine Antwort nach, als Stelmachs Stimme erneut in seinem Komm-Implantat ertönte.

»Kapitän, überall sind Geistkrieger aufgetaucht! Das Schiff wimmelt nur so von ihnen! Hunderte!«

»Sagt mir etwas, das ich nicht schon längst weiß«, knurrte Stelmach. »Können wir uns gegen sie halten?«

»Kaum, Sir. Unsere Leute trauen sich nicht, die Disruptoren einzusetzen, wogegen die andere Seite rücksichtslos von ihren Energiewaffen Gebrauch macht. Die größte Gruppe von Eindringlingen ist auf dem Weg zur Brücke, trotz unserer verzweifelten Bemühungen, sie aufzuhalten. Uns bleibt nur eine einzige Chance, Sir. Aus meiner Forschung an den Schläfern und ihrer Kontrolle durch das Joch weiß ich mit ziemlicher Sicherheit, daß die Lektronen von Shubs Soldaten einen zentralen Steuerungsmechanismus besitzen, müssen, der sich nicht in dem Körper befindet, den sie antreiben. Irgendein Apparat oder so etwas, den sie mit an Bord gebracht haben, als sie von der Verfechter herteleportierten. Ein einziges kybernetisches Bewußtsein, das seine Marionetten aus totem Fleisch steuert. Ich habe die Komm-Abteilung veranlaßt, die Kanäle auf unautorisierten Gebrauch zu überprüfen, und wir fanden ein verflucht starkes Signal, das aus dem Hangar in Sektion Epsilon zu stammen scheint. Das muß es sein, Sir!«

»Gute Arbeit, Stelmach«, lobte Schwejksam. »Investigator Frost und ich sind auf dem Weg. Schickt uns so viele Männer zur Verstärkung, wie Ihr entbehren könnt. Falls wir versagen, verteidigt Ihr die Brücke so lange, bis offensichtlich wird, daß keine Hoffnung mehr besteht. Dann löst Ihr die Selbstzerstörung aus. Was auch geschieht – dieses Schiff und seine Besatzung dürfen Shub unter gar keinen Umständen in die Hände fallen.«

»Verstanden, Kapitän. Viel Glück, Sir!«

Der Kapitän unterbrach die Verbindung, und zusammen mit Frost machte Schwejksam sich auf den Weg zu den Aufzügen.

»Wenn ich es nicht besser wüßte«, meinte Frost, »könnte ich schwören, daß Stelmach langsam menschliche Züge annimmt.«

»Genau das gleiche behauptet er von Euch, Investigator«, erwiderte Schwejksam.

Schwejksam und Frost entledigten sich ihrer sperrigen Anzüge, um schneller voranzukommen, und begaben sich ohne größere Zwischenfälle hinunter zum Hangar in Sektion Epsilon. Die Unerschrocken war ein weitaus größeres Schiff als die alte Verfechter, und die Geistkrieger hatten sich weit verteilen müssen, um so viele Sektionen wie möglich abzudecken. Schwejksam und Frost kämpften alles nieder, was ihnen in den Weg kam, und vermieden ansonsten jeden unnötigen Kontakt. Sie wollten nicht, daß der Feind von ihrem Kommen erfuhr. Es gab ein Dutzend Zugänge zu den Hangars, und nur wenige davon waren ausgeschildert. Schwejksam und Frost benutzten einen der unauffälligsten und kamen schließlich auf einem hoch an der Decke entlang führenden Laufsteg heraus, von dem aus sie die gesamte Ladebucht überblicken konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Knapp zwanzig Meter unter ihnen hatten Geistkrieger zwischen aufgestapelten Vorratsbehältern eine Fläche freigeräumt, und jetzt stand vielleicht ein Dutzend von ihnen mit gezogenen Disruptoren auf Wache und sicherte einen kompliziert aussehenden Apparat aus Glas und Stahl, der von innen heraus unbehaglich grell schimmerte. Schwejksam schürzte nachdenklich die Lippen und wechselte einen Blick mit Frost.

»Selbst mit Hilfe unserer neuen Fähigkeiten schaffen wir es nicht, ungesehen oder ungehört zu diesem Ding zu kommen.

Außerdem machen mich so viele Disruptoren nervös. Selbst wenn sie uns nicht treffen, könnten sie ein Loch in die Hülle schießen. Wir können auf die Verstärkungen warten, aber da unten gibt es so viel Deckung, daß die Geistkrieger eine ganze Armee aufhalten könnten. Uns geht allmählich die Zeit aus.«

»Lenkt Ihr sie ab«, sagte Frost. »Und ich zerschieße den Apparat mit dem Disruptor.«

Schwejksam hob ungläubig eine Augenbraue. »Von hier aus?«

»Natürlich.«

Schwejksam dachte einen Augenblick über Frosts Worte nach, bevor er den Kopf schüttelte. »Nein. Wahrscheinlich ist er durch einen Schutzschirm gesichert. Ich würde es ganz sicher so machen. Und wenn Ihr feuert, ohne den Apparat zu zerstören, haben wir unsere Position umsonst preisgegeben. Ich habe eine bessere Idee.«

Frost blickte ihn an. »Sagt nicht, daß wir uns in heldenhafter Manier aufopfern sollen. Das habe ich bereits einmal versucht, und es war nicht gerade toll.«

»Nein, viel einfacher. Ich schlage vor, daß wir zur Abwechslung einmal unseren Geist benutzen. Nicht nur unser Körper hat sich in diesem Labyrinth verändert, Frost. Und der Streß des unmittelbar bevorstehenden Todes an Bord der Verfechter scheint mich auf der Leiter wieder eine Stufe höher getrieben zu haben. Und Euch wahrscheinlich ebenfalls. Wir sind wieder einmal gewachsen. Hört zu. Konzentriert Euch. Hört Ihr das gleiche wie ich?«

Frost runzelte die Stirn und lauschte. Im Hangar war alles still. Die Wachen der Geistkrieger rührten sich nicht. Frost konnte Schwejksams Atem hören, genau wie ihren eigenen… und dann, ganz leise, sie spürte es beinahe mehr, als daß sie es hörte, ein leises, unmerkliches Pulsieren, das in unerwarteten Schüben stärker und schwächer wurde. Und in diesem Geräusch, das kein richtiges Geräusch war, erkannte sie das Murmeln einer Stimme, kalt, unmenschlich und entsetzlich vollkommen.

»Verdammt«, sagte Frost. »Das ist die Maschine. Ich kann hören, wie sie denkt. Wie sie Befehle erteilt. Es ist keine Sprache, die ich beherrsche, aber ich verstehe es irgendwie trotzdem. Das ist das Signal, das Stelmach von der Brücke aus entdeckt hat. Die Stimme, die an den Fäden der Marionettenkrieger zieht.«

»Genau«, stimmte Schwejksam zu. »Anscheinend werden wir zu allem Überfluß auch noch zu Espern. Aber wir können mehr als nur zuhören, Frost. Wir können ihm weh tun. Konzentriert Euch auf die Verbindung zwischen uns.«

Schwerfällig griff Schwejksams Verstand nach dem Frosts, und sie kam ihm entgegen. Ihre Gedanken vermischten sich, umschlangen einander, und schließlich wurden sie klar, scharf und brillant, und sie wurden wieder einmal zu einem Ganzen, das die Summe seiner Teile übertraf. Ihr gemeinsamer Geist verließ die beengten Körper und schlug wie ein leuchtender Blitz aus brüllender Energie in die denkende Maschine ein. Der Schutzschirm konnte sie nicht einmal bremsen, geschweige denn aufhalten. Die Maschine heulte auf, als sie ihre Zerstörung spürte, ohne auch nur zu ahnen, wie oder warum. Dann zersprang ihr Zentrum zu einer Million stiller Splitter, und sie hörte auf zu existieren. Die Geistkrieger fielen zu Boden wie vom Blitz getroffen und lagen still, ohne noch einmal zu zucken. Ihr Bewußtsein war erloschen. Die Wesenheit aus Frost und Schwejksam trennte sich wieder, und ihre Bewußtseine kehrten in die Körper zurück. Ihre Gedanken verlangsamten sich, und beide begannen augenblicklich zu vergessen, wie es gewesen war, sich so weit über die menschliche Existenz zu erheben. Schwejksam und Frost mußten es vergessen, oder sie hätten ihre Menschlichkeit für immer verloren. Und dazu waren sie nicht bereit. Noch nicht. Sie standen da und blickten sich an.

»Wir dürfen es niemandem erzählen«, sagte Schwejksam am Ende. »Ihr wißt, was sie mit uns anstellen würden.«

»Wir haben die Pflicht, unsere Vorgesetzten zu informieren«, erwiderte Frost. »Vielleicht finden sie einen Weg, den Prozeß zu vervielfältigen, wenn sie uns untersuchen.«

»Ich glaube eher, daß sie uns töten würden bei dem Versuch, uns auseinanderzunehmen und herauszufinden, was uns zu dem macht, was wir sind. Schließlich war es keine menschliche Technologie, die uns verändert hat. Löwenstein würde im gleichen Augenblick unsere Exekution anordnen, in dem sie davon erführe. Sie würde niemals zulassen, daß jemand in ihrem Imperium lebt, der so machtvoll ist wie wir beide.

Aber wir müssen die Entscheidung zum Glück nicht jetzt sofort treffen. Wir können uns später noch unterhalten. Wir sollten lieber überlegen, wie wir erklären können, was hier geschehen ist.«

»Nichts leichter als das«, entgegnete Frost. Sie zog den Disruptor und zerschoß das, was von dem Kontrollapparat noch übrig war. Nichts außer einem schwarzen verbrannten Fleck blieb zurück. Frost steckte den Disruptor wieder ins Halfter.

»Ein glücklicher Treffer, nichts weiter. So einfach ist das.«

»Die Schau ist zu Ende«, sagte Schwejksam und aktivierte sein Komm-Implantat. »Brücke, hier spricht der Kapitän. Erbitte Statusbericht. Die Geistkrieger haben aufgehört zu funktionieren, stimmt’s?«

»Ich weiß nicht, wie Ihr das geschafft habt, Kapitän«, meldete sich Stelmach, »aber den hereinkommenden Berichten zufolge sind die Geistkrieger überall an Bord zusammengebrochen. Es ist vorbei, und wir haben gewonnen. Erstaunlich. Ich hätte keinen Kredit darauf wetten mögen. Ich glaube, ich werde ohnmächtig.«

»Haltet durch, Stelmach, bis wir wieder auf der Brücke sind«, sagte Schwejksam. »Ihr habt gute Arbeit geleistet. Ohne Eure Theorie und das Aufspüren des Kontrollapparates würden sie inzwischen wahrscheinlich unsere Köpfe mit stumpfen Löffeln ausschaben. Ihr seid ein Held, genau wie der Rest unserer großen Familie.«

»Aber kein großer Held, Sir. Ich habe mich nicht freiwillig gemeldet, um mit Euch an Bord der Verfechter zu gehen.«

»Es gibt verschiedene Arten von Helden, Stelmach. Wichtig ist doch nur, daß Ihr im entscheidenden Augenblick die Nerven behalten habt. Also widersprecht mir nicht. Schwejksam Ende.«

Der Kapitän beugte sich gemeinsam mit Frost über das Geländer des Laufstegs und blickte hinunter in den Laderaum.

Die Geistkrieger hatten sich noch immer nicht bewegt.

Schwejksam hielt sie trotzdem mißtrauisch im Auge. Man konnte schließlich nie wissen.

»Ich dachte, wir würden auf die Brücke zurückkehren?« fragte Frost.

»In einer Minute«, erwiderte Schwejksam. »Nach allem, was wir hinter uns haben, denke ich, wir laben uns eine kurze Pause verdient, um wieder zu Atem zu kommen.«

»Wir führen ein interessantes Leben«, sagte Frost. »Und diesmal haben wir wenigstens nicht das Schiff verloren.«

»Stimmt«, bestätigte Schwejksam. »Ich schätze, wir gewöhnen uns nach und nach an unser Heldentum.« Er verstummte und überlegte für ein paar Sekunden. Dann hob er den Blick und sah Frost in die Augen. »Meint Ihr wirklich, diese Stimmen, die wir aufgefangen haben, gehörten zu der Falle, die Shub uns gestellt hat?«

»Selbstverständlich«, antwortete Frost. »Woher sollten sie denn sonst gekommen sein?«

Schwejksam zuckte unbehaglich die Schultern. »Wenn ich das wüßte. Es ist nur… Ich hatte eher den Eindruck, daß sie uns warnen wollten.«

»Aber wenn sie nicht von der Verfechter kamen – woher, zum Teufel, dann sonst?«

»Ich weiß es nicht. Und ich glaube, ich will auch nicht darüber nachdenken. Die Schlußfolgerungen beunruhigen mich zu sehr.«

»Zur Hölle«, entgegnete Frost. »Jeder weiß doch, wie eigenartig es hier draußen am Abgrund zugeht.«

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